TV-Serie „Sons of Anarchy“: Peggy Bundy rockt den Mythos

Im deutschen Fernsehen liefen nur die ersten drei Staffeln, in Amerika feiert man schon den 6. Durchgang. Die ersten beiden Staffeln werden hierzulande gerade auf ProSieben Maxx wiederholt, bevor dann irgendwann bei irgendeinem Sender hoffentlich auch die synchronisierte 4. Staffel startet: Die Rede ist von der TV-Serie „Sons of Anarchy“. Das ungewöhnliche Rocker-Epos bietet nicht nur Dramatik und schauspielerische Aha-Erlebnisse, sondern auch rockmusikalische Überraschungen. 

 Wie schafft es Amerika bloß immer wieder, jeglichen Kredit zu verspielen – wenn doch in den Staaten so unglaublich gute, unglaublich erfolgreiche, unglaublich weise Fernsehserien produziert werden? Es sind Serien, die tief in die amerikanische Seele blicken lassen und damit letztlich andeuten, was und wie man es besser machen könnte. Die Rede ist natürlich NICHT von Erfolgsserien wie „CSI“, „Criminal Intent“, „Burn Notice“ oder „The Mentalist“. Die mögen vielleicht unterhaltsam sein, gaukeln aber letztlich dem Publikum nur vor, dass die USA in Gestalt von aufrechten Einzelgenies oder ausgeschlafenen Behörden jederzeit alles Griff haben: ihre Technik, sich selbst, die Feinde im Innern, die Feinde in aller Welt. Denn tatsächlich haben die betreffenden Behörden und Entscheider, wie man täglich in den News verfolgen kann, überhaupt nicht viel im Griff: Sie kapitulieren vor Naturkatastrophen, Lobbys und Terroristen, unterstützen immer wieder die falschen Regimes, scheinen geleitet von Paranoia, mischen sich konzeptlos in Kriege ein und wirken obendrein zu dumm, ihren Kontrollwahn vor der Weltöffentlichkeit geheim zu halten.

Nein, die Rede ist von Serien wie „Buffy“, „Mad Men“ und den „Sopranos“, „Boston Legal“, „Homeland“ oder „Deadwood“ – Qualitätsserien, die von Ausgrenzung und den Mechanismen der Gewalt, von Macht und Ohnmacht, von Selbstbehauptung und den Bedingungen des Scheiterns, von den Absurditäten und Pervertierungen des amerikanischen Traums, von einer auf Rücksichtslosigkeit, Gier und menschlichen Schwächen gegründeten Nation erzählen. Steile These: Wären solche TV-Serien Pflichtprogramm an amerikanischen Schulen und Universitäten, es gäbe womöglich kein Guantanamo und keine Spähprogramme, keinen „Krieg gegen den Terror“ – und die Waffenlobby hätte wesentlich weniger zu sagen.

An dieser Stelle gilt es, „Sons of Anarchy“ würdigen. Wer die Mafia-Serie „The Sopranos“ und die leider unvollendet gebliebene Western-Serie „Deadwood“ schätzte, kommt hier voll auf seine Kosten. Schon weil man ein paar „Deadwood“-Darsteller wiedertrifft. Das Prinzip aller drei Serien: Einblicke in die amerikanische Geschichte und in amerikanische Subkulturen spitzen Alltagserfahrung zu und schaffen eine Art Verfremdungseffekt. Denn im Grunde geht es genau um die Dinge, mit denen sich auch der normalste Mensch in der westlichen Welt von heute herumschlägt – um Familienkonflikte, um die Auseinandersetzung mit ungeliebten Nachbarn, bösen Chefs und Kollegen, um Sorgen mit dem pubertierenden Nachwuchs, um Visionen, Schicksalsschläge, Scheitern, um die Macht des Geldes, die Folgen der Globalisierung, um Selbstnehauptung. Durch die Übertragung in ungewöhnliche Milieus werden die Zusammenhänge künstlerisch überhöht – das macht sie spannend, interessant und, ja, transparent. Im Mafia-Milieu der Sopranos werden dann Chefs und Mobber auch mal aus dem Weg geräumt, und die Depressionen des nur nach außen starken Bosses Tony Soprano wirken noch anrührender. Wenn sich so ein Kerl seinen Ängsten und einer Therapeutin stellt, dann schafft das vielleicht auch ein überforderter Konzernmanager? In „Deadwood“ werden der tägliche Existenzkampf und das multiethnische Chaos moderner Metropolen am Beispiel der Gründung und Entwicklung einer Goldgräberstadt verhandelt – gelegentliche Gewaltexzesse unterstreichen, wie brutal dieser Existenzkampf und der „Vom Tellerwäscher zum Millionär“-Mythos eigentlich sind. Die Rocker-Saga um den „Sons of Anarchy Motorcycle Club Redwood Original“ (kurz: SAMCRO oder Sam Crow), der hinter der Fassade einer Kfz- und Motorrad-Reparaturwerkstatt nicht nur Waffen- und Drogen-Deals abwickelt, sondern auch mit den Behörden kooperieren und sich rivalisierende Gangs vom Leibe halten muss, erzählt von zerbrochenen Idealen, einem Vater-Sohn-Konflikt und den vielen erzwungenen Kompromissen und unliebsamen Allianzen im Leben. Es ist ein komplexes Netz aus Anhängigkeiten und Schuld, in das sich die Charaktere immer tiefer verstricken…

