Ein Splatterfilm im Songformat

Geto Boys, Mind of a Lunatic

Ein Textauszug:

Don Fernando, dieser göttliche Held, stand jetzt, den Rücken an die Kirche gelehnt; in der Linken hielt er die Kinder, in der Rechten das Schwert. Mit jedem Hiebe wetterstrahlte er einen zu Boden; ein Löwe wehrt sich nicht besser. Sieben Bluthunde lagen tot vor ihm, der Fürst der satanischen Rotte selbst war verwundet. Doch Meister Pedrillo ruhte nicht eher, als bis er der Kinder eines bei den Beinen von seiner Brust gerissen, und, hochher im Kreise geschwungen, an eines Kirchpfeilers Ecke zerschmettert hatte. Hierauf ward es still, und alles entfernte sich. Don Fernando, als er seinen kleinen Juan vor sich liegen sah, mit aus dem Hirne vorquellenden Mark, hob, voll namenlosen Schmerzes, seine Augen gen Himmel.

Ein Auszug aus einem Song? Nein, aus einem Prosatext. Irgendwas aus den letzten Jahrzehnten? Nein, die Zeilen wurden schon Anfang des 19. Jahrhunderts verfasst. Ach was? Es handelt sich um den vorletzten Abschnitt der Novelle Das Erdbeben in Chili von Heinrich von Kleist. Darin geht es, ganz knapp skizziert, um zwei Liebende, die aufgrund eines schweren Erdbebens und der daraus resultierenden Wirren mit ihrem kleinen Sohn aus der eigentlich zu Unrecht verhängten Haft fliehen können. Außerhalb der Stadt sammeln sich die Überlebenden, und es scheint, als habe die schreckliche Katastrophe die alten sozialen Strukturen und gesellschaftlichen Dynamiken beseitigt – als sei ein neues, friedlicheres, freieres Leben möglich. Doch als das Paar gemeinsam mit der Familie des Adeligen Don Fernando zu einem Gottesdienst in die Stadt zurückkehrt, initiiert ein aufgebrachter Mob ein Blutbad, bei dem nicht nur die beiden Protagonisten, sondern auch Don Fernandos Schwägerin und sein Sohn Juan ums Leben kommen.

Die explizite Gewaltdarstellung, die man heute auch mit dem Begriff „Splatter“ umschreiben würde, war zu Kleists Zeit noch völlig neu. In der Folge setzte sie sich in verschiedenen literarischen Genres, auch abseits von Krimi und Horrorthriller, durch – im 20. Jahrhundert sahen es vor allem Filmregisseure als Herausforderung, die Möglichkeiten und die Grenzen des explizit Darstellbaren auszuloten. Die ständige Weiterentwicklung der Tricktechnik dürfte dabei ein wesentlicher Motor sein. Auch hier herrscht heute Konsens: Die explizite Gewaltdarstellung kann einen „künstlerischen Wert“ haben, wenn sie nicht um ihrer selbst willen erfolgt und wenn sie nicht dazu dient, zur Gewaltanwendung aufzurufen.

Kleist beschrieb zu seiner Zeit eine „gebrechliche Einrichtung der Welt“ – seine Novellen sind gekennzeichnet von einer grundlegenden Skepsis gegenüber dem Menschen. Entgegen Aufklärern und Romantikern, die womöglich von der Entwicklung der Menschheit auf einen paradiesischen Idealzustand hin träumten, legte er brutale gesellschaftliche Mechanismen offen und zeigte den Menschen als schwach, als irrational und zu unvorstellbarer Gewalt fähig. Analog dazu halte ich etwa heutige Horror- und Splatterfilme dann für grundsätzlich interessant, wenn sie die Gewaltdarstellung in einen ernsten Kontext einbetten: wenn der Schrecken aus einer auf Umweltsünden reagierenden Natur resultiert; wenn Zombies die Auswüchse einer dekadenten Konsumgesellschaft repräsentieren; oder wenn die Taten von Psychopathen auf schwere Traumata, aber auch auf soziale Fehlentwicklungen schließen lassen. Im Kontext hintergründiger Satiren und Grotesken oder auch im nicht ganz ernst gemeinten, spielerischen Austesten der Möglichkeiten filmischer Spezialeffekte kann ich Splatterelemente ebenfalls aushalten.

