Titel, Wesen, Temperamente

Es ist wie bei einer Musikproduktion: Manche Titel sind zwar spannend, passen aber nicht mehr aufs Album. Zum Glück gibt’s die Option „Bonusmaterial“ – und die hat auch Reclam bei den übrig gebliebenen Passagen meines neuen Musiksachbuchs „Mein Herz hat Sonnenbrand“ gezogen. Dazu gehört dieses kleine Kapitel über lustiges Namedropping und hemmungsloses Typecasting im Song: von Heino bis Bino, von Mary Roos bis Modern Talking

Namen sind Schall und Rauch? Und Typisierungen auch? Nicht im Popsong! Vor allem wenn es um V.I.P.s geht. Wer Prominente schon im Songtitel nennt, sichert sich – Buddy Holly (Weezer), Robert De Niro’s Waiting (Bananarama) – ein hohes Maß an Aufmerksamkeit, auch wenn die Berühmtheiten nur als Vergleichspunkte und eskapistische Fantasien herangezogen werden. Oder wirkt – man höre David Bowies Andy Warhol – an der Legendenbildung mit. Meistens jedoch werden in Songs Allerweltsnamen verwendet, und in der Regel bezeichnen sie fiktive Figuren. Nur gelegentlich verbergen sich dahinter reale Personen aus dem Umfeld der Songschreiberinnen und Songschreiber und somit auch vielleicht anrührende, „authentische“ Geschichten. Diana (Paul Anka), Rosanna (Toto) und Suzanne (Leonard Cohen) sind hier wohl die bekanntesten Beispiele.

Aber wer braucht schon Namen, wenn man Figuren auch poetisch umschreiben, interessanter machen, verklären kann? Und so werden Songs nicht nur von Celebrities und von „boys“ oder „girls next door“ bevölkert, sondern auch von den verrücktesten Archetypen: Mal haben sie sprechende Namen wie der aus ärmlichen Verhältnissen zum Gitarrengott aufsteigende Johnny B. Goode (Chuck Berry), mal stehen sie – wie Kelly Clarksons Miss Independent, Billy Joels Uptown Girl oder der Street Fighting Man der Rolling Stones – für eine bestimmte Haltung oder soziale Schicht. Der Piano Man (noch einmal Billy Joel) oder Elton Johns Rocket Man wiederum dienen als tröstliche Projektionsflächen: weil sie nächtliche Bargäste ein paar Lieder lang ihre Sorgen vergessen lassen – oder weil sie verloren im Weltall noch einsamer sind als mancher Mensch auf Erden. Hin und wieder, man denke an Bob Dylans Mr. Tambourine Man, umgibt diese Figuren auch etwas Zauberhaftes, gar Mystisches; oder eine faszinierende Aura des Verlorenen: Der 21st Century Schizoid Man (King Crimson) und der Nowhere Man (The Beatles), der Smalltown Boy (Bronski Beat) und der Iron Man (Black Sabbath) lassen grüßen. Stimmungskanonen wie der fahrende Rumhändler Poppa Joe (The Sweet) bleiben dagegen kleine Lichter.

Für Typisierungen in Songs gibt es keine Grenzen. Und so werden Figuren gern auch mit geografischen Bezeichnungen verknüpft, was ihr Schicksal stellvertretend für ganze Regionen, sogar ganze Nationen stehen lässt: Wollen Songschaffende so etwas wie Heimatliebe, Ehrerbietung, regionalen Zauber oder Exotik zum Ausdruck bringen, lassen sie Figuren als Mississippi Queen (Mountain) oder Witch Queen of New Orleans (Redbone), als California Man (The Move), Galway Girl (Ed Sheeran) oder auch als London Boy (Taylor Swift) durch ihre Songs streifen; oder üben – wie in der Präsentation eines American Girl (Tom Petty), gegebenenfalls einer American Woman (The Guess Who) – verhalten Sozialkritik. Das Ganze funktioniert auch mit einem selbstkritisch-verschwurbelten Blick in die Ferne, wie David Bowies berühmtes China Girl zeigt. Und dann gibt es da noch all die Ladies und Schwestern, in deren Namen sich besonders romantische, besonders schicksalhafte Begegnungen und Lebenssituationen, Sehnsüchte, Abhängigkeiten und Obsessionen spiegeln: die Lady in Black (Uriah Heep) und die Lady in Red (Chris de Burgh), die Midnight Lady (Chris Norman), die Lady Marmalade (Labelle), Sister Golden Hair (America), Sister Moonshine (Supertramp) oder Sister Morphine (The Rolling Stones).

Das alles sind, natürlich, Beispiele aus der angloamerikanischen Pop- und Rockmusik. Und wie handhaben es Songs aus dem deutschsprachigen Raum? Nicht ganz so facettenreich und gern ein bisschen arg bemüht. Das Spiel mit Namen von Prominenten ist in unseren Breitengraden eher schwach ausgeprägt – als einer der wenigen konnte Falco 1985 mit Wolfgang Amadeus Mozart global groß auftrumpfen. Ansonsten fallen einem vielleicht noch Marianne Rosenbergs Liebeserklärung an Mr. Paul McCartney (1970) und zwei eher fragwürdige Songs ein, die auf die eine oder andere Weise um Tennislegende Steffi Graf kreisen. Das war’s dann aber auch beinahe. Nur ganz selten verbergen sich hinter Allerweltsnamen auch herzzerreißende Geschichten aus dem wirklichen Leben – in Popsongs aus dem deutschen Sprachraum werden Namen wie Nina, Anita und Michaela, Anuschka, Jenny oder Josie von Songschreibern vor allem wegen ihres Wohlklangs und ihrer Singbarkeit gewählt, nicht weil sich dahinter autobiografische Verstrickungen verbergen, die verarbeitet werden müssen. Was dann auch zu besonders seltsamen Namenskonstruktionen wie in Michael Holms Nur ein Kuss, Maddalena (1970) führt – und immerhin zu charmant-gewagten Spielereien wie in Benjamin, einem 2012 erschienenen Song von Anna Depenbusch, in dem die störenden nächtlichen Beischlafgeräusche aus der Nachbarwohnung mit dem dahingejapsten Namen des Mannes verbunden sind: Ben-Ja!-Ja!…, oh, Ben-Ja!-Ja!… und so weiter und so fort. Eher Auswüchse des sorglosen Umgangs mit fiktiven Namen sind unangenehm klingende Typisierungen wie Heinos Die Schwarze Barbara (1975), die wahlweise an ein männermordendes Monster oder an eine als inakzeptabel empfundene ethnische Herkunft denken lässt, obwohl sie doch nur durch ihr schwarzes Haar und ihren purpurroten Mund heraussticht. Bei Gisela („Isch möschte nischt“) von Horst Schlämmer alias Hape Kerkeling (2007), beim Presslufthammer B-B-Bernhard von Torfrock (1978) oder bei „Hannelörsche, ich beiß dir gleich ins Öhrsche“ aus dem Rodgau-Monotones-Song Hallo, ich bin Hermann (1985) steht dagegen vor allem der Klamaukfaktor im Vordergrund.

Was Archetypen in Kombination mit geografischen Bezeichnungen betrifft, imitiert man in unseren Breiten lieber die angloamerikanischen Vorbilder, als sich an lokale Gegebenheiten anzupassen: So besingt Mary Roos sehnsüchtig einen letztlich unerreichbaren Arizona Man (1970) und Michael Holm nicht weniger leidenschaftlich ein Arizona Girl (1971) – beides sind deutschsprachige Versionen eines englischsprachigen Hits des Südtirolers und späteren Starproduzenten Giorgio Moroder. Einen Saarland-Karl, ein Marienborn-Mädchen oder gar einen Meck-Pomm Macker aber sucht man in Hits aus Deutschland vergebens. Schon klar, ein Lied wie Boney M.’s Bahama Mama (1979) – über eine Mutter in der Karibik, die verzweifelt versucht, ihre sechs schönen Töchter unter die Haube zu bringen – lässt sich eben unbeschwerter dahinträllern als eine auf Konsensfähigkeit zielende Ode an einen strammen Typen aus dem Bayrischen Wald.

Mediterran angehauchte Romantik ist Trumpf in Popsongs aus dem deutschsprachigen Raum, vor allem im Schlager. Kein Wunder, dass dabei die Geliebte – wie in Pretty Madonna von Costa Cordalis (1979) – schon mal zur adretten Marienfigur stilisiert wird, der man – wie Bata Illic 1974 in Schwarze Madonna – noch einen zusätzlichen mystischen Anstrich verleihen kann. Aber es reicht ja auch schon, der Herzensdame einfach einen italienischen Begriff als Namen zu geben, um einen Hauch Exotik zu kreieren, und wenn es nur das italienische Wort für „Sonntag“ ist. So besingt Bernhard Brink 1999 eine schöne Frau namens Domenica, die im Begriff ist, das Song-Ich zu verlassen, was nicht nur für reichlich Herzschmerz sorgt, sondern auch für unschlagbare Verse wie diesen: Ich wart auf dich bei einer Flasche Rotwein / Ich rauch viel zu viel, obwohl ich gar nicht rauch. Aber halt, handelt es sich nicht um die Coverversion eines Songs von Zucchero? Schon, ja. Doch das Original heißt eben nicht „Domenica“, sondern Diamante. Ob dann Semino Rossis Lovesong Bella Romantica (2013) überhaupt noch eine Person, vorzugsweise die Geliebte, adressiert oder schon einen alles fortreißenden Glückstaumel sprachlich verdichtet, muss jede Hörerin, jeder Hörer für sich selbst entscheiden.

