Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin …

Schon 1954 schrieb Boris Vian das Antikriegslied Le déserteur. Heute wünscht man sich, es würde auch in Russland gehört

Der Vietnamkrieg der 1960er Jahre kam für die USA keineswegs aus dem Nichts. Einige seiner Ursachen liegen im Indochinakrieg, den Frankreich in den 1950er Jahren als Kolonialmacht in Vietnam gegen die vietnamesischen Kommunisten führte. Vietnam wurde von China unterstützt, Frankreich von Amerika, dessen Regierung sich in dieser Zeit massiv von der Sowjetunion, von China, von Sozialismus und Kommunismus bedroht sah. Höhepunkt dieser Paranoia war die „sogenannte McCarthy-Ära. Von 1950 bis 1954 wurden unter Senator Joseph McCarthy diverse Vertreter des Regierungsapparats und Kulturschaffende der kommunistischen Unterwanderung der USA bezichtigt, was zu einem Klima der Angst führte. Nach der Niederlage der Franzosen 1954 war es die Intervention der USA, die zur Teilung Vietnams in einen Nord- und einen Südstaat führte. Vor allem der schreckliche Vietnamkrieg im darauffolgenden Jahrzehnt hat in den Annalen der Weltgeschichte große Resonanz gefunden. Doch auch für Frankreich waren die Kriegszeiten damit nicht vorbei. Denn Algerien kämpfte ebenfalls um seine Unabhängigkeit – ein Konflikt, der sich zum Algerienkrieg (1954–1962) ausweitete und das Ende von Frankreich als Kolonialmacht einläutete.

Praktisch in die Zeit zwischen Indochina- und Algerienkrieg hinein schreibt 1954 der französische Schriftsteller Boris Vian das Lied Le déserteur. Der Titel sagt schon fast alles: Ein junger Mann erklärt, dass er trotz Einberufung nicht in den Algerienkrieg ziehen, sondern desertieren werde. Interessant ist die Form des Liedes: Die Musik schwankt trügerisch zwischen heiterem Chanson und marschmusikalischen Ansätzen, der Text ist gestaltet als Brief an den Staatspräsidenten, geschrieben von einem Wehrpflichtigen, der sich „vor Mittwochabend“ („avant mercredi soir“) zum Kriegsdienst melden soll: „Monsieur le Président / Je vous fais une lettre …“ Die Argumentation dieses Schreibens: Ich will Sie nicht in Wut versetzten, aber ich will einfach nicht irgendwelche armen Menschen töten. Ich habe meinen Vater sterben, meine Brüder gehen und meine Kinder weinen sehen. Als ich im Gefängnis war, habe ich meine Frau verloren. Ich werde desertieren und auf meinem Weg andere aufrufen, es mir gleichzutun. Falls  Sie mich jagen, dann warnen Sie Ihre Gendarmen: Ich habe eine Waffe, und ich kann schießen. Gerade die letzten Verse rund um die Waffe empfanden auch Vian-Freunde als zu aufrührerisch, weshalb der Autor sie später in pazifistischem Sinne umdichtete. Der neue Tenor lautete: Und falls Sie mich jagen, dann warnen Sie Ihre Gendarmen: Ich habe keine Waffe, und sie dürfen schießen. 

Als das Lied erschien, zeigtensich Politiker geschockt und forderten ein Verbot. Das führte zu einem berühmten Brief Vians an Paul Faber, Mitglied des Rates des Départements Seine. Obwohl das Lied mit seinem Rollen-Ich, das wie ein Modell-Ich für alle zukünftigen Deserteure wirkt, in der Interpretation verschiedener Sänger auf den Konzertbühnen des Landes grundsätzlich gut ankam, wurden Livedarbietungen regelmäßig von Nationalisten gestört. Wie das Internetportal „Graswurzel.net“ beschreibt, machte auch Pierre Poujades rechtspopulistische „Union zur Verteidigung der Kaufleute und Handwerker“ mit Mitgliedern wie dem jungen Jean-Marie Le Pen kräftig Stimmung. Die Folge: Le déserteur wurde bis zum Ende des Algerienkriegs nicht im Radio gespielt.

In den folgenden Jahrzehnten stand das Lied vor allem bei Wehrdienstverweigerern hoch im Kurs. Während der Sixties griff es die amerikanische Protestbewegung auf, die gegen den Vietnamkrieg auf die Straße ging. Interpretiert und auf Schallplatte veröffentlicht wurde der Song in den USA von Peter Paul & Mary, auch Joan Baez hat ihn gesungen. Ob Le déserteur für Dear Mr. President von Pink Pate gestanden hat, ist nicht bekannt. Aber der 2006 erschienene Song der amerikanischen Rocksängerin ist ebenfalls als kritischer offener Brief an den Präsidenten gestaltet, in diesem Fall George W. Bush, nur dass er neben der Kriegsthematik (vor dem Hintergrund des Irakkriegs) auch den fragwürdigen Umgang mit Obdachlosen, die restriktive Abtreibungspolitik und die Diskriminierung von Schwulen und Lesben anspricht.

An keinen Präsidenten der Welt wäre dieser Song momentan besser adressiert als an den russsischen Präsidenten Wladimir Putin.

Der Haupttext ist ein Auszug aus meinem Buch „Provokation! Songs, die für Zündstoff sorg(t)en“ (WBG/THEISS 2019)

Mut, Besessenheit, Performance-Power

Zum Tod des Rockstars Meat Loaf

Von all den Fernseh-, Film- und Popstars, die in den letzten Jahren mental abdrifteten, gehörte Meat Loaf zu jenen, denen man es am wenigsten übelnahm. Zur Erinnerung: Marvin Lee Aday, so sein bürgerlicher Name, war nicht nur überzeugter Republikaner und Donald-Trump-Fan, ja sogar guter Donald-Trump-Freund, sondern auch Klimaschwurbler. Anfang 2020 behauptete er in einem Interview, den Klimawandel gebe es gar nicht, und bezeichnete Aktivistin Greta Thunberg als gehirngewaschen. Starker Tobak, eigentlich. Und doch musste man eher mitleidig schmunzeln, als sich ernsthaft zu empören. Warum? Weil Meat Loafs große Zeit lange vorbei war, weil er kein leichtes Leben, keine einfache Karriere hatte – und weil er zum Schluss eher wie eine Witzfigur rüberkam. Wenn dagegen Eric Clapton und Van Morrison auf unangenehme Weise über Corona und übers Impfen schwadronieren, und das auch noch in ihren Songs, wenn Xavier Naidoo finstere Verschwörungstheorien vertritt oder Schauspielstars bei fragwürdigen Propagandavideos mitmachen, gefriert einem schon mal das Blut in den Adern.

Die Frage, ob man Meat Loafs Musik vor dem Hintergrund seiner dubiosen Äußerungen heute noch höre dürfe, lässt sich ähnlich leicht beantworten wie dieselbe Frage mit Blick auf Michael Jackson – den „King of Pop“ hatten in seinen letzten Lebensjahren ernstzunehmende Vorwürfe des Kindesmissbrauchs begleitet: Die Hits dieser Künstler sind regelrechte Klassiker und grundsätzlich frei von kontroversen Gedanken oder Statements – zudem haben an ihnen ganze Heerscharen an Kreativen mitgewirkt, die man durch eine Ächtung von Songs unfairerweise mitbestrafen würde. Die großen Erfolge von Michael Jackson und Meat Loaf werden nach wie vor häufig im Radio gespielt, und niemand beschwert sich. Hier haben Sender und Hörerschaften offenbar stillschweigende Vereinbarungen getroffen. Durch schweißtreibende Konzerte, auch im Rahmen der Sendung „Rockpalast“, oder teils selbstironische Auftritte in Kultfilmen wie The Rocky Horror Picture Show und Roadie sorgte Meat Loaf zusätzlich für Bilder, die in Erinnerung blieben, zu guter Letzt unterstrich er, dass man es mit Mut und Besessenheit, Stimme und unglaublicher Performance-Power auch als eher unansehnlicher Typ zum globalen Superstar bringen kann.

