Der Sound der Resilienz

Joseph nennen sich drei singende Schwestern aus dem amerikanischen Bundesstaat Oregon. Vier Alben mit eigenwillig-zeitlosen Songs zwischen atmosphärischem Folk und angerocktem Powerpop haben sie veröffentlicht – das aktuelle trägt den Titel The Sun und handelt von Achtsamkeit, Widerstandskraft, Heilung.

„I thought I was the light switch you turned on / But I am the sun.“ Rummms! „Ich hatte mich immer für deinen Lichtschalter gehalten, doch jetzt weiß ich: Ich bin die Sonne.“ Das sind mal Verse, an denen man hängenbleibt. Spektakulär, sperrig und im besten Sinne inspirierend. Sie stammen von der amerikanischen Band Joseph und sind zu hören in The Sun, dem Titelsong des vierten Joseph-Albums, erschienen im Frühjahr 2023. In The Sun befreit sich jemand aus den Fesseln einer nur scheinbar gesunden Beziehung und beginnt zu strahlen. Das Song-Ich hatte seine ständig gedrückte Stimmung als „normal“ empfunden, sämtliche Fehler nur bei sich gesucht und nicht erkannt, dass es dem Gegenüber vor allem darum gegangen war, sich überlegen zu fühlen: „Well, you wanted me small / So you could feel like someone at all / And I played along / And normalized, telling myself I was wrong.“ Doch nun hat sich etwas verändert: Auf einmal ist es kein schlechtes Gefühl mehr, sich auch mal gut zu fühlen („Feeling good doesn’t feel bad anymore“), und dem unfairen Spiel wird ein Ende gesetzt: „I’m done playing a game that can’t be won.“ Das in den Schlüsselversen auftauchende Motiv des Lichtschalters irritiert, ist aber ganz bewusst gewählt: Es betont nicht nur den künstlichen Schein, den das Song-Ich lange Zeit als selbstverständlich empfunden hat, sondern auch das Instrumentalisiert-, das Benutztwerden. Das Song-Ich weiß jetzt: Es ist nicht irgendein Hebel, den das Gegenüber betätigt, um ein künstliches Strahlen zu erzeugen – es ist ein aus sich selbst heraus hell leuchtender Stern!

Natürlich darf man annehmen, dass es hier in erster Linie um eine Liebesbeziehung geht. Doch die Lyrics sind so allgemein gehalten, dass man die beschriebene Dynamik auch auf andere Beziehungen übertragen kann: die zwischen Kindern und Eltern, zwischen Vorgesetzten und Teammitgliedern oder, ganz allgemein, zwischen den Mitgliedern einer Gruppe. Und wer sich an euphorischen Selbstbehauptungsgassenhauern wie Gloria Gaynors I Will Survive, Chers Strong Enough oder I’m Still Standing von Elton John allmählich sattgehört hat, könnte im hymnisch-optimistischen Joseph-Song The Sun eine subtile Alternative entdecken.  

Was den Song außer dem scharfzüngigen Text und der mitreißenden Melodie hörenswert macht, sind der gefühlvolle Vortrag und die ungewöhnlichen Menschen dahinter. Joseph ist ein Trio, das in den USA schon einen gewissen Bekanntheitsgrad hat, im Rest der Welt aber eher unter dem Radar fliegt. Es handelt sich um die Zwillingsschwestern Allison und Meegan Closner und ihre vier Jahre ältere Halbschwester Natalie Closner Schepman. Zusammen bringen sie einen kaum mit Worten zu beschreibenden Harmoniegesang auf die Bühne, den wohl nur ein derart unkonventionelles Schwesterngespann so hinbekommt. Damit ist nicht etwa eine klinische Perfektion, ein kunstvoll glattes, aber letztlich seelenloses Verschmelzen von Stimmen gemeint, sondern ein ganz besonderer Gesamtklang, den jede Sängerin durch individuelle Nuancen bereichert. Natalie Closner-Schepman ist nicht nur Vokalistin, sondern auch „die mit der Gitarre“ und in Interviews die Wortführerin. Einst hatte sie sich als Solo-Singer-Songwriterin versucht und schließlich, als es nur schleppend voranging, die nicht minder talentierten Meegan und Allison zur gemeinsamen Bandsache überredet. Der Name des Trios? Nun, Joseph ist eine Stadt in Oregon, dem Bundesstaat, aus dem die drei kommen, und Joseph hieß der geliebte Großvater – so einfach und bodenständig kann es manchmal sein. Seit rund einem Jahrzehnt beackern die gefühlvollen Schwestern das weite Feld zwischen atmosphärischem Folk und angerocktem Powerpop, integrieren dabei mühelos Elemente aus Country und Rock, jedoch ohne sich auf ein bestimmtes Genre festlegen zu lassen. Was sie machen, hat zeitlose Qualität. So reich an betörenden Melodien, ungewöhnlichen Harmonien und feinen Texten ist ihre Musik, so charismatisch ihr Vortrag, dass Joseph längst Superstars sein müssten. Doch das sind sie nicht. Vermutlich sind sie einfach … zu eigenwillig.

Das fängt schon bei der Art und Weise an, wie sie sich präsentieren. Meist treten sie gefühlt ungeschminkt, in allen möglichen und unmöglichen Freizeitklamotten auf. Und wenn sie sich doch mal „in Schale schmeißen“, dann sieht das eher altbacken, nach Omas Geburtstag oder Abiball aus als nach „echtem“ Popstar-Style. Ein bisschen Rock-Glamour blitzt zwar hier und da auf, doch im Großen und Ganzen wird man den Eindruck nicht los, dass diese Schwestern lediglich aus Spaß, vielleicht auch selbstironisch das eine oder andere Show-Register ziehen, um sich letztlich doch immer auf das Einzige zu fokussieren, was sie wirklich wollen: rausgehen und singen.

So kommt es, dass zwar einige „Official Videos“ zu den Songs des Trios existieren, diese aber nur selten aufwendig gestaltet wirken und, man darf es so sagen, auch nur selten wirklich faszinieren. Deutlich aufregender sind die unzähligen Live- bzw. Unplugged-Clips, die von Joseph im Internet kursieren: Da stehen die drei irgendwo in der Landschaft, in engen Studioräumen oder Gemeindesälen, in Shops oder Bibliotheken, performen ihre Songs in rauem Lo-Fi-Sound und wirken dabei bisweilen so in ihre Musik versunken, dass man selbst beim Zuschauen am PC die Luft anhält. Folgerichtig hat auch auf den teils üppig arrangierten, unbedingt hörenswerten Studioalben mit Bandbesetzung jeder Joseph-Song einen ordentlich komponierten Schluss, das heißt, es wird grundsätzlich nicht ausgeblendet: Joseph-Stücke sind in sich abgeschlossene Kompositionen für den Livevortrag – sie kommen in jeder Hinsicht auf den Punkt.

Ja, bei dieser Band kann ich schon ins Schwärmen geraten. Doch von all den geschilderten Ausnahmemerkmalen lässt sich mühelos der gedankliche Bogen zurück zu Songs wie The Sun schlagen. Denn so wie sich das Ich in diesem Song frei macht von negativen Einflüssen und aus sich heraus zu strahlen beginnt, so spiegelt sich auch im Werdegang und der Herangehensweise der Band der Wille, sich gegen Widerstände zu behaupten, vor allem bei sich selbst zu bleiben, Künstlichkeit, gar Selbstbetrug zu vermeiden, den eigenen künstlerischen Anspruch nicht zu verraten. Joseph sprechen in Interviews offen über Unsicherheiten, Selbstzweifel und Ängste, über eine Familiendynamik, die nicht immer nur harmonisch war, über Erfolge, schwierige Partnerschaften und Niederlagen – und über die persönliche Weiterentwicklung, bei der sie auch therapeutische Hilfe in Anspruch genommen haben.

Tatsächlich handelten schon einige frühere Songs von intensiver Beziehungsarbeit, von Selbstbehauptung und Empowerment. Das 2023er Album The Sun dokumentiert nun ein neues, ein Wiedererstrahlen der Band und dreht sich fast durchweg um „Moreness“, wie es die Protagonistinnen nennen: darum, zu erkennen, dass man „mehr“ ist, als man selbst von sich glaubt – und erst recht mehr als das, worauf einen die Gesellschaft, die persönliche Umgebung, die Partnerin oder der Partner reduzieren wollen. Die zehn Songs des Albums sind damit so etwas wie der Sound der Resilienz, mit ungewöhnlichen Versen wie den folgenden, sie stammen aus dem stetig an- und abschwellenden Song Waves Crash: „There’s no need to define / How I measure up next to anyone / Or how well I stayed in the lines / I’m a tall, tall tree reaching up in the breeze / All I have to do is breathe / I’m a limb of goodness in motion / (…) / You wouldn’t tell the flower it was made of sin / You know it’s good just for being / What if, what if I’m not made of sin? / What if, what if I’m lightning?“ Nein, es geht im Leben nicht darum, sich mit anderen zu vergleichen und sich anzupassen. Es geht darum, frei zu existieren – wie ein Baum oder eine Blume, als natürliches Wesen, ohne Schuldgefühle und mit guten Absichten. Holla, das lässt einmal mehr aufhorchen. Aber es ist eine entwaffnende Perspektive. Mit überraschender Schlussfrage: „Was, wenn ich der Blitz bin“?