Auch das Gefühl der Zuversicht scheint sich für manche Songwriter:innen gleich noch intensiver vermitteln zu lassen, wenn man es mit etwas Italo-Flair anreichert. Das könnte der Grund für Drafi Deutschers Text zum auch von ihm komponierten Song Mama Leone gewesen sein, der 1978 erst mit Verzögerung und letztlich in der Interpretation des aus Palermo stammenden Sängers Bino zum Hit wurde. Die „Löwenmutter“ ist eine Engelsgestalt, die Hoffnung bringt und alles gut werden lässt. Ja, da ist schon einiges an Pathos im Spiel, aber sei’s drum. Albern wird es aber, wenn all die Mamas und Domenicas mehr schlecht als recht zusammengewürfelt werden, um der Beschreibung einer eher banalen Lebenserfahrung etwas mehr Esprit zu verleihen. So trägt die Mutter, die 1987 in einem Song von Andy Borg wehmütig ihrem erwachsen gewordenen und endlich in die Fremde ziehenden Sohn nachschaut, den grotesken Namen „Mutter Sonntag“, Mama Domenica. Der Text dazu wartet außerdem mit einer irritierenden Zeile auf: In deinem Herzen bleibt sein Platz immer frei, Mama Domenica. Die Frage muss erlaubt sein: Sollte der Platz des Sohnes im Herzen der Mutter nicht auch dauerhaft vom Sohn besetzt sein, statt ewig frei zu bleiben? Vielleicht ist das ja besonders spitzfindig. Oder einfach nur ein kleiner Lapsus? Bei Andy Borg weiß man nie … Mindestens ebenso banal wie eine ihren Sohn vermissende Mutter ist ein Vater, der achtgibt, dass sein Töchterchen und ihr Freund hinter verschlossenen Türen keinen amourösen Unfug treiben. Wie hölzern würde es klingen, ginge es um einen Jungen namens Martin, ein Mädchen namens Petra und ihren Vater Manfred! Und wie interessant, ja richtig temperamentvoll klingt es, wenn es um einen Chico, seine Freundin Rosita und deren Papa Don Pedro geht! Mit Don Pedro unterstrich Costa Cordalis 1977, dass sich südländisches Flair auch dann intensiv entfaltet, wenn es griechisch-spanisch geprägt ist.

Typisch deutsch und eher negativ konnotiert ist die Figur des Kowalski, die mal im Singular und mal im Plural, etwa in Gestalt von „Stammtischkowalskis“, durch den einen oder anderen schrägen Song von PUR streift. Eindeutig angloamerikanisch geprägt sind schließlich die Vorbilder, die Dieter Bohlen für sein Bandprojekt Modern Talking aufmarschieren ließ, und das in beachtlicher Zahl. Sein Brother Louie, der doch bitte die Frau gehen lassen soll, die das schmachtende Song-Ich liebt, hält sich 1986 noch einigermaßen an lyrische Konventionen. Doch bei anderen seiner Kreationen lässt es Bohlen ordentlich krachen – und knirschen. Da gibt es – ebenfalls 1986 – eine Asiatin namens Lady Lai, die eigentlich „Lady Lei“ gesungen werden müsste, aber wie die Dylan’sche „Lady Lay“ komplett englisch adressiert und mit tiefsinnigen Versen wie den folgenden beschworen wird: Stay, I love your Chinese eyes / Please, stay / ’Cause you’re a big surprise. Da verliebt sich ein Einsamer am Laptop in eine Dame aus dem Internet, vermutlich aus einem Computerspiel, doch statt von einer „Virtual Mama“ oder vielleicht einem „Game Girl“ schwärmt er in kompletter Gefühls- und Begriffsverwirrung von einer Mrs. Robota (2002). Charakterisiert wird die Unerreichbare ebenso folgerichtig wie sinnfrei mit den Worten: You’re high and low and just between, was kaum noch zu toppende Erregungszustände hervorruft: But more and more I like you more than just before …  Ähnlich aufwühlend, aber auch aus allen möglichen anderen Songs zusammengeklaubt sind die Gefühle, die der Liebende 1999 im Song Taxi Girl für eine sexy Taxi Lady äußert: I’m tossing and turning / ’Cause my heart is burning / Tell me your heart will go on / And if you will be clever / It’s always and ever / I’ll die for you.  Was es schließlich genau mit der Taxi-Metaphorik auf sich hat oder wer hier wen auf welche Weise durch die Gegend respektive durch sonderbare Gefühlswelten kutschiert, scheint der Sprecher selbst nicht zu wissen, sonst würde er im Refrain kaum jauchzen: Be my taxi taxi girl / In my secret taxi world / Be my taxi taxi girl / It’s a strange and secret world. Bleibt noch die ominöse Dame mit dem verbalromantischen Doppelwumms – jene Cheri Cheri Lady, die 1985 mit ähnlich deliriös collagierten Liebesbekundungen wie den eben zitierten bedacht wurde und schon durch ihrem Namen für Stirnrunzeln sorgte. „Cheri“ mit Betonung auf dem I ist eigentlich das französische Wort für „Liebling“, doch die Aussprache bei Modern Talking klingt eher wie ein Mix aus den englischen Wörtern „cherry“ („Kirsche“), „cherish“ („wertschätzen“) und „sharing“ („teilen“). Was letztlich auch den sprachsensibleren Gemütern in der Hörerschaft ein fatalistisches Gefühl von Goin’ through a motion verschafft …

In puncto Namedropping zeigen sich nur wenige deutschsprachige Songwriter:innen so kreativ wie Udo Lindenberg, der mit Rudi Ratlos und Johnny Controletti (1974) oder Wotan Wahnwitz (1975) gleich eine ganze Riege von Figuren mit sprechenden Namen in seinem Oeuvre aufmarschieren ließ. Oder wie Reinhard Mey: Der benutzt hin und wieder Pseudonyme, zu denen auch ein gewisser Alfons Yondrascheck gehört. Und dieser Alfons Yondrascheck geistert dann und wann durch die Songs von Reinhard Mey. In Ankomme Freitag, den 13. aus dem Jahr 1969 etwa erhält das Song-Ich ein Telegramm, in dem eine ominöse Christine einen Blitzbesuch ankündigt, und wird dadurch in helle Aufregung versetzt. Inmitten der sich anschließenden kopflosen Wohnungsaufräumaktion klingelt das Telefon und jemand möchte Alfons Yondrascheck sprechen – doch der Anrufer hat sich offenbar verwählt: „Noch sechseinhalb Stunden, jetzt ist es halb acht. / Vor allen Dingen ruhig Blut, mit System und mit Bedacht. / (…) / Das Telefon klingelt: Nein, ich schwöre: falsch verbunden, / ich bin ganz bestimmt nicht Alfons Yondrascheck – noch viereinhalb Stunden.“ Es ist schon ziemlich hintersinnig, sich selbst im eigenen Song anrufen zu lassen und dann zu behaupten, man hätte nichts mit dem Herrn zu tun …

Das komplette Bonusmaterial gibt’s bei Reclam unter diesem Link.
Die Kapitel: Mehr Unrundes von Caterina Valente, Tomte, Kool Savas und anderen / Lustiges Namedropping und hemmungsloses Typecasting im Song: von Heino bis Bino, von Mary Roos bis Modern Talking /

Kosmisches und anderes Geschwurbel mit Witthüser & Westrupp, Eloy, Can & Co /
Mini-Lyrics oder: Arg Kurzes von Silver Convention, Boney M., Kraftwerk und Scooter.

A Star Is Torn

Eine große, tragische Liebesgeschichte, die zur Abwechslung mal im Rock-’n’-Roll-Milieu spielt? Oder ein cooles Rock-’n’-Roll-Epos, das Elemente einer tragischen Liebesgeschichte integriert? Daisy Jones & The Six, der Erfolgsroman von Taylor Jenkins Reid, funktioniert auf beiden Ebenen, peppt das Ganze mit einem ordentlichen Schuss Siebzigerjahre-Nostalgie auf und befeuert nebenbei die ewige These, dass große Kunst vor allem aus Schmerz und Leiden geboren wird. Die Verfilmung der glamourösen Rockstarfiktion als Amazon-Prime-Serie nimmt zwar einige dramaturgische Änderungen vor, setzt die Vorlage aber mehr als kongenial um – und beschert der Welt das reale Musikalbum einer Gruppe, die es gar nicht gibt.