Der frühe Tod der Mutter, die Abneigung des Vaters, der den kleinen Marvin als „Hackbraten“ schmähte, die Verwandlung dieser Demütigung in die positive Energie eines zugkräftigen Bühnennamens, der vorübergehende Verlust der Stimme nach den ersten großen Erfolgen, Alkohol- und Drogenexzesse, Geldsorgen, Rechtsstreitigkeiten – all das beherrscht die aktuellen Meldungen über Meat Loaf. Aber welche Stellung nimmt sein musikalisches Werk in der Pophistorie ein? Schon auf seinem erfolgreichen Debütalbum Bat Out of Hell (1977) hatte der schillernde Texaner gemeinsam mit dem 2021 verstorbenen Texter, Komponisten, Arrangeur und Pianisten Jim Steinman neue Maßstäbe in der Rockästhetik gesetzt. Natürlich hatte es auch damals schon eine als „Art Rock“ bezeichnete Spielart gegeben, die sich durch überlange, musikalisch vertrackte Songs und eine gewisse Ernsthaftigkeit auszeichnete. Aber Steinman und Meat Loaf war es gelungen, ihre aufwendig produzierten mehrteiligen Kunstsong-Epen so massentauglich zu gestalten, dass sie – wenn auch teilweise in gekürzten Versionen – regelmäßig Spitzenplätze in den Singlecharts erreichten. Wo sich Art-Rock-Künstler um kompositorische wie spieltechnische Finessen und um eine irgendwie „authentische“ Expressivität bemühten, setzten Steinman und Meat Loaf das manisch-wuchtige Image und die grotesk-pathetische Bühnenperformance des Frontmanns in Worte, Klang und Musik um. Heraus kamen monumentale 5- bis 12-Minuten-Stücke, die unter ihrem orchestralen Bombast und den schrillen, die Schwelle zum Kitsch meist deutlich überschreitenden Texten nicht etwa zusammenbrachen, sondern erst richtig aufblühten. Liebe, Hass, Wut, Angst, Trauer, Euphorie – es ging um überlebensgroße Gefühle, bevorzugt die von Teenagern. Mit der LP Bat Out of Hell entfaltete der Begriff „Schmachtfetzen“ im modernen Song eine neue Dimension.

Die 1993 erschienene LP Bat Out of Hell II: Back Into Hell leitete ein großartiges Meat-Loaf-Comeback ein und verstand sich, der Titel sagt es, als eine Art Fortsetzung des erfolgreichen Debütalbums. Mit I’d Do Anything for Love (But I Won’t Do That) enthält sie den bis heute erfolgreichsten Song des Künstlers. Es ist ein Hit, der bis heute für Gesprächsstoff sorgt. Weil sich Fans immer wieder gern verhören und das Stück auf schrägste Weise durchleuchten, was für die seltsamsten Interpretationen sorgt. In anderen Worten: Der gelegentliche Umgang mit diesem Klassiker bewegt sich so offensichtlich in der Grauzone zwischen übertriebenem Songverstehen und interpretatorischer Gewaltanwendung, dass er einen Platz in der Liste der größten Pop-Songmissverständnisse verdient. „And I would do anything for love“, beteuert Meat Loaf – und hängt hier und da ein entschiedenes „but I won’t do that“ an, mit Betonung auf „that“. Und dieses „that“ sorgt chronisch für Verwirrung. „Irgendwie verstehe ich nicht, was um Himmels willen er nie für die Liebe tun würde!“, fragt beispielsweise ein Nutzer des Internetportals „www.wer-weiss-was.de“: „Er läuft bis zur Hölle und zurück, und sonstige verrückte Sachen. (…) Er steigert sich derart rein, dass ich mir schon die fürchterlichsten Sachen vorstelle …“ Und auch in anderen Foren liefern Witzbolde und ernsthaft Suchende die bizarrsten Antworten.

In I’d Do Anything for Love (But I Won’t Do That) wird Meat-Loaf-typisch geschmachtet, was das Zeug hält, ganze zwölf Minuten und eine Sekunde lang. Die ersten drei Viertel des Songs gehören einem jungen Mann, der eigentlich nichts weiter tut, als einer Angebeteten seine Liebe zu gestehen – wobei deutlich durchklingt, dass er endlich mit ihr schlafen möchte. Dabei lässt er immer wieder einfließen, dass er alles für die Liebste tun würde, und zwar uneingeschränkt. Zum Beispiel würde er einmal in die Hölle gehen und auch wieder zurück. Gleichzeitig beteuert er, ebenfalls durch verschiedenste Beispiele untermauert, dass er nichts tun würde, was sein sinnliches Erleben schmälern oder sein Ziel unterbinden könnte. Das hört sich dann zu Beginn des Songs etwa so an: „And I would do anything for love / I’d run right into hell and back / I would do anything for love / I’ll never lie to you and that’s a fact / But I’ll never forget the way you feel right now / Oh no – no way / I would do anything for love / But I won’t do that / I won’t do that.“ Zwei schlichtweg parallel nebeneinander herlaufende Argumentationsstränge bilden hier also die grundlegende Textstruktur: zum einen die an die Geliebte gerichtete Beteuerung, alles für seine Liebe zu tun, und zum anderen, völlig losgelöst davon, die eher an sich selbst gerichtete Beteuerung, zu keinem Zeitpunkt von seinem eigenem Glücksanspruch, insbesondere seinem Streben nach körperlichen Sensationen, nach Euphorie, Ekstase abzulassen. „I won’t do that“ – für die eben zitierte Songstelle heißt das: „Ich werde nie vergessen, wie du dich jetzt in diesem Moment anfühlst.“

So geht das schier endlos weiter, bis im letzten Drittel die Angebetete auftritt und nun ihrerseits prüfende Fragen stellt, die sich auch als versteckte Forderungen, wenn nicht gar als Bedingungen interpretieren lassen. Zu diesen immer absurder klingenden Bedingungen gehört sogar, sie mit Weihwasser abzuspritzen, falls ihr die Hitze, die Erregung, zu Kopf steigt: „Will ya hose me down with holy water – if I get too hot?“ Und was macht unser erregter junger Held? Beteuert, weil er endlich zum Zug kommen will, nicht minder pathetisch und vehement: „I can do that!“ Doch dann errichtet die Angebetete noch eine letzte rhetorische Barriere und konfrontiert ihn mit einem Totschlagargument: Nach einer Weile, so sagt sie ihm klagend ins Gesicht, wirst du all das vergessen, unsere Liebe nur als mittsommerliches Zwischenspiel betrachten und einfach weiterziehen: „After a while you’ll forget everything / It was a brief interlude and a midsummer night’s fling / And you’ll see that it’s time to move on.“ Und nun muss unser kopfloser Liebhaber ganz schnell schalten, wenn ihm nicht sämtliche Felle davonschwimmen sollen. Das heißt, er muss umgehend dementieren. Und zum Glück kriegt er die Kurve: „I won’t do that!“, beteuert er ein wenig entrüstet, „I won’t do that!“ – „Nein, ich werde nichts vergessen, und ich werde nicht einfach weiterziehen!“