Achtsamkeit, Resilienz, Empowerment – es sind die Befindlichkeitsschlagworte unserer Zeit. Auch viele Popstars hantieren damit, vor allem weibliche. Doch was gerade von US-Stars als „female empowerment“ verkauft wird, wirkt nicht immer überzeugend: Da suggerieren manche, die dank unzähligen Chart-Hits im Luxus baden und unbegrenzte finanzielle Möglichkeiten haben, dass man gleichzeitig Superstar, erfolgreiche Pop-Unternehmerin, Sexsymbol und auch noch perfekte Mutter sein kann, während andere sich als besonders taff und selbstbestimmt inszenieren, dabei aber zu kaschieren versuchen, dass ihre derben Lyrics und von Beauty-Eingriffen gepushten Glamour-Erscheinungen ganze Industrien befeuern, erst recht die Erwartungen heterosexueller Männer bedienen. Das alles verkauft sich prima, produziert jedoch fragwürdige bis unerreichbare Idealbilder und vergrößert letztlich die Kluft zwischen Künstlerinnen und Fans.

Die Closner-Schwestern sind dagegen weder Models, noch versuchen sie krampfhaft, welche zu sein. Sie wirken ausschließlich auf ihr Songschaffen konzentriert, natürlich, nahbar, auch mal seltsam und verletzlich. Mit ihrem Publikum agieren sie auf der vielzitierten Augenhöhe. Dieser zurückgenommene, beinahe „stinknormale“ Ansatz und die letztlich zu komplexen Botschaften sind es wohl, die den internationalen Starruhm bisher verhindert haben, auch wenn mit Songs wie White Flag im Oktober 2016 schon mal Platz eins der Billboard-„Adult Alternative Airplay“-Charts erreicht wurde. „Burn the white flag“, heißt es dort mitreißend im Refrain: „Verbrenn’ die weiße Flagge!“ Und natürlich geht es darum, bloß nicht zu kapitulieren. Doch die Gegner sind nicht etwa persönliche oder politische Feinde, auch nicht irgendwelche finsteren Bösewichter, sondern skeptische Stimmen und Versagensängste, die einen davon abhalten, das zu tun, was man eigentlich vorhat.

Auch in Fighter, einer ähnlich griffigen Hymne aus dem Jahr 2019, verleihen Joseph einem gängigen Selbstbehauptungsmotiv ihren ganz eigenen Dreh. Entgegen allen Popkonventionen ist es hier nicht das Song-Ich, das sich als kompromisslose Survival-Kämpferin selbst feiert. Nein, die Sprecherin ringt längst um die Liebe, verlangt nun aber auch vom Gegenüber, sich nicht zurückzuziehen, sondern genauso engagiert für die Rettung der Beziehung zu kämpfen: „Don’t keep yourself from me (…) Don’t lie this time / I need a fighter / You’re my bright side / I want it brighter / Don’t leave me in the dark.“ Solche Verse knüpfen wiederum an Canyon an, einen unwiderstehlichen Powerpop-Song, in dem sich das Song-Ich anschickt, dem als Land, als Bergwerk und als Ozean charakterisierten Gegenüber endlich näherzukommen. Doch ist dieses Gegenüber derart verschlossen und im übertragenen Sinne so „weit weg“, dass schon ein paar Zentimeter Distanz wie ein unüberbrückbarer Canyon erscheinen: „Can’t get, I can’t get / Can’t get close enough to be close to you / Can’t get, I can’t get there / An inch is a canyon.“ Nie nah genug rankommen, um wirklich von Nähe sprechen zu können – das klingt nach emotionaler Fron.

Womit wir beim Stichwort Liebe sind. Ja, die Liebe ist auch bei Joseph ein wichtiges Thema – als zentrales Element in Familie und Partnerschaft, aber auch als treibende universelle Kraft. Doch vermeiden es die drei in der expliziten Auseinandersetzung mit dieser universellen Kraft, allzu naiv-kitschige Floskeln à la „All you need is love“ oder „Love is the answer“ in den Ring zu werfen. Im Gegenteil: Das Song-Ich von Love Is Flowing, ebenfalls vom aktuellen Album The Sun, ist realistisch – es spürt Schmerz, sieht Leid, aber fühlt sich machtlos, kann nicht helfen: „Something’s burning / But I can’t reach it / Phantom limb on fire / Someone’s hurting / But I can’t fix it / And I don’t know how to try.“ Selbst die umfassende Liebe, von deren Existenz und stetigem Fluss das Song-Ich immerhin überzeugt ist, lässt sich nicht wirklich spüren, geschweige denn in für alle Menschen gewinnbringende Bahnen lenken. Doch da ist die Sehnsucht nach einem Einstieg, und das zumindest macht Hoffnung: „Love is flowing, love is flowing, love is flowing, love is flowing / And I wanna get in it.“ Der perlende Rhythmus und die sanft wogende Gesangslinie unterstreichen diesen inspirierenden Fluss, von dem man sich wünscht, dass er irgendwann alle und alles durchdringen möge. Es sind bittersüße Verse. Sie wirken weder kokett noch prätentiös. Einfach angemessen.

Wir leben in turbulenten Zeiten. Die Pandemie, Kriege und politische Krisen haben die Welt verändert, deprimierende Nachrichten jeden Tag, Gewissheiten lösen sich auf. Und nicht selten hat man den Eindruck, dass sich Menschen im eigenen persönlichen Umfeld anders, unberechenbarer verhalten als zuvor. In solchen Zeiten spenden Bands wie Joseph mit Songs wie Fighter, Canyon, The Sun oder Love Is Flowing nicht nur Halt und Trost, sondern auch Energie und Zuversicht. Pop als Therapie – für die Künstlerinnen und fürs geneigte Publikum.

Titel, Wesen, Temperamente

Es ist wie bei einer Musikproduktion: Manche Titel sind zwar spannend, passen aber nicht mehr aufs Album. Zum Glück gibt’s die Option „Bonusmaterial“ – und die hat auch Reclam bei den übrig gebliebenen Passagen meines neuen Musiksachbuchs „Mein Herz hat Sonnenbrand“ gezogen. Dazu gehört dieses kleine Kapitel über lustiges Namedropping und hemmungsloses Typecasting im Song: von Heino bis Bino, von Mary Roos bis Modern Talking

Namen sind Schall und Rauch? Und Typisierungen auch? Nicht im Popsong! Vor allem wenn es um V.I.P.s geht. Wer Prominente schon im Songtitel nennt, sichert sich – Buddy Holly (Weezer), Robert De Niro’s Waiting (Bananarama) – ein hohes Maß an Aufmerksamkeit, auch wenn die Berühmtheiten nur als Vergleichspunkte und eskapistische Fantasien herangezogen werden. Oder wirkt – man höre David Bowies Andy Warhol – an der Legendenbildung mit. Meistens jedoch werden in Songs Allerweltsnamen verwendet, und in der Regel bezeichnen sie fiktive Figuren. Nur gelegentlich verbergen sich dahinter reale Personen aus dem Umfeld der Songschreiberinnen und Songschreiber und somit auch vielleicht anrührende, „authentische“ Geschichten. Diana (Paul Anka), Rosanna (Toto) und Suzanne (Leonard Cohen) sind hier wohl die bekanntesten Beispiele.

Aber wer braucht schon Namen, wenn man Figuren auch poetisch umschreiben, interessanter machen, verklären kann? Und so werden Songs nicht nur von Celebrities und von „boys“ oder „girls next door“ bevölkert, sondern auch von den verrücktesten Archetypen: Mal haben sie sprechende Namen wie der aus ärmlichen Verhältnissen zum Gitarrengott aufsteigende Johnny B. Goode (Chuck Berry), mal stehen sie – wie Kelly Clarksons Miss Independent, Billy Joels Uptown Girl oder der Street Fighting Man der Rolling Stones – für eine bestimmte Haltung oder soziale Schicht. Der Piano Man (noch einmal Billy Joel) oder Elton Johns Rocket Man wiederum dienen als tröstliche Projektionsflächen: weil sie nächtliche Bargäste ein paar Lieder lang ihre Sorgen vergessen lassen – oder weil sie verloren im Weltall noch einsamer sind als mancher Mensch auf Erden. Hin und wieder, man denke an Bob Dylans Mr. Tambourine Man, umgibt diese Figuren auch etwas Zauberhaftes, gar Mystisches; oder eine faszinierende Aura des Verlorenen: Der 21st Century Schizoid Man (King Crimson) und der Nowhere Man (The Beatles), der Smalltown Boy (Bronski Beat) und der Iron Man (Black Sabbath) lassen grüßen. Stimmungskanonen wie der fahrende Rumhändler Poppa Joe (The Sweet) bleiben dagegen kleine Lichter.

Für Typisierungen in Songs gibt es keine Grenzen. Und so werden Figuren gern auch mit geografischen Bezeichnungen verknüpft, was ihr Schicksal stellvertretend für ganze Regionen, sogar ganze Nationen stehen lässt: Wollen Songschaffende so etwas wie Heimatliebe, Ehrerbietung, regionalen Zauber oder Exotik zum Ausdruck bringen, lassen sie Figuren als Mississippi Queen (Mountain) oder Witch Queen of New Orleans (Redbone), als California Man (The Move), Galway Girl (Ed Sheeran) oder auch als London Boy (Taylor Swift) durch ihre Songs streifen; oder üben – wie in der Präsentation eines American Girl (Tom Petty), gegebenenfalls einer American Woman (The Guess Who) – verhalten Sozialkritik. Das Ganze funktioniert auch mit einem selbstkritisch-verschwurbelten Blick in die Ferne, wie David Bowies berühmtes China Girl zeigt. Und dann gibt es da noch all die Ladies und Schwestern, in deren Namen sich besonders romantische, besonders schicksalhafte Begegnungen und Lebenssituationen, Sehnsüchte, Abhängigkeiten und Obsessionen spiegeln: die Lady in Black (Uriah Heep) und die Lady in Red (Chris de Burgh), die Midnight Lady (Chris Norman), die Lady Marmalade (Labelle), Sister Golden Hair (America), Sister Moonshine (Supertramp) oder Sister Morphine (The Rolling Stones).

