Pop dreht frei

(1) Den ganzen Planeten mit einem Warnhinweis versehen!

Fanatiker, Populisten, Egoisten und Verschwörungstheoretiker bestimmen die Schlagzeilen. Das gilt nicht nur in Politik und Gesellschaft, es zeigt sich auch in der Musik. Kritische Schlaglichter auf das Popland USA, wo verunsicherte Bands hektisch ihren Namen ändern und die Rassismusdebatte bizarre Blüten treibt. Wo ein Rap-Vollpfosten Präsident werden will und die Superstars auch nicht mehr sind, was sie mal waren.

Weimar im August 2019: Eine klopapierträchtige Kunstaktion brandmarkt Goethe als Sexisten. Angeklagt sind das machohafte Frauenbild des „Dichterfürsten“ und sein unappetitliches Gedicht vom „Heidenröslein“. Der kleine Anschlag auf Goethes Gartenhaus wird bundesweit kaum wahrgenommen und ansonsten eher belächelt. Tatsächlich ist er nichts gegen das, was nur wenige Monate später Tausende Kilometer entfernt folgen soll. Nach dem Tod des Schwarzen George Floyd, dem im Zuge einer Polizeikontrolle in Minneapolis ein gewalttätiger Polizist minutenlang das Knie in den Hals gedrückt hatte, werden vor allem in Amerika, Belgien und Großbritannien diverse Persönlichkeiten der Geschichte vom Sockel gestoßen, und das im buchstäblichen Sinne. „Black Lives Matter“-Demonstranten attackieren Statuen von Kolonialherren und von Politikern, die für die Unterdrückung der Schwarzen verantwortlich zeichneten, beschmieren sie, köpfen sie oder versenken sie in Flüssen. Columbus und Churchill, selbst die berühmtesten Namen bleiben nicht verschont. Es sind brachiale symbolische Akte, die sich gegen Staatsgewalt und Unterdrückung richten – die unrühmliche Geschichte vergessen machen wollen.

Das Colosseum abreißen. Die Reformation annullieren …

Die Wut kann man gut verstehen. Doch zwangsläufig fragen sich viele, die sich nicht an solchen Denkmalstürzen beteiligen, wo das aufhören soll – was als Nächstes kommt. „So wird Otto Hahn dereinst wegen der Atomforschung verurteilt, Gottlieb Daimler als Mitschuldiger am Klimawandel vom Sockel gestoßen“, spekulierte Thomas Wischnewski im Kontext des kleinen Goethe-Disputs 2019. Wischnewski ist Autor des Onlineportals magdeburg-kompakt.de und spricht von gefährlichen Auslöschungsversuchen. Er warnt: „Die Zurückverurteilung eines zeitgeschichtlichen Geistes trägt faschistoide Züge. (…) Wer die eigene Geschichte umdeutet und abzustreifen versucht, verliert die Fähigkeit, verantwortlich mit ihr umzugehen.“ Seine damaligen Befürchtungen ließen sich heute mühelos ergänzen: Die Reformation wird annulliert, weil Martin Luther im 16. Jahrhundert antisemitische Schriften verfasst hat. Antike Statuen und Stätten, Triumphbögen, das Colosseum werden abgerissen – als Schandmäler für Imperien und Eroberer, die Kontinente in Schutt und Asche legten, andere Menschen versklavten, abschlachteten und abschlachten ließen. Kunstwerke der „Brücke“ werden aus den Museen verbannt, die Maler stehen ja immer wieder unter Pädophilieverdacht. Und Karl May gibt endlich Anlass zu einer Bücherverbrennung, auch sein Werk ist geprägt von rassistischem, kolonialistischem Denken.

Zwei Binsenweisheiten sagen: Der Mensch ist ein widersprüchliches Wesen, mit guten Seiten, aber auch Abgründen, moralischen Untiefen. Und: Der Mensch ist geprägt von der Zeit, der Kultur und den Normen, in denen er sich bewegt, er kann gar nicht anders. Die Grenzen zwischen „einwandfrei“ und „monströs“ sind jederzeit fließend. Nur das absolut Monströse ist klar definiert und gesellschaftlich geächtet – davor jedoch gibt es unendlich viele Graustufen, mit denen man umgehen muss. Manch einer, der Großes getan hat, hat gleichzeitig Dreck am Stecken, erst recht aus historischer Perspektive. Der Weg, sich auch mit den finsteren Aspekten des Lebens auseinandersetzen, Schlüsse daraus zu ziehen und nach Möglichkeiten des Ausgleichs zu suchen, ist in der Regel der bessere. So war es bei der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission, die Verbrechen aus der Zeit der Apartheid aufarbeitete, und so ist es bei der Auseinandersetzung der Bundesrepublik mit der Nazizeit, der kritischen Reflexion der antisemitischen Passagen im Werk Martin Luthers durch die evangelische Kirche. Wenn im Vorfeld des Reformations-Jubiläums 2017 eine protestantische Pastorin und die Kirchenbeauftragte für das Judentum einer Lutherstatue in Hannover symbolisch die Augen verbinden, wenn selbst Vertreter der jüdischen Gemeinde bei aller notwendigen Kritik Luthers revolutionärem Impuls und seiner gelungenen Übersetzung des Alten Testaments aus dem Hebräischen etwas abgewinnen können, dann ist im Sinne einer gemeinsamen Aufarbeitung der Geschichte schon einiges gewonnen.

Darf man Michael Jackson noch im Radio spielen? Auch diese Frage wurde vor nicht allzu langer Zeit angesichts der anhaltenden posthumen Missbrauchsvorwürfe gegen den Superstar hitzig diskutiert. Die Antwort ist längst gefallen, die alltägliche Praxis hat sie gegeben: Ja, man darf Michael Jackson noch im Radio spielen, und ja, man darf ihn auch hören: weil seine Musik nicht im Mindesten Straftatstände erfüllt, weil sie unzähligen Fans viel gegeben hat und immer noch gibt – und weil man letztlich all die Mitwirkenden an Jacksons Kunst, etwa Musiker und Produzenten, durch einen Boykott der Songs ungerechtfertigterweise mitbestrafen würde. An die Verfehlungen des „King of Pop“ muss gleichzeitig erinnert werden dürfen. Weshalb ich es auch unsinnig fände, Filme mit dem wegen sexueller Übergriffe geächteten Ausnahmeschauspieler Kevin Spacey aus dem Verkehr zu ziehen.    

Die Vergangenheit ist so komplex wie die Gegenwart

Wer in einem Abwasch mit den fragwürdigen Aspekten eines Lebenswerks oder einer Epoche gleich das ganze Lebenswerk, die gesamte Epoche aus der kollektiven Erinnerung tilgen will, verleugnet sich selbst und wird vielleicht selbst in hundert Jahren einmal aus der Erinnerung getilgt, wenn Menschen in anderen Kontexten zu neuen Einschätzungen gelangen. Es gibt ja zum Teil schon jetzt unmittelbare Vergeltungsaktionen: So wurden als Reaktion auf die Attacken gegen weiße Kolonialisten-Statuen Gräber ehemaliger Sklaven und Denkmäler schwarzer Autoren geschändet, in Bristol wurde ein schwarzer Musiker durch eine gezielte Auto-Attacke schwer verletzt: Eine sinnlose Spirale der Gewalt kam in Gang, die irgendwann zu Toten führen kann. Ist es das wert? Denkmalentfernungen waren und sind gang und gäbe – meist erfolgen sie bei Regimewechseln, nach Parlamentsbeschlüssen (etwa weil die Objekte als nicht mehr zeitgemäß empfunden werden) oder auf Antrag bestimmter Interessengruppen. Dass eine Initiative von selbsterklärten Aufräumern heute Denkmäler eigenmächtig niederreißt, ist anmaßend. Medienkommentare der letzten Wochen haben Vorschläge formuliert, wie man es besser machen kann: zum Beispiel indem man die umstrittenen Statuen ins Museum stellt, indem man über sie diskutieren und die Öffentlichkeit entscheiden lässt, was mit ihnen geschehen soll, indem man zentrale Gedenkstätten für Kolonialismusopfer einrichtet und/oder indem man neue Denkmäler dagegensetzt. Denkmäler für Demokratiepioniere und Antirassistinnen, mutige Politikerinnen und herausragende Friedensstifter, für konkrete Opfer und die „Black Lives Matter“-Initiative, gern auch für die #metooo-Kampagne oder die „Fridays for Future“-Bewegung, ihre führenden Köpfe. Denn, so die spanische Tageszeitung „El País“: „Die Vergangenheit, die ebenso kompliziert ist wie die Gegenwart und für die es weder endgültige Verurteilung noch Freispruch gibt, steckt auch in diesen Statuen, Denkmälern, Gebäuden.“