Auch dieses Prinzip wird nun diverse Male durchexerziert. Die Frage nach der Bedeutung von „I won’t do that“ lässt sich also auf zwei verschiedene Weisen beantworten: In den ersten acht Minuten verneint „I won’t do that“ das Aus-den-Augen-Verlieren des eigentlichen Ziels, und im abschließenden Dialog mit der Geliebten schmettert „I won’t do that“ deren Vorwürfe und Unterstellungen ab. In beiden Fällen gibt es jeweils unmittelbar vorher eine Textstelle, auf die sich „I won’t do that“ konkret bezieht. Und im Versprechen, die Geliebte nicht zu enttäuschen, ist der junge Mann am Ende zumindest auf der sprachlichen Ebene vollends auf Kurs gebracht. Jetzt, da die Sache geklärt scheint, kann der Song in Frieden mit der noch einmal wiederholten Gesamtformel schließen: „Anything for love / I would do anything for love / I would do anything for love / But I won’t do that.“ Nach zwölf Minuten fällt der Song buchstäblich in sich zusammen, er endet zart und leise. Haben sie oder haben sie nicht?, so darf man sich ungeduldig fragen. Hat der junge Mann nun bekommen, was er wollte, oder wird er geläutert weiter warten? Die Antworten bleiben dem Publikum überlassen. Warum aber noch heute User in Chatforen wie „www.songfacts.com“ spekulieren, „that“ stehe für „niemals betrügen“, für „den Freund der Angebeteten ermorden“ oder gar für „Oralsex“, bleibt eins der letzten Rätsel der Menschheit.

Solche Songs ließen sich mit verschiedenen Gastsängerinnen wie kleine Theaterszenen auf der Konzertbühne realisieren – auch in dieser Hinsicht setzte Meat Loaf bei seinen Liveshows Maßstäbe. Am 20. Januar ist der einst so charismatische Rockstar viel zu früh im Kreise seiner Familie verstorben, die Todesursache ist bisher nicht bekannt. Meat Loaf wurde 74 Jahre alt. Einige seiner Platten sind längst vergessen, und sein Trump-freundliches Klimageschwurbel wird schnell vergessen sein. Jene Über- Songs aber, die er im Verbund mit Jim Steinman produzierte, werden für immer in Erinnerung bleiben.

Teile dieses Beitrags erschienen bereits 2017 in meinem Sachbuch:

I Don’t Like Mondays
Die 66 größten Songmissverständnisse

ISBN: 978-3-8062-3485-5
(WBG/THEISS)

Pop dreht frei

(II) Gegen jede Vernunft

Amerikas Musikgeschehen, das zeigte Teil (I) von „Pop dreht frei“, glänzt durch hilflose Bands und diktatorische Fans, durch Größenwahn und Populismus. Aus Großbritannien sendet ausgerechnet Robbie Williams verstörende Signale. Und auch hierzulande dominieren nicht etwa aufregende Künstler die Schlagzeilen, sondern kleinere und größere Popkatastrophen: von Xavier Naidoo bis zu Düsseldorfs OB, von Manuel Neuer bis zum „Donaulied“. Selbst Rammstein-Frontmann Till Lindemann kriegt keine ordentliche Provokation mehr hin.

Aus Amerika kommt in Sachen Pop zurzeit viel Absurdes. Zum Beispiel von Madonna. Die „Queen of Pop“ a. D. preist nicht nur das umstrittene Malaria-Mittel Hydroxychloroquin als Wundermittel gegen Corona, sondern behauptet auch, dass ein bewährter Impfstoff längst verfügbar sei, jedoch unter Verschluss gehalten werde, damit die Reichen reicher und die Armen ärmer und kranker werden. Da dürfen europäische Superstars natürlich nicht zurückstecken. Und so bemüht sich Robbie Williams redlich, Anlass zur Besorgnis zu geben. Der verrückte Brite hatte sich in der Vergangenheit bereits als Fan von UFOs und Aliens geoutet – jetzt äußerte er in Interviews zumindest Sympathien für den einen oder anderen Verschwörungstheoretiker. Und wies vielsagend darauf hin, dass er die „Pizzagate“-Theorie zumindest für nicht widerlegt halte. Die Pizzagate-Theorie? Richtig: Das war die abstruse Behauptung, aus einer Washingtoner Pizzeria heraus sei ein Kinderpornoring betrieben worden, in den auch die US-Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton verwickelt gewesen sei.

Die tägliche Dosis Geheimwissen

Womit wir direkt nach Deutschland schalten. Zum Beispiel zu Xavier Naidoo. Der einst beliebteste Soulpopper des Landes war schon Monate vor Corona bei großen Teilen der Öffentlichkeit angeeckt: mit antisemitischen Versen in seinen Lyrics, mit kruden Thesen über Ritualmorde an Kindern, mit Redebeiträgen für die sogenannten „Reichsbürger“. Durch den Song Marionetten, den er 2017 gemeinsam mit den Söhnen Mannheims eingespielt hatte, geisterten Pegida-Jargon und eben jene Pizzagate-Theorie. Schon das war starker Tobak. Endgültig in Ungnade aber fiel Naidoo wegen kurzer Video-Posts in sozialen Medien, die mit ausländerfeindlichen Statements und absurden Corona-Theorien erschreckten – dazu passten gemeinsame Aktionen mit dem Vegan-Koch Attila Hildmann. Und der ist bekanntlich bereit, als Märtyrer für seine Wahnvorstellungen zu sterben. Hier noch groß zu kritisieren und zu appellieren, scheint müßig: Typen wie Hildmann und Naidoo muss man als „verloren“ abhaken, die holt man nicht wieder auf den Boden der Vernunft zurück. Eine Theorie besagt, dass wer Verschwörungstheorien anhängt, eine gewisse Unausgeglichenheit, die eigene Bedeutungslosigkeit kompensieren will. Demnach gibt die Gewissheit, über ein Geheimwissen zu verfügen, solchen Menschen das dringend benötigte Gefühl, etwas Besonderes zu sein – sich erleuchtet von der Masse abzuheben. Es scheint wie eine Droge zu sein.

Nur dass dieser Droge neben Hinz und Kunz inzwischen auch Kaliber wie Madonna, Robbie Williams oder Xavier Naidoo verfallen. Sollten Popstars vielleicht doch nur Menschen sein? So wie Politiker auch nur Menschen sind? Auftritt Thomas Geisel, Oberbürgermeister von Düsseldorf: Der machte im Juli 2020 seinem Nachnamen alle Ehre, weil er meinte, ausgerechnet Rapper Farid Bang, dessen Texte er eigentlich „widerwärtig“ findet, als Botschafter einspannen zu müssen. Mit dem Effekt, dass vor allem er selbst eingespannt wurde. Zur Erinnerung: Farid Bang ist der wegen antisemitischer und sexistischer Verse berüchtigte Gangsta-Hip-Hopper, der 2018 zusammen mit Kollegah den „Echo“-Musikpreis zu Fall gebracht hatte. Bang, sicher hocherfreut über den kleinen Popularitätsschub, setzte sich artig für Herrn Geisel vor die Videokamera und bat auf „Sesamstraße“-Niveau – „Hallo Leute, ich zieh euch die Ohren lang, haha!“ – unvernünftige Partypeople, sich doch endlich an die Corona-Beschränkungen zu halten, man gefährde schließlich ältere Menschen und so. Der notorische Regelbrecher als Hüter der Regeln: Was für eine absurde Idee! Die lustlos abgespulte und nur mäßig überzeugenden Ansage des Herrn Bang sorgte vor allem für eines: Dem OB blies von allen Seiten Wind ins Gesicht. Von der Opposition, von entsetzten Bürgern, von jüdischen Verbänden. WDRaktuell war nur eins der vielen Medien, die bundesweit berichteten. Und so kam es, wie es kommen musste: Das Video musste vom Netz.