Das alles sind, natürlich, Beispiele aus der angloamerikanischen Pop- und Rockmusik. Und wie handhaben es Songs aus dem deutschsprachigen Raum? Nicht ganz so facettenreich und gern ein bisschen arg bemüht. Das Spiel mit Namen von Prominenten ist in unseren Breitengraden eher schwach ausgeprägt – als einer der wenigen konnte Falco 1985 mit Wolfgang Amadeus Mozart global groß auftrumpfen. Ansonsten fallen einem vielleicht noch Marianne Rosenbergs Liebeserklärung an Mr. Paul McCartney (1970) und zwei eher fragwürdige Songs ein, die auf die eine oder andere Weise um Tennislegende Steffi Graf kreisen. Das war’s dann aber auch beinahe. Nur ganz selten verbergen sich hinter Allerweltsnamen auch herzzerreißende Geschichten aus dem wirklichen Leben – in Popsongs aus dem deutschen Sprachraum werden Namen wie Nina, Anita und Michaela, Anuschka, Jenny oder Josie von Songschreibern vor allem wegen ihres Wohlklangs und ihrer Singbarkeit gewählt, nicht weil sich dahinter autobiografische Verstrickungen verbergen, die verarbeitet werden müssen. Was dann auch zu besonders seltsamen Namenskonstruktionen wie in Michael Holms Nur ein Kuss, Maddalena (1970) führt – und immerhin zu charmant-gewagten Spielereien wie in Benjamin, einem 2012 erschienenen Song von Anna Depenbusch, in dem die störenden nächtlichen Beischlafgeräusche aus der Nachbarwohnung mit dem dahingejapsten Namen des Mannes verbunden sind: Ben-Ja!-Ja!…, oh, Ben-Ja!-Ja!… und so weiter und so fort. Eher Auswüchse des sorglosen Umgangs mit fiktiven Namen sind unangenehm klingende Typisierungen wie Heinos Die Schwarze Barbara (1975), die wahlweise an ein männermordendes Monster oder an eine als inakzeptabel empfundene ethnische Herkunft denken lässt, obwohl sie doch nur durch ihr schwarzes Haar und ihren purpurroten Mund heraussticht. Bei Gisela („Isch möschte nischt“) von Horst Schlämmer alias Hape Kerkeling (2007), beim Presslufthammer B-B-Bernhard von Torfrock (1978) oder bei „Hannelörsche, ich beiß dir gleich ins Öhrsche“ aus dem Rodgau-Monotones-Song Hallo, ich bin Hermann (1985) steht dagegen vor allem der Klamaukfaktor im Vordergrund.

Was Archetypen in Kombination mit geografischen Bezeichnungen betrifft, imitiert man in unseren Breiten lieber die angloamerikanischen Vorbilder, als sich an lokale Gegebenheiten anzupassen: So besingt Mary Roos sehnsüchtig einen letztlich unerreichbaren Arizona Man (1970) und Michael Holm nicht weniger leidenschaftlich ein Arizona Girl (1971) – beides sind deutschsprachige Versionen eines englischsprachigen Hits des Südtirolers und späteren Starproduzenten Giorgio Moroder. Einen Saarland-Karl, ein Marienborn-Mädchen oder gar einen Meck-Pomm Macker aber sucht man in Hits aus Deutschland vergebens. Schon klar, ein Lied wie Boney M.’s Bahama Mama (1979) – über eine Mutter in der Karibik, die verzweifelt versucht, ihre sechs schönen Töchter unter die Haube zu bringen – lässt sich eben unbeschwerter dahinträllern als eine auf Konsensfähigkeit zielende Ode an einen strammen Typen aus dem Bayrischen Wald.

Mediterran angehauchte Romantik ist Trumpf in Popsongs aus dem deutschsprachigen Raum, vor allem im Schlager. Kein Wunder, dass dabei die Geliebte – wie in Pretty Madonna von Costa Cordalis (1979) – schon mal zur adretten Marienfigur stilisiert wird, der man – wie Bata Illic 1974 in Schwarze Madonna – noch einen zusätzlichen mystischen Anstrich verleihen kann. Aber es reicht ja auch schon, der Herzensdame einfach einen italienischen Begriff als Namen zu geben, um einen Hauch Exotik zu kreieren, und wenn es nur das italienische Wort für „Sonntag“ ist. So besingt Bernhard Brink 1999 eine schöne Frau namens Domenica, die im Begriff ist, das Song-Ich zu verlassen, was nicht nur für reichlich Herzschmerz sorgt, sondern auch für unschlagbare Verse wie diesen: Ich wart auf dich bei einer Flasche Rotwein / Ich rauch viel zu viel, obwohl ich gar nicht rauch. Aber halt, handelt es sich nicht um die Coverversion eines Songs von Zucchero? Schon, ja. Doch das Original heißt eben nicht „Domenica“, sondern Diamante. Ob dann Semino Rossis Lovesong Bella Romantica (2013) überhaupt noch eine Person, vorzugsweise die Geliebte, adressiert oder schon einen alles fortreißenden Glückstaumel sprachlich verdichtet, muss jede Hörerin, jeder Hörer für sich selbst entscheiden.

Auch das Gefühl der Zuversicht scheint sich für manche Songwriter:innen gleich noch intensiver vermitteln zu lassen, wenn man es mit etwas Italo-Flair anreichert. Das könnte der Grund für Drafi Deutschers Text zum auch von ihm komponierten Song Mama Leone gewesen sein, der 1978 erst mit Verzögerung und letztlich in der Interpretation des aus Palermo stammenden Sängers Bino zum Hit wurde. Die „Löwenmutter“ ist eine Engelsgestalt, die Hoffnung bringt und alles gut werden lässt. Ja, da ist schon einiges an Pathos im Spiel, aber sei’s drum. Albern wird es aber, wenn all die Mamas und Domenicas mehr schlecht als recht zusammengewürfelt werden, um der Beschreibung einer eher banalen Lebenserfahrung etwas mehr Esprit zu verleihen. So trägt die Mutter, die 1987 in einem Song von Andy Borg wehmütig ihrem erwachsen gewordenen und endlich in die Fremde ziehenden Sohn nachschaut, den grotesken Namen „Mutter Sonntag“, Mama Domenica. Der Text dazu wartet außerdem mit einer irritierenden Zeile auf: In deinem Herzen bleibt sein Platz immer frei, Mama Domenica. Die Frage muss erlaubt sein: Sollte der Platz des Sohnes im Herzen der Mutter nicht auch dauerhaft vom Sohn besetzt sein, statt ewig frei zu bleiben? Vielleicht ist das ja besonders spitzfindig. Oder einfach nur ein kleiner Lapsus? Bei Andy Borg weiß man nie … Mindestens ebenso banal wie eine ihren Sohn vermissende Mutter ist ein Vater, der achtgibt, dass sein Töchterchen und ihr Freund hinter verschlossenen Türen keinen amourösen Unfug treiben. Wie hölzern würde es klingen, ginge es um einen Jungen namens Martin, ein Mädchen namens Petra und ihren Vater Manfred! Und wie interessant, ja richtig temperamentvoll klingt es, wenn es um einen Chico, seine Freundin Rosita und deren Papa Don Pedro geht! Mit Don Pedro unterstrich Costa Cordalis 1977, dass sich südländisches Flair auch dann intensiv entfaltet, wenn es griechisch-spanisch geprägt ist.

Typisch deutsch und eher negativ konnotiert ist die Figur des Kowalski, die mal im Singular und mal im Plural, etwa in Gestalt von „Stammtischkowalskis“, durch den einen oder anderen schrägen Song von PUR streift. Eindeutig angloamerikanisch geprägt sind schließlich die Vorbilder, die Dieter Bohlen für sein Bandprojekt Modern Talking aufmarschieren ließ, und das in beachtlicher Zahl. Sein Brother Louie, der doch bitte die Frau gehen lassen soll, die das schmachtende Song-Ich liebt, hält sich 1986 noch einigermaßen an lyrische Konventionen. Doch bei anderen seiner Kreationen lässt es Bohlen ordentlich krachen – und knirschen. Da gibt es – ebenfalls 1986 – eine Asiatin namens Lady Lai, die eigentlich „Lady Lei“ gesungen werden müsste, aber wie die Dylan’sche „Lady Lay“ komplett englisch adressiert und mit tiefsinnigen Versen wie den folgenden beschworen wird: Stay, I love your Chinese eyes / Please, stay / ’Cause you’re a big surprise. Da verliebt sich ein Einsamer am Laptop in eine Dame aus dem Internet, vermutlich aus einem Computerspiel, doch statt von einer „Virtual Mama“ oder vielleicht einem „Game Girl“ schwärmt er in kompletter Gefühls- und Begriffsverwirrung von einer Mrs. Robota (2002). Charakterisiert wird die Unerreichbare ebenso folgerichtig wie sinnfrei mit den Worten: You’re high and low and just between, was kaum noch zu toppende Erregungszustände hervorruft: But more and more I like you more than just before …  Ähnlich aufwühlend, aber auch aus allen möglichen anderen Songs zusammengeklaubt sind die Gefühle, die der Liebende 1999 im Song Taxi Girl für eine sexy Taxi Lady äußert: I’m tossing and turning / ’Cause my heart is burning / Tell me your heart will go on / And if you will be clever / It’s always and ever / I’ll die for you.  Was es schließlich genau mit der Taxi-Metaphorik auf sich hat oder wer hier wen auf welche Weise durch die Gegend respektive durch sonderbare Gefühlswelten kutschiert, scheint der Sprecher selbst nicht zu wissen, sonst würde er im Refrain kaum jauchzen: Be my taxi taxi girl / In my secret taxi world / Be my taxi taxi girl / It’s a strange and secret world. Bleibt noch die ominöse Dame mit dem verbalromantischen Doppelwumms – jene Cheri Cheri Lady, die 1985 mit ähnlich deliriös collagierten Liebesbekundungen wie den eben zitierten bedacht wurde und schon durch ihrem Namen für Stirnrunzeln sorgte. „Cheri“ mit Betonung auf dem I ist eigentlich das französische Wort für „Liebling“, doch die Aussprache bei Modern Talking klingt eher wie ein Mix aus den englischen Wörtern „cherry“ („Kirsche“), „cherish“ („wertschätzen“) und „sharing“ („teilen“). Was letztlich auch den sprachsensibleren Gemütern in der Hörerschaft ein fatalistisches Gefühl von Goin’ through a motion verschafft …