Stattdessen beugen sich Popstars wütenden Aktivisten und unverblümten „Hatern“, indem sie flugs ihre vermeintlich rassistischen Künstlernamen ändern. Die Rede ist von Lady Antebellum, einem Trio aus Nashville, das 2009 mit der Countryrock-Ballade Need You Now einen Monsterhit landete und jetzt nur noch Lady A heißt; aber auch von den Dixie Chicks, drei grundsätzlich wackeren Texanerinnen, die auf Druck der „Black Lives Matter“-Bewegung zu The Chicks mutierten. Eigentlich kaum zu glauben. Denn die terminologischen Steine des Anstoßes sind bei genauer Betrachtung genauso komplex wie die Geschichte des Kolonialismus – und für viele Bedeutungen offen. Klar, „Antebellum“, lateinisch: „vor dem Krieg“, ist ein feststehender Begriff, der in der amerikanischen Geschichte auf die Zeit vor dem Bürgerkrieg (1861–1865) verweist – die Ära also, in der in den Südstaaten das brutale System der Sklaverei herrschte. Es war auch die Zeit der „Southern Belles“, bürgerlicher Ladies, die, weil ihnen schwarze Sklaven die Arbeit abnahmen, Zeit hatten für Bildung und kulturelle Aktivitäten. Antebellum bezeichnet außerdem einen bestimmten Architekturstil, wie er in den mit Säulen- und Veranden gesäumten Villen der weißen Plantagenbesitzer zum Ausdruck kam – zu besichtigen unter anderem in Quentin Tarantinos Film Django Unchained, vor allem aber im Filmklassiker Vom Winde verweht. Auch dieses Epos, einer der erfolgreichsten Filme aller Zeiten, steht wegen seiner Südstaatenperspektive und der beschönigenden Darstellung der Sklaverei unter kritischer Beobachtung. Was absolut verständlich ist. Dass ihn der Streamingdienst HBO Max aber kurzzeitig aus dem Programm nahm und im Juni mit einem neuen warnenden Vorwort wieder ins Angebot aufnahm, ist weniger nachvollziehbar. Die Vorzüge wie die problematischen Seiten des Werks sind bekannt, auch aus der umfangreichen Sekundärliteratur, eine gewisse Mündigkeit sollte man dem Publikum nicht absprechen. Und natürlich stellt sich bei aller berechtigten Kritik auch hier die Frage: Was kommt als Nächstes? Wo soll das aufhören? Werden jetzt Hunderttausende Filme, Bücher, Gemälde, Opern, Theaterstücke nachträglich mit Warnhinweisen versehen? „Es könnte schmerzhaft sein …“ Mein Vorschlag: Am besten gleich den ganzen Planeten Erde mit einem Warnhinweis versehen!

Pop = Schillern + Ambivalenz

Doch das nur nebenbei, zurück zu „Antebellum“. Natürlich ist der Begriff mit der Unterdrückung der Schwarzen verknüpft. Aber eben nicht nur: Er weckt auch Assoziationen von Kitsch und Nostalgie, darüber hinaus hat er etwas Morbides. Denn Antebellum ist eine historische Phase der Dekadenz, die durch den Sieg der Nordstaaten unweigerlich zu Ende ging. Dass gerade Pop in der Lage ist, mit solchen Begrifflichkeiten zu spielen, das Schillernde, Ambivalente in markanten Bezeichnungen zu betonen und entsprechenden Kompositionen noch einmal eine andere Tiefe zu verleihen, zeigt Antebellum, ein Song der kalifornischen Künstlerin Vienna Teng: Sie nutzt den Begriff zur Illustration eines Generationenkonflikts – und läuft nicht im Mindesten Gefahr, für diesen Song boykottiert zu werden.

Warum sich die Band, die bei der Namensgebung vor allem den Architekturstil Antebellum im Blick gehabt haben will, hier dem Vorwurf der Sklavereiverherrlichung gebeugt und fast schon schmerzhaft reumütig den Künstlernamen Lady A angenommen hat, statt souverän den widersprüchlichen Assoziationen ihren Lauf zu lassen, ist mir unbegreiflich. Genauso unbegreiflich wie die plumpe Umbenennung der Dixie Chicks in The Chicks. Als unerträglich, das liegt nahe, wurde in manchen Kreisen der Begriff „Dixie“ empfunden. Im engeren Sinne steht er für die Südstaaten zur Zeit der Sklaverei und weckt bei etlichen Amerikanerinnen und Amerikanern unliebsame Assoziationen. Allerdings sind die Zusammenhänge hier noch deutlich komplizierter als im Falle des Begriffs „Antebellum“. Denn „Dixie“ ist eine ausgerechnet in den Nordstaaten geprägte Bezeichnung und eng verknüpft mit einem Song namens Dixie, auch bekannt als Dixie’s Land oder I Wish I Was In Dixie. Der Ende der 1850er Jahre von Daniel Decatur Emmett geschriebene Song gibt die Sicht eines Schwarzen wieder, der sich nach der Rückkehr zu einem Ort namens Dixie sehnt, und dabei werden sämtliche Klischees über Afroamerikaner bedient. Wofür genau nun der Begriff „Dixie“ steht, wurde nie verlässlich geklärt. Wahlweise ist es das Gelände eines den Schwarzen zugetanen Farmers namens John Dixie in Long Island/New York, die Farm eines nicht ganz so freundlichen Mannes auf Manhattan Island oder die „Mason-Dixon-Line“, die einstige Grenze zwischen Nord- und Südstaaten. Was die Sache noch komplizierter macht: Der Song wurde in den Nord- wie in den Südstaaten gesungen, auch als eine Art Kriegslied, dann jeweils mit entsprechend geändertem Text, es war sogar einer der Lieblingssongs von Abraham Lincoln, der die Südstaaten bezwang und die Sklaverei abschaffte.

Wahr ist aber auch, dass der Song in den Kontext der „Minstrel Shows“ gehört. Diese Musiktheater-Events des 19. Jahrhunderts arbeiteten mit dem heute inkriminierten Mittel des „Blackfacing“: Schwarz angemalte weiße Künstler vermittelten ahnungslosen Nordstaatlern ein naives, klischeebehaftetes Bild von schwarzen Menschen. Und das ist, ganz klar, mit Vorsicht zu „genießen“ und, ja, auch rassistisch, vor allem aus heutiger Perspektive. Obwohl Nordstaatler des 19. Jahrhunderts größtenteils gegen die Barbarei der Sklaverei in den Südstaaten waren, darf man ihr Engagement nicht mit dem heutiger „Black Lives Matter“-Aktivisten verwechseln. Die Nordstaaten „attackierten den Süden für die Ungerechtigkeit der Sklaverei und erschufen gleichzeitig eine idealisierte und romantisierte Welt der Schwarzen auf den Plantagen“, differenziert der Musikexperte Jochen Scheytt. „Sie entwickelten den Typ des wandernden ‚darkies’; ein ehemaliger schwarzer Sklave, der sich in der freien Welt nicht zurechtfindet und sich nach dem idyllischen und sorgenfreien Leben auf der Plantage zurücksehnt.“ In anderen Worten: „Das weiße Publikum, das mit und über den Minstrel Clown lachte, brachte so seine gemischten Gefühle gegenüber der Sklavenfrage zum Ausdruck.“ Und noch eine Funktion schreibt Scheytt den Minstrels zu: Sie benutzten das Blackfacing „auch in der Tradition des klassischen Narren. In der italienischen commedia dell’arte diente die Maske dazu, den dahinter Verborgenen von allen Konventionen und Regeln zu befreien. Er konnte so seine Späße ungehindert treiben und musste keine Konsequenzen fürchten. Durch diese Maske konnten die Minstrels auch ernsthafte Kritik äußern, ohne richtig ernst genommen werden zu müssen.“

Also lässt sich der Begriff „Dixie“ gar nicht per se auf eine barbarische Südstaatentradition festnageln. Er spiegelt eine Zeit, in der die USA ähnlich gespalten waren wie heute, aber vor einem ganz anderen politischen und kulturellen Hintergrund agierten. Man muss die damalige Zeitstimmung nicht gutheißen, aber man kann zumindest versuchen, sie zu beschreiben und zu verstehen. Bob Dylan, ganz gewiss nicht nationalistischer oder menschenfeindlicher Haltungen verdächtig, hat den Song Dixie gecovert, 2003 in der durchgeknallten Musikfilmgroteske Masked and Anonymous – Ironie nicht ausgeschlossen. Vielleicht auch als Anspielung auf The Band? Deren Mitglieder, zeitweise Dylans Begleittruppe, hatten es sogar geschafft, im Song The Night They Drove Old Dixie Down den Schmerz eines Südstaatlers über den verlorenen Krieg und über den Tod des Bruders durch die Hand eines Yankee, eines Nordstaatlers, ernsthaft nachzuempfinden, ohne als rassistische Rednecks beschimpft zu werden. Und die legendäre Country-Jazz-Rock-Band Little Feat aus Kalifornien, einem westamerikanischen Bundesstaat, der im Bürgerkrieg politisch auf der Seite der Nordstaaten stand, nannte einen ihrer bekanntesten Songs Dixie Chicken: Es ist die augenzwinkernde Ode an eine moderne männermordende Kneipen-Southern-Belle, die musikalisch in versöhnlicher Manier Nord- und Südstaatentradition vermischt.