„Why can’t we all just get along?“

Man stelle sich vor: Wissbegieriges Partyvolk, das sich nachdenklich Farid Bangs Aufklärungsvideo anschaut und dann schuldbewusst nach Hause geht, um einen Kräutertee zu trinken. In seinem hochnotpeinlichen Anbiederungsversuch an die dunkle Seite der Macht erinnerte der hilflose SPD-Mann Geisel an Jack Nicholson und dessen herrliche „Why can’t we all just get along?“-Rede in Tim Burtons clever-satirischem Science-Fiction-Klamauk Mars Attacks. Voll aufgesetzter Gutmütigkeit und Wärme appelliert da der Hollywoodstar als schmierig taktierender US-Präsident an die Vernunft der kleinen grünen Invasoren, die gerade zu ihm vorgedrungen sind. Scheinbar reumütig senken die bösen Marsianer die Köpfe und vergießen ein wunderbares Krokodilstränchen – nur um den Präsidenten im nächsten Moment per Tentakel-Dolchstoß ins Jenseits zu befördern und die Erde weiter genüsslich in Schutt und Asche zu legen.

Nicht wundern würde mich indes, würde Farid Bang bald wieder in gewohnter Manier durch die Gegend pöbeln, einschließlich verbaler Attacken gegen den Düsseldorfer Magistrat. Denn, Bushido hat es vorgemacht, so funktioniert Gangsta-Rap: Immer ambivalent und schwer zu fassen sein, keine Verantwortung übernehmen, das Establishment hinters Licht führen, ständig attackieren. Hauptsache, man bleibt „credible“ bei den Fans, und die Album-Verkaufszahlen stimmen. Für den Düsseldorfer OB jedenfalls war die Sache ein Kommunikations-Super-GAU.

Den erlebte auch Manuel Neuer, als er im Sommerurlaub mit kroatischen Kollegen und deren Freunden ein beliebtes kroatisches Lied sang, das Fußballfans aus der Region genauso gern schmettern: Du bist schön, eine patriotisch aufgeladene Liebeserklärung an die Heimat, in die sich Medienberichten zufolge Beisitzansprüche auf Gebiete in Bosnien-Herzegowina mischen sollen. Das Lied stammt von der Gruppe Thompson, deren Sänger Marko Perkovic als Ultrarechter gilt und in anderen Songs die faschistische Ustascha-Bewegung verherrlicht. Ein Video der Neuer’schen Gesangseinlage ging viral und brachte den Kapitän der deutschen Fußballnationalmannschaft in ernste Erklärungsnöte. „Songmissverständnis aus Unkenntnis der Sprache“ und „Unwissenheit schützt vor Strafe nicht“, das sind die Schubladen, in die sich der Fall mindestens packen lässt. Ein anschauliches Beispiel für die Fallstricke, die das Internet und soziale Netzwerke selbst unbescholtenen Prominenten nicht vorenthält. Aber auch ein Beleg für die Naivität des Weltklassetorhüters, der glaubhaft versicherte, weder die kroatische Sprache zu beherrschen noch die Hintergründe des Liedes zu kennen. Wobei: Letzteres hat dann doch überrascht. Denn der Ustascha-Gruß und das Absingen des Liedes Du bist schön bei internationalen Fußballturnieren wird schon seit Jahren in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. Gerade vom Kapitän der deutschen Nationalmannschaft, der nun mal wirklich die vielbeschworene Vorbildfunktion erfüllt, hätte man einen besseren Kenntnisstand, mehr Bewusstsein und mehr Reife erwartet. Sei’s drum. Denn was am Ende am meisten beunruhigt, ist etwas ganz anderes – nämlich ein Gedanke, den die „Frankfurter Rundschau“ in einem Bericht über den Fall zitiert: „Auf Twitter schreibt jemand: ‚Das Problem ist nicht Neuer. Das Problem ist, dass es überhaupt kein Problem ist, Thompsons Lieder in Kroatien zu singen.’“ Da ist was dran.

Das Problem, dass problematische Lieder kein Problem sind

Ähnlich lässt sich über den grauslig pathetischen Metal-Kracher Panzermarsch befinden, den sich das ungarische Militär ausgerechnet von der Rechtsrockband Kárpátia schreiben ließ. Die Regierung unter Viktor Orbán sieht darin tatsächlich nicht das geringste Problem. Warum auch?, Kárpátia sind ja in Ungarn recht beliebt. In Deutschland wiederum scheint es mancherorts kaum ein Problem zu sein, ein altes Volkslied ausgerechnet in solchen modernisierten Versionen zu singen, die eindeutig eine Vergewaltigung beschreiben. Die Rede ist vom vielfach aktualisierten Donaulied und Zeilen wie den folgenden: „Einst ging ich am Ufer der Donau entlang, Ohohoholalala / Ein schlafendes Mädchen am Ufer ich fand, Ohohoholalala / Sie hatte die Beine weit von sich gestreckt, Ohohoholalala / Ihr schneeweißer Busen war halb nur bedeckt, Ohohoholalala / Ich machte mich über die Schlafende her, Ohohoholalala / Da hört sie das Rauschen der Donau nicht mehr, Ohohoholalala.“ Das Opfer wird schwanger, und in manchen Versionen macht sich der Täter alsbald aus dem Staub – nicht ohne den Hinweis an die „saublöde Schlampe“, er habe doch einen Gummi benutzt. In der hier zitierten Version des Portals rhoischnoke.de wiederum ruft der Vergewaltiger der Frau am Schluss noch entgegen: „Hier hast du ’nen Heller und geh’ halt nach Haus, Ohohoholalala / Und wasch dir den Schnickschnack mit Kernseife raus, Ohohoholalala.“ Zufriedenes Fazit: „Ich stand auf der Brücke und schwenkte den Hut, Ohohoholalala / Ade, junge Maid, ja die Nummer war gut …“

Die abgewandelten Versionen sind veritable Bierzelt-Hits und werden von Befürwortern gern mit dem Verweis auf die Tradition verteidigt. Nur: Von Tradition kann hier gar keine Rede sein. Denn in seinen frühen Versionen kreist das Lied eben nicht um eine Vergewaltigung, sondern um eine mal mehr, mal weniger zart entflammende Liebe. Und selbst eine aktuelle Schenkelklopf-Schlagerversion von Mickie Krause erzählt von einvernehmlichem Sex. So heißt es bei Krause nach den Eingangsversen halbwegs verträglich: „Da wachte sie auf und sie sagte: ‚Komm her’, Ohohoholalala. / Wir hörten das Rauschen der Donau nicht mehr, Ohohoholalala.“ Natürlich ist auch diese Version nicht die eleganteste, zumal der männliche Sprecher die Frau im Anschluss sitzen lässt; aber – jo mei, Ohohoholalala – in Bierzelten darf es gern etwas rauer zugehen, und ganz so realitätsfern ist das Ende vom Lied ja nun auch wieder nicht. Männer sind eben Schweine. Mit Den Ärzten könnte man sogar sagen: Trau ihnen nicht, mein Kind …