In puncto Namedropping zeigen sich nur wenige deutschsprachige Songwriter:innen so kreativ wie Udo Lindenberg, der mit Rudi Ratlos und Johnny Controletti (1974) oder Wotan Wahnwitz (1975) gleich eine ganze Riege von Figuren mit sprechenden Namen in seinem Oeuvre aufmarschieren ließ. Oder wie Reinhard Mey: Der benutzt hin und wieder Pseudonyme, zu denen auch ein gewisser Alfons Yondrascheck gehört. Und dieser Alfons Yondrascheck geistert dann und wann durch die Songs von Reinhard Mey. In Ankomme Freitag, den 13. aus dem Jahr 1969 etwa erhält das Song-Ich ein Telegramm, in dem eine ominöse Christine einen Blitzbesuch ankündigt, und wird dadurch in helle Aufregung versetzt. Inmitten der sich anschließenden kopflosen Wohnungsaufräumaktion klingelt das Telefon und jemand möchte Alfons Yondrascheck sprechen – doch der Anrufer hat sich offenbar verwählt: „Noch sechseinhalb Stunden, jetzt ist es halb acht. / Vor allen Dingen ruhig Blut, mit System und mit Bedacht. / (…) / Das Telefon klingelt: Nein, ich schwöre: falsch verbunden, / ich bin ganz bestimmt nicht Alfons Yondrascheck – noch viereinhalb Stunden.“ Es ist schon ziemlich hintersinnig, sich selbst im eigenen Song anrufen zu lassen und dann zu behaupten, man hätte nichts mit dem Herrn zu tun …

Das komplette Bonusmaterial gibt’s bei Reclam unter diesem Link.
Die Kapitel: Mehr Unrundes von Caterina Valente, Tomte, Kool Savas und anderen / Lustiges Namedropping und hemmungsloses Typecasting im Song: von Heino bis Bino, von Mary Roos bis Modern Talking /

Kosmisches und anderes Geschwurbel mit Witthüser & Westrupp, Eloy, Can & Co /
Mini-Lyrics oder: Arg Kurzes von Silver Convention, Boney M., Kraftwerk und Scooter.

A Star Is Torn

Eine große, tragische Liebesgeschichte, die zur Abwechslung mal im Rock-’n’-Roll-Milieu spielt? Oder ein cooles Rock-’n’-Roll-Epos, das Elemente einer tragischen Liebesgeschichte integriert? Daisy Jones & The Six, der Erfolgsroman von Taylor Jenkins Reid, funktioniert auf beiden Ebenen, peppt das Ganze mit einem ordentlichen Schuss Siebzigerjahre-Nostalgie auf und befeuert nebenbei die ewige These, dass große Kunst vor allem aus Schmerz und Leiden geboren wird. Die Verfilmung der glamourösen Rockstarfiktion als Amazon-Prime-Serie nimmt zwar einige dramaturgische Änderungen vor, setzt die Vorlage aber mehr als kongenial um – und beschert der Welt das reale Musikalbum einer Gruppe, die es gar nicht gibt.

Ende der Siebzigerjahre: Daisy Jones & The Six haben es geschafft – sie sind weltweit gefeierte Rockstars. Doch just auf dem Höhepunkt ihrer Karriere bricht die Band auseinander. Die Fans sind fassungslos. Wie konnte es so weit kommen? Viele Jahre später werden die Bandmitglieder, die nichts mehr miteinander zu tun haben, sowie wichtige Personen aus ihrem Umfeld für eine Dokumentation getrennt voneinander interviewt. Aus all den kleinen Einwürfen, Anekdoten und teils widersprüchlichen Einschätzungen werden opulente Rückblenden – entfalten sich Aufstieg und Fall einer schillernden Band bis hin zu den wahren Gründen für ihre Auflösung. Erst zum Schluss offenbart sich, wer die erhellenden Interviews führt. Es ist eine herzerwärmende Pointe, die eine überraschende neue Perspektive eröffnet.

Von der Romanfiktion zum Serienhit zum Chartserfolg

Jahrzehntelang waren Spielfilme die Königsdisziplin, wenn es um das Erzählen von Geschichten für die Kinoleinwand und Bildschirme aller Art ging. Entgegen allen Behauptungen über die Schnelllebigkeit unserer Zeit und das kontinuierliche Sinken von Aufmerksamkeitsspannen ist jedoch seit geraumer Zeit das üppige Serienformat auf dem Vormarsch. Es eröffnet die Möglichkeit, eine Geschichte plausibel und in mehreren Strängen zu entfalten, Charakteren Tiefe zu verleihen und die positiven wie negativen Dynamiken zwischen den Protagonistinnen und Protagonisten in sämtlichen Facetten auszuloten. Kaum zu glauben, aber die Fans bleiben dran, selbst über sechs bis zehn Folgen und gleich noch über mehrere Staffeln hinweg – wenn sie denn gut gemacht sind. Das gilt auch für Pop-Biopics und -Fiktionen. Schon verschiedenste 90– bis 120-Minuten-Werke krankten bei allem Unterhaltungswert daran, dass  sich das Drehbuch auf wenige zentrale Motive beschränken musste und eine Band, die eben noch reichlich amateurhaft in einem heruntergekommenen Provinzclub zu sehen war, im nächsten Moment von einem großen Festivalpublikum gefeiert wurde, um schon in der übernächsten Einstellung die finalen Zersetzungserscheinungen zu zeigen.

Die Macher der Amazon-Prime-Serie Daisy Jones & The Six haben nicht nur die Vorteile des Serienformats optimal genutzt, sondern auch das Vermarktungspotenzial der Vorlage, des gleichnamigen Erfolgsromans von Taylor Jenkins Reid, konsequent ausgeschöpft. Durch geschickte dramaturgische Eingriffe, eine zündende Besetzung und eine stilvolle Inszenierung haben sie ein mitreißendes Stück Heimkino geschaffen, in das man knapp zehn Stunden lang eintauchen kann; und statt eines konventionellen Soundtrack-Albums, zu dem verschiedene Interpreten die Songs beisteuern, haben sie das fiktive Daisy-Jones-&-The-Six-Album Aurora tatsächlich zum Leben erweckt. Mit dem Ergebnis, dass sich die erfundene Truppe mit ihren Songs wie ein realer Rock-Act in den internationalen Charts tummelt.

Fleetwood Mac (und andere) lassen grüßen

Aus den Rückblenden kristallisieren sich zunächst zwei Erzählstränge heraus. Da sind die Dunne Brothers, eine Band um den gern mal autoritär auftretenden Frontmann Billy Dunne, die irgendwo in Pennsylvania versucht, Fuß zu fassen, größtenteils mit Coverversionen. Und da ist Daisy Jones in Los Angeles, eine unangepasste junge Frau, die sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält, insgeheim aber von einer Karriere als Singer-Songwriterin träumt. Bewegung kommt in die Geschichte, als der renommierte, aber nicht mehr ganz so erfolgreiche Musikproduzent Teddy Price auf Daisy aufmerksam wird und sie unter seine Fittiche nimmt. Währenddessen durchlaufen die Dunne Brothers mehrere Transformationen und begrüßen schließlich die Keyboarderin Karen Sirko als neues Mitglied. Die Band benennt sich um in The Six, schreibt vermehrt eigene Songs und zieht irgendwann nach L.A., um dort den nächsten Karriereschritt zu machen. Eher durch Zufall lernt das schräge Kollektiv, das sich mehr und mehr zusammenrauft, Teddy Price kennen. Und nicht nur das: Es gelingt den Six auch, den einflussreichen Studiomagier von ihren Songs zu überzeugen. Aber etwas fehlt ihnen, so empfindet es der Produzent – womöglich noch etwas textlicher Input, dazu eine starke Frauenstimme. Und weil auch Daisy Jones etwas fehlt, nämlich eine Band, die ihre lyrischen und musikalischen Ideen in künstlerisch noch wertvollere Bahnen lenkt, bringt Teddy Price kurzerhand beide Fraktionen zusammen. Mit der Vorgabe, gemeinsam neue Songs zu schreiben. Ein genialer Move, der eine beispiellose Erfolgsstory in Gang setzt – aber auch ein heilloses emotionales Chaos. 

Wer die Dynamiken innerhalb von Rockbands kennt, wird das eine oder andere Déjà-vu erleben – es gibt etliche gut beobachtete Details und Band-Anekdötchen zum Schmunzeln. Wer eine Vorstellung hat vom Musikbusiness damals und heute, dürfte über mächtige, selbstgefällige Konzern-Plattenbosse in Anzügen, über gewiefte Produzenten- und schrille Managertypen den Kopf schütteln. Wer die Seventies noch mitbekommen hat, wird mit Sicherheit von nostalgischen Gefühlen überkommen, so treffend sind Mode und Lifestyle eingefangen – auch wenn man nicht jede Sex- und Drogeneskapade selbst erlebt haben muss. Wer Fleetwood Mac und ihre Musik zu Rumours-Zeiten mag, wird große Ohren und Augen machen, sind doch Sound, Erscheinungsbild und das eine oder andere biografische Detail zu Daisy Jones & The Six von der legendären britisch-amerikanischen Band inspiriert. Und auch wer einfach nur überlebensgroße Lovestorys mit euphorischen Ups und tragischen Downs liebt, wird bestens bedient.      