Ende der Siebzigerjahre: Daisy Jones & The Six haben es geschafft – sie sind weltweit gefeierte Rockstars. Doch just auf dem Höhepunkt ihrer Karriere bricht die Band auseinander. Die Fans sind fassungslos. Wie konnte es so weit kommen? Viele Jahre später werden die Bandmitglieder, die nichts mehr miteinander zu tun haben, sowie wichtige Personen aus ihrem Umfeld für eine Dokumentation getrennt voneinander interviewt. Aus all den kleinen Einwürfen, Anekdoten und teils widersprüchlichen Einschätzungen werden opulente Rückblenden – entfalten sich Aufstieg und Fall einer schillernden Band bis hin zu den wahren Gründen für ihre Auflösung. Erst zum Schluss offenbart sich, wer die erhellenden Interviews führt. Es ist eine herzerwärmende Pointe, die eine überraschende neue Perspektive eröffnet.

Von der Romanfiktion zum Serienhit zum Chartserfolg

Jahrzehntelang waren Spielfilme die Königsdisziplin, wenn es um das Erzählen von Geschichten für die Kinoleinwand und Bildschirme aller Art ging. Entgegen allen Behauptungen über die Schnelllebigkeit unserer Zeit und das kontinuierliche Sinken von Aufmerksamkeitsspannen ist jedoch seit geraumer Zeit das üppige Serienformat auf dem Vormarsch. Es eröffnet die Möglichkeit, eine Geschichte plausibel und in mehreren Strängen zu entfalten, Charakteren Tiefe zu verleihen und die positiven wie negativen Dynamiken zwischen den Protagonistinnen und Protagonisten in sämtlichen Facetten auszuloten. Kaum zu glauben, aber die Fans bleiben dran, selbst über sechs bis zehn Folgen und gleich noch über mehrere Staffeln hinweg – wenn sie denn gut gemacht sind. Das gilt auch für Pop-Biopics und -Fiktionen. Schon verschiedenste 90– bis 120-Minuten-Werke krankten bei allem Unterhaltungswert daran, dass  sich das Drehbuch auf wenige zentrale Motive beschränken musste und eine Band, die eben noch reichlich amateurhaft in einem heruntergekommenen Provinzclub zu sehen war, im nächsten Moment von einem großen Festivalpublikum gefeiert wurde, um schon in der übernächsten Einstellung die finalen Zersetzungserscheinungen zu zeigen.

Die Macher der Amazon-Prime-Serie Daisy Jones & The Six haben nicht nur die Vorteile des Serienformats optimal genutzt, sondern auch das Vermarktungspotenzial der Vorlage, des gleichnamigen Erfolgsromans von Taylor Jenkins Reid, konsequent ausgeschöpft. Durch geschickte dramaturgische Eingriffe, eine zündende Besetzung und eine stilvolle Inszenierung haben sie ein mitreißendes Stück Heimkino geschaffen, in das man knapp zehn Stunden lang eintauchen kann; und statt eines konventionellen Soundtrack-Albums, zu dem verschiedene Interpreten die Songs beisteuern, haben sie das fiktive Daisy-Jones-&-The-Six-Album Aurora tatsächlich zum Leben erweckt. Mit dem Ergebnis, dass sich die erfundene Truppe mit ihren Songs wie ein realer Rock-Act in den internationalen Charts tummelt.

Fleetwood Mac (und andere) lassen grüßen

Aus den Rückblenden kristallisieren sich zunächst zwei Erzählstränge heraus. Da sind die Dunne Brothers, eine Band um den gern mal autoritär auftretenden Frontmann Billy Dunne, die irgendwo in Pennsylvania versucht, Fuß zu fassen, größtenteils mit Coverversionen. Und da ist Daisy Jones in Los Angeles, eine unangepasste junge Frau, die sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält, insgeheim aber von einer Karriere als Singer-Songwriterin träumt. Bewegung kommt in die Geschichte, als der renommierte, aber nicht mehr ganz so erfolgreiche Musikproduzent Teddy Price auf Daisy aufmerksam wird und sie unter seine Fittiche nimmt. Währenddessen durchlaufen die Dunne Brothers mehrere Transformationen und begrüßen schließlich die Keyboarderin Karen Sirko als neues Mitglied. Die Band benennt sich um in The Six, schreibt vermehrt eigene Songs und zieht irgendwann nach L.A., um dort den nächsten Karriereschritt zu machen. Eher durch Zufall lernt das schräge Kollektiv, das sich mehr und mehr zusammenrauft, Teddy Price kennen. Und nicht nur das: Es gelingt den Six auch, den einflussreichen Studiomagier von ihren Songs zu überzeugen. Aber etwas fehlt ihnen, so empfindet es der Produzent – womöglich noch etwas textlicher Input, dazu eine starke Frauenstimme. Und weil auch Daisy Jones etwas fehlt, nämlich eine Band, die ihre lyrischen und musikalischen Ideen in künstlerisch noch wertvollere Bahnen lenkt, bringt Teddy Price kurzerhand beide Fraktionen zusammen. Mit der Vorgabe, gemeinsam neue Songs zu schreiben. Ein genialer Move, der eine beispiellose Erfolgsstory in Gang setzt – aber auch ein heilloses emotionales Chaos. 

Wer die Dynamiken innerhalb von Rockbands kennt, wird das eine oder andere Déjà-vu erleben – es gibt etliche gut beobachtete Details und Band-Anekdötchen zum Schmunzeln. Wer eine Vorstellung hat vom Musikbusiness damals und heute, dürfte über mächtige, selbstgefällige Konzern-Plattenbosse in Anzügen, über gewiefte Produzenten- und schrille Managertypen den Kopf schütteln. Wer die Seventies noch mitbekommen hat, wird mit Sicherheit von nostalgischen Gefühlen überkommen, so treffend sind Mode und Lifestyle eingefangen – auch wenn man nicht jede Sex- und Drogeneskapade selbst erlebt haben muss. Wer Fleetwood Mac und ihre Musik zu Rumours-Zeiten mag, wird große Ohren und Augen machen, sind doch Sound, Erscheinungsbild und das eine oder andere biografische Detail zu Daisy Jones & The Six von der legendären britisch-amerikanischen Band inspiriert. Und auch wer einfach nur überlebensgroße Lovestorys mit euphorischen Ups und tragischen Downs liebt, wird bestens bedient.      

Billy Dunne und Daisy Jones sind zwei außergewöhnliche, nicht uneingeschränkt liebenswerte Charaktere – geschundene Seelen, die sich gegenseitig, aber auch dem gemeinsamen Umfeld einiges an Unzumutbarkeiten zumuten. Zwischen den beiden kracht es immer wieder gewaltig, aber kaum jemandem bleibt verborgen, dass es auch mächtig knistert. Billy hat eine kleine Tochter mit seiner Frau Camila. Die begreift die Bandgemeinschaft als verschworene Familie und wirkt wie eine Übermutter ausgleichend, wo immer es nötig wird. Doch auch sie muss damit klarkommen, dass Billy zeitweise dem destruktiven Rock-’n’-Roll-Lifestyle erliegt, dem Alkohol verfällt und nach einer Entziehungskur lange braucht, um in seine Vaterrolle hineinzuwachsen. Die Vibes, die sie später spürt, wenn sie ihren Mann und Daisy Jones zusammen performen sieht, dürfen ihr erst recht nicht gefallen. Und auch sie leistet sich Ausrutscher. Daneben gibt es stille Glücksmomente und rauschhafte Erfolge, eine lange geheim gehaltene Affäre innerhalb der Band, Mitmusiker, die unter mangelnder Wertschätzung leiden, Frust und Abstürze, bis hin zu einer vorübergehenden Auszeit Daisys in Griechenland. Und dann ist da noch – wir kennen das Motiv aus Almost Famous – der Journalist eines einflussreichen Rockmagazins, der die rasant aufstrebenden Stars auf Tour begleitet, um eine große Story zu schreiben. Die Tratschgeschichten und Geheimnisse, die er den aufgewühlten Bandmitgliedern unabhängig voneinander entlockt, sorgen für zusätzlichen Zündstoff im Gefüge. Nur der Drummer – in seiner naiven Unbekümmertheit erinnert er an den notorisch unterschätzten Beatle Ringo Starr – bleibt völlig unbeschadet: Er lernt tatsächlich eine attraktive Hollywoodschauspielerin kennen, gründet mit ihr eine Familie und lebt, so darf man vermuten, glücklich bis ans Ende seiner Tage. Welch ein wunderbares Popklischee – eine Figur, die für regelmäßigen „comic relief“ sorgt und die dramatische Erzählung mit einem Schuss Selbstironie würzt.