Dixieland-Jazz? Du meine Güte …

Nach eben diesem Song und Albumtitel haben sich die Dixie Chicks benannt – und in der Folge alles andere als politisch konservative Haltungen vertreten. Im Gegenteil: Als einstige Lieblinge der Country-Community, gefeiert für das Verschmelzen von Country und Mainstream-Pop, mussten sie 2003 diverse Shitstorms und einen veritablen Karriereknick verkraften, nachdem sie bei einem Konzert in London US-Präsident George W. Bush und die Irak-Invasion kritisiert hatten. Zunächst entschuldigten sie sich, was wiederum Bush-kritische Fans der Band erzürnte, dann aber standen sie weiter zu ihrer Haltung und kämpften sich auf die Erfolgsspur zurück, nicht ohne regelmäßig dezidiert ihre Meinung zu kontroversen Themen zu äußern. 

Von daher erstaunt es sehr, dass sich die konflikterprobte Band nun wieder dem Druck politischer Hardliner gebeugt und das Attribut „Dixie“ aus ihrem Namen gestrichen hat. Schließlich ist der Begriff, wie gezeigt, noch facettenreicher als die Bezeichnung „Antebellum“, er weckt widersprüchlichste Assoziationen und steht heute nicht zuletzt auch für die Staaten im Süden der USA an sich. Deren Existenz ist wohl kaum zu leugnen, man kann sie schlecht von der Landkarte kratzen. Und wohl niemand käme jetzt auf die Idee, eine Musikrichtung wie den Dixieland-Jazz auf ewig zu verdammen. Oder doch? Da drängt sich plötzlich ein schlimmer Verdacht auf: Ist die Namensänderung der Band am Ende vielleicht nur einem radikalen stilistischen Wandel geschuldet? Tatsächlich feiert das unter dem Namen The Chicks erschienene brandaktuelle Album Gaslighter kaum noch Country-Elemente, sondern zielt eindeutig auf die Mainstream-Charts. Und doch enthält es wieder durchaus kämpferische Titel: den Song March, March etwa, eine Hymne auf den außerparlamentarischen politischen Aktivismus unserer Zeit, von den „Black Lives Matter“-Protesten bis zur „Fridays for Future“-Bewegung. Der Namenswechsel nur ein PR-Schachzug? Nein, das wäre unter der Würde der gestandenen Musikerinnen.

Ironie des Schicksals: Als frisch gebackenes Trio Lady A gerieten Lady Antebellum prompt in einen peinlichen Rechtsstreit – und zwar ausgerechnet mit einer schwarzen Blues-Sängerin gleichen Namens. Ganz abgesehen davon, dass jeder Fan und Popexperte weiß, wofür das A einmal stand. Grotesk: Auch die Dixie Chicks mussten sich erst mit den Mitgliedern einer neuseeländischen Sixties-Band namens The Chicks einigen, bevor sie den neuen Namen annehmen konnten. Und firmieren nun unter einem Begriff, den viele Frauen weltweit als abwertend empfinden: Denn „chicks“ bezeichnet spielerisch nicht nur junge Frauen an sich, sondern oftmals auch naive „Häschen“, die ins Beuteschema männlicher Aufreißer passen. Ob das nun wirklich ein Schritt nach vorn war? Zweifel sind angebracht.

Süße Heimat, böse Flagge

Wer tiefer in das Thema eintaucht, stößt dann auch auf das Phänomen des Southern Rock – auf vergangene Kontroversen um Bands wie Lynyrd Skynyrd und den Gebrauch der umstrittenen Südstaaten-Flagge im Rockkontext. Immer wieder standen und stehen die Südstaaten als Heimat des Rassismus in der Kritik, auch in Pop- und Rocksongs: prominent in Southern Man von Neil Young (1971), einer Absage an „den Südstaatler“, der für seine Verbrechen büßen muss. Sweet Home Alabama, der Lynyrd-Skynyrd-Klassiker aus dem Jahr 1973, gilt auch als Antwort auf Southern Man – er schwankt etwas ambivalent zwischen der Verurteilung rassistischer Haltungen und stolzer Heimatliebe. Southern Rock ist ein musikalisch aufregender, aber inhaltlich teils irritierender Mix aus konservativen Haltungen und rüdem Rock-’n’-Roll-Lifestyle, sicher auch gespeist vom Trotz gegen ständige Anfeindungen durch „Nordstaaten“-Bands, durch vermeintlich progressive Hippies und politisch korrekte Fans. Dazu gehört das provokante Zeigen der umstrittenen Südstaaten- oder Konföderierten-Flagge aus Bürgerkriegszeiten, eines weiß umrahmten blauen Schragenkreuzes auf rotem Grund, bedeckt mit dreizehn weißen Sternen. Molly Hatchet schmückten sich mit der „bösen“ Flagge – ebenso wie Lynyrd Skynyrd und der Republikaner-Freund und Waffennarr Kid Rock, dessen Hit All Summer Long (2007) nichts anderes ist als eine Ode an Sweet Home Alabama. Tom Petty setzte1985 die Konföderierten-Flagge auf seiner Southern Accents-Tour ein, entschuldigte sich aber dafür und bezeichnete die Sache glaubwürdig als Fehltritt. Die schwarzen Rapper Ludicrous und Lil John wiederum machten mit der Südstaaten-Flagge kurzen Prozess: Sie brandmarkten sie als Zeichen der Unterdrückung, Lil John setzte sie folgerichtig spektakulär in Flammen.

Und damit zu Kanye West: Von ihm ist überliefert, dass er einst die Südstaaten-Flagge einfach so mal für sich vereinnahmte – und sie damit symbolisch entwertete. „I took the Confederate flag and made it my flag“, soll er einem Radiosender in L.A. erzählt haben, „It’s my flag now. Now what you gonna do?“ Es wäre eine der geistreicheren Aktionen dieses ansonsten ziemlich tumben, nervigen Zeitgenossen. Zur Erinnerung: Kanye West ist ein schwarzer Rapper, der sich im Musikbusiness ähnlich polternd aufführt wie Donald Trump und gemeinsam mit seiner Frau Kim Kardashian so etwas wie „Die Geissens“ des amerikanischen Hip-Hop gibt. Seine wenigen, aber durchaus vorhandenen genialen Momente, etwa das bizarr vielschichtige Schläfer-Video zum Song Famous, macht er sich regelmäßig durch bekloppte Statements und Aktionen selbst wieder kaputt. Indiskutable PR-Stunts wie ein surreal anmutender Besuch im Weißen Haus, rüpelhafte Ausfälle gegen Kolleginnen wie Taylor Swift und groteske Kritik an der Black Community („400 Jahre Sklaverei? Das klingt für mich nach selbst gewählt“) wurden und werden gern mit einer bipolaren Störung des Künstlers entschuldigt. Nichtsdestotrotz fühlt sich West fit und geeignet für das Amt des US-Präsidenten – die Idee zur Kandidatur soll ihm unter der Dusche gekommen sein. Auweia. Es könnte ein wunderbar cleverer Pop-Gag sein, doch leider steht Schlimmes zu befürchten.

Impf- und Abtreibungsgegner – als wär’s die Mehrheitsmeinung

Als einstiger Trump-Fan hat sich „Ye“ längst von seinem Idol losgesagt und will den Katastrophen-Präsidenten offenbar schon bei der kommenden Wahl im November ablösen – obwohl längst wichtige Fristen für den Eintritt ins Rennen um das Amt verstrichen sind. Im Klartext: West will NICHT nur sein nächstes Album promoten, wie genervte Kollegen vermuteten, nein, er meint es wirklich ernst. Vorübergehende Meldungen, er habe die Kandidatur zurückgezogen, bestätigten sich nicht. Damit, und das ist ein weiterer Bogen zu den vorangegangenen Betrachtungen, agiert dieser kleine Gernegroß ähnlich anmaßend wie die fanatischen Denkmalstürmer: getrieben von lächerlicher Selbstüberschätzung und Egomanie, von schlechtem Stil und Respektlosigkeit gegenüber dem politischen Amt. Ganz zu schweigen von seinen merkwürdigen Ansichten: Als wäre es die Mehrheitsmeinung, beschreibt West sich fröhlich als Abtreibungs- und Impfgegner und bringt als mögliche Vizepräsidentin die völlig unbekannte „biblische Lebensberaterin“ Michelle Tidball ins Spiel. Die hat für Menschen mit psychischen Problemen einen supertollen Therapieansatz parat: „Jeden Tag aufstehen, das Bett und den Abwasch machen, dann geht’s euch besser.“ Das ist, ganz sicher, das Holz, aus dem zukunftsweisende politische Programme geschnitzt sind! Wer mit Blick auf Trump dachte: Schlimmer geht’s nimmer, wird von Kanye West eines Besseren belehrt.