Insofern ist bei Herrn Krause Entwarnung angezeigt – bei „Ich machte mich über die Schlafende her“ jedoch nicht! Absolut nachvollziehbar, dass Passauer Studenten eine Petition starteten, die ein kritisches Nachdenken über die Vergewaltigungsversionen des Liedes und ihre Verwendung in Bierzelten forderte. Selbst mit Blick auf Kunstfiguren und Rollen-Ichs sind die in Richtung Übergriff getunten Textversionen verwerflich. Vor 60 Jahren gab es mal einen Überraschungsschlager, der triefende Seemanns- und Rotlichtromantik mit handfesten Fantasien von Übergriffen im Wald und sogar im Publikum mischte. Er hieß Laila, stammte von den niederländischen Regento Stars und ließ Frontmann Bruno Majcherek etwa folgenden Schwachsinn radebrechen: „Stellen Sie sich vor, meine Damen und Herren, ich wär einen wilden Räuber. Stellen Sie sich vor, Sie liefen ganz allein rum im Wald, ich tät rufen von ‚Hände hoch, oder ich schieße sie!’ Wäre das nicht wunderbar? Fühlen Sie jetzt, meine Herren, dass die Damen vollkommen willenlos sind geworden, denn bei der zweiten Strophe hat sich schon eine ganze Menge junge Damen in dem Sekt- und Schnapstrinken verschluckt.“ Und weiter: „In der magisch hellen Tropennacht / Vor dem Frauenhaus in Algiers / Hat ein dunkles Auge ihm zugelacht / Dem kranken bleichen Legionär.“ Damals, 1960, mag es noch halbwegs „normal“ gewesen sein, sich auf die Schenkel zu klopfen (die Herren) und verschämt mitzuklatschen (die Damen). Dass aber heute, im 21. Jahrhundert, Frauen und – in der Mehrheit – Männer den „modernen“ Vergewaltigungstext des Donaulieds bierselig in einem Feierkontext mitgrölen, sollte sich eigentlich von selbst verbieten.

Klopapier aufs Gartenhaus? Es ist etwas komplizierter …

Womit sich der Kreis zu Goethes Gedicht vom „Heidenröslein“ schließt, gegen das zu Beginn von Teil (I) dieses Beitrags mit einer Klopapieraktion protestiert wurde. Bei Goethe kommt ebenfalls ein Jüngling eher zufällig vorbei („Sah ein Knab’ ein Röslein steh’n …“), dann heißt es unverblümt blumig: „Und der wilde Knabe brach / ’s Röslein auf der Heiden / Röslein wehrte sich und stach / Half ihm doch kein Weh und Ach, / Mußt’ es eben leiden.“ Verschiedene Deutungen dieses Gedichts heben auf die poetische Verarbeitung einer enttäuschten Liebe ab – als habe der Knabe dem verliebten Heidenröslein das Herz gebrochen. Als Bezugspunkt im wirklichen Leben wird dazu gern die Affäre zwischen Goethe und Friederike Brion bemüht – ein leidenschaftliches Techtelmechtel, das der Dichterfürst per Brief beendet hatte. Friederike soll schwer verliebt gewesen sein und auch ihrerseits einen tiefen Eindruck bei Goethe hinterlassen, ihn sozusagen „gestochen“ haben. Doch im Kampf um diese Liebe (sie „wehrte sich“ gegen das Verlassenwerden) war sie letztlich unterlegen.

Das ist die biografisch motivierte Interpretation. Nur kommen Gedichte selten mit einem Beipackzettel inklusive Lebenslauf und Psychogramm ihres Urhebers daher. Und für gewöhnlich überdauern sie die Zeiten, erst recht wenn Goethe der Verfasser ist. Weshalb sich einer weniger informierten Leser-/Hörerschaft von heute ganz andere Fragen stellen. Etwa: Wieso will der Knabe das Heidenröslein brechen? Was genau ist mit „brechen“ gemeint, und was soll die kraftstrotzende Ankündigung? Wie anders kann Rösleins Ansage „Ich steche dich“ zu verstehen sein denn als „Ich weigere mich, ich sage Nein“? Und klingt das Fazit „Mußt’ es eben leiden“ nicht unglaublich zynisch? Rücksichtslos? Gewalttätig? Und so lässt sich hier – frei nach dem Motto „Trau nie dem Autor, trau nur seiner Erzählung“ – durchaus auch auf eine Vergewaltigung schließen. Deshalb fragen konsequente Kritiker des Goethe’schen Frauenbilds erzürnt: Erzählt das Gedicht vom Heidenröslein von einvernehmlichem Sex? Klare Antwort: Nein. Also lasst uns Klopapierrollen auf Goethes Gartenhaus werfen! Aber muss man denn wegen des Heidenrösleins gleich das ganze Werk, die ganze Dichterperson verdammen? Ebenfalls: Nein. Denn dafür ist, wir haben’s gesehen, die Angelegenheit zu kompliziert. 

Wer Lindemann verteidigt, läuft Gefahr, selbst als Nazi, Sexist oder Dumpfbacke beschimpft zu werden

Einfacher, eindeutiger zu beurteilen ist der geschilderte Sachverhalt in Wenn du schläfst, einem aktuellen „Skandal“-Gedicht von Rammstein-Sänger Till Lindemann. Ist es Zufall, dass Wenn du schläfst an Goethes ambivalenten Text, aber auch an die weniger korrekten Versionen des Donaulieds erinnert? Hier ein paar Auszüge: „Ich schlafe gerne mit dir, wenn du schläfst. Wenn du dich überhaupt nicht regst.  (…) Schlaf gerne mit dir, wenn du träumst. Und genau so soll das sein (…) Etwas Rohypnol im Wein (etwas Rohypnol ins Glas). Kannst dich gar nicht mehr bewegen. Und du schläfst, es ist ein Segen.“ In diesem Fall gibt es keinen Zweifel: Wenn du schläfst kreist um die Vergewaltigung einer bewusstlos gemachten Frau. Ja ist denn dieser Lindemann noch zu retten? Die Feuilleton-Wellen schlugen hoch. Erbitterten Kritikern und dem Vorwurf, der Text würde sexuelle Gewalt gegen Frauen propagieren, hielt Lindemanns Verlag Kiepenheuer & Witsch zu Recht entgegen: Das Ich im Text ist nicht mit dem Ich Till Lindemanns gleichzusetzen, der Autor schlüpft hier bewusst in die Rolle eines Mannes, der etwas zutiefst Verwerfliches tut. Schon klar. Und trotzdem darf man fragen: Warum in aller Welt veröffentlicht der Rammstein-Frontmann so einen Text? Und warum gerade in diesen Zeiten? Um zu offenbaren, wie krank manche Männer ticken? Um flirtfreudigen Partygängerinnen zu mahnen, ihre Drinks nicht aus den Augen zu lassen? Oder einfach nur um zu provozieren?

Lindemann hat inzwischen einen Status erreicht, der Rezensenten in ein Dilemma stürzt: Äußert man sich empört über seine Ergüsse, dann lacht er sich eins ins Fäustchen, denn er hat erreicht, was er wollte: hitzige kontroverse Diskussionen. Verteidigt man ihn aber oder mahnt auch nur: „Halb so wild“, dann läuft man unweigerlich Gefahr, selbst als Nazi, Sexist oder Dumpfbacke beschimpft zu werden. Alles schon erlebt. Klar empfinde ich dieses „Gedicht“ als abstoßend, als plump und schon gar nicht als Literatur. Und doch meine ich, man sollte die Kirche im Dorf lassen. Es ist ein Rollenspiel, das letztlich Bezug nimmt auf verstörende Erscheinungen unserer Zeit – auf häusliche Gewalt, auf sexuelle Übergriffe im Nightlife-Kontext, auf sexuelle Übergriffe an sich. So ein „Gedicht“ kann man machen. Man muss es aber nicht machen. Erst recht nicht, wenn das schmerzhafte Thema durch die #metoo-Bewegung, durch Sexismusdebatten und die Aufregung um verschiedenste furchtbare Missbrauchsskandale seit Monaten breit in der Öffentlichkeit verhandelt wird. Da wartet bestimmt niemand auf eine einfallslos-anrüchige Wachrüttelaktion des Herrn Lindemann, der ansonsten durchaus aufregend aufzuregen weiß.