Die weibliche Perspektive

Wo von Männern geschriebene Rockdramen gern den Rock-’n’-Roll-Lifestyle ins Zentrum rücken und ihre Protagonisten als zerrissene, aber letztlich geniale Lonesome-Hero-Typen aufs Podest heben, legt Daisy Jones & The Six bewusst andere Schwerpunkte: zum Beispiel auf die problematischen Auswirkungen, die dieser Rock-’n’-Roll-Lifestyle und das Ringen zweier Alphatiere auf die Charaktere und ihr Umfeld haben. Die Hauptfiguren sind differenziert gezeichnet, mit großen Stärken, aber auch mit eklatanten Schwächen. Daisy, Camila und Keyboarderin Karen sind gleich drei selbstbewusste Frauen. Einerseits behaupten sie sich in der männerdominierten Rockwelt, andererseits haben sie unter den Bedingungen und Haltungen der damaligen Zeit noch einmal besonders zu leiden. So sind es eben die Frauen, die das Problem einer ungewollten Schwangerschaft und die möglichen Folgen für die angestrebte Karriere für sich selbst regeln müssen. Es ist schmerzhaft, aber gut, dass auch gezeigt wird, wie der einst so coole Frontmann Billy Dunne zunächst nicht in der Lage ist, sein Töchterchen in den Arm zu nehmen und zu seiner Vaterschaft zu stehen. Obwohl Daisy Jones ganz neue Saiten in ihm zum Klingen bringt, bleibt er immer auch seiner Frau Camila in Liebe verbunden. Es ist kompliziert. Und hier spürt man deutlich die Handschrift der Autorin – wie auch der Produzentin Reese Witherspoon, die schon als June Carter im Johnny-Cash-Biopic Walk the Line starke weibliche Akzente setzte.  

Brillante Besetzung

Mindestens ebenso stark ist der schauspielerische Eindruck, den nun Kiley Reough als Daisy Jones hinterlässt. Die Enkelin von Elvis Presley beeindruckt durch eine intensive Mimik, Gestik und Körpersprache und dürfte mit dieser energiegeladenen Rolle nach diversen Kino- und Serienauftritten den endgültigen Durchbruch geschafft haben. Allein wegen ihrer Präsenz lohnt sich das Streamen. Doch auch die übrigen Mitwirkenden überzeugen, allen voran Tribute von Panem-Beau Sam Claflin als vielfach ge- und überforderter Frontmann Billy Dunne. Aus den Stars, die die Band verkörpern, ragt Suki Waterhouse als zielstrebig-kompromisslose Keyboarderin Karen Sirko heraus, daneben glänzen Tom Wright als clever-sensibler Produzent Teddy Price und Timothy Olyphant (er spielte einst den etwas hüftsteifen Sheriff in der famosen Westernserie Deadwood oder den glatzköpfigen Killer Hitman) als durchgeknallter, aber letztlich professioneller, angemessen empathischer Tourmanager Rod Reyes.

Die Besetzung der beiden Hauptfiguren erweist sich auch mit Blick auf die Musik als Glücksgriff. Beide Stars können tatsächlich singen, wobei Sam Claflin die etwas unauffälligere, gelegentlich in Richtung Tom Petty tendierende Stimme hat und Riley Keoughs Vortrag scheinbar mühelos die Fleetwood-Mac-Diva Stevie Nicks, Kate Pierson von den B 52’s und die eine oder andere Country-Ikone zitiert. Überraschend stark und rund klingt es, wenn Claflin und Keough zweistimmig singen und die Songs des fiktiven Albums Aurora lebendig werden lassen. Im Buch hatte Autorin Taylor Jenkins Reid ein paar eigene Lyrics zu den Songs der Band verfasst – es seien aber keine brauchbaren Texte gewesen, räumt sie unumwunden ein, sondern eher Verse, die die Figuren charakterisieren sollten. Mit Reids Einverständnis holten die Serienverantwortlichen dann echte Songwriting-Koryphäen ins Boot, darunter Phoebe Bridgers, Marcus Mumford und sogar Superstar Jackson Browne. Die Fachleute hatten einigermaßen freie Hand und lieferten die Musik samt neuen Lyrics zu den von Claflin und Keough gesungenen Stücken.

Ganz offensichtlich spitzen die neuen Songversionen emotional zu und bringen vor allem die inneren Konflikte der Figuren, die zwischenmenschlichen Reibungen auf den Punkt. Verdichtung, Dramatisierung und Aktualisierung – ähnliche Effekte erzeugen auch die dramaturgischen Änderungen an der literarischen Vorlage: So haben Camila und Billy im Buch gleich mehrere Kinder, in der Serie ist es nur eine Tochter. Camila hat im Roman keine Affäre, in der Serie schon. Und während Daisy in der Vorlage nur Daisy heißt, darf sie Billy gegenüber in der Verfilmung offenbaren, dass sie eigentlich Margaret heißt – ein Moment, der erstmals eine besondere Nähe zwischen beiden Charakteren herstellt. Dass Keyboarderin Karen in der Adaption nicht mehr Amerikanerin, sondern Britin ist, nennt Showrunner Scott Neustadter eine explizite Hommage an die kürzlich verstorbene Fleetwood-Mac-Keyboarderin Christine McVie. Daisys Freundin Simone wiederum, Soulsängerin und aufstrebender Discostar, bekommt in der filmischen Umsetzung eine nach verschiedenen Höhen und Tiefen glückliche lesbische Beziehung angedichtet, als Reverenz an die queere Bewegung. Und als Daisy eine Überdosis erleidet, wird sie, anders als im Roman, von Billy gerettet, von wem auch sonst!

Geniales Pastiche oder: Kunst kommt von Einfühlen

Fast noch intensiver als die Vorlage suggeriert die Serienadaption, dass große Kunst vor allem aus Reibung, aus Schmerz und Leiden entsteht. Zu den besten Momenten der Serie gehören die Szenen, in denen Daisy und Billy gemeinsam komponieren und texten. Sie beharken sich, kritisieren immer wieder die Texte des Gegenübers und zwingen sich gegenseitig zur Nabelschau. Dabei stellen die scheinbar grundverschiedenen Charaktere fest, dass sie in ihrem Schmerz, in ihren unerfüllten Sehnsüchten mehr gemeinsam haben, als ihnen lieb ist. Und schon texten sie bittersüße Verse wie: „If you’re gonna let me down, let me down easy“, „I’m an echo in your shadow / I’m in too deep“ oder „We can make a good thing bad“. „Viel Leid, mehr hervorragende Songs“ – so lautet das Prinzip, und das ist natürlich schon in losen Orientierungspunkten wie der Bandgeschichte von Fleetwood Mac angelegt. Die Gruppe war berühmt für vertrackte Beziehungen und komplizierte zwischenmenschliche Dynamiken, die die Treiber hinter einigen ihrer besten Songs gewesen sein sollen.

Der „Große Kunst aus großem Schmerz“-Gedanke wird auch heute noch immer wieder gern vorgebracht und standardmäßig untermauert durch Verweise auf Vincent Van Gogh und Edvard Munch, Joseph Beuys und Hermann Nitsch. Hinzu kommen Thesen wie: Positive Gefühle muss man nur genießen, negative Gefühle muss man verarbeiten – weshalb letztere mehr und interessanteres Material für künstlerisches Schaffen liefern. Das alles mag für diverse Kreative und ihre Werke gelten, verallgemeinern aber lässt es sich nicht. Es wäre auch etwas unfair gegenüber Happy, Walking On Sunshine, Girls Just Want to Have Fun, Don’t Worry – Be Happy und anderen Evergreens der Glückseligkeit. Sie scheinen nicht mal im Ansatz aus großem Schmerz geboren und besitzen dennoch einen unbestreitbaren künstlerischen Wert, zumindest für den Autor dieser Zeilen. Zu guter Letzt kann man den Daisy Jones-Roman selbst und – mehr noch – die Serienadaption als Belege weiterer Antriebsquellen für große Kunst nennen. Autorin Taylor Jenkins Reid verfügt ganz einfach über ein unglaubliches Können, das hatte sie in ihren zuvor erschienenen Romanen bewiesen. Dann kam ihr die nächste Idee, doch in der Folge musste sie erst einmal gründlich recherchieren – zu Musik und Songwriting, zu den Biografien berühmter Bands und ganz allgemein zu den Siebzigern. Die Lust am Fabulieren und am Feilen, aber auch viel Geduld führten schließlich zu einer mitreißenden Geschichte über die Kraft der Liebe und die Kraft der Musik. Die Macher hinter der Serienadaption und dem Musik gewordenen fiktiven Album Aurora wiederum agierten im Rahmen einer großangelegten Ensemble-Produktion noch etwas mehr auf der Metaebene. Mit viel Hirn und Händchen manipulierten und ergänzten sie die literarische Vorlage, setzten eine professionelle Filmproduktionsmaschinerie in Gang, gaben gleichzeitig passende Songs in Auftrag. Das Ergebnis ist ein geniales Pastiche rund um ein paar Siebzigerjahre-Rockstars, die große Kunst aus großem Leiden schaffen. Davon, dass die Serienverantwortlichen und ihre Dienstleistenden selbst kongenial gelitten hätten, ist eher nicht auszugehen.