Und so müssen wir konstatieren: Pop in den USA befindet sich in einem bemitleidenswerten Zustand. Stars sind entweder verunsichert oder dumpfbackige Selbstdarsteller, und die Fans versteigen sich in Extreme: auf der einen Seite politisch überkorrekte Fanatiker, auf der anderen gelangweilte Wohlstands-Kids, die in unkorrekten Gangsta-Rappern ihre neuen Helden sehen. Was zählt, sind populistisches Auf-die-Kacke-Hauen und die Machtkeule der übersteigerten „political correctness“ – was fehlt, sind Stil, Eleganz und progressive Durchschlagskraft, ein popspezifischer „moralischer Kompass“ mit entsprechend gefestigter Haltung. Bob Dylan oder Neil Young mögen immer mal neue Alben herausbringen, doch ihre einstige Strahlkraft ist dahin. Und zwei, die es momentan rausreißen könnten, setzen eher eskapistische bis Alibi-Akzente: Taylor Swift, beinahe unantastbarer weißer Superstar mit bisher klaren Meinungen, veröffentlicht im Moment lieber Folklore, ihr ganz persönliches Corona-Album; und Beyoncé, beinahe unantastbarer schwarzer Superstar mit vielfach von den Medien bescheinigter „Black Empowerment“-Botschaft, hat gerade bei Disney das 90-minütige visuelle Album „Black Is King“ veröffentlicht: eine mythisch aufgeladene, glamourös-opulente Ode an „die Bandbreite und Schönheit der schwarzen Abstammung“, die als pathetischer Fantasy-Trip weder mit dem Alltag im 20. Jahrhundert noch mit „Black Lives Matter“ zu tun hat. Black is beautiful? Dem muss man zustimmen. Aber gab’s das nicht schon mal in den Sixties? Selbst aus der schwarzen Szene heraus wird Beyoncés Werk als „kommerzialisierte Afro-Folklore“, als Instrumentalisierung für ihren „Black Capitalism“ kritisiert. Auch das ist bezeichnend.

Und jetzt auch noch Madonna

Wenn sich dann noch Madonna zu Wort meldet, kann man fast schon sagen: Gute Nacht! Die ehemals Unantastbare hatte schon zu Beginn der Corona-Krise einen Proteststurm ausgelöst, als sie in einem Video aus ihrer Luxusbadewanne heraus halluzinierte, dass das Virus alle Menschen gleich mache – jetzt preist sie wie Donald Trump das umstrittene Malaria-Mittel Hydroxychloroquin als Wundermittel gegen Corona und behauptet, ein bewährter Impfstoff sei längst verfügbar, werde aber unter Verschluss gehalten, damit die Reichen reicher und die Armen ärmer und kranker werden. Dazu beruft sie sich auf die texanische Ärztin Stella Immanuel, die laut Medienberichten Sex mit bösen Geistern für gynäkologische Probleme verantwortlich macht „und glaubt, dass die US-Regierung von ‚Reptilien’ geführt wird. Des Weiteren ist sie davon überzeugt, die Ehe zwischen Homosexuellen führe dazu, dass Erwachsene Kinder heiraten.“

Es ist traurig, dass die vielen aufregenden Songs und Künstler, die es nach wie vor gibt, kaum gehört werden – und stattdessen die Populisten, Egoisten, Esoteriker die Schlagzeilen dominieren. Pop in den USA ist ein selbstvergessenes Mäandern, hat offenbar sein Timing verloren. Setzt merkwürdige Akzente. Benutzt und wird benutzt – und macht deshalb im Moment nur selten Spaß.

Wenn sogar die Sonne rot wird

Die Temperaturen schlagen immer noch mal nach oben aus, aber eins steht unwiderruflich fest: Der Sommer ist vorbei. Und was war das für ein unglaublicher Sommer in diesem Jahr! 1976 sang Peter Und es war Sommer, aber damit waren nicht unbedingt Temperaturen um die 40 Grad gemeint. Es ging um eine ganz andere Unglaublichkeit …

Könnte man so etwas heute noch texten? Wahrscheinlich nicht. Denn Schmalz, Unsinn und unfreiwillige Komik triefen in diesem Song aus fast jedem Vers: „Die Sonne brannte so, als hätte sie’s gewusst“, „Sie gab sich so, als sei ich überhaupt nicht da“, „Doch bleib bei mir, bis die Sonne rot wird, dann wirst du sehen“ … So klischeehaft das im 21. Jahrhundert klingt, so brisant war es zu seiner Zeit. Weil ein leicht melancholischer Mann erzählt, wie er mit 16 von einer erwachsenen Frau verführt wurde. Minderjährigen-Sex also, oha! Hin und her gerisssen zwischen Erinnerung und unmittelbarem Noch-einmal-Erleben spricht der „Held“ des Songs von sich selbst mal in der dritten, mal in der ersten Person. Und natürlich wird auch die nächtliche sexuelle Begegnung in blumigste Worte gefasst: „Wir gingen beide hinunter an den Strand / Und der Junge nahm schüchtern ihre Hand / Doch als ein Mann sah ich die Sonne aufgehn / Und es war Sommer.“

Der Altersunterschied zwischen Liebenden wurde in den Songs der Sechziger und Siebziger auffällig oft thematisiert. So ist Maffays Text inspiriert von Bobby Goldsboros deutlich coolerem US-Hit Summer (The First Time) aus dem Jahr 1973, auch wenn der Sprecher dort „schon“ 17 ist. Nur kannte den Song in Deutschland kaum jemand. Hierzulande hatte man eher noch die Beatles mit den suggestiven Zeilen „She was just seventeen / You know what I mean …“ aus ihrem 1963er Hit I Saw Her Standing There im Ohr. Oder Udo Jürgens, der 1965 geschmettert hatte: „17 Jahr, blondes Haar, so stand sie vor mir …“? Ohne Zweifel, auch in diesem Schlager geht es um die erotische Spannung zwischen zwei Menschen, von denen nur einer volljährig ist. Aber: Die amouröse Begegnung bleibt bei Udo Jürgens nur ein Traum: „Sie hat mich angelacht und war vorüber (…) und überall such ich sie.“ Das war für das gesettelte deutsche Publikum von damals offenbar gerade noch zu verkraften. In den 1960er Jahren hatte man tatsächlich noch 21 werden müssen, um die Volljährigkeit zu erreichen, da konnten Künstler maximal eine Fantasie besingen. 1975 war dann aber ein im Jahr zuvor verabschiedetes neues Gesetz in Kraft getreten, das den Eintritt der Volljährigkeit immerhin auf die Vollendung des 18. Lebensjahrs herabsetzte. Dalidas Er war gerade 18 Jahr, die 1974 erschienene deutsche Version ihres französischen Hits Il venait d’avor 18 ans, kriegte da mit dem Rückblick auf einen entsprechenden One-Night-Stand ganz wunderbar die Kurve. Doch 1976 eckte Maffay mit der Geschichte eines 16-Jährigen, der Sex mit einer erwachsenen Frau hatte, tatsächlich an. Hölle und Verdammnis – das war ganz klar verboten!

„Als Maffay diesen Titel in der ‚ZDF-Drehscheibe’ vorstellen wollte, wurde er abgeblockt“, fasst der Journalist Dirk Maxeiner die „schlimmste“ Konsequenz zusammen: „Die Zeilen ‚Ich war 16 und sie 31, und über Liebe wusste ich nicht viel, sie wusste alles und sie ließ mich spüren, ich war kein Kind mehr’ führten zu einem Verbot. Das ZDF: ‚Der Text ist eindeutig zweideutig und passt deshalb nicht in unsere Sendung.’“ Auch der eine oder andere Radiosender weigerte sich, den Song zu spielen. Trotzdem wurde Und es war Sommer samt dem gleichnamigen Album ein Riesenerfolg im deutsprachigen Raum. Es dauerte nicht lange, da trat Peter Maffay mit dem „kontroversen“ Lied doch auch im ZDF auf. Und wo? Natürlich in der „Hitparade“.

Ding-Dong, nur ein Song

Vor rund drei Jahrzehnten provozierte die konservative britische Politikerin Maggie Thatcher eine bis dahin nie gekannte Flut an Protestsongs. 