Warum Rocker? Weil der Rocker etwas Mythisches hat, erst recht in der amerikanischen Kultur. Er steht einerseits für Kraft und Energie, für Freiheit und Abenteuer, andererseits für Gewalt und Verbrechen, für überkommene patriarchalische Strukturen. Nicht nur die Rolling Stones waren erschüttert, als 1969 beim Festival in Altamont die als Sicherheitskräfte eingesetzten Hell’s Angels unter Alkohol- und Drogeneinfluss zunächst Konzertbesucher und Musiker anpöbelten und dann den Schwarzen Meredith Hunter erstachen, der mit einer Pistole herumgefuchtelt hatte. Den tragischen Vorfall behandelt der berühmte Dokumentarfilm Gimme Shelter von Charlotte Zwerin und Albert und David Maysles, in dem sich ein fassungsloser Mick Jagger noch einmal die schrecklichen Bilder ansieht.

Auch der ebenfalls 1969 erschienene Kinoklassiker Easy Rider zelebriert den Zwiespalt: Während Steppenwolf ihr hymnisches Born to Be Wild schmettern, zeigt die Story zwei Rocker als gesellschaftliche Außenseiter, die mit Drogen dealen und im Konflikt mit reaktionären Rednecks den Tod finden. In seinem Song The Angel aus dem Jahr 1973 beschreibt auch Bruce Springsteen den Rocker als brutalen Outlaw, der sich bei aller Faszination, die er mit seinem Lebensstil ausübt, auf einem Trip in den Tod befindet. Er mag auf sinnsuchende Jugendliche einen großen Eindruck machen – eine im positiven Sinne gesellschaftsverändernde Kraft besitzt er nicht. Der große Aufbruch der „nomadic hordes in Volkswagen vans“ geht buchstäblich vorüber an diesem „Todesengel“, der auf seiner stählernen Hure („metal whore“) lieber „Sackgasse“-Schildern folgt.

In „Sons of Anarchy“ wird der Zwiespalt abgearbeitet am Konflikt zwischen dem jungen Jax (Charlie Hunnam) und seinem Ziehvater Clay (Ron Perlman, bekannt aus den Fantasy-Streifen Hellboy und zusammen mit zuletzt im Monster-Fantasy-Blockbuster Pacific Rim besetzt). Jax’ leiblicher Vater ist bereits tot, er war beseelt von der Idee einer hippiehaften, freiheitsliebenden Rocker-/Outlaw-Gemeinschaft. Unter ihrem jetzigen Anführer Clay aber, der gleichwohl seine sensible Seiten hat und an Arthritis leidet, sind die Sons of Anarchy zu einer kriminellen Bande mutiert, was einige Gewaltexzesse nach sich zieht. Diese werden nie um ihrer selbst willen inszeniert, sondern sind plausibel durch den Handlungsverlauf motiviert. Jax bleibt dem Ehrenkodex der Gang verpflichtet, reibt sich aber auch an ihren dunklen Seiten, die er nicht wirklich akzeptieren kann. Der emotional stärkste Moment der dritten Staffel ist der Punkt, an dem er endlich sein entführtes Baby wiederfindet – in Irland, in den Armen eines ahnungslosen jungen Paares, an das der kleine Junge zur Adoption vermittelt wurde. Eigentlich hatte Jax seinen Sohn mit allen Mitteln zurückholen wollen, doch als er das Paar heimlich verfolgt und erkennt, dass die liebevollen Adoptiveltern dem Jungen eine bessere und sicherere, eine bürgerliche Zukunft ermöglichen werden, kann er sein Vorhaben nicht umsetzen. Hilflos wendet er sich ab. Ein folgenschweres Zaudern, denn wenig später werden die unschuldigen und ahnungslosen Adoptiveltern von den Entführern ermordet. Faszinierend ist die Serie nicht, weil sie etwa als Popcorn-TV-Unterhaltung mit flotter Action daherkommt, sondern weil man ständig von den grausamen Verwicklungen erschüttert wird und immer wieder erleichtert ist, dass sich der eigene stramme Alltag dann doch etwas beschaulicher gestaltet.