Jetzt bei Reclam: Mein neues Musiksachbuch „Mein Herz hat Sonnenbrand“

Ja gibt’s denn so was? Da erscheint mein neues Buch, und ich vergesse, frühzeitig auf „tedaboutsongs“ darauf hinzuweisen? Na ja, „vergessen“ trifft es nicht wirklich, eher „bin einfach nicht dazu gekommen“. Schließlich gehe ich noch einem Brotjob nach, der mich ausgerechnet in den ersten Wochen des Jahres 2023 immens gefordert hat. Und dann waren überraschenderweise schon weit vor Erscheinen des Buchs am 17. Februar diverse Medientermine zu absolvieren, sogar schon erste Lesungstermine zu vereinbaren. Unglaublich, welches Engagement mein Agent Günther Wildner wieder an den Tag legt, um deutschland- und österreichweit führende Printmedien und Rundfunksender zur Vorstellung des Buchs oder gar zu einem Interview mit dem Autor zu motivieren. Hinzu kommt die Medienarbeit des Reclam-Verlags, bei dem ich mich bestens aufgehoben fühle. Ja, das Ganze verlangt schon etwas Einsatz, aber es macht auch einen Riesenspaß.

Dass es so kommen würde, hätte ich mir vor zweieinhalb Jahren nicht mal ansatzweise ausgemalt. Eigentlich hatte ich nach „I Don’t Like Mondays“ (2017) und „Provokation!“ (2019) kaum das Gefühl, noch etwas Originelles im Musiksachbuchbereich beitragen zu können. Dann, im Herbst 2020, mitten in der Corona-Pandemie, entstand eher zufällig die vage Idee, mal nach seltsamen bis verunglückten Songzeilen in Songs aus dem deutschsprachigen Raum Ausschau zu halten. Ohne großen Aufwand, einfach so. Meinem Agenten gefiel die Idee, und das motivierte mich, dem Thema doch etwas engagierter auf den Grund zu gehen. Und so entwickelte, was zunächst als kleines Nebenbei-Rechercheprojekt für die nächsten zwei, drei Jahre angelegt war, plötzlich eine unerwartete Eigendynamik. Aus der Erinnerung kramte ich Songtexte hervor, die mir schon immer etwas merkwürdig vorgekommen waren – parallel dazu hörte und las ich mich durch die vergangenen 60 Jahre deutscher Popgeschichte. Von Pop bis Rock, von Schlager bis Chanson, von Soul und Dance bis Rap – wie schon bei den vorangegangenen Büchern war mir eine große musikalische Bandbreite wichtig. Und natürlich ging es nicht nur um deutschsprachige Texte, sondern auch um Texte auf Englisch, denn die Fremdsprachenfalle fördert hin und wieder feine Stilblüten zutage. Aus verhaltenem Interesse wurde Leidenschaft, und so hatte ich innerhalb weniger Wochen etliche Beispiele zusammen, die ich nur noch ordnen musste. Bereit im Herbst 2021 konnte ich eine erste Manuskriptfassung vorlegen.

Günther Wildner machte sich an die Arbeit und begann, das Buch anzubieten – zunächst mit der üblichen Reaktion: „Schöne Idee, passt aber nicht ins Verlagsprogramm.“ Überraschend dagegen war eine Absage mit dem Tenor: Viel zu nett geschrieben, man hätte gnadenloser auf die Künstler:innen draufhauen sollen. Mein Agent und ich waren uns jedoch einig: Das Buch darf gern ironisch und kritisch sein, aber ein gewisser Respekt gegenüber den Stars versteht sich von selbst. Dass dann im Frühjahr 2022 ausgerechnet der renommierte Reclam-Verlag Interesse zeigte, das Buch herauszubringen, machte uns besonders stolz. Vielleicht kam das ja auch nicht von ungefähr: „Mein Herz hat Sonnenbrand“ (der Titel zitiert einen alten Schlager von Bata Illic) beackert ein übergreifendes popmusikalisches Thema und setzt sich ebenso unterhaltsam wie kritisch mit Sprache auseinander – Reclam wiederum leistet seit jeher einen unschätzbaren Beitrag zur Pflege von Literatur und Sprache und verfügt außerdem über eine feine Musikbuchsparte: Das Verlagsprogramm enthält eine Menge spannender Titel von Klassik bis Pop. Im Lauf des Jahres 2022 wurde das Manuskript in die endgültige Form gebracht, wobei noch ganz aktuelle Songbeispiele während des Produktionsprozesses integriert werden konnten. Mein Riesendank geht in diesem Zusammenhang an das Reclam-Team, das das Manuskript einem überaus sorgfältigen Lektorat unterzog. Da ich selbst als Korrektor, Lektor, Faktenchecker arbeite, weiß ich, welchen Aufwand das bedeutet. Nach einem derart intensiven Bearbeitungsprozess sieht man der Veröffentlichung mit einem noch besseren Gefühl entgegen.

Nun ist nicht nur das Buch, sondern auch schon der eine oder andere Beitrag in den Medien erschienen. Highlights bisher: Die „Berliner Morgenpost“ hat ein ausführliches Interview veröffentlicht, auf SWR2 erschien ein dreieinhalbminütiger Radiobeitrag. Lieblingssatz daraus: „Es muss die Lust am Schmerz sein, die Behrendt dazu getrieben hat, an die 200 Songtexte zu analysieren.“ Prominent platziert ist das Buch auch in der März-Ausgabe des JOURNAL FRANKFURT. In helle Aufregung versetzte mich ein halbstündiger Live-Auftritt im MDR-Fernsehen bei „MDR um 4 – Gäste zum Kaffee“. Es war spannend zu sehen, wie die Sendung produziert wird, und gleichzeitig ein Teil davon zu sein. Mein Dank geht an das gesamte Produktionsteam und an Moderatorin Stephanie Müller-Spirra, die mich dank ihrer souveränen Art meine Nervosität schnell in den Griff bekommen ließ. Mindestens ebenso gefreut habe ich mich über einen ausführlichen Talk mit Dagmar Fulle für hr INFO. Daraus ist ein 25-minütiger Radiobeitrag entstanden, der einen hervorragenden Einblick gibt in das, worum es im Buch geht. Hier auf Beiträge zu verlinken, ist wohl wenig sinnvoll – vieles verschwindet auch rasch wieder aus den Mediatheken. Wer neugierig ist, googelt einfach ein bisschen und wird schnell fündig. Weitere Beiträge und Rezensionen dürften folgen – und nun stellt sich die banale, aber essenzielle Frage: Wie kommt das Buch an? Die Spannung steigt …

Mein Herz hat Sonnenbrand: Über schiefe bis irrwitzige Songtexte aus 60 Jahren deutscher Popmusik
240 S., Hardcover, 13,5 x 21,5 cm
Reclam 2023, 20 Euro
ISBN 978-3-15-011434-6

Erste Lesungstermine:
17.3., Bremen, Buchhandlung „Albatros“
18.3., Walsrode, Bistro „MoccaMoor“
2.6., Blies-Kastel, Orangerie
21.9., Offenbach, Bücherbus

Immer Ärger mit Laila

Würden sich Bierzelt-, Skihütten und Ballermann-Fans genauso euphorisch für Frieden, Soziales und Klimaschutz engagieren, wie sie feiern und tumbe Songs über Komasaufen, Komasex und Bordellbesuche mitgrölen, die Welt wäre vielleicht eine bessere. Klar kann man diese Art von „Partykultur“ kritisieren, aber man muss sie wohl letztlich ertragen. Das gilt auch für den unerwartet angefeindeten Charts-Stürmer Layla, der als aktueller Fetenhit erstaunlich harmlos formuliert, dazu noch entlarvend ehrlich ist. Eine andere Song-Laila war da weitaus fragwürdiger, und das schon vor 62 Jahren …

Es war 1984, da besang Schlagerstar Roland Kaiser eine sinnenfrohe Dame namens Joana, mit der ein schüchterner Mann einen leidenschaftlichen One-Night-Stand erlebt. In schlagertypisch verklemmt-verblümter Manier klang das so: „Wie ein Stich ins Herz traf mich dein Blick, und ich sah, für mich gab’s kein Zurück. Und dein Wunsch flog mir entgegen, doch er machte mich verlegen – ein Gefühl, das längst verloren schien.“ Im Refrain heißt es: „Joana, geboren, um Liebe zu geben, verbotene Träume erleben – ohne Fragen an den Morgen danach.“ Wie süß. Zwölf Jahre später veröffentlichte Steffen Peter Haas, besser bekannt als Peter Wackel, eine halbwegs originalgetreue Coverversion des Songs, die eigentlich nur etwas druckvoller klang, aber doch ein entscheidendes Element hinzufügte: In die langen Pausen zwischen den Refrainversen shoutete Christian Cabala alias Chris Tuxi ein paar harte Mitgröl-Ansagen an die Titelheldin. Und das klang nun so: „Joana (Du geile Sau!), geboren, um Liebe zu geben (Du Luder!), verbotene Träume erleben (Du Drecksau!) – ohne Fragen an den Morgen danach.“ Die Coverversion wurde ein Riesen-Partyhit, erfolgreich am Ballermann, in Skihütten und Bierzelten, auf Partymeilen.