Großbritannien unter Margaret Thatcher „inspirierte“ viele Bands und Songwriter zu äußerst kritischen bis regelrecht zynischen Protestsongs. Und kaum eine Politikerpersönlichkeit der letzten 70 Jahre wurde so häufig so explizit zur Zielscheibe von Songtexten wie die britische Premierministerin. Die Politik während ihrer Amtszeit (1979–1990) war gekennzeichnet durch Privatisierung, Deregulierung und die Zerschlagung der Gewerkschaften, was – bei allen wirtschaftlichen Erfolgen – zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit, zu sozialen Härten, zu einer Vergrößerung der Kluft zwischen Arm und Reich führte. Der unsinnige Falkland-Krieg und Verordnungen, die die Diskriminierung von Homosexuellen zur Folge hatten, waren weitere Makel ihrer Regierungsarbeit. Eine zwiespältige Situation für Songwriter: einerseits die Erfahrung eines immer härter werdenden Existenzkampfes, andererseits jede Menge Inspiration für aufwühlende Songs. Dennoch hält Bruce Robert Howard alias Dr. Robert, einst Sänger der Blow Monkeys, nichts von der Idee einer Maggie Thatcher „als ‚Geburtshelferin’ einer blühenden britischen Gegenkultur während der Achtziger und frühen neunziger Jahre“, wie sie die „taz“ in einem Interview aus dem Jahr 2013 formuliert.Nein“, wehrt Howard ab. „Sie war eine polarisierende Figur, die zur Gier und zum Egoismus ermunterte, und die das Leben von Menschen zerstörte. Die Kunst mag unter solchen Umständen florieren, aber das ist nichts, für das man dankbar sein sollte. Meiner Meinung nach hatte Thatcher einen zynischen Blick auf die menschliche Natur.“

Die Blow Monkeys waren in den 1980er Jahren nicht nur Teil der von Billy Bragg, Paul Weller und Jimmy Somerville angeführten Musikerinitiative „Red Wedge“ zur Unterstützung der Labour-Partei, sondern „widmeten“ der Tochter eines Kolonialwarenhändlers 1987 auch das Album She Was Only A Grocer’s Daughter. Darauf zu finden: der seinerzeit aus dem Radioprogramm der BBC verbannte Hit (Celebrate) The Day After You. Wo andere aber nur den „Tag danach“, das heißt das Amtsende der Premierministerin feierten, ging Morrissey noch weiter. Der ehemalige Frontmann der Smiths, der schon 1986 The Queen Is Dead propagiert hatte, imaginierte1988 auf seinem Soloalbum Viva Hate gleich die Hinrichtung der ungeliebten Margaret, nicht ohne ein antiaristokratisches Volksaufstand-Szenario wie das der Französischen Revolution zu beschwören. „The kind people have a wonderful dream / Margaret on the guillotine / Cause people like you make me feel so tired / When will you die?“ Natürlich wird nur ein Vorname genannt, aber die Anspielung ist mehr als deutlich. So deutlich, dass Morrissey von Scotland Yard verhört wurde, wie der Sänger 2013 in seiner Autobiografie offenbarte. Damals habe untersucht werden sollen, ob der Star eine reale Bedrohung für die berühmte Politikerin darstellte.

Etliche weitere Songs aus der Zeit provozierten mit mehr oder minder klaren Verweisen: I’m in Love With Margret Thatcher von The Not Sensibles, Kick Out the Tories von den Newton Neurotics, Maggie, Maggie, Maggie (Out, Out, Out) von den Larks, Thatcherites von Billy Bragg oder Shipbuilding von Elvis Costello – ein Song, der zynisch um den Bau von Kriegsschiffen für den Falklandkrieg kreist, wobei möglichen neuen Arbeitsplätzen zukünftige Kriegstote gegenübergestellt werden. Mit Renaud Sechan stimmte 1986 sogar ein französischer Sänger ins Thatcher-Bashing ein. Sein Song Miss Maggie formulierte fiese Liebeserklärungen an die Frauen an sich, jeweils getoppt von einem Seitenhieb auf die verhasste britische Politikerin. Die immergleiche Rüpel-Argumentation: Frauen, und sind sie noch so minderbemittelt, können nie so dumm, so brutal, so kriegstreiberisch sein wie Männer – mit einer Ausnahme: Madame Thatcher …

Als „Madame Thatcher“ dann 2013 tatsächlich starb, verhalf das einem schon 2000 veröffentlichten Punksong der Band Hefner zur Heavy Rotation im Internet. The Day That Thatcher Dies lässt ein Song-Ich auf die 1980er Jahre und seine politische Sozialisierung durch die Labour-Partei zurückblicken. Den zukünftigen Tod der ehemaligen Premierministerin würde der Sprecher schon mal ausgiebig feiern, heißt es da trotzig, auch wenn es nicht korrekt sei: „We will laugh the day that Thatcher dies / Even though we know it’s not right / We will dance and sing all night.“ Das Stück zitiert gegen Ende noch ein fröhliches Kinderlied aus The Wizard of Oz, dem berühmten Film-Musical von 1939, nämlich Ding-Dong! The Witch Is Dead. Tralli, tralla, die Hex’ ist tot? Das schien vielen Thatcher-Kritikern nur allzu gut zu passen. Prompt erlebte Ding-Dong! selbst ein Revival, stieß dank Social-Media-Promotion sogar in die Spitzenregionen der britischen Charts vor – und wurde ebenfalls von der BBC boykottiert. Was aber niemanden wirklich juckte.

„Echo“ oder: Wie man in den Wald hineinruft …

Über den widersprüchlichen Umgang mit fragwürdigen Entertainern und die seltsame Kluft zwischen Verkaufs- und Radiocharts

Ein Gedanke vorweg: Es ist noch nicht lange her, da engagierten findige Filmproduzenten für actiongeladene Reißer wie 4 Blocks und Nur Gott kann mich richten waschechte Gangsterrapper als Schauspieler und Soundtracklieferanten, um sich anschließend regelrecht ergriffen von der eigenen Genialität zu zeigen. Hochkarätig besetzte Fachjurys und das Feuilleton dankten es ihnen mit nicht minder begeisterter Resonanz – lobten neben der unglaublichen Authentizität der Produktionen auch das darstellerische oder das musikalische Potenzial der teilweise vorbestraften Akteure und überschütteten einige der Macher sogar mit Preisen. Gangster und Rapper wurden hier spektakulär inszeniert und auf dem roten Teppich gefeiert. Nun erhalten Kollegah und Farid Bang, zwei aus ähnlichem Holz wie die Straßenschauspieler und Filmsoundtracker geschnitzte Brachialrapper, trotz an Geschmacklosigkeit kaum zu überbietender Songverse den „Echo“-Medienpreis – und alle sind entrüstet. Die Entrüstung teile ich, aber wie passt das zur vorangegangenen Begeisterung der „Kritik“ über die genannten Film- und Fernsehproduktionen? Im Rahmen einer spannend inszenierten Fiktion lässt man sich diesen dämlichen Machokram offenbar gern gefallen, aber so in echt, aus den Boxen und von der Bühne, wirkt er dann doch irgendwie abstoßend, widerlich. Oder nicht?

Dissing: Brachialrhetorik zwischen derbem Spiel und ernsthafter Haltung

Kollegah und Farid Bang wurden beim „Echo“ gleichermaßen angefeindet und „geehrt“ für Songs wie 0815 mit künstlerisch wertvollen Zeilen wie „Und wegen mir sind sie beim Auftritt bewaffnet / Mein Körper definierter als von Auschwitzinsassen“ oder, gemünzt auf die feministisch wie antifaschistisch engagierte Rocksängerin Jennifer Weist, „Und Jennifer Rostock schwingt nach ’ner Schelle den Kochtopf / Bringt dann die Säcke zum Kompost und blowt den prächtigen Bosscock“. Schon Anfang 2018 hatte Farid Bang im gemeinsam mit Fler aufgenommenen Song AMG nach demselben Prinzip gerappt: „Aus dem Lamborghini zieh’ ich diese Carolin in den Jeep / Und die alte Bitch wird im Wald gefickt wie Aborigines / (…) / Fick Alice Schwarzer mit ’ner Horde schwarzer Alis.“ Schon klar, Gangster- und Battle-Rap lebt von phatten Egos, vom rhetorischen Wettstreit und der größtmöglichen verbalen Schmähung der Kontrahenten, was zu einer endlosen Spirale an sich steigernden Geschmacklosigkeiten führt, bis hin zu menschenfeindlichen Beschimpfungen und Vergewaltigungsfantasien. Die moralische Entrüstung der Öffentlichkeit und hip-hop-ferner Prominenter, die man nicht mag und eben schnell mal übelst mitgedisst hat, ist für die Rapper ein wünschenswerter Begleiteffekt.

Gerade im Hip-Hop sind die Grenzen zwischen rhetorischem Spiel und ernsthaftem Ausdruck einer persönlichen Haltung fließend: Über die Frage, ob Kollegah oder sein Kollege Haftbefehl tatsächlich judenfeindlich gesinnt seien, ob hinter sexistischer Rhetorik, Rape-Lines und „Schwuchtel“-Schmähungen tatsächlich tief empfundene Misogynie und Homophobie stehen, gehen die Meinungen regelmäßig auseinander – zu undurchsichtig-bauernschlau sind das lyrische Rollenspiel und die Öffentlichkeitsarbeit der führenden Genrevertreter. In der Szene lassen sich Gangsterrapper mit ihren überbordenden Song-Egos als die Härtesten, die Krassesten, ja, die Authentischsten feiern – der bestürzten Öffentlichkeit gegenüber aber erklärt man, nachdem man die ersten Entrüstungswellen genossen und gefeiert hat, dass doch alles bloß ein derber Spaß sei. Ein ergänzender feister Verweis auf die Freiheit der Kunst darf selten fehlen. Verteidiger besagter Gangsterrapper verharmlosen gern oder feiern deren Respektlosigkeit als Selbstbehauptungsstrategie – wenn gar nichts mehr hilft, bemühen sie das romantische Bild von rappenden Straßenreportern, die ihren harten Alltag und gesellschaftliche Befindlichkeiten widerspiegeln. Auch seien doch Subversion und Provokation schon immer Markenzeichen, wenn nicht Gütesigeel von Pop gewesen. Medien wie die „Frankfurter Rundschau“ dagegen beklagen den „strukturellen Antisemitismus und Sexismus im Gangsta-Rap“ und sehen im „einheimische Rap nur die Avantgarde einer neuen Rhetorik der Selbstbehauptung, die sich als Hass-Kommunikation in den sozialen Medien breitgemacht und längst auch im Deutschen Bundestag eine Bühne gefunden hat.“ Wo Pop in den Sixties bis Nineties meist gegen die Unterdrückung von Minderheiten und für eine freiere, gerechtere Gesellschaft provozierte, wird heute gegen genau diese Errungenschaften und gegen „political correctness“ polemisiert. Die eher links orientierte Rap-Gruppe Antilopen Gang vergleicht Kollegah sogar mit einem faschistischen Agitator.