Eine der großen Überraschungen der Serie ist die Darstellerin von Jax’ Mutter Gemma. Dahinter verbirgt sich keine Geringere als Katey Sagal, Al Bundys Gattin Peggy in der 80er/90er-Jahre-Proll-Erfolgsserie „Eine schrecklich nette Familie“ – einem Fernsehprodukt, das an der Oberfläche in Ballermann-Manier, aber darunter nicht minder weise die Abgründe der amerikanischen Seele auslotete. Wie sie nun die taffe Rocker-Mama spielt, mit unglaublichen Nehmerqualitäten und der Gabe, den wilden Haufen gegen alle Widerstände zusammenzuhalten, das muss man gesehen haben. Aber man muss auch gehört haben, wie Katey Sagal singt. Denn vor ihrer erfolgreichen Karriere als Schauspielerin war sie mal Backgroundsängerin, und zwar für Stars wie Bob Dylan und Bette Midler. Auch unter eigenem Namen hat sie Alben veröffentlicht. Klar, dass sie zum Soundtrack der Serie „Sons of Anarchy“ einige Gesangsparts beigesteuert hat, etwa Coverversionen berühmter Songs wie Son of A Preacherman, Bird on A Wire, Strange Fruit und Ruby Tuesday.

Und der Soundtrack hält noch weitere Überraschungen parat. Zum Beispiel Curtis Stigers. Der bei uns eher als Schmuserocker oder Jazzer bekannte Sänger und Saxofonist singt den kurzen, aber äußerst knackigen Titelsong der Serie, This Life. Als Backing-Band in diesem wie in etlichen weiteren Songs fungieren die eigens zur Serie  gegründeten Forest Rangers. Und auch hier trifft man ein paar altbekannte Hochkaräter wieder. Zum Beispiel den Bassisten Davey Faragher, der schon in Elvis Costellos Begleitband The Imposters die Saiten zupfte, Drummer Brian Macleod, Studiocrack für Sheryl Crow, Grace Slick oder Roger Waters, Gitarrist Dave Kushner, mit Slash und Scott Weiland eine der tragenden Säulen von Velvet Revolver, und Bandleader Bob Thiele Jr. Der Songwriter und Produzent ist der Sohn von Bob Thiele, der einst im Chefsessel des Jazzlabels Impulse! saß, John Coltranes Album A Love Supreme produzierte und als Koautor an Louis Armstrongs Evergreen What A Wonderful World beteiligt war. Neben den Forest Rangers mit ihren illustren Gastsängerinnen und -sängern gibt es auf dem „Sons of Anarchy“-Soundtrack weitere Rock-Acts, Originalsongs und Coverversionen zu entdecken, etwa die somnabule Interpretation des Herman’s-Hermits-Hits No Milk Today durch Joshua James.

Die Songauswahl ist hier und da auf die Folgen abgestimmt, auch die Neuinterpretationen alter Hits entwickeln im Serienkontext zusätzliche Bedeutungsebenen. Und die eigens komponierten aktuellen Songs hantieren gern mit ambivalenten Lyrics. So greift der Titelsong This Life das Zwiespältige des Rockermythos auf und ist gleichzeitig inhaltlich so offen gehalten, dass man sich hier und da auch als Nicht-Son-of-Anarchy damit identifizieren kann: „Ridin’ through this world all alone / God takes your soul, you’re on your own / The crow flies straight, a perfect line / On the devil’s bed until you die.“ Sind wir nicht alle irgendwie auf uns allein gestellt und kämpfen uns durchs Leben?

Es ist schon eine geflügelte Erkenntnis, dass man manche Serienfiguren besser kennt als die eigenen Freunde. Und „Sons of Anarchy“ setzt, wie die „Sopranos“ oder „Deadwood“, zusätzlich auf den gemeinen Trick, uns für unvernünftig, niederträchtig oder kriminell handelnde Charaktere Sympathie empfinden zu lassen. Nichts für zarte Gemüter, aber entdeckenswert – ob auf DVD oder im TV.

ProSieben Mxx, zurzeit mittwochs und donnerstags abends nach 22 Uhr