Song gewordene Entgrenzungs- und Pornofantasien

In einem anderen Song, Kenn nicht deinen Namen – Scheißegal (Besoffen) aus dem Jahr 2009, lässt Peter Wackel seinen „Helden“ mit immer neuen Frauen die Nacht verbringen. Der unglaublich lustige Clou: Hinterher kann er sich – natürlich aus Vollrauschgründen – an keine mehr erinnern. Und, ganz wichtig: Es ist dem Hallodri auch völlig schnuppe. Textauszug: „Ich traf sie an der Bar vom ‚Oberbayern’. Ja, ihr T-Shirt war nass, und wir hatten viel Spaß, gemeinsam zu feiern. Zu mir oder zu dir? Oder am Strand unter die Sterne. Du zeigtest mir den großen Bär, du mochtest mich sehr und ich dich ganz gerne. Doch ich seh sie nie wieder, nie wieder.“ Zum Mitschmettern heißt es dann im Refrain: „Ich weiß leider nicht mehr, wie du aussiehst, kenn nicht deinen Namen, scheißegal! Besoffen!“

Die beiden Wackel-Songs tragen die Kernelemente eines erfolgreichen Bierzelt-, Skihütten- und Ballermann-Hits in sich: eine rustikale Schlüpfrigkeit, mit der auch gern mal harmlose Schlager-Evergreens neu aufgepumpt werden, ein flotter Beat, Anflüge von Stadiongesängen, dazu wenig schmeichelhafte Storys von übermäßigem Alkoholkonsum und beliebigem, fast schon zwanghaftem Sex ohne jede Verpflichtung – es geht um Song gewordene Entgrenzungs- und Pornofantasien, in denen das Gegenüber zum bloßen Objekt degradiert wird. „Geiles“ in allen Facetten, die endlose Partynacht, alle möglichen Getränkenamen und das Fehlen jeglicher Verpflichtungen sind die Schlüsselmotive. Tiefe Gefühle? Fehlanzeige. Und am nächsten Abend geht’s mit dickem Kopf einfach weiter. Es ist ein von Männern dominiertes Haudrauf-Genre, in dem auch die heteromännliche Perspektive dominiert. Wer hätte anderes gedacht!

Alle Partyfrauen auf Linie

Aber hey: Es gibt auch weibliche Ballermann-Stars. Und was machen die? Bestätigen nicht nur den Status quo, sondern liefern auch das perfekte Gegenstück zu den Männermachosongs. So singt 2015 Mia Julia in Mallorca, da bin ich daheim: „Du bist der geilste Ort der Welt, bist unser Leben und alles was zählt. Hier an der Playa sind wir nie allein – Mallorca, da bin ich daheim. Nachts geht hier die Party, am Tag sind wir am Meer, wir feiern ohne Ende, als ob’s das Ende wär. Wir denken nicht zurück, wir denken nicht nach vorn, eins, zwei Bier, drei, vier Korn. Gebor’n, um zu leben, um zu feiern und zu sein, wie wir sind, niemals nüchtern, und wir feiern nie allein. Wir sind super sexy, und wir sind super geil. Denn wir lieben dieses Leben im Mallorcastyle.“ Zwar kommen bei Mia Julia ab und zu ein paar Beziehungsdetails und etwas Liebesleid ins Spiel, dazu feiert sie ein Mindestmaß an Miteinander, doch im Wesentlichen werden auch in ihren Songs viel Promille, die Partynacht und, natürlich, Sex, Sex, Sex beschworen. Als ehemaligem Pornostar nimmt man es ihr ganz besonders ab, wenn sie forsch und hochpoetisch bekennt: „Ich ficke gern, ich, ich ficke gern. Ich fick mich gern auf einen andern Stern.“ Ob ein Song wie Ich f*cke gern (2020) nun female empowerment ist oder einfach nur bestimmte Knöpfe bei den männlichen Partygästen drücken soll, müssen alle Lesenden selbst entscheiden. Nörglern allerdings schallt es gleich schon mal entschieden entgegen: „Ich ficke gerne, also fick dich!“

Zum Mia-Julia-Image passt auch ein kleiner Scherz aus dem Jahr 2016: die Preview einer Coverversion des Songs Die immer lacht von Kerstin Ott, der bereits 2005 veröffentlicht, aber erst 2015 im Remix von Stereoact zum Clubhit wurde. Der hintergründige Originaltext lautet: „Die ist die eine, die immer lacht, die immer lacht, die immer lacht, die immer lacht, oh, die immer lacht. Und nur sie weiß, es ist nicht, wie es scheint. Oh, sie weint, oh, sie weint, sie weint, aber nur, wenn sie alleine ist.“ Bei Mia Julia, Schenkelklopf!, wird daraus der folgende Unsinn: „Ich bin hier und bin immer nackt, bin immer nackt, immer nackt, immer nackt, oh, bin immer nackt. Und ihr wisst, denn es ist so, wie es scheint – komm‘ ich tanz‘, komm‘ ich tanz‘, ich tanz‘, aber nur, wenn ich am Feiern bin.“ In Videos und auf der Bühne tritt „Frohnatur“ Mia Julia dann auf, als sei sie gerade einem ihrer Erotikstreifen entsprungen. Damit präsentiert sie sich exakt als das „geile Luder“, das die männlichen Stars in ihren Songs beschwören. Eher auf Lolita-Charme setzt dagegen Kollegin Frenzy Blitz mit ihren frechen Zöpfen. Mal beschwört sie den Status Jung blöd besoffen (2018), mal fordert sie gut bestückte Kerle. So heißt es, ebenfalls 2018, im „Kracher“ 20 Zentimeter: „Das sind nicht 20 Zentimeter, nie im Leben, kleiner Peter. 20 Zentimeter sind in Wirklichkeit viel größer. Das kannst du echt vergessen, da hast du dich vermessen. Ich sag es kurz und bündig: Bei Kurzen, da verschwind ich.“

Selbstbestätigung fürs Feierkollektiv

Es ist immer wieder faszinierend und irritierend zugleich, wie in Musikvideos und Livemitschnitten neben krebsroten Basecap-Jungs und mittelalten Hüftgold-Casanovas auch grinsende Bikini-Teenies und tiefbraun gebrannte Hausfrauen begeistert mitklatschen, mittanzen, mitgrölen. Und natürlich: Ist doch alles nur ein Riesenspaß, hochgradig selbstironisch, nicht ganz ernst gemeint. Trinkt man sich das Ganze schön, dann kann man tatsächlich der konsequent forcierten Suggestion erliegen, all diese Songs feierten den Exzess gänzlich unschuldig und mit einem charmanten Augenzwinkern. Nüchtern betrachtet aber werden hier aufdringlich gut gelaunt Kontrollverlust und Entgrenzung, Komasaufen und Komasex, ein gesundheitsschädliches und komplett empathieloses Verhalten idealisiert. Jeder und jede benutzt hier jede und jeden. Die Songs sind nicht nur der Soundtrack zum tumben Treiben, sie geben auch die simplen Regeln vor. Am Ende sanktionieren sie diese anspruchsloseste Variante der Party- und Eventkultur als absolut angemessenes Verhalten. Wenn das, was passiert, sogar in Liedern besungen wird und die Hitparaden stürmt, dann darf sich das Feierkollektiv sicher sein, Fun-Avantgarde zu sein – und dass alles gut und schon irgendwie okay ist so, wie es ist. Es ist ein bisschen wie beim Gangsta-Rap: Übelste Botschaften werden als harmloses Entertainment verkauft und konsumiert, Kritik daran gilt als uncool.