Fragwürdige Songs verkaufen sich wie geschnitten Brot – und keiner merkt es

Aber nun zu zwei Entwicklungen der letzten Jahre, die diese Echo-Verleihung wieder eindrucksvoll ins Bewusstsein gebracht hat. Erstens: Unappetitlich bis fragwürdig kontroverse Songs verkaufen sich in Deutschland wie geschnitten Brot. Und zweitens: Ein großer Teil der Öffentlichkeit bekommt davon gar nichts mit – weil dieser große Teil der Öffentlichkeit am ehesten Radio hört und dort meistens ganz andere Musik gespielt wird. Noch einmal zum Mitschreiben: Kollegah und Farid Bang, Rap-Kollegen wie Haftbefehl und Bushido, aber auch Bands wie die Böhsen Onkelz und Frei.wild stehen immer wieder wegen sexistischer und homophober, rassistischer, antisemitischer oder nationalistischer Songelemente in der Kritik. Sie laufen so gut wie nie in Funk und Fernsehen – und sind trotzdem extrem erfolgreich. Der „Echo“-Musikpreis legt jedes Jahr ungewollt den Finger in diese Wunde: Denn er zeichnet nicht etwa herausragende künstlerische Leistungen aus, sondern die Künstler mit den höchsten Verkaufszahlen. Zwar sorgen Fachjurys in den einzelnen Kategorien noch für die eine oder andere Akzentverschiebung, aber nominiert wird nur, wer die meisten Einheiten eines Werkes abgesetzt hat. Und das sind eben immer wieder Acts wie die oben genannten. Fast jedes neue Album der führenden Gangsterrapper und ihrer männerbündlerisch-nationalistisch tönenden Rockkollegen erklimmt unbemerkt binnen kürzester Zeit die Spitze der Offiziellen Deutschen Charts. Die Offiziellen Deutschen Charts, das sind laut Website „die einzig repräsentativen und vom Bundesverband Musikindustrie e.V. lizenzierten Musik-Charts für Deutschland. Sie bilden das ab, was Deutschland hört, streamt, downloadet und kauft. Ermittelt werden sie von GfK Entertainment.“

Zugespitzt kann man sagen: Wir haben es mit zwei Parallelwelten zu tun. Auf der einen Seite die öffentlich ausgestrahlte Musik des gesellschaftlichen Mainstreams zwischen Schlager, Achtziger-, Klassikrock und Klassik-Radio, die den (Arbeits-)Alltag vieler Menschen durchdringt, dazu die eine oder andere geschmäcklerische Abend- oder Wochenendspezialsendung für fortgeschrittene „music lovers“ – und auf der anderen Seite der nicht minder erfolgreiche kontroverse Kram, den „die Kids“ und eingeschworene Szenen hören, wenn sie unter sich sind. Ich erinnere mich an Prä-Internetzeiten, in denen vieles von dem, was in den Verkaufscharts oben rangierte, auch „on air“ zu hören war und gerade deshalb gekauft wurde: Das Radio bot damals ein weitaus größeres Spektrum, es vermittelte zwischen Künstlern und Fans. Heute dagegen scheinen das Radio und die Airplay Charts eine eigene Welt zu repräsentieren, die mit dem, was „da draußen“ gekauft und privat gehört wird, nur noch in Teilen zu tun hat …

Formatradio-Charts vs. Verkaufscharts, Oldschool Media vs. Social Media

Dafür gibt es verschiedene Erklärungen. Eine liefert der Jugendschutz, der dafür sorgt, dass Umstrittenes gar nicht oder nur zu späten Sendezeiten ausgestrahlt werden darf. Einen umstrittenen Song beispielsweise von Bushido tagsüber zu spielen, kann also juristischen Ärger für den Sender bedeuten. Kein Wunder, dass sich die Programme auf Unproblematisches konzentrieren. Hinzu kommt, dass die meisten Radiosender heute ein ganz spezielles Profil entwickelt haben und ihr Programm dementprechend ausrichten – um eine größtmögliche Zielgruppe samt Marketingeffekt zu erreichen. Die Rede ist von Genresendern, vor allem aber vom Formatradio, das seit den 1980er Jahren mit dem Siegeszug der Privatsender immer größere Bedeutung gewonnen hat. Kennzeichen dieses Formatradios sind die Spezialisierung auf einzelne, meist angenehme, gängige Genres für verschiedene Alters- und Fangruppen, die Orientierung an potenziellen Werbekunden und eine begrenzte Zahl an „rotierenden“ Titeln. Kritiker sprechen abschätzig von „Dudelfunk“. Das schließt Sendungen zu den Offiziellen Deutschen Charts nicht aus, aber dann werden eben auch nur solche Titel aus den Offiziellen Deutschen Charts gespielt, die zum jeweiligen gefälligen „Format“ des Senders passen. Konkret: Ein Schlagersender greift sich aus den Verkaufscharts natürlich nur den neuen Hit von Helene Fischer heraus – und nicht den Nummer-eins-Disstrack von Kollegah. Die Folge: Wo das Radio früher Hits noch wirklich „machte“, spielt es sie heute nur noch. Das wirklich kontroverse Zeug aber hat längst andere Kanäle gefunden.

Welche Kanäle das sind, darüber herrscht unter Experten Einigkeit: das Internet und die sozialen Medien. Dort kommunizieren die Künstler intensiv mit ihren Fans. Und weil es immer schwieriger wird, Aufmerksamkeit zu erregen, dreht sich die „künstlerische“ Eskalationsspirale immer schneller. Facebook, Youtube, Instagram: Je extremer die Posts, desto erfolgreichler die Künstler, Grenzüberschreitung als Marketingstrategie. Wer am effektivsten provoziert und schockiert, vielleicht sogar auf dem Index der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien zu landen droht, setzt besonders viele Einheiten eines Songs oder Albums ab. Und wird dann beim „Echo“-Spektakel dafür ausgezeichnet. Weil vor ein paar Jahren hervorragende Verkaufszahlen plötzlich die fragwürdige Band Frei.wild in die „Echo“-Nominierungslisten spülte, wurde flugs ein Ethikrat gegründet, der über die Nominierung entscheiden sollte. Auch wegen Protesten anderer Musiker wurden Frei.wild damals wieder ausgeladen. 2018 nun ließen Kollegah und Farid Bang den „Echo“-Ethikrat erneut zusammenkommen – und wurden letztlich als unbedenklich zugelassen. Prompt gewannen sie in ihrer Kategorie den Preis. Bands wie die Toten Hosen und jüdische Verbände protestierten scharf.

„Echo“: Fluch und Segen zugleich

Die „Echo“-Preisverleihung ist Fluch und Segen zugleich. Fluch, weil sie auf die eklatante Kluft zwischen Radiocharts und Verkaufscharts aufmerksam macht, künstlerisch Herausragendes schon von Struktur und Anlage her ignoriert und im schlimmsten Fall wirklich fragwürdige Musiker auszeichnet, beinahe auszeichnen muss. Segen, weil sie die erschreckende Beliebtheit grenzwertiger Songs in Deutschland offenbart und die dringend notwendige Diskussion darüber anstößt. Denn das bloße Sanktionieren und Ausgrenzen der betreffenden „Künstler“ bringt letztlich nichts, wie nicht nur „Spiegel Online“ feststellt. Dass der „Echo“-Ethikrat Kollegah und Farid Bang zuließ und sie in ihrem scheinheiligen Pochen auf künstlerische Freiheit bestätigte, ist in meinen Augen eine Fehlentscheidung, und das hat nichts mit Zensurwahn zu tun. Aber dass der Ethikrat überhaupt zusammenkam und die empörten Reaktionen auf die Preisverleihung die Rapper in die Defensive zwangen, hat mir gefallen. Genauer hinhören, engagiert diskutieren und fragwürdige Musiker mit ihren fragwürdigen Songinhalten öffentlich konfrontieren, das ist der Weg. Das öffnet vielleicht auch einigen „Konsumenten“ die Augen: Extremes Dissing im Hip-Hop mag einst innovativ, undergroundig, pure Lust am Skandal oder eine legitime Verarbeitung sozialer Benachteiligung gewesen sein – heute aber ist es oftmals nicht nur zum Selbstzweck verkommen, sondern spiegelt mitunter auch zynisch echte in der Gesellschaft vorhandene niedere Emotionen und Ressentimens wider. Solche Haltungen sind ebenso wie sektiererische Blut- und Boden-Romantik problematische Erscheinungen, die mit keinem Positivpreis der Welt belohnt werden können.