So untermauert auch Wenn du schläfst die These von der momentanen Orientierungslosigkeit des Pop. Pop haut nur noch um sich, Pop verärgert, Pop wird instrumentalisiert. Und das sogar von manchen Fans, auch wenn sie in der Bundesrepublik eher harmlos-naiv vorgehen. So wie ein Student aus Offenbach, der sich tatsächlich dafür einsetzt, die dortige Bismarckstraße neu zu benennen. Und zwar nach einem Sohn der Stadt, dem Gangsta-Rapper Haftbefehl. „Die Zeit“ berichtete Ende Juli in großem Stil, nicht ohne süffisanten Unterton. Der Hintergrund, na klar, sind die „Black Lives Matter“-Proteste, es geht gegen den Kolonialismus, die grausame Unterdrückung fremder ethnischer Gruppen. Natürlich kann man den studentischen Impuls verstehen, und die Umbenennung einer Straße ist tatsächlich besonnener als das Niederreißen einer Statue. Doch was Bismarck, der für die Kolonialisierung in Afrika stand, mit einem kurdischen Rapper zu tun haben soll, bleibt in diesem Fall genauso undurchdacht wie die Frage, warum ausgerechnet jener Haftbefehl eine eigene Straße bekommen soll. Der hessische Hartreimer ist zwar durchaus zu Selbstkritik und Selbstironie fähig, wie nicht nur sein Auftritt im doppelbödig-geschmacklosen Lindemann-Video Mathematik beweist, aber er hat in der Vergangenheit auch schon einigen politisch unkorrekten Unsinn von sich gegeben. Nicht zuletzt schießt er sich gelegentlich schon mal selbst ins Bein, und das wortwörtlich. Da gäbe es bestimmt ein paar Offenbacher, die viel eher eine eigene Straße verdient hätten.

Aber Hauptsache, es wurde ein bisschen Propaganda gemacht, das überbordende Ego bestätigt, grober Unfug als letzte Weisheit proklamiert. Und genau darin ist Pop mit allem, was dazugehört, ein Spiegel unserer Zeit. Einer Zeit, in der Populisten das Zepter schwingen, in der orientierungslose Corona-Skeptiker und Esoteriker keine Probleme damit haben, gemeinsam mit Rechtsnationalen zu demonstrieren, und in der die politisch Verantwortlichen die vielen positiven Perspektiven, die der Lockdown immerhin aufgezeigt hatte, einfach ignorieren. Vielleicht haben Die Ärzte ja recht, wenn sie in Abschied singen: „Los, komm, wir sterben endlich aus, denn das ist besser für die Welt …“

A Scotsman in New York

David Byrnes wunderbares Buch How Music Works

Es sind nun schon acht Jahre vergangen, seit dieses Buch in der englischen Originalausgabe erschienen ist, aber was soll ich machen: Ich hab’s nun mal jetzt erst für mich entdeckt. Und dieser Blog gibt mir alle Freiheiten: Ich kann darin thematisieren, was immer ich will – und wann ich es will. „To work“ heißt auf Deutsch „arbeiten“, „funktionieren“, auch „klappen“ und „gelingen“, insofern ist „Wie Musik wirkt“, die deutsche Übersetzung des Buchtitels, nicht ganz akkurat. „How Music Works“, die 2012 erschienene Abhandlung des Talking-Heads-Masterminds David Byrne, ist eben keine Wirkungsgeschichte, kein Fabulieren über das, was Musik mit dem Publikum macht, sondern eine Compilation aus Betrachtungen über das Wesen von Musik, über Bedingungen ihrer Produktion, über die Rolle, die die Künstlerpersönlichkeit dabei spielt, über die Funktion von Musik in der Gesellschaft.

Das klingt erst mal sehr abstrakt und hat, das gebe ich gerne zu, auch in mir Vorbehalte geweckt. Aber diese Vorbehalte haben sich beim Lesen rasch zerstreut. Warum? Weil David Byrne sehr unterhaltsam schreibt und dabei immer wieder zum Brüllen komische Spitzen einbaut; weil er auf den Punkt formuliert; weil er hochspannende Informationen präsentiert; und – vor allem – weil er wirklich erhellende Einblicke in seine Arbeit mit den Talking Heads und anderen hochkarätigen Künstlerinnen und Künstlern gewährt. Hier spricht kein Intellektueller im Elfenbeinturm, auch kein selbstverliebtes selbst erklärtes Genie, sondern ein mit reichlich Humor und feiner Ironie gesegneter kreativer Kosmopolit, der völlig unprätentiös von seinem Schaffen, seinen Erlebnissen und seinen beglückenden Erfahrungen mit guter Musik berichtet, ob es sich nun um Rock, Jazz, Wave oder Latin, um Klassik oder Pop, um vermeintliche U- oder mutmaßliche E-Musik handelt, um rituelle, improvisierte oder von Künstlicher Intelligenz hervorgebrachte Musik, um individuelle Songs oder für Musicalproduktionen konzipierte Auftragslieder. Natürlich bekommt man zwischen den Zeilen mit, welche Arten von Musik, welche Künstlerpersönlichkeiten und welche Entwicklungen im Musikbusiness er gut findet und welche weniger – aber stets erweist sich Byrne als Gentleman und begegnet den Phänomenen und Charakteren, über die er schreibt, mit Aufgeschlossenheit und Respekt, notfalls mit einem vielsagenden Augenzwinkern.

Wer hochtrabende postrukturalistisch, marxistisch oder anderweitig ideologisch gefärbte Betrachtungen erwartet, wird hier glücklicherweise ebenso enttäuscht wie ein Publikum, das auf Sex-and-drugs-and-rock-and-roll-Geschichten, auf Anekdoten aus der US-Post-Punk-Szene oder auf peinliche Geständnisse aus Byrnes Privatleben hofft. Byrne hegt eine viel zu große Skepsis gegenüber Rockismen oder gebrochen-genialischen Künstlerseelen und ist auf seinem kreativen Weg viel zu sehr zum Universalgelehrten in Sachen Musik gereift, um sich mit Boulevardkram dieser Art zu beschäftigen. Mit Sicherheit hatte er sehr viel Spaß im „Rockzirkus“, das kann, wer will, aus dem Buch herauslesen; aber vor allem ging (und geht) es ihm um das Entdecken und Erforschen, um ständig neue Erfahrungen, um die Verwirklichung von Ideen und um die Kotrolle über sein eigenes künstlerisches Tun.

So erfahren wir, wie Musik in archaischen Gemeinschaften
funktionierte und wie sie sich über die Jahrhunderte zum Produkt entwickelte; wie
die Orte und Kontexte, in denen Musik aufgeführt wird, ihre Beschaffenheit
bestimmen; oder wie auch Künstlerinnen und Künstler immer nur mit den ihnen zur
Verfügung stehenden Mitteln und Ressourcen arbeiten können, von den eigenen
Fähigkeiten über die verfügbaren technischen Mittel bis hin zu den
Mitstreitern. Natürlich leugnet Byrne nicht, dass individuelle Kompetenzen und
Eingebungen beim Musikmachen eine Rolle spielen – und doch macht er anschaulich
deutlich, dass nicht wir die Musik spielen, sondern dass die Musik zu einem
großen Teil uns spielt. Eine wohltuend realistische Absage an das romantische Konzept
vom genialisch kaputten, visionären Künstler, der aus den Abgründen seiner
Seele Einzigartiges erschafft. Die zum Teil aberwitzige Entwicklung von den
ersten erfolgreichen Schallaufzeichnungen bis zur Entstehung einer Platten- und
Musikindustrie werden ebenso packend veranschaulicht wie die neuerlichen
Umwälzungen, die sich aus der Digitalisierung ergeben haben. Und mittendrin in
all dem Chaos: David Byrne und die Talking Heads, David Byrne und Brian Eno,
David Byrne und Fatboy Slim, David Byrne und die Weltmusiker dieser Welt.