Hier kommt Layla

Supercool ist sicher auch das kleine Subgenre des Bordellbesuch-Songs, so wie Layla einer ist. Im diesjährigen Überraschungshit von DJ Robin & Schürze passiert eigentlich nicht viel mehr, als dass ein junger Mann gekobert wird, es mal mit der Prostituierten Layla zu versuchen. „Ich hab nen Puff, und meine Puffmama heißt Layla“, lockt der Koberer den Protagonisten, „sie ist schöner, jünger, geiler, La-la-la …“  Und natürlich wird der junge Mann nicht enttäuscht. Fortan feiert er das „Luder Layla, unsere Layla“ – und das war’s auch schon. Ganz ehrlich: Layla ist strunzdämlich und alles andere als charmant. Aber sprachlich deutlich weniger offensiv als viele verwandte Songs und gleichzeitig auf eine verquere Art entlarvend ehrlich. Denn wo sich Komasaufen, Komasex und übermenschliches Feiern bei allen Nightlife-Bezügen immer noch als Hyperspaß, als humorvoll zugespitzte Fiktion verharmlosen lassen – sind Prostitution und diskrete Bordellbesuche von Männern aus allen Schichten, ob Singles oder in Beziehungen lebend, banale Realität. Partyhits sind hochnotpeinlich, feiern Exzesse und Sexismus, dass es nur so kracht, und bisher hat noch kein Wirt oder Veranstalter einen Partyhit auf seiner Sause verboten – sie kurbeln ja auch den Umsatz an. Ausgerechnet beim Thema Prostitution aber erheben 2022 manche Eventmacher plötzlich den moralischen Zeigefinger und verweisen auf die Ausbeutung der Frau und die häufig nicht ganz freiwillige Erbringung von sexuellen Dienstleistungen, auf Dinge also, die echt nicht okay seien, also auch nicht in Songs thematisiert werden sollten: Layla wird nun in manchen Partylocations untersagt, und das, obwohl – oder gerade weil – ein gewisser Prozentsatz der männlichen Besucher dort einschlägige Erfahrungen im Rotlichtmilieu haben dürfte. Kann nicht sein, was nicht sein darf? Will man ein seriöses Publikum nicht vergraulen? Die Lage ist diffus. Die Peinlichkeiten, die die feiernde Masse durch ausgelassenes Niederbechern und Wegsingen für sich selbst verharmlost, prangern Wirte eben kurz mal an. Doch letztlich auch nur fürs Protokoll, denn die Meute will den Song hören, und die DJs mogeln ihn in irgendeiner trickreichen Version doch ins Programm. Vermutlich auch demnächst beim Oktoberfest. Das alles ist ebenso heuchlerisch wie der Verweis auf saubere volksmusikalische Traditionen, die bewahrt werden sollen – ist doch auch die volksmusikalische Jux- und Gaudimusik seit jeher ebenfalls gespickt mit Schweinigeligkeiten respektive politischen Unkorrektheiten der derbsten Art. Der Rassismusvorwurf, der bei Layla – Achtung: arabischer Name! – schon mal in den Ring geworfen wird, lässt sich dagegen leicht entkräften. Hier dürfte ganz einfach der Reim dominieren: Denn wenn „geil“ und „geiler“ Schlüsselwörter des rustikalen Feiersongs sind und man unbedingt einen weiblichen Vornamen darauf reimen will, dann kommt man an Layla einfach kaum vorbei.

Verschiedene Vorgängerinnen

Und doch verweisen DJ Robin & Schürze mit ihrem Song – ob unbewusst oder in voller Absicht – auf gleich mehrere Vorgängerinnen. Zum Beispiel auf die Leila (mit „ei“) aus einem Stück von Adolf Dauber und Fritz Löhner-Beda, geschrieben 1928. In diesem uralten Tango will ein Schmachtender „heute Nacht“ seine Leila endlich wiederseh’n, ihre „schlanken braunen Glieder seh’n“. Und er bittet sie: „Für diese Nacht erwähle mich, küsse mich, quäle mich!“ – nicht mehr und nicht weniger. Auf diesem Original bauten Joachim Dauber und Georg von Breda Jahre später ihr Tangolied Laila auf: Nun handelte es von einem liebeskranken Legionär, der eine weitere Nacht mit seiner Lieblingsprostituierten verbringen will: „In der magisch hellen Tropennacht / Vor dem Frauenhaus in Algiers / Hat ein dunkles Auge angelacht / Den armen bleichen Legionär …“ Und dann der altbekannte Refrain: „Laila, heute Nacht will ich dich wiederseh’n / Laila, deine schlanken braunen Glieder seh’n …“ Das Lied beschwört eine triefende Seemanns- und Rotlichtromantik, an der sich damals aber niemand störte.

Doch 1960 traten die Regento Stars aus den Niederlanden auf den Plan, und nun wurde es problematisch. Die Band nahm den Song in Amsterdam als Debüt-Single für das kleine Label Tivoli auf und landeten in der Heimat einen Überraschungshit. Vertreter der Firma Philips stießen erstmals im Raum Aachen auf die Platte, „wo Grenzjäger das ‚Laila’-Lied als attraktives Souvenir einer Hollandfahrt in die Bundesrepublik einschmuggelten“, wie es in Medienberichten heißt. Philips übernahm Laila ins deutsche Programm und manövrierte sich damit in einen Skandal. Denn als wären die bekannten Lyrics nicht schon bescheuert genug, wurde in einer gesprochenen Passage auch noch ein fremder Liedtext verwurstet, nämlich der zum „Romantischen Tango“ Stellen sie sich vor, ich bin ein wilder Räuber.Autor: Peter Igelhoff. Der Fairness halber muss man konstatieren: Schon Igelhoffs Lyrics sind nicht ohne. Aber sie wurden vom Künstler ironisch-süffisant, fast satirisch präsentiert. Da trifft ein Mann auf weiter Flur, in der Natur, eine Frau, die nur vielleicht wie er auf der Suche nach Abenteuern ist. Seine Ansprache im Refrain ist, vorsichtig gesagt, offensiv: „Stellen Sie sich vor, ich bin ein wilder Räuber“, heißt es da, „Und Sie gehen nachts allein im Wald! / Stellen Sie sich vor, ich raub’ auch schöne Weiber / Wird es Ihnen da nicht heiß und kalt? / Stellen Sie sich vor, ich ruf’ jetzt: ‚Hände hoch!’, / Und ich küss’ Sie tausendmal und mehr!“ Au weia! Natürlich hat der Sprecher einen bissigen Kommentar zu den Männern seiner Zeit im Sinn: „Hätten Sie nicht gern, wenn die Herrn / Doch ein wenig wilder wär’n?“ Und doch verwundert, wie spaßig-nett hier ein sexueller Übergriff verkauft wird.

Regento Stars – ihre Laila hat es in sich

In der Laila-Version der Regento Stars greift Sänger Bruno Majcherek eben jenen Wilder Räuber-Text auf und kommt schnell zur Sache. Gleich nach dem ersten Refrain gibt er den radebrechenden Conferencier, beginnt mit der von Igelhoff geklauten „Hände hoch!“-Mär – und gibt ihr schon nach wenigen Zeilen einen seltsamen neuen Dreh. Ganz und gar nicht süffisant, sondern bestens gelaunt, in Herrenwitz-Manier, heißt es da: „Stellen Sie sich vor, meine Damen und Herren, ich wär einen wilden Räuber. Stellen Sie sich vor, Sie liefen ganz allein rum im Wald, ich tät rufen von ‚Hände hoch, oder ich schieße sie!’ Wäre das nicht wunderbar? Fühlen Sie jetzt, meine Herren, dass die Damen vollkommen willenlos sind geworden, denn bei der zweiten Strophe hat sich schon eine ganze Menge junge Damen in dem Sekt- und Schnapstrinken verschluckt …“ Und dann geht’s weiter mit dem altbekannten Legionär, der einmal mehr heißblütig fleht: „Küsse mich, quäle mich!“ Es ist eine krude Collage aus Anzüglichkeiten: Angriffe auf einsame Frauen im Wald; Frauen, die den sexuellen Übergriff am Ende auch noch prickelnd finden; Legionäre, die sich nach Sex mit einer Prostituierten sehnen; und – last but not least – ein unappetitlich vielsagender Hinweis an die Herren im Publikum: Die berauschten Damen an ihrer Seite seien inzwischen willenlos geworden. Oh Mann …

Auch weil hier gleich mehrere Ichs zusammengeworfen wurden und eine einheitliche Stimme nicht zu vernehmen ist, fällte der UfaTon-Verlagsleiter Rudolf Förster das vernichtende Urteil: „Weder der Text noch die Musik, noch das Arrangement, noch die Aufnahme, noch die Interpretation sind richtig. An dieser Platte stimmt nichts, außer, daß sie rund ist und schwarz.“ Heftige Reaktionen aber provozierte Laila von den Regento Stars primär wegen seiner sexuellen Anspielungen. Interessant ist die damalige Bewertung, die sich vor allem an der mutmaßlichen Freizügigkeit der Schilderungen und an der unziemlichen Beziehung der Protagonisten rieb. „Besonders die Springer-Presse schäumte, und auch die Moralwächter aus Kirche und Gesellschaft waren bereits hochrot angelaufen: Wie kann man die Liebe zu einer Hure besingen?“, fasst Gebhard Roese 2009 in seinem „Blog.wortwechsler.de“ zusammen. „Die Entrüstung der Presse- und Rundfunkkritiker schlug solche Wogen, dass die Philips in einer Presse-Verlautbarung mit der Begründung, es handele sich bei Laila um einen ‚Scherzartikel’, von ihrem Produkt abrücken musste.“