Was erschreckend viele Menschen in die Parlamente wählen, muss noch lange nicht politisch wertvoll sein

Das heißt: Ein Mindestmaß an Kriterien für künstlerische Qualität und ethische Korrektheit müsste der „Echo“ seinen Preisverleihungen schon zugrunde legen. Dumpfes Dissen und nationalistische Gesänge gehören eben nicht dazu, und sollten die Verkaufszahlen auch noch so hoch sein. Dass diese Verkaufszahlen so hoch sind, bleibt natürlich genauso ein Problem wie der Erfolg rechtspopulistischer politischer Parteien, die sich vor allem über Ausgrenzung und überkommene Männer- und Frauenbilder definieren. Auch hier gilt: Was erschreckend viele Menschen in die Parlamente wählen, muss noch lange nicht politisch wertvoll sein. Auf fatale Weise passen die umstrittenen Bands eben doch in diese turbulenten Zeiten mit ihrem konservativen Backlash, ihren Fake News, ihrer sozialen Kälte, ihren durchgeknallten Staatslenkern und „white collar crimes“, der gnadenlosen Interessenvertretung durch Super-Egos und der Unterdrückung, ja Verhöhnung von Schwächeren. Dafür sollten neue Lösungen gefunden werden, die nicht mit Zensur zu verwechseln sind. Nein, es geht um Aufklärung, um Diskussion, um mutige Konfrontation, um die klare Botschaft, dass unsere demokratische Gesellschaft bestimmte Dinge nicht duldet. Hier ein paar Lösungsvorschläge:

– Rügen statt indizieren: Klar, Straftatbestände müssen verfolgt und sanktioniert werden. Aber was nützen Verbote in der Grauzone zwischen Überschreitung von Geschmacksgrenzen und tatsächlicher „hate music“ – erst recht wenn alles im Internet frei verfügbar ist? Wären offizielle Rügen – vergleichbar den Rügen des Presserats – vielleicht ein Instrument für Organisationen wie die Bundesprüfstelle, die verschiedene Fallgruppen für Grenzverletzungen entwickelt hat? Möglicherweise in Zusammenarbeit mit dem Kulturrat, der eintritt für die Freiheit der Kunst, für gute Kulturpolitik, für Bildung, Werte, Integration?
– Mehr öffentliche Debatte: Der Echo-Ethikrat ist grundsätzlich ein guter Schritt. Wichtig sind auch kritische Veranstaltungen wie die Hip-Hop-Konferenz „Sex Money Respect“, die 2017 in Frankfurt am Main stattfand. Und wünschenswert wäre eine intensivierte Öffentlichkeitsarbeit der beteiligten Akteure. All das würde aufmerksam machen auf Problemlagen und signalisieren: Die Gesellschaft hört nicht weg!
– Wächterpreis der Musikpresse: Die Stiftung „Freiheit der Presse“ vergibt regelmäßig den Wächterpreis der Tagespresse an „couragierte Reporter“, die in „Wahrnehmung von staatsbürgerlichen Rechten“ Missstände aufdecken – unter den vielen Themen sind auch Fundamentalismus, Rassismus und Rechtsradikalismus. Was, wenn auch die Musikpresse häufiger als bisher nicht nur über die tollsten, coolsten, spektakulärsten Bands und Interpreten berichten würde, sondern auch über grenzwertige Künstler, antidemokratische Subkulturen, problematische kulturelle Strömungen? Ein Branchenpreis könnte motivierend wirken.

– Ein durchlässigeres Formatradio: Gegen schlechten Hip-Hop hilft nur guter Hip-Hop, heißt es hin und wieder in Szenekreisen. Allgemeiner gesagt: Gegen schlechte, fragwürdige Musik hilft nur gute, engagierte Musik. Und die sollte auch im Radio wieder stärker vertreten sein, nicht nur auf kaum beachteten Sendeplatznischen. Zumal auch engagierter Songs nicht selten so etwas wie Hitpotenzial haben. Natürlich spielt auch das Formatradio gute Musik, ich höre selber gern und viel Formatradio. Aber es ist in der Regel das Gefällige und Geschmäcklerische. Was spricht dagegen, in vorsichtigen Dosen auch Conscious und Queer Rap, politischen Rock oder intelligente Dance-Musik, kurz: unterrepräsentierte Qualitätsmusik, ins Tages-Formatprogramm zu integrieren?
– Negativpreise: Die Musikbranche überschlägt sich vor Positivauszeichnungen. Wo aber bleiben die – mahnenden oder augenzwinkernden – Negativpreise, wie man sie aus der Filmindustrie und anderen Branchen kennt? Nicht nur für die schlechteste Musikproduktion, sondern auch für den fragwürdigsten, den geschmacklosesten Song?
– Dumpfe Songbotschaften konterkarieren: Schwule Mädchen von Fettes Brot, Hengstin von Jennifer Rostock, Rap-Parodien von Jan Böhmermann oder Carolin Kebekus – es gibt gute Rap-Songs, die hirnlose Hip-Hopper mit ihren eigenen Waffen schlagen. Ich wünsche mir mehr davon – und dass diese Produktionen auch im Radio laufen.
– Mehr Dialog mit Internetanbietern und Providern: Sie sind es, die fragwürdige Songinhalte unkontrolliert zirkulieren lassen. Es wäre ein Dialog, in den sich Musikindustrie und Musikpresse mit eigenen Akzenten einschalten könnten.
– Gesellschaft besser, gerechter machen: Es klang bereits an: Vielleicht kriegt ja jede Gesellschaft die Songs, die sie verdient. Daraus lässt sich die zuspitzende These ableiten: Bessere, gerechtere Gesellschaft – bessere Musik. Beziehungsweise: Bessere Gesellschaft – weniger „hate music“.

Alles andere als schön – aber unglaublich gut

Sieben Gründe, warum der Literaturnobelpreis für Bob Dylan gerechtfertigt ist

Advertising signs they con
You into thinking you’re the one
That can do what’s never been done
That can win what’s never been won
Meantime life outside goes on
All around you

Bob Dylan, It’s Alright, Ma (I’m Only Bleeding)

Sieben Schönheiten heißt ein Film der in Rom geborenen Regisseurin Lina Wertmüller aus dem Jahr 1976. Er erzählt von einem gestandenen italienischen Macho und Opportunisten, der misstrauisch die Jungfräulichkeit seiner sieben Schwestern bewacht, dann aber während des Zweiten Weltkriegs in deutsche Gefangenschaft gerät und schließlich im KZ landet. Aus purem Überlebenswillen tut er die abscheulichsten Dinge, unter anderem verführt er die grausame KZ-Wärterin und lässt sich zu ihrem Werkzeug machen. Der Film ist alles andere als schön, voll verstörender, entwürdigender Szenen, voll schmutziger Farben und drastischer Schnitte – ich muss sagen: Ich mag ihn nicht. Ich habe den Film seitdem nicht noch einmal gesehen, und ich will ihn auch nicht noch einmal sehen. Nein, Lina Wertmüller ist nicht mein Ding. Und doch muss ich gleichzeitig sagen: Sieben Schönheiten ist ein extrem guter, ein extrem wichtiger Film.

Ähnlich geht es mir mit Bob Dylan. Höre ich ihn singen, rollen sich mir die Fußnägel hoch. Bläst er in seine Mundharmonika, möchte ich schreiend aus dem Zimmer laufen. Etliche seiner Songs empfinde ich als anstrengend bis quälend. Nein, ich bin wirklich kein Bob-Dylan-Freund. Ich mag Bob Dylan einfach nicht. Und weiß gleichzeitig: Der Mann ist gut. Sogar sehr gut. Und eminent wichtig.