Keine Angst, das Video enthält keine expliziten Gewaltszenen

Solche Gedanken möchte ich dem folgenden Songbeispiel vorausschicken. Es geht um Mind of A Lunatic, ein Stück des amerikanischen Hip-Hop-Trios Geto Boys von 1989/90. Hier werden in Ich-Form explizit verschiedenste Gewaltverbrechen beschrieben: „The sight of blood excites me, shoot you in the head / Sit down, and watch you bleed to death“, heißt es in der ersten Strophe, „Der Anblick von Blut törnt mich an, ich schieß dir in den Kopf / Dann setz ich mich hin und seh dir zu, wie du verblutest.“ Schon das klingt überaus drastisch. Es ist aber, man kann es nicht anders sagen, noch harmlos verglichen mit dem, was folgt. In der zweiten Strophe überfällt der Sprecher eine Frau, die er schon länger als Spanner beobachtet hat, vergewaltigt sie und schneidet ihr die Kehle durch, um sich anschließend noch einmal an dem leblosen Körper zu vergehen. War der Erschossene aus der ersten Strophe „in the right place with me at the wrong time“, ist die Frau aus der zweiten Strophe in den Augen des Täters selber schuld, weil sie die Vorhänge nicht zugezogen habe: „Shouldn’t have had her curtains open, so that’s her fate.“ In der dritten Strophe geht es um Drogenkonsum („when I’m high“) und die Selbstcharakterisierung als „homicidal maniac with suicidal tendencies“, als mordender Irrer mit selbstmörderischen Tendenzen. Das Song-Ich der vierten Strophe tötet erst die kokainsüchtige Freundin und dann deren Großmutter, um schließlich in eine blutige Schießerei mit der Polizei zu geraten, die das Haus umstellt hat. Zwei weitere Strophen erzählen vom Werdegang dieses Psychopathen und unterstreichen seine menschenverachtende Einstellung.

Ist es immer derselbe Psychopath, der hier spricht – oder sind es mehrere gestörte Killer? So genau kann man das nicht sagen. Weil aber nur schwer vorstellbar ist, dass alle geschilderten Verbrechen von ein und demselben Täter begangen werden, und jede Strophe von einem anderen Bandmitglied gerappt wird, gehe ich von verschiedenen Ich-Sprechern aus. Die Drastik und die grelle Überzeichnung der Lyrics unterstreichen den Rollencharakter dieser Sprecher. Natürlich sind die Lyrics zu Mind of A Lunatic gegen die sprachlich fantastische, atmosphärisch und psychologisch dichte Novelle von Heinrich reichlich simpel gestrickt. Aber ebenso wenig wie Kleist kann man den Geto Boys Gewaltverherrlichung oder den Aufruf zur Gewalt unterstellen – dazu gibt es in ihrem Song zu viele distanzierende Elemente. Am deutlichsten fallen hier der Songtitel und regelmäßig wiederkehrende Zeilen wie „This is what goes on in the mind of a lunatic“ aus, das heißt, die Schilderungen werden eindeutig als Taten oder Fantasien eines Wahnsinnigen charakterisiert. Der Effekt ist ein ähnlicher wie in Frank Zappas Song Bobby Brown, der die besungenen Verirrungen und Geschmacklosigkeiten ganz klar einem Rollen-Ich zuweist, im Sinne eines Spiegelmonologs. Hinzu kommen Vergleiche des Täters mit „Jason“ und „Freddy“, den Psychopathen aus den Filmen „Freitag der 13.“ und „Nightmare on Elm Street“, das heißt mit Protagonisten aus fiktiven Horrorszenarien. Auffällig ist auch die völlig überzogene Aneinanderreihung der unterschiedlichsten Schreckenstaten, von kaltblütigem Mord über Vergewaltigung und Nekrophilie bis hin zum Amoklauf inklusive Polizistenmord. Das wirkt wie das akribische Abarbeiten einer Liste von Abscheulichkeiten, von denen eine schlimmer als die andere ist. Ähnlich wie in einigen Heavy-Metal-Spielarten, in denen sich die Bands im Sinne eines „Noch härter, noch wüster, noch extremer“ gegenseitig zu übertreffen versuchen, scheinen sich auch die Geto-Boys-Mitglieder von Strophe zu Strophe von einem Extrem ins nächste zu pushen. Letztlich aber wirken Musik und Vortrag als distanzierende, ja relativierende Elemente. Die Raps klingen verhältnismäßig unaufgeregt, bisweilen sogar lakonisch, und Beat und Arrangement ergeben einen fast schon geschmackvoll zu nennenden harten Groove.