Billy Dunne und Daisy Jones sind zwei außergewöhnliche, nicht uneingeschränkt liebenswerte Charaktere – geschundene Seelen, die sich gegenseitig, aber auch dem gemeinsamen Umfeld einiges an Unzumutbarkeiten zumuten. Zwischen den beiden kracht es immer wieder gewaltig, aber kaum jemandem bleibt verborgen, dass es auch mächtig knistert. Billy hat eine kleine Tochter mit seiner Frau Camila. Die begreift die Bandgemeinschaft als verschworene Familie und wirkt wie eine Übermutter ausgleichend, wo immer es nötig wird. Doch auch sie muss damit klarkommen, dass Billy zeitweise dem destruktiven Rock-’n’-Roll-Lifestyle erliegt, dem Alkohol verfällt und nach einer Entziehungskur lange braucht, um in seine Vaterrolle hineinzuwachsen. Die Vibes, die sie später spürt, wenn sie ihren Mann und Daisy Jones zusammen performen sieht, dürfen ihr erst recht nicht gefallen. Und auch sie leistet sich Ausrutscher. Daneben gibt es stille Glücksmomente und rauschhafte Erfolge, eine lange geheim gehaltene Affäre innerhalb der Band, Mitmusiker, die unter mangelnder Wertschätzung leiden, Frust und Abstürze, bis hin zu einer vorübergehenden Auszeit Daisys in Griechenland. Und dann ist da noch – wir kennen das Motiv aus Almost Famous – der Journalist eines einflussreichen Rockmagazins, der die rasant aufstrebenden Stars auf Tour begleitet, um eine große Story zu schreiben. Die Tratschgeschichten und Geheimnisse, die er den aufgewühlten Bandmitgliedern unabhängig voneinander entlockt, sorgen für zusätzlichen Zündstoff im Gefüge. Nur der Drummer – in seiner naiven Unbekümmertheit erinnert er an den notorisch unterschätzten Beatle Ringo Starr – bleibt völlig unbeschadet: Er lernt tatsächlich eine attraktive Hollywoodschauspielerin kennen, gründet mit ihr eine Familie und lebt, so darf man vermuten, glücklich bis ans Ende seiner Tage. Welch ein wunderbares Popklischee – eine Figur, die für regelmäßigen „comic relief“ sorgt und die dramatische Erzählung mit einem Schuss Selbstironie würzt.

Die weibliche Perspektive

Wo von Männern geschriebene Rockdramen gern den Rock-’n’-Roll-Lifestyle ins Zentrum rücken und ihre Protagonisten als zerrissene, aber letztlich geniale Lonesome-Hero-Typen aufs Podest heben, legt Daisy Jones & The Six bewusst andere Schwerpunkte: zum Beispiel auf die problematischen Auswirkungen, die dieser Rock-’n’-Roll-Lifestyle und das Ringen zweier Alphatiere auf die Charaktere und ihr Umfeld haben. Die Hauptfiguren sind differenziert gezeichnet, mit großen Stärken, aber auch mit eklatanten Schwächen. Daisy, Camila und Keyboarderin Karen sind gleich drei selbstbewusste Frauen. Einerseits behaupten sie sich in der männerdominierten Rockwelt, andererseits haben sie unter den Bedingungen und Haltungen der damaligen Zeit noch einmal besonders zu leiden. So sind es eben die Frauen, die das Problem einer ungewollten Schwangerschaft und die möglichen Folgen für die angestrebte Karriere für sich selbst regeln müssen. Es ist schmerzhaft, aber gut, dass auch gezeigt wird, wie der einst so coole Frontmann Billy Dunne zunächst nicht in der Lage ist, sein Töchterchen in den Arm zu nehmen und zu seiner Vaterschaft zu stehen. Obwohl Daisy Jones ganz neue Saiten in ihm zum Klingen bringt, bleibt er immer auch seiner Frau Camila in Liebe verbunden. Es ist kompliziert. Und hier spürt man deutlich die Handschrift der Autorin – wie auch der Produzentin Reese Witherspoon, die schon als June Carter im Johnny-Cash-Biopic Walk the Line starke weibliche Akzente setzte.  

Brillante Besetzung

Mindestens ebenso stark ist der schauspielerische Eindruck, den nun Kiley Reough als Daisy Jones hinterlässt. Die Enkelin von Elvis Presley beeindruckt durch eine intensive Mimik, Gestik und Körpersprache und dürfte mit dieser energiegeladenen Rolle nach diversen Kino- und Serienauftritten den endgültigen Durchbruch geschafft haben. Allein wegen ihrer Präsenz lohnt sich das Streamen. Doch auch die übrigen Mitwirkenden überzeugen, allen voran Tribute von Panem-Beau Sam Claflin als vielfach ge- und überforderter Frontmann Billy Dunne. Aus den Stars, die die Band verkörpern, ragt Suki Waterhouse als zielstrebig-kompromisslose Keyboarderin Karen Sirko heraus, daneben glänzen Tom Wright als clever-sensibler Produzent Teddy Price und Timothy Olyphant (er spielte einst den etwas hüftsteifen Sheriff in der famosen Westernserie Deadwood oder den glatzköpfigen Killer Hitman) als durchgeknallter, aber letztlich professioneller, angemessen empathischer Tourmanager Rod Reyes.

Die Besetzung der beiden Hauptfiguren erweist sich auch mit Blick auf die Musik als Glücksgriff. Beide Stars können tatsächlich singen, wobei Sam Claflin die etwas unauffälligere, gelegentlich in Richtung Tom Petty tendierende Stimme hat und Riley Keoughs Vortrag scheinbar mühelos die Fleetwood-Mac-Diva Stevie Nicks, Kate Pierson von den B 52’s und die eine oder andere Country-Ikone zitiert. Überraschend stark und rund klingt es, wenn Claflin und Keough zweistimmig singen und die Songs des fiktiven Albums Aurora lebendig werden lassen. Im Buch hatte Autorin Taylor Jenkins Reid ein paar eigene Lyrics zu den Songs der Band verfasst – es seien aber keine brauchbaren Texte gewesen, räumt sie unumwunden ein, sondern eher Verse, die die Figuren charakterisieren sollten. Mit Reids Einverständnis holten die Serienverantwortlichen dann echte Songwriting-Koryphäen ins Boot, darunter Phoebe Bridgers, Marcus Mumford und sogar Superstar Jackson Browne. Die Fachleute hatten einigermaßen freie Hand und lieferten die Musik samt neuen Lyrics zu den von Claflin und Keough gesungenen Stücken.

Ganz offensichtlich spitzen die neuen Songversionen emotional zu und bringen vor allem die inneren Konflikte der Figuren, die zwischenmenschlichen Reibungen auf den Punkt. Verdichtung, Dramatisierung und Aktualisierung – ähnliche Effekte erzeugen auch die dramaturgischen Änderungen an der literarischen Vorlage: So haben Camila und Billy im Buch gleich mehrere Kinder, in der Serie ist es nur eine Tochter. Camila hat im Roman keine Affäre, in der Serie schon. Und während Daisy in der Vorlage nur Daisy heißt, darf sie Billy gegenüber in der Verfilmung offenbaren, dass sie eigentlich Margaret heißt – ein Moment, der erstmals eine besondere Nähe zwischen beiden Charakteren herstellt. Dass Keyboarderin Karen in der Adaption nicht mehr Amerikanerin, sondern Britin ist, nennt Showrunner Scott Neustadter eine explizite Hommage an die kürzlich verstorbene Fleetwood-Mac-Keyboarderin Christine McVie. Daisys Freundin Simone wiederum, Soulsängerin und aufstrebender Discostar, bekommt in der filmischen Umsetzung eine nach verschiedenen Höhen und Tiefen glückliche lesbische Beziehung angedichtet, als Reverenz an die queere Bewegung. Und als Daisy eine Überdosis erleidet, wird sie, anders als im Roman, von Billy gerettet, von wem auch sonst!

Geniales Pastiche oder: Kunst kommt von Einfühlen

Fast noch intensiver als die Vorlage suggeriert die Serienadaption, dass große Kunst vor allem aus Reibung, aus Schmerz und Leiden entsteht. Zu den besten Momenten der Serie gehören die Szenen, in denen Daisy und Billy gemeinsam komponieren und texten. Sie beharken sich, kritisieren immer wieder die Texte des Gegenübers und zwingen sich gegenseitig zur Nabelschau. Dabei stellen die scheinbar grundverschiedenen Charaktere fest, dass sie in ihrem Schmerz, in ihren unerfüllten Sehnsüchten mehr gemeinsam haben, als ihnen lieb ist. Und schon texten sie bittersüße Verse wie: „If you’re gonna let me down, let me down easy“, „I’m an echo in your shadow / I’m in too deep“ oder „We can make a good thing bad“. „Viel Leid, mehr hervorragende Songs“ – so lautet das Prinzip, und das ist natürlich schon in losen Orientierungspunkten wie der Bandgeschichte von Fleetwood Mac angelegt. Die Gruppe war berühmt für vertrackte Beziehungen und komplizierte zwischenmenschliche Dynamiken, die die Treiber hinter einigen ihrer besten Songs gewesen sein sollen.