Die Folgen lagen auf der Hand: Deutsche Rundfunksender weigerten sich, die Platte zu spielen, und zeitweise war das Lied hierzulande verboten, vom Streit um Tantiemen-Ansprüche verschiedener Urheber ganz zu schweigen. Klar, dass das Machwerk erst recht ein Hit wurde. Was aus heutiger Sicht noch immer verblüfft, ist die Tatsache, dass sich insgesamt nur wenige Kritiker an den massiven sexuellen Übergriffen störten, die im Text empfohlen werden. Selbst der Essayband Musik & Zensur feiert Laila als noch sinnenfrohen Song, der „im Namen der wirtschaftswunderlichen Prüderie und Lustfeindlichkeit zensiert wurde.“ Zu verklemmten Fifties- und „Herrenwitz“-Zeiten mögen sich schmierige Möchtegern-Charmeure jovial gegenseitig auf die Schultern geklopft und etliche Damen verschämt Beifall geklatscht haben. Heute aber stünde so ein Unsinn als sexistisches Machwerk am Pranger, und zwar in den sozialen Medien. Zum Beispiel unter Hashtags wie #aufschrei und #MeToo.   

Tatsächliche rote Linien

Dagegen ist Layla von DJ Robin & Schürze nicht mehr als ein dummes, fades Witzchen. Kaum vorstellbar, dass sich Prostituierte verletzt fühlen könnten, das Ding ist einfach zu banal und im Kern sowieso nur ein endloses La-la-la. Hinzu kommt, dass Layla im Musikvideo von einem Mann gespielt wird, und das ist nun fast schon wieder sophisticated – als denkbare Anspielung auf den alten Kinks-Hit Lola. Trotzdem gut, dass das der einzige mögliche Brückenschlag zur britischen Popkultur bleibt. Hätten Robin und Schürze per Zitat oder Anspielung auch noch Eric Claptons Sehnsuchtsklassiker Layla in den Skandal hineingezogen, so mancher Rockliebhaber wäre wohl endgültig vom Glauben abgefallen.

An den Regento Stars aber, wie auch an fiesen modernen Bierzeltvarianten des Donaulieds, die aus einer einvernehmlichen amourösen Begegnung am Flussufer das mit hämischen Kommentaren versehene Vergewaltigen und Schwängern einer schlafenden Frau machen, lässt sich festmachen, wo tatsächlich rote Linien überschritten werden, die einen Boykott oder ein Aufführungsverbot rechtfertigen. Den Rest der Party-, Skihütten- und Ballermann-Songs muss man als tiefstmögliches Entertainment-Niveau schlichtweg ertragen. Wenn man diesen Teil der Massenkultur (Layla hielt sich wochenlang an der Spitze der deutschen Single-Charts) verbieten wollte, dann müsste man konsequent auch Prostitution verbieten – und die gesamte, obendrein CO2-emissionsintensive Ballermannkultur gleich mit. Und anschließend auch … Oje, aber wo sollte das dann noch hinführen?

Deshalb ist klar: Solche Verbote können und werden nicht erfolgen. Für empfindsamere und weniger Ballermann-affine Kulturfans heißt es also: Zähne zusammenbeißen und durch, zumal wir weitaus drängendere Probleme in Deutschland und der Welt haben. Nur als politische Partei sollte man sich nicht mit Songs wie Layla schmücken, das kann tatsächlich ins Auge gehen. So geschehen bei der Jungen Union (JU) Hessen, die im Juni ihre Landestagung mit Layla beschallte, ein Video davon ging viral. Das Ganze wirkte mehr als peinlich, der Spott war groß. Privat kann der politische Nachwuchs ja nach Belieben feiern, doch auf einer offiziellen Parteiveranstaltung ist er zu politischer Korrektheit verpflichtet. Schließlich präsentieren sich dort die Problemlösenden von morgen – und die muss eine Gesellschaft ernst nehmen können. Die JU-Verantwortlichen waren natürlich nicht die ersten Politiker:innen, die über den unüberlegten Einsatz von Songs gestolpert sind. Aber das ist wieder eine andere Geschichte.

Grüner geigen

Ebony and Ivory? Ein nicht ganz makelloser Antirassismus-Song … Gedanken zum Musikinstrumentenbau und zur ersten vegan zertifizierten Violine

Musik und Tierwelt: zwei Bereiche, die auf den ersten Blick kaum etwas miteinander zu tun haben. Auf den zweiten Blick aber kommt man ins Nachdenken. Denn traditionell wird beim Musikinstrumentenbau häufig auf Materialien von – getöteten, ausgeschlachteten – Tieren zurückgegriffen: Trommeln sind mit Tierhäuten bespannt oder mit Tierfellen überzogen, in Mundstücken findet sich Schildpatt von Schildkrötenpanzern. Akustische Gitarren verwenden für den Sattel, auf dem die Saiten aufliegen, Knochen von Rindern, und Violinensaiten bestehen aus getrocknetem Darm. Die Bögen bespannt man wiederum mit Rosshaar, dessen Gewinnung schonend, von lebenden Pferden erfolgen, aber auch mit Qualen verbunden sein kann. Ganz zu schweigen vom Knochenleim, der vielfach beim Zusammenfügen der Instrumententeile verwendet wird.

Vor diesem Hintergrund entwickelt auch Ebony and Ivory, der im Grunde gut gemeinte Antirassismus-Song von Paul McCartney und Stevie Wonder, einen schalen Beigeschmack. Wenn weißes Elfenbein und schwarzes Ebenholz perfekt harmonieren können auf der Klaviertastatur, so die Versöhnungsbotschaft des Evergreens aus dem Jahr 1982, warum kriegen das nicht auch schwarze und weiße Menschen hin? Der kleine Haken: Das Elfenbein für die weißen Tasten stammte lange Zeit von Elefanten, die häufig auch Opfer von Wilderern geworden waren, und das Ebenholz für die schwarzen Tasten ist zwar kein Tier, dafür ein kostbares Tropenholz, aufgelistet unter den gefährdeten Arten. So beschwören Wonder und McCartney unfreiwillig eine fragwürdige Harmonie. Zur Ehrenrettung der Herren: Sie haben es damals wohl nicht besser gewusst – so wie auch viele Fans, die den Song begeistert mitsummten, einschließlich des Autors dieses Textes. Erst seit Ende der 80er Jahre sind Artenschutzbestimmungen in Kraft, die auch im Musikinstrumentenbau die Verwendung tierischer Materialien und bedrohter Tropenhölzer zumindest einschränken.

Seitdem wird leidenschaftlich an Alternativen geforscht. Und das hat speziell im Geigenbau zur ersten als frei von Tierleidprodukten zertifizierten Geige der Welt geführt. Das Anfang des Jahres von der Vegan Society ausgezeichnete Instrument stammt von dem renommierten Geigenbauer Padraig ó Dubhlaoidh aus dem Hause Hibernian Violins im britischen Malvern, Grafschaft Worcestershire. Für das Futter nahm er gedämpfte Birnen, das Holz färbte er mit dem Saft von Waldbeeren, und beim Bindemittel setzte er unter anderem auf Quellwasser aus der Region. Angeregt wurde Padraig ó Dubhlaoidh während der Corona-Zeit durch nachdenkliche Kundinnen und Kunden, die ihre Violine endlich frei von ethischen Bedenken spielen wollten. Die Auszeichnung der Vegan Society bezieht sich allerdings nur auf den Korpus des Instruments – für Bögen und Saiten gibt es schon länger pflanzliche und andere nichttierische Optionen. Umgerechnet 9.600 Euro kostet das gute Stück, was sich bei steigender Nachfrage jedoch ändern kann. Und natürlich ist Padraig ó Dubhlaoidh nicht der einzige Geigenbauer, der nach veganen Gesichtspunkten arbeitet – sein Werk wurde lediglich als Erstes entsprechend zertifiziert. Unter deutschen Spezialisten wird am häufigsten Jan Meyer in Leipzig genannt.

Ein nicht ganz unwesentlicher Aspekt des nachhaltigen Instrumentenbaus ist natürlich die Frage, ob die Verwendung anderer Materialien zu einem veränderten Klang führt, und wenn ja, ob der Klang gleichwertig oder eher schlechter ist. Hier wird unter Fachleuten leidenschaftlich gestritten. Man darf aber davon ausgehen, dass Spezialisten wie Jan Meyer und Padraig ó Dubhlaoidh vor dem Hintergrund ihrer eigenen hohen Ansprüche schon aus Prinzip nicht mit minderwertiger Ware an die Öffentlichkeit gehen würden. Und dass auch beim Musikhören vieles einfach eine Frage der Gewöhnung ist.