Mind of a Lunatic ist nur eins von mehreren Geto-Boys-Stücken, die die Darstellung von Verbrechen und Perversionen auf die Spitze treiben und in Verbindung mit bestechend cooler Musik eine irritierende Gemengelage zelebrieren. Ich kann jeden Menschen verstehen, der diese Ästhetik als abstoßend empfindet und keine Lust hat, sich damit zu beschäftigen. Auch der Plattenfirma Geffen war dieser künstlerische Ansatz seinerzeit ein zu heißes Eisen – sie weigerte sich nach heftigen Kontroversen, den Vertrieb für das Album Geto Boys, das Mind of A Lunatic und andere ultraharte Songs enthält, zu übernehmen. Das kann man natürlich akzeptieren. Unverständlich aber wäre es, diese Art von Songs pauschal als gewaltverherrlichend und frauenfeindlich abzustempeln. Die furchteinflößende Wirkung, die von tatsächlichen „hate songs“ etwa aus der politisch extremen rechten Ecke ausgeht, kann man Mind of A Lunatic nicht attestieren – auch wenn den Geto Boys im Alltag der Umgang mit Waffen vertraut scheint und sie nicht gerade als Meister der friedlichen Konfliktlösung bekannt sind. So verlor Geto Boy Bushwick Bill einst ein Auge, als sich während einer Auseinandersetzung mit seiner Freundin ein Schuss aus einer Waffe löste – ein tragischer Vorfall und eine schreckliche Verletzung, die prompt bei der Promotion des nächsten Albums weidlich ausgeschlachtet wurde.
Im Grunde übertrugen die Geto Boys vor rund 30 Jahren eine Horror- und Splatterfilm-Ästhetik auf den Rapsong, um mit diesem auch als „Horrorcore“ bezeichneten Stil ein Alleinstellungsmerkmal zu kreieren. Und wenn man so will, hatte das Ganze auch eine sozialkritische Komponente. Denn die Lyrics trieben die reale Situation in manchem amerikanischem Schwarzen-Ghetto – eine durch Hoffnungslosigkeit und extremen Drogenkonsum befeuerte Atmosphäre der Gewalt – in ihren Songs künstlerisch auf die Spitze. Das Leben im Ghetto als Horror- und Splatter-Spektakel gewissermaßen. Dass die Geto Boys vor allem in den USA und weniger in Europa kontrovers diskutiert werden, mag auch an ihrem geringen Bekanntheitsgrad in unseren Breiten liegen. 

Am 14. März 2019 erscheint bei WBG/THEISS mein neues Buch Provokation! Songs, die für Zündstoff sorg(t)en. Vorgestellt werden rund 70 Songklassiker der letzen hundert Jahre, die zu ihrer Zeit die Gemüter erhitzten und zum Teil noch heute kontrovers diskutiert werden – von Rock Around the Clock bis Relax, von Anarchy in the U.K. bis zum Punk-Gebet, von Rache muss sein bis Stress ohne Grund, von der „British Invasion“ bis zum Echo-Skandal 2018. Den Band ergänzen Betrachtungen zu den wichtigsten Darstellungsformen im Song und Antworten auf 26 Fragen rund um das Thema Songprovokationen. Mit weiteren Texten zum Thema gibt „tedaboutsongs“ einen kleinen Vorgeschmack.