Schon in einem der ersten Kapitel gibt es Betrachtungen zur Arbeit der Talking Heads, und gerade wenn man glaubt, man hätte schon alles Wesentliche zu diesem Thema erfasst, erhält man gegen Ende des Buchs mit ausführlichen Betrachtungen zum Geschehen im und um den legendären New Yorker Club „CBGB’s“ erst das vollständige Bild. „How to Make a Scene“ heißt das schöne Kapitel, in dem Byrne schildert, wie sich in einem abgerissenen Club in einem abgerissenen Viertel New Yorks jene schillernde Szene entwickeln konnte, aus der Tom Verlaine und Television, Blondie, die Patti Smith Group, The Ramones und nicht zuletzt die Talking Heads hervorgingen. Anders als die traditionellen Musikclubs der Stadt, die zum Teil drei verschieden Konzerte etablierter Acts an einem Abend veranstalteten, für die jeweils neu Eintritt gezahlt werden musste(!), ließ sich der Macher des CBGB’s in den 1970ern dazu überreden, ein geringes Eintrittsgeld zu erheben, das die Bands des Abends ausgezahlt bekamen, und ansonsten die Einnahmen aus den Getränken zu kassieren. So wurde der einstige Biker-Club nicht nur zu einer Goldgrube für den Betreiber, sondern auch zu einem unvergleichlichen künstlerischen Experimentierfeld, zu einem zwanglosen Treff, in dem junge, von der Rockgigantomanie à la Eagles und Fleetwood Mac enttäuschte Bands ihre eigenen Vorstellungen einer zeitgemäßen Popmusik präsentieren konnten. Es gab keinen richtigen Backstage-Bereich, auch der Aufbau des Equipments und das Stimmen der Instrumente geschahen vor den Augen des Publikums, die Bühne war eher irgendwo am Rande platziert, die Gäste tranken an der langgezogenen Bar oder spielten Billard, auch waren all die innerlich brennenden Combos nicht unbedingt solidarisch miteinander. Ganz wichtig war ironischerweise, dass niemand gezwungen war, andächtig zu lauschen. Das Lob eines Billard-Spielers, der den ganzen Abend mit dem Rücken zur Band ein paar Kugeln über den Tisch gestoßen hatte, war manchmal das einzige und motivierendste Feedback, das man als Künstler bekam. Byrne unterstreicht diese eher nüchternen Beschreibungen mit wenig glamourösen Fotos und selbst gezeichneten Lageplänen des Clubs – wodurch man einen ziemlich lebendigen Eindruck von dieser Location und ihrer spezifischen Szene erhält, die so mancher erwartungsvolle Schaulustige und Rocktourist entsetzt wieder verließ.

Es war hier im CBGB’s, wo Byrne, der mit seinen Bandkollegen in einer WG lebte, nach Jahren des ziellosen Straßenmusikertums und nerdigen Noise-Produzierens im Jugendzimmer seine Ideen von einer neuen Popmusik als „work in progress“ ausprobieren und weiterentwickeln konnte. Da waren die Pop-Art-Bands, die Expressionisten und die posenden Romantiker unter den jungen New Yorker Bands – die Talking Heads wiederum gehörten zu den Konzeptkünstlern und Minimalisten: Genüsslich befreiten sie ihre Musik und Bühnenshows von allem Rock-, Barock- und Kunst-Bombast, kleideten sich wie Otto Normalbürger, sangen von Angst, Psychosen und gestörten Beziehungen und untermauerten das Ganze rhythmisch mit alten Funk- und Soul-Grooves. Verfremdungseffekt Galore, hochartifiziell und doch ungeheuer mitreißend. So entstand jene blassgesichtig-linkische Tanzmusik, die Rocktraditionalisten in den Wahnsinn trieb, aber nachrückende Generationen elektrisierte. Entdeckungsfreudige Künstler, die sie waren, entwickelten sich die Talking Heads rasch weiter, und der weitgereiste Byrne, immer auf der Suche nach neuen künstlerischen Erfahrungen, begann, sein Konzept zu variieren. Er entdeckte Parallelen zwischen den Posen großer Rockstars und den stilisierten Präsentationsformen des traditionellen japanischen Theaters, spürte dem rituellen Charakter afrikanischer Musik nach und passte seine Bühnenkonzepte immer wieder an. Jemand sagte ihm, auf der Bühne müsse alles ein bisschen größer sein als im wirklichen Leben – weshalb er sich im überdimensionierten Anzug präsentierte und nicht nur zu dem bahnbrechenden Album Remain In Light gelangte, sondern auch zu gefeierten Tourneen mit einer polyrhythmisch versierten Funk-Rock-Truppe. Später baute er in seine Shows Informationen darüber ein, wie diese Shows „gemacht“ waren, indem er die einzelnen Bühnen- und Beleuchtungslemente nach und nach auf die Bühne rollen und installieren ließ – eine wunderbare Botschaft auf der Metaebene, die den Zauber der Live-Performance in keinster Weise trübte. Dann folgte die Entdeckung der lateinamerikanischen Musik mit den entsprechenden Song- und Tourkonzepten, und so weiter und so fort.

Ich hatte immer ein GEFÜHL zu den Talking Heads und zu David Byrne, aber nach der Lektüre von How Music Works verstehe ich erstmals wirklich, was hinter dieser Musik und den Konzerten steckte, und zwar ohne dass es die Faszination zerstört. Dasselbe gilt für die geschilderten Details zur Entstehung einiger Songtexte, etwa zu Once In A Lifetime: Selbstverständlich macht David Byrne nicht den Fehler, seine Lyrics bis ins kleinste Detail zu erklären und sich damit festzulegen. Aber er verrät, wie diese teils kryptischen und doch zwingenden Lyrics entstanden sind, und regt dazu an, sich näher mit ihnen zu beschäftigen. Auch hier wird deutlich: Abgesehen von Auftragslyrics für ein Musical, die bestimmte Funktionen innerhalb eines Gesamtswerks zu erfüllen hatten, waren die Songtexte auch den Entstehungsbedingungen im Proberaum oder im Studio geschuldet, den Voraussetzungen, die man vorher festgelegt hatte oder die sich einfach irgendwie ergaben. Mr. Spock, der eigentlich gar nicht hierhergehört, würde sagen: Faszinierend!

Gibt es weniger gelungene Passagen in diesem Buch? Nicht wirklich. Auch wenn ich gestehen muss, dass ich zwei Kapitel eher flüchtig gelesen und darin sogar ein paar Seiten übersprungen habe. Das eine, „Business and Finances“, handelt fast schon betriebswirtschaftlich akkurat von Vertragsformen und Kostenplanungen für Tour- und Studioprojekte. Das andere, „Harmonia Mundi“, kreist um das Wesen und den Ursprung von Musik und die teils bizarren philosophischen Konzepte, die die Menschheitsgeschichte dazu hervorgebracht hat. Da wird es beinahe ein wenig esoterisch. Ich bin aber sicher, gerade aufstrebende Musikerinnen und Musiker, die hoffnungsvoll an ihrem Erfolg basteln, werden in „Business and Finances“ wertvolle Hinweise für ein gezieltes wirtschaftliches Produzieren finden und sich deutlich motiviert fühlen, ihre Karriere nicht irgendwelchen Managern und windigen Plattenfirmen anzuvertrauen, sondern sie mutig in die eigenen Hände zu nehmen. „Harmonia Mundi“ wiederum lässt sich, bei allen endlosen Abschweifungen, auf den einen schönen Nenner bringen: Musik ist und bleibt letztlich etwas Geheimnisvolles, dessen Wesen unergründlich ist. Irgendwie scheint Musik von vorneherein im Menschen zu schlummern. Und wie auch immer: Hauptsache, sie berührt und bewegt – nichts anderes zählt.