Der „Große Kunst aus großem Schmerz“-Gedanke wird auch heute noch immer wieder gern vorgebracht und standardmäßig untermauert durch Verweise auf Vincent Van Gogh und Edvard Munch, Joseph Beuys und Hermann Nitsch. Hinzu kommen Thesen wie: Positive Gefühle muss man nur genießen, negative Gefühle muss man verarbeiten – weshalb letztere mehr und interessanteres Material für künstlerisches Schaffen liefern. Das alles mag für diverse Kreative und ihre Werke gelten, verallgemeinern aber lässt es sich nicht. Es wäre auch etwas unfair gegenüber Happy, Walking On Sunshine, Girls Just Want to Have Fun, Don’t Worry – Be Happy und anderen Evergreens der Glückseligkeit. Sie scheinen nicht mal im Ansatz aus großem Schmerz geboren und besitzen dennoch einen unbestreitbaren künstlerischen Wert, zumindest für den Autor dieser Zeilen. Zu guter Letzt kann man den Daisy Jones-Roman selbst und – mehr noch – die Serienadaption als Belege weiterer Antriebsquellen für große Kunst nennen. Autorin Taylor Jenkins Reid verfügt ganz einfach über ein unglaubliches Können, das hatte sie in ihren zuvor erschienenen Romanen bewiesen. Dann kam ihr die nächste Idee, doch in der Folge musste sie erst einmal gründlich recherchieren – zu Musik und Songwriting, zu den Biografien berühmter Bands und ganz allgemein zu den Siebzigern. Die Lust am Fabulieren und am Feilen, aber auch viel Geduld führten schließlich zu einer mitreißenden Geschichte über die Kraft der Liebe und die Kraft der Musik. Die Macher hinter der Serienadaption und dem Musik gewordenen fiktiven Album Aurora wiederum agierten im Rahmen einer großangelegten Ensemble-Produktion noch etwas mehr auf der Metaebene. Mit viel Hirn und Händchen manipulierten und ergänzten sie die literarische Vorlage, setzten eine professionelle Filmproduktionsmaschinerie in Gang, gaben gleichzeitig passende Songs in Auftrag. Das Ergebnis ist ein geniales Pastiche rund um ein paar Siebzigerjahre-Rockstars, die große Kunst aus großem Leiden schaffen. Davon, dass die Serienverantwortlichen und ihre Dienstleistenden selbst kongenial gelitten hätten, ist eher nicht auszugehen.

Jetzt bei Reclam: Mein neues Musiksachbuch „Mein Herz hat Sonnenbrand“

Ja gibt’s denn so was? Da erscheint mein neues Buch, und ich vergesse, frühzeitig auf „tedaboutsongs“ darauf hinzuweisen? Na ja, „vergessen“ trifft es nicht wirklich, eher „bin einfach nicht dazu gekommen“. Schließlich gehe ich noch einem Brotjob nach, der mich ausgerechnet in den ersten Wochen des Jahres 2023 immens gefordert hat. Und dann waren überraschenderweise schon weit vor Erscheinen des Buchs am 17. Februar diverse Medientermine zu absolvieren, sogar schon erste Lesungstermine zu vereinbaren. Unglaublich, welches Engagement mein Agent Günther Wildner wieder an den Tag legt, um deutschland- und österreichweit führende Printmedien und Rundfunksender zur Vorstellung des Buchs oder gar zu einem Interview mit dem Autor zu motivieren. Hinzu kommt die Medienarbeit des Reclam-Verlags, bei dem ich mich bestens aufgehoben fühle. Ja, das Ganze verlangt schon etwas Einsatz, aber es macht auch einen Riesenspaß.

Dass es so kommen würde, hätte ich mir vor zweieinhalb Jahren nicht mal ansatzweise ausgemalt. Eigentlich hatte ich nach „I Don’t Like Mondays“ (2017) und „Provokation!“ (2019) kaum das Gefühl, noch etwas Originelles im Musiksachbuchbereich beitragen zu können. Dann, im Herbst 2020, mitten in der Corona-Pandemie, entstand eher zufällig die vage Idee, mal nach seltsamen bis verunglückten Songzeilen in Songs aus dem deutschsprachigen Raum Ausschau zu halten. Ohne großen Aufwand, einfach so. Meinem Agenten gefiel die Idee, und das motivierte mich, dem Thema doch etwas engagierter auf den Grund zu gehen. Und so entwickelte, was zunächst als kleines Nebenbei-Rechercheprojekt für die nächsten zwei, drei Jahre angelegt war, plötzlich eine unerwartete Eigendynamik. Aus der Erinnerung kramte ich Songtexte hervor, die mir schon immer etwas merkwürdig vorgekommen waren – parallel dazu hörte und las ich mich durch die vergangenen 60 Jahre deutscher Popgeschichte. Von Pop bis Rock, von Schlager bis Chanson, von Soul und Dance bis Rap – wie schon bei den vorangegangenen Büchern war mir eine große musikalische Bandbreite wichtig. Und natürlich ging es nicht nur um deutschsprachige Texte, sondern auch um Texte auf Englisch, denn die Fremdsprachenfalle fördert hin und wieder feine Stilblüten zutage. Aus verhaltenem Interesse wurde Leidenschaft, und so hatte ich innerhalb weniger Wochen etliche Beispiele zusammen, die ich nur noch ordnen musste. Bereit im Herbst 2021 konnte ich eine erste Manuskriptfassung vorlegen.

Günther Wildner machte sich an die Arbeit und begann, das Buch anzubieten – zunächst mit der üblichen Reaktion: „Schöne Idee, passt aber nicht ins Verlagsprogramm.“ Überraschend dagegen war eine Absage mit dem Tenor: Viel zu nett geschrieben, man hätte gnadenloser auf die Künstler:innen draufhauen sollen. Mein Agent und ich waren uns jedoch einig: Das Buch darf gern ironisch und kritisch sein, aber ein gewisser Respekt gegenüber den Stars versteht sich von selbst. Dass dann im Frühjahr 2022 ausgerechnet der renommierte Reclam-Verlag Interesse zeigte, das Buch herauszubringen, machte uns besonders stolz. Vielleicht kam das ja auch nicht von ungefähr: „Mein Herz hat Sonnenbrand“ (der Titel zitiert einen alten Schlager von Bata Illic) beackert ein übergreifendes popmusikalisches Thema und setzt sich ebenso unterhaltsam wie kritisch mit Sprache auseinander – Reclam wiederum leistet seit jeher einen unschätzbaren Beitrag zur Pflege von Literatur und Sprache und verfügt außerdem über eine feine Musikbuchsparte: Das Verlagsprogramm enthält eine Menge spannender Titel von Klassik bis Pop. Im Lauf des Jahres 2022 wurde das Manuskript in die endgültige Form gebracht, wobei noch ganz aktuelle Songbeispiele während des Produktionsprozesses integriert werden konnten. Mein Riesendank geht in diesem Zusammenhang an das Reclam-Team, das das Manuskript einem überaus sorgfältigen Lektorat unterzog. Da ich selbst als Korrektor, Lektor, Faktenchecker arbeite, weiß ich, welchen Aufwand das bedeutet. Nach einem derart intensiven Bearbeitungsprozess sieht man der Veröffentlichung mit einem noch besseren Gefühl entgegen.

Nun ist nicht nur das Buch, sondern auch schon der eine oder andere Beitrag in den Medien erschienen. Highlights bisher: Die „Berliner Morgenpost“ hat ein ausführliches Interview veröffentlicht, auf SWR2 erschien ein dreieinhalbminütiger Radiobeitrag. Lieblingssatz daraus: „Es muss die Lust am Schmerz sein, die Behrendt dazu getrieben hat, an die 200 Songtexte zu analysieren.“ Prominent platziert ist das Buch auch in der März-Ausgabe des JOURNAL FRANKFURT. In helle Aufregung versetzte mich ein halbstündiger Live-Auftritt im MDR-Fernsehen bei „MDR um 4 – Gäste zum Kaffee“. Es war spannend zu sehen, wie die Sendung produziert wird, und gleichzeitig ein Teil davon zu sein. Mein Dank geht an das gesamte Produktionsteam und an Moderatorin Stephanie Müller-Spirra, die mich dank ihrer souveränen Art meine Nervosität schnell in den Griff bekommen ließ. Mindestens ebenso gefreut habe ich mich über einen ausführlichen Talk mit Dagmar Fulle für hr INFO. Daraus ist ein 25-minütiger Radiobeitrag entstanden, der einen hervorragenden Einblick gibt in das, worum es im Buch geht. Hier auf Beiträge zu verlinken, ist wohl wenig sinnvoll – vieles verschwindet auch rasch wieder aus den Mediatheken. Wer neugierig ist, googelt einfach ein bisschen und wird schnell fündig. Weitere Beiträge und Rezensionen dürften folgen – und nun stellt sich die banale, aber essenzielle Frage: Wie kommt das Buch an? Die Spannung steigt …

Mein Herz hat Sonnenbrand: Über schiefe bis irrwitzige Songtexte aus 60 Jahren deutscher Popmusik
240 S., Hardcover, 13,5 x 21,5 cm
Reclam 2023, 20 Euro
ISBN 978-3-15-011434-6

Erste Lesungstermine:
17.3., Bremen, Buchhandlung „Albatros“
18.3., Walsrode, Bistro „MoccaMoor“
2.6., Blies-Kastel, Orangerie
21.9., Offenbach, Bücherbus

Zwischen Eigenem und Fremdem

Neues von Jens Balzer: Das lesenswerte Musiksachbuch Schmalz und Rebellion kreist um den deutschen Pop und seine Sprache

Es ist bereits das fünfte Buch in sechs Jahren. Jens Balzer, Kulturjournalist für „ZEIT“, „Rolling Stone“ und „radioeins“, Dozent für Popkritik an der Berliner Universität der Künste und Co-Kurator des Popsalons am Deutschen Theater Berlin, zählt zu den produktivsten Autoren seiner Zunft. Nach Abhandlungen über das Phänomen „Pop“ an sich, über „Pop und Populismus“, über „das entfesselte Jahrzehnt“ der Seventies und „das pulsierende Jahrzehnt“ der Achtziger widmet sich Balzer nun dem „deutschen Pop und seiner Sprache“. Dass Schmalz und Rebellion, so der griffige Titel des ansprechend gestalteten Bandes, im Berliner Dudenverlag erscheint, wirkt stimmig.