Insofern freue ich mich aufrichtig, dass ausgerechnet „Dylan“ – er gehört ja zu den Ikonen, deren Vornamen man im Gespräch eigentlich nicht mehr erwähnt – den Literaturnobelpreis 2016 erhalten hat. Und schüttele den Kopf über missgünstige Fachleute wie Trainspotting-Autor Irvine Welsh, der in den Medien mit den bescheuerten Worten zitiert wird: „Ich bin ein Dylan-Fan, aber dies ist ein schlecht durchdachter Nostalgiepreis, herausgerissen aus den ranzigen Prostatas seniler, sabbernder Hippies.“ Lieber Irvine Welsh: Man muss weder Dylan-Fan noch sabbernder Hippie mit ranziger Prostata sein, um diesen Preis als gerechtfertigt anzuerkennen. Und statt nun alle möglichen Dylan-Songs zu posten, irgendwelche suggestiv-bedeutungsschwangeren Songzeilen zu zitieren oder immer wieder allertiefste Anerkennung zu artikulieren, scheint es mir angebracht, wenigstens kurz ein paar Argumente für die außerordentliche literarische Qualität Bob Dylans zu skizzieren. Hier schon mal sieben Gründe, warum der Literaturnobelpreis gerechtfertigt ist – sieben Schönheiten im übertragenen Sinne:

  1. Bob Dylan gehört zu den wenigen Literaten, die mit einem Text unmittelbar in die Gesellschaft hineinwirkten.      

1975/76, als Lina Wertmüller Sieben Schönheiten drehte, war Dylan bereits ein gefeierter Star und machte mit seiner „Rolling Thunder Review“ Furore, der Tournee mit einer All-Star-Band, zu der auch Joan Baez, Roger McQuinn und Emmylou Harris gehörten. Teil des Programms war der 1975 eingespielte Dylan-Song Hurricane. Der thematisierte den Fall des wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilten schwarzen Ex-Boxers Rubin „Hurricane“ Carter. Minutiös deckten Dylans Lyrics die Schwachstellen der Anklage auf und untermauerten die These vom rassistisch motivierten Fehlurteil. Der Erfolg des Songs führte zu einer Neuaufnahme der Ermittlungen und – in dritter Instanz – zum Freispruch Carters. Welches literarische Werk kann solch eine Wirkung für sich beanspruchen?

  1. Bob Dylan ist ein kreativer Grenzgänger, der nicht nur Genregrenzen, sondern auch literarische Konventionen sprengt.

Was? Ein schnöder Songwriter bekommt den Literaturnobelpreis? Falsch! Dylan ist nicht nur Songwriter, sondern Literat durch und durch. Zusätzlich zu seinen Songs schreibt er Lyrik, die er nicht vertont (berühmt: seine 11 Outlined Epitaphs), aber auch Prosatexte. Damals verschrien, heute ein Szeneklassiker: Sein Prosaband Tarantula, in dem er mit Sprache musiziert und spannende Bezüge zur Tradition der Symbolisten herstellt. Mit selbst verfassten Stücken dieser Art erhob er zudem die Plattenhüllentexte, die sogenannten „liner notes“, zur literarischen Kunstform.

  1. Bob Dylans Lyrics haben Pop- und Rocksongs für literarische Komplexität geöffnet.

Witzig, clever, intelligent und anspruchsvoll waren Songtexte auch schon vor Bob Dylan. Doch mit seinen Songs wurden Lyrics Literatur. Langpoeme von epischem Ausmaß, ungewöhnliche Perspektiven und Darstellungsformen, grandiose Bilder, zentnerschwere Metaphern, Allegorie, Bewusstseinsstrom und dramatische Inszenierung – all das fand sich plötzlich auch im Rock- und Popkontext wieder. Mit Bob Dylan wurde Hippiemusik erwachsen.

  1. Eins von vielen prägenden Dylan’sches Stilmitteln: die Parade mythischer Figuren

Einstein, Nero, Kain und Abel, Ophelia, Romeo, Cinderella – Dylans Song Desolation Row lässt eine Fülle realer und fiktiver Personen und Figuren in einer apokalyptischen Szenerie vor dem geistigen Auge des Hörers vorüberziehen. Ähnlich verfährt der im selben Jahr erschienene Song Highway 61 Revisited. Don McLean griff die innovative Technik 1971 in seinem Song American Pie auf und landete damit einen Welthit. Und auch Bruce Springsteen (Spirit in the Night, 1973) versuchte sich hin und wieder an dieser lyrischen Form. Keiner aber beherrschte sie so verstörend wie der Meister selbst.

  1. Im Spiel mit Texten und Kontexten ist Bob Dylan unschlagbar.

Schon als Interpret traditioneller Folksongs verstand es Dylan, Außenseiterballaden politische Sprengkraft zu verleihen. Es kam darauf an, in welchem Kontext man sie vortrug. Zu Beginn seiner Karriere kanzelten Kritiker seine Songs als mit Musik untermalte Lesegedichte ab – heute feiern Laudatoren die Tatsache, dass Dylan-Texte ohne die Musik nicht denkbar seien. Dasselbe gilt für die stimmliche Interpretation. Bei Livekonzerten versetzt der Künstler immer wieder Fans in Verzückung wie in Rage, indem er seine von Studioaufnahmen bekannten „Hits“ in völlig andere musikalische Arrangements kleidet, sie völlig anders intoniert und so nicht nur mit Erwartungen bricht, sondern auch neue Bedeutungsebenen erschließt. Nicht selten verändert er dabei spontan auch einzelne Verse und Strophen – als Reaktion auf aktuelle Anlässe. Dass Texte in verschiedenen musikalischen und gesellschaftlichen Kontexten Anlass zu reizvollen Spielen bieten, versteht kaum jemand so gut wie Dylan. Er nutzt Möglichkeiten, die reine Printautoren nicht haben.

  1. Dylan – integrer Künstler in einer globalisierten Medienwelt

Literaten heute sind mehr als nur Textlieferanten oder Stimmen ihrer Generation. Literaten heute sind auch Medienpersönlichkeiten, hin und her gerissen zwischen Selbstverwirklichung und den Ansprüchen Dritter, immer in Gefahr, vereinnahmt oder gestürzt zu werden. Bob Dylan gehört zu den wenigen Künstlern, die in diesem gefährlichen Spannungsfeld absolut integer, autark und letztlich ungreifbar geblieben sind. Von Anfang an hat er sich vor keinen Karren spannen lassen, stets noch rechtzeitig die nächste Wende vollzogen, sich immer wieder neu erfunden. Obwohl schon 75, gibt er immer noch wenig von sich preis – bleibt nach wie vor rätselhaft. Die reale Person hinter den Songs und Texten ist komplett abgeschirmt, Fragen nach Authentizität stellt man ihm nicht mehr. Sein Werk steht für sich. Dylan besitzt die volle Kontrolle über seine Medien-Persona, das intelligente Katz-und-Maus-Spiel mit Publikum und Kritik hat er als einer der Ersten seiner Ära zur künstlerischen Strategie erhoben. Todd Haynes hat diese Strategie in seinem Kinofilm I’m Not There auf wunderbare Weise reflektiert. Da wird Dylan gleich von mehreren Schauspielstars verkörpert, unter anderem von Cate Blanchett. So weit muss man es als Künstler erst mal bringen.

  1. Bob Dylan gehört zu den versiertesten Autoren unserer Zeit – mit generationenübergreifender, weltweiter Wirkung.

Verfasser hintergründiger Folk- und Bluessongs. Autor engagierter Protestsongs. Song-Auteur. Symbolist. Singer-Songwriter und Rocker. Christlicher Liedermacher. Postmodernist. Traditionalist. Seismograph gesellschaftlicher Stimmungen … Stillstand kann man vielen Künstlern vorwerfen, nicht aber Bob Dylan. Er hat einen erstaunlichen literarischen Weg hinter sich gebracht, eine immense Vielfalt poetischer Ausdrucksformen verinnerlicht und dabei immer wieder die Grundfragen der menschlichen Existenz behandelt. Dass er damit ein Millionenpublikum rund um den Globus erreicht und begeistert, hat er vielen anderen Topliteraten voraus. Noch immer ruft jedes neue Dylan-Album Heerscharen von Deutern auf den Plan. Zurzeit schaut die Welt einmal mehr besorgt auf die Vereinigten Staaten und zwei umstrittene, angeschlagene Präsidentschaftskandidaten, die sich in einem schmutzigen Wahlkampf gegenseitig zerfleischen. Gerade vor diesem Hintergrund wirkt Dylan als Botschafter eines anderen Amerikas: eines Amerikas, das Menschen- und Bürgerrechte respektiert, Demokratie lebt, andere Kulturen wertschätzt und sich weltpolitisch nicht wie die Axt im Walde geriert.

Es sind Schönheiten wie diese, die Bob Dylan schon vor Ewigkeiten haben zum Gegenstand des akademischen Diskurses werden lassen. In den 1970er Jahren hatte ich an der Uni das Glück, mich wissenschaftlich nicht nur mit Shakespeare und Goethe, sondern auch mit Pop- und Rocklyrik beschäftigen zu dürfen. Und ich verschweige nicht, dass ich Dylan dabei gern auch mal außen vor gelassen hätte. Doch man kam einfach nicht um ihn herum. Eine wissenschaftliche Arbeit über Songlyrik ohne Bob-Dylan-Kapitel? Wäre bei den Profs glatt durchgefallen! Die Fülle an Sekundärliteratur, die es heute zu Dylans Œvre gibt, dürfte so manchen ambitionierten Autor vor Neid erblassen lassen. Insofern läuft auch die Kritik, da habe irgendein Rocksänger völlig ungerechtfertigt die höchsten Weihen erfahren, absolut ins Leere. Im Gegenteil: Es wurde mal Zeit. Dylan hat sich schon im letzten Jahrtausend einen festen Platz im Kanon der amerikanischen Literatur erarbeitet. So wie auch Rock und Pop längst unseren Alltag durchdringen und bis in die sogenannte Hochkultur hineinwirken. Schön, dass dieses Phänomen 2016 gewürdigt wird. Und was könnte