Gerade als ich hier einmal wieder weiterblättern wollte, erzählte Byrne noch von Kirchenvater Augustinus und seiner Annahme, jeder Mensch würde im Moment des Todes einen göttlichen kosmischen Akkord vernehmen und dazu die letzten Geheimnisse des Universums enthüllt bekommen. Trockener Kommentar von Freigeist Byrne: „very exciting, although just a little late to be of much use.“ Eigentlich nachvollziehbar: Was bringt mir die Erkenntnis der Geheimnisse des Universums, wenn ich im nächsten Moment tot bin? Jene Geheimnisse, die Augustinus gekannt haben soll, seien dann über Jahrhunderte weitergereicht worden, heißt es weiter, seien aber, wie Renaissance-Philosophen einräumten, irgendwann  leider verloren gegangen. Byrnes Fazit: „Oops.“ Es sind staubtrockene Einschübe wie diese, die die Leserin, den Leser bis zuletzt bei der Stange halten. Und dazu anregen, Byrnes spätere Alben American Utopia oder Here Lies Love (mit Gatsängerinnen wie Roisin Murphy, Kate Pierson, Santigold und der unterschätzten Nicole Atkins) noch einmal hervorzukramen.

David Byrne, How Music Works, Edinburgh/London 2012.              

Klingende Werte

Zum Tod von Aretha Franklin

„My friends all wonder what’s come over me, I’m as happy as a man can be“, sang Wilson Pickett 1967 in dem von Bobby Womack geschriebenen Song I’m In Love. Und: „I feel just like a baby boy / On a Christmas mornin’ with a brand new toy.“ Eine typische Soul-Schnulze, garniert mit den üblichen Macho-Attitüden: die Frau als Spielzeug, über das sich der frisch Verliebte wie ein kleiner Junge an Weihnachten freut. Aretha Franklin mochte den Song und hat ihn 1974 gecovert. Aber sie sang ihn mit einem subtil überarbeiteten Text: In ihrer Version spricht eine Frau, und diese Frau dreht den Spieß nicht etwa eins zu eins um, sondern befreit ihn von allen Dominanzgesten: „Friends all wonder what’s come over me, I’m as happy as any girl could be“ und: „I’m sproutin’ and bloomin’ like last summer’s rose.“ Es ist eine Coverversion, aus der großes Selbstbewusstsein spricht – und in der alles Machohaft-Offensive blumig, mit einem Augenzwinkern weggewischt wird.

In dieser unscheinbaren, leicht discobeseelten Interpretation, in diesem Umgang mit dem Original steckt vieles von dem, was die große Sängerin, Songwriterin, Pianistin und Entertainerin Aretha Franklin ausgemacht hat: eine entschlossene Selbstbehauptung, aber humorvoll, ohne Konfrontation, Integrität, Souveränität und musikalische Eleganz, dazu eine Ausstrahlung, die mühelos Grenzen überwand. Aretha Franklin war nicht nur die „Queen of Soul“, sondern eine wahre „Queen of Pop“, nicht nur eine schwarze, sondern eine globale Ikone, gefeiert in ehrwürdigen Kritiker- und Musikliebhaberkreisen, aber auch von Rentnern und Teenies auf der ganzen Welt, nicht zuletzt von der Gay Community.

Die Technik des augenzwinkernden, dezent manipulierenden Coverns hatte Aretha Franklin schon einmal angewandt, und zwar mit durchschlagendem Erfolg. Aus Otis Reddings Song Respect, in dem ein Mann von seiner Frau etwas Wertschätzung verlangt, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt, machte die aufstrebende junge Künstlerin 1967 einen Mutmachsong für unterdrückte Frauen weltweit. Bei ihr ist es der Mann, der seiner Frau Respekt entgegenbringen soll, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt. Erst dann werde er auch von ihrem Geld profitieren. Und damit die Botschaft auch unmissverständlich rüberkommt, wird der Titel immer wieder ohrwurmartig durchbuchstabiert: „R – E – S – P – E –C – T“. Respect wurde einer der größten Erfolge von Aretha Franklin und in der Folge nicht nur feministisch vereinnahmt, sondern auch als Hymne der schwarzen Bürgerrechtsbewegung gefeiert.

Einige ihrer Auftritte sind unvergessen: etwa der im Filmklassiker Blues Brothers, in dem sie den flotten Soulhit Think zum Besten gab und weitere Elemente ihres Image festigte: als resolute, geerdete Persönlichkeit, die jeden Laden schmeißt, als natürliche Autorität und Stimme der Vernunft, der man folgt, wenn sie sich erhebt. Nicht minder bewegend ihre Gesangseinlage bei der Amtseinführung des demokratischen US-Präsidenten Barack Obama, mit der sie die damalige Aufbruchsstimmung musikalisch untermalte. Aretha Franklin, auch als Songautorin und Pianistin respektiert, sang Duette mit Annie Lennox, George Michael oder Elton John, sprang auch mal für Luciano Pavarotti bei Nessun Dorma ein und machte nicht zuletzt durch vielfältige Charity-Aktivitäten ganz unaufgeregt deutlich, dass musikalisch wie gesellschaftlich alles geht, wenn man nur aufgeschlossen, hoffnungsvoll und konsequent agiert und das Herz am richtigen Fleck hat.

Kaum ein menschliches Leben ist frei von Schicksalsschlägen, Krisen und steinigen Phasen. Das gilt auch für Aretha Franklin. Und doch sind von ihr keine Skandale, keine Exzesse, keine peinlichen Extravaganzen bekannt. Im Gegenteil: Die stimmgewaltige Tochter eines Baptistenpredigers stand für Ehrlichkeit, Verlässlichkeit und Konstanz, für gesellschaftliche Verantwortung und beeindruckende künstlerische Qualität. Nicht umsonst landete sie um die 40 Top-Ten-Hits, errang diverse Grammys und konnte sich über die eine oder andere Meilenstein-Auszeichnung freuen. So wurde sie 1987 als erste Frau in die „Rock and Roll Hall of Fame“ aufgenommen. Wer weiß, vielleicht hat all das ja auch mit ihrem Familiennamen zu tun. In Franklin steckt das Adjektiv „frank“, also „offen“ und „frei“, Namensvetter Benjamin Franklin war nicht nur einer der Gründerväter der USA, sondern auch beteiligt am Entwurf der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Der Demokrat Franklin D. Roosevelt wiederum war einerseits Hitlers Gegenspieler und ging andererseits als Sozialreformer in die Geschichte ein, Stichwort: „New Deal“.

Aretha Franklin hat den Kampf gegen den Krebs verloren. Wenn überhaupt etwas über diesen viel zu frühen Tod hinwegtrösten kann, dann ist es der Gedanke, dass Botschaften wie Respect und Think jetzt wieder häufiger im Radio zu hören sind – und dass Werte, wie sie auf eigentümliche Weise mit dem Namen Franklin verbunden sind, wieder verstärkt ins öffentliche Bewusstsein dringen. Die Welt hat es nötig.