Wer nun erwartet, dass sich der Autor in sprachwissenschaftlichen Betrachtungen und stilistischen oder grammatikalischen Detailanalysen ergeht, wird enttäuscht. Zum Glück. Balzer schreibt eher über Sprachfindung und den Umgang mit Sprache in Songs aus dem deutschsprachigen Raum seit 1946 – und das leicht verständlich, gut begründet, mit gelegentlicher feiner Ironie, die nie zynisch oder verletzend wirkt. Selbst Acts wie Sandra und Modern Talking, die gemeinhin gern belächelt werden, erfahren in diesem kritisch-historischen Abriss eine kurze, angemessene Beschreibung und Einordnung – die mehr als berechtigte Kritik an sexistischen, homophoben und antisemitischen Rap-Tracks erfolgt in klaren Worten, aber sachlich. Und weil Balzer es nicht nur versteht, überraschende Bezüge herzustellen, sondern auch bisher wenig erforschte Popnischen ausleuchtet und die eine oder andere obskure Songperle in den Ring wirft, ist sein neuester Streich selbst für Leute, die schon viel über Pop zu wissen glauben, unbedingt lesenswert.

Bruch mit der Vergangenheit

Schmalz und Rebellion entwirft ein einnehmendes Narrativ von Pop-Entwicklungslinien im deutschsprachigen Raum, die sich fast folgerichtig und stets in Reaktion aufeinander oder auf bestimmte gesellschaftliche Strömungen ergeben haben. So wendet sich die rebellische Jugend im Deutschland der frühen Sechziger dem mehr schlecht als recht verstandenen, aber ungemein coolen Englisch der Rock-’n’-Roll- und Beatmusik zu, um sich gegen die Sprache der Nazis, der schuldbeladenen Elterngeneration, des eskapistischen deutschen Nachkriegsschlagers abzugrenzen. Weil aber gesellschaftskritische Botschaften über den trotzigen Gestus hinausgehen und dann auch verstanden werden sollten, traten Ende der Sechziger politische Künstler wie Franz Josef Degenhardt, Hannes Wader, Ihre Kinder und Floh de Cologne auf den Plan – mit konsequent deutschen Texten. Die Brücke zurück zur Jugendmusik schlugen dann Ton Steine Scherben, die erste echte Rockgruppe mit engagierten deutschsprachigen Songs. Für die leichtgängigere Variante sorgte in diesem Kontext Udo Lindenberg mit seinen ungemein lässigen und gleichzeitig sprachschöpferisch-artifiziellen Texten über ebenso schräge wie einsame Charaktere. Ein Beispiel für die gelegentlich aufblitzende Balzer’sche Ironie: „Er (Lindenberg) stand auch für all jene Männer, die die sexuelle Revolution der Zeit vor allem als Chance ansahen, mit möglichst vielen Frauen ins Bett zu gehen.“

Kein Wunder, dass sich in den Siebzigern auch eine neue Frauenbewegung etablierte – mit musikalischen Vertreterinnen wie den Flying Lesbians, Schneewittchen und Östro 430, die eine Skepsis gegenüber der Mainstream-Gesellschaft und gegenüber gesellschaftsverändernden politischen Bewegungen hegten. Ganz klar, der Bruch mit deutscher Kulturgeschichte und Tradition lag in der Luft. Und den wollten, so Balzer weiter, die sogenannten Krautrocker noch verschärfen: indem sie Sprache nur noch als beliebig form- und auseinandernehmbares Material ansahen oder gleich ganz ohne Text, also instrumental musizierten. Ein ebenso folgerichtiger Ansatz wie der der Wiederaneignung unverfänglicher deutscher Traditionen, die Jahrhunderte vor dem Nationalsozialismus gewirkt hatten. Diesen zweiten Ansatz verfolgten in den Siebzigern die unterschiedlichsten Acts: Ougenweide, Novalis oder Hölderlin vertonten Minnelyrik, sangen auf Alt- und Mittelhochdeutsch; andere, etwa Achim Reichel, äußerten sich auf Plattdeutsch, zelebrierten Shanties und Seemannslieder. Im Rheinland begannen BAP, auf Kölsch zu rocken, in Österreich hatte Wolfgang Ambros mit Popsongs in Mundart Erfolg. Die Lieder der Friedensbewegung – Gefühliges von Bots, Juliane Werding & Co – kündeten von der Kriegsangst in dieser Zeit, und die in deutscher, in türkischer oder in gemischter Sprache gefassten Lieder türkischer „Gastarbeiter“, auf die Balzer – ein großes Verdienst dieses Buchs – ebenfalls verweist, formulierten neben Heimweh die Wut und die Enttäuschung über die in Deutschland erlebte Diskriminierung. In den Songs von Yüksel Özkasap, Metin Türköz oder Cem Karaca (Die Kanaken) lässt sich deutlich ein Vorgriff auf die gesellschaftskritischen Raps migrantischer Hip-Hop-Crews der neunziger Jahre erkennen, von Advanced Chemistry bis Fresh Familee.

Entfremdung und Transzendenz

Deutsche Künstler in den Siebzigern so Balzer, suchten „nach dem sprachlich Eigenen in einer fremd gewordenen Form“. Doch dann betraten Kraftwerk die Bühne, mit einer völlig neuen, rockfreien, vollelektronischen Roboter-Ästhetik und simplen, fragmentartigen deutschsprachigen Texten. Analyse Balzer: Mit Kraftwerk kehrt Deutsches als Fremdes zurück, indem es Klischees erfüllt, die andere Nationen von Deutschland haben: „sonderbar“, „kalt“, „futuristisch“.

In den Achtzigern sang Herbert Grönemeyer ein seltsam regionales Deutsch, das gleichzeitig vertraut und fremd klang. Parallel dazu zelebrierten Punk- und Avantgarde-Bands wie Fehlfarben, S.Y.P.H. und Einstürzende Neubauten einen niederschmetternden Nihilismus – als Reaktion auf den apokalyptischen Zustand der Welt, als Absage an Friedens- und Öko-Utopien. Ähnlich gelagert, aber durchsetzt mit bitterer Systemkritik gaben sich Punk- und Avantgarde-Bands in der DDR der Achtziger. Auch hier gebührt Balzer Dank für die Erinnerung an ein selten beleuchtetes Kapitel deutschsprachiger Popmusik – und für den Hinweis auf eine faszinierend sonderbare Band wie AG Geige, der wir gar eine „Ästhetik der Transzendenz“ für beide Deutschlands verdanken. Wie im Fall von Nina Hagen Ende der Siebziger kam auch mit AG Geige, Zitat, „die eindringlichste Stimme der Emanzipation und Rebellion im deutschsprachigen Pop nicht aus dem Westen, sondern aus der von Zensur und Unterdrückung geprägten DDR.“ Manches aus dieser Zeit, vor allem in Punk und Neuer Deutscher Welle, klang „wie eine Sprache, die man gerade erst erlernt hatte“. Oder „wie eine Sprache, die gar nicht zur Musik passte“. Der Autor grundsätzlich: „Alles musste fremd werden, um zu etwas Neuem zu finden.“ Das schafften dann vor allem DAF, die zu seltsamen elektronischen Beats auf assoziative, ambivalente Weise Sprache kaputt machten, um daraus eine neue Sprache der Romantik und der Liebe zu entwickeln. Ein für Balzer sehr gelungenes Songbeispiel: Der Räuber und der Prinz.

Dekonstruktion und so

Spannend ist Balzers Blick auf Cpt. Kirk &, auf Blumfeld und Die Sterne, auf die für griffige Slogan-Texte gefeierten Tocotronic und andere Bands der Hamburger Schule. Angesichts eines Nebeneinanders von schlagermäßig aufgeweichter Neuer Deutscher Welle, wieder englischsprachiger Italodisco, Untergangsangst, Vereinzelung, Rechtsrock und aufkeimenden Debatten über Heimat und Nationalismus klangen auch sie in den späten Achtzigern und frühen Neunzigern nach Dekonstruktion, nach Verunsicherung und Skepsis. Zum Ausdruck kommt in den neuartigen Rocksongs die „Fremdheit in der Gesellschaft“, es ist die Musik von „Menschen, denen die Sprache im Weg ist“, die „Deutsch als Fremdsprache empfinden“ und sich selbst im Weg stehen beim Ausdruck ihrer Gefühle. Eine verführerische Erklärung für die oft so seltsam anmutenden Songtexte dieser nordischen Schule des deutschsprachigen Pop.

Zu den Solitären, die aus Balzers Abhandlung herausragen, gehört neben Lindenberg, Grönemeyer oder Nina Hagen auch die erfolgreichste Band der Neunziger: Rammstein. Mit der Interpretation ihrer Kunst als Karikaturen und ironische Brechungen des Deutschseins liegt der Autor sicher richtig – seine Ansicht, dass dieser Kunst gleichzeitig eine Anschlussfähigkeit für den Rechtsrock innewohne, muss man nicht teilen, ist aber legitim und weit verbreitet. Erstaunlich, dass in Balzers Ausführungen zu dieser historischen Phase erwartbare explizite Fingerzeige auf „die Wende“ und „die Wiedervereinigung“, auf eine „Nachwendezeit“ oder die „Auflösung des Ostblocks“ fehlen: Mal klingen lediglich die letzten Jahre der alten Bundesrepublik an, mal veränderte Zeitstimmungen, auf die Künstlerinnen und Künstler unter anderem mit dem Aufgreifen poststrukturalistischer Einflüsse reagieren. Unmittelbare Gedanken zum historischen Einschnitt 1989/90 werden offenbar der mündigen Leserschaft überlassen.