   

Hymnenstreit

Vor rund 50 Jahren zertrümmerte Jimi Hendrix beim legendären Woodstock-Festival die amerikanische Nationalhymne: The Star-Spangled Banner

Woodstock, August 1969: Im Rahmen seines Auftritts beim wohl berühmtesten Festival der Rockgeschichte stimmt Jimi Hendrix auf seiner E-Gitarre plötzlich die amerikanische Nationalhymne an. Hoppla, soll das etwa ein patriotisches Bekenntnis sein? Die Irritation im Hippie-Publikum währt nur wenige Sekunden. Denn dann wird klar, dass Hendrix genau das Gegenteil vorhat. Wir erinnern uns: Die amerikanische Nationalhymne entstand 1814 während des Britisch-Amerikanischen Krieges – Textautor Francis Scott Key soll damals vom Anblick der amerikanischen Flagge, des „Sternenbanners“, inspiriert worden sein, die nach einer Schlacht bei Baltimore immer noch stolz über dem US-Fort wehte. Bei Hendrix jedoch bleibt nichts intakt, und von Stolz kann erst recht keine Rede sein. Der schwarze Ausnahmemusiker reißt die US-Flagge akustisch regelrecht auseinander. Mehr noch: Mit Effekten wie Tremolo, Rückkopplung und extremem Pitching simuliert er Maschinengewehrfeuer, Alarmsirenen und markerschütternde Schreie. So greift er einerseits den martialischen Entstehungskontext der Hymne auf und nutzt sie andererseits zu einer lärmenden Kritik am Vietnamkrieg. Amerika ist in dieser Version nicht das „Land der Freien“ und die „Heimat der Tapferen“ („land of the free“, „home of the brave“), sondern eine kriegstreibende Nation, die sich in ferne Konflikte einmischt, Napalmbomben wirft und unzählige Opfer „produziert“. Der heroische Songtext wird nicht nur vielsagend ausgeblendet, man könnte sogar interpretieren: Er geht im instrumentalen Schlachtenlärm gänzlich unter.

Ein derart destruktiver Akt wird von bedingungslosen Patritoten und vom gesellschaftlichen Establishment natürlich als Verunglimpfung interpretiert. Vor allem in den Südstaaten droht man dem Gitarristen Gewalt an, sollte er seine Version der Nationalhymne dort live spielen. Darüber hinaus polarisiert Hendrix als schwarzer Künstler und als Symbol für Integration: In seinen Bands, zum Beispiel in mehreren Experience-Besetzungen, spielten ganz selbstverständlich auch weiße Musiker. Und in seinem Umfeld tummelten sich viele weiße Frauen, die sich einen Dreck um Rassentrennung scherten. Das rief drastische Reaktionen hervor, führte aber auch zu Haltungsänderungen. In ihrem Aufsatz „Voodoo Child: Jimi Hendrix and the Politics of Race in the Sixties“ erzählt die Historikerin Lauren Onkey, wie der Band samt Entourage vor allem im Süden der USA Hotelzimmer und Restaurantbesuche verweigert wurden. Ihr Status als populäre „integrierte Band“ habe sowohl die Chancen als auch die Grenzen der Rassenintegration offengelegt. Immerhin habe Hendrix in dieser Richtung auch Emanzipationserfolge verzeichnet: „His extensive touring claimed the right of an African American to play with white musicians and consort with white women whenever and wherever he chose.“

Am 14. März 2019 erscheint bei WBG/THEISS mein neues Buch Provokation! Songs, die für Zündstoff sorg(t)en. Vorgestellt werden rund 70 Songklassiker der letzen hundert Jahre, die zu ihrer Zeit die Gemüter erhitzten und zum Teil noch heute kontrovers diskutiert werden – von Rock Around the Clock bis Relax, von Anarchy in the U.K. bis zum Punk-Gebet, von Rache muss sein bis Stress ohne Grund, von der „British Invasion“ bis zum Echo-Skandal 2018. Den Band ergänzen Betrachtungen zu den wichtigsten Darstellungsformen im Song und Antworten auf 26 Fragen rund um das Thema Songprovokationen. Mit weiteren Texten zum Thema gibt „tedaboutsongs“ einen kleinen Vorgeschmack.