Progression und Reaktion

Und dann sind wir auch schon beim Deutschrap des neuen Jahrtausends, der sich bald zwischen sprachverliebten Gute-Laune-Tracks im Stil der Fantastischen Vier, Antidiskriminierungs-Empowerment der Marken Advanced Chemistry und Fresh Familee sowie menschenverachtendem Battle- respektive Gangsta-Rap à la Bushido, Fler, Haftbefehl oder Kollegah bewegt. Überwiegend geht es um Menschen, die sich „fremd im eigenen Land“ fühlen und darauf unterschiedlich reagieren. Tatsächlich wird auch Popmusik in Deutschland nach der Jahrtausendwende immer diverser – vor allem im Hip-Hop sind so viele migrantische Stimmen zu hören wie nie zuvor. Und selbst dem unappetitlichen Gangsta-Rap gebührt das Verdienst, viele neue Begriffe in die deutsche Alltagssprache eingeführt zu haben. In Balzers Narrativ geht es stets um Fremdes und die Aneignung von Fremdem, also verweist er in diesem Zusammenhang auch auf deutsche Mittelschichtkids, die sich – analog zu den deutschen Sixties-Halbstarken und ihrer Hinwendung zum neuen, englischsprachigen Rock ’n’ Roll – die Posen der coolen Gangsta-Rapper aneignen: Statt „Wan, tuu, zrie, forr, läts go“ singen sie heute: „Chabos wissen, wer der Babo ist.“ Was zu weiteren Reaktionen führt: Wo es so viele diverse Stimmen gibt, muss als Gegenbewegung an den eskapistischen, exotisierenden Schlager der Fünfziger, an die Shanties, die Mundart- und Mittelalter-Trends der Siebziger angeknüpft werden. Erfolgreiche Acts wie In Extremo, Santiano und Schandmaul, aber auch Helene Fischer mit ihrem eklektizistischen Elektro-Schlager-Pop erfüllen, so die verlockende These, entsprechenden Bedürfnisse.

Dezenter theoretischer Überbau

Es klingt in dieser kleinen Zusammenfassung schon an: Balzer hat seinem überzeugenden Narrativ einen dezenten theoretischen Überbau gegeben. „Generell“, so postuliert er, „ist keine Popmusik, keine Kultur ohne das Spiel von Aneignungen, Neu- und Umdeutungen denkbar – also all dessen, was fremd und anders erscheint und deswegen reizvoll ist.“ Und so erweist sich seine Geschichte der deutschen Sprache im Pop tatsächlich als, Achtung: Plural, „eine Geschichte der Sprachen“ – sie handelt „von der Aneignung des anderen, von der Abwehr des Eigenen, von der Erneuerung des Eigenen durch die Auseinandersetzung mit dem Fremden und von der Wiederaneignung dessen, was zu einem gehört, aber fremd zu werden beginnt. Insofern ist es auch die Geschichte einer Gesellschaft und ihrer Kultur, die sich das andere in exotisierenden und oftmals rassistischen Projektionen zurechtlegt – und die erst langsam damit beginnt, durch den Schleier der Projektionen hindurchzublicken auf die Vielfalt und Vielstimmigkeit der realen Welt.“ Wenn es abschließend über gute Songs heißt: „Sie lassen die eigene Sprache fremd werden und weisen dadurch den Weg zu einem anderen Bild von sich selbst“, dann wird dem Leser beinahe warm ums Herz. Der Autor ist mit Leidenschaft bei der Sache, kennt seinen Stoff und weiß genau, was er da macht. Nur an einer Stelle im Buch zuckt man kurz zusammen, wenn von der „Kölner Punkband Böhse Onkelz“ die Rede ist. Richtig ist, dass die höchst umstrittenen Onkelz aus Frankfurt am Main kommen. Es ist eine kleine Unachtsamkeit, über die man gerade bei diesem Werk mit seinen kenntnisreich zusammengestellten Beispielen und Quellen gern hinwegliest.  

Eine andere Geschichte der deutschsprachigen Musik

Vor vier Jahren erschien bereits ein Musiksachbuch mit dem Titel Es geht voran: Die Geschichte der deutschsprachigen Popmusik, verfasst von Manfred Prescher. Und es lohnt sich, kurz einen vergleichenden Blick auf beide Bücher zu werfen. Darüber, dass Pop im deutschsprachigen Raum nach dem Ende der Nazidiktatur erst eine eigene Sprache finden musste und dass die Suche über Versuche mit der englischen Sprache, mit Dialekten, politischen Texten und mittelalterlichen Traditionen lief, sind sich Prescher und Balzer einig. Doch wo für Balzer deutsche Popmusik auch in den Achtziger-, Neunziger- und Zweitausenderjahren noch von Aneignungs- und Entfremdungsprozessen gekennzeichnet ist, wirkt bei Prescher die Suche bereits um die Achtziger abgeschlossen. Natürlich eignet sich immer irgendjemand irgendetwas an, aber in Es geht voran wird deutlich weniger gefremdelt. Die vielfältige emanzipatorische Leistung der deutschsprachigen Popmusik eröffnet dem Autor die Möglichkeit, etliche weitere individuelle Acts und Traditionslinien zu würdigen, aus der BRD, der DDR und aus Österreich, von den Ärzten bis zu den Toten Hosen, von den Puhdys und der Stern-Combo Meißen bis zu Wanda und dem urkomischen Ersten Wiener Heimorgelorchester. Überhaupt kommen bei Prescher selbst Blödelbarden wie Insterburg & Co und Kreativrocker mit feinstem Sprachwitz zu ihrem Recht.

Auch in meiner persönlichen Wahrnehmung gab es in den Achtzigern deutlich mehr als Fehlfarben und Neubauten auf der einen und Fräulein Menke oder Spider Murphy Gang auf der anderen Seite. Die Band Ideal etwa war für mich eine Offenbarung. Beinahe aus dem nichts kam Sängerin und Texterin Annette Humpe mit einer neuen deutschen Szenesprache um die Ecke, die frisch und alltagsnah wirkte und gleichzeitig auf lyrische Kniffs und Tricks der großen Kabarettkünstler und Vokalensembles der 1920er und -30er Jahre zurückgriff. In Verbindung mit einer krachig-melodischen New-Wave-Musik schien mir bei Ideal, aber auch bei anderen jungen Bands dieser Zeit deutschsprachige Popmusik endlich auf Augenhöhe mit den energiegeladenen, sprachgewitzten Stars aus England und den USA zu rangieren – ohne dass Haltung, gesellschaftliches Engagement oder Ideen von Transzendenz darunter leiden mussten. Extrabreit, Andreas Dorau oder Huah!, auch die gut gelaunten Fanta 4 und Fettes Brot, Die Braut haut ins Auge, Wir sind Helden, Jennifer Rostock, Kraftklub, Maurice und die Familie Summen, Mia, Bilderbuch, Max Raabe oder Die höchste Eisenbahn, um nur einige unter sehr vielen zu nennen, haben bis heute diese Tradition einer durchaus anspruchsvollen, kritischen, aber im Ansatz hochenergetischen, positiv gestimmten deutschsprachigen Popmusik fortgesetzt.

Kausalität und wildes Durcheinander

Wenn mir also etwas fehlt am neuen Buch von Jens Balzer, dann sind es solche Beispiele für ein überzeugendes Zu-sich-selbst-Finden von Pop-Künstlerinnen und Künstlern in der deutschen Sprache. Ebenso wie Acts vom Schlage eines Udo Jürgens oder einer Hildegard Knef, die mühelos eine Brücke zum Chanson, zum engagierten Liedermachertum und sogar zu Pop und Rock schlagen konnten. Balzer bleibt eng an den Impulsen, die von Suchenden und Entfremdeten, von Skeptikern, Vereinzelten und Verunsicherten, von Subversiven oder auch von Reaktionären ausgingen. Da bleibt eine leise Ahnung, dass es noch mehr und anderes an auch sprachlich relevantem Pop aus Deutschland gibt als das, was in Schmalz und Rebellion angeführt wird, noch weitere Geschichten oder Nebenstränge, auch Dynamiken wie Transformation und Innovation – und dass nicht alles einer strikten Kausalität folgt, sondern oftmals ein buntes, wildes Nebeneinander von auch zufällig auftretenden Phänomenen herrscht. Das schmälert nicht die Überzeugungskraft der von Balzer entworfenen Erzählung – schließlich lebt spannende Geschichtsschreibung von zugespitzten, verdichtenden Interpretationen der Vergangenheit. Was man selbst in all den Jahrzehnten eher halbbewusst und wenig reflektiert miterlebt hat, bringt Schmalz und Rebellion immer wieder analytisch scharf und erhellend auf den Punkt. Und wenn der Autor augenzwinkernd etwa fragt, warum um Himmels willen ein Schlager, der auf Hawaii spielt, mit Sprachfloskeln aus dem Spanischen hantiert oder wen Dieter Bohlen wohl mit seiner semantisch verwirrenden Cheri Lady adressieren wollte, dann kommt auch der Unterhaltungswert nicht zu kurz. Dass sich dieses Buch bei aller Informationsdichte und Tiefe sogar als Strandlektüre empfiehlt, ist als großes Kompliment zu verstehen.

Jens Balzer, Schmalz und Rebellion: Der deutsche Pop und seine Sprache. Dudenverlag Berlin, 2022. 224 Seiten, 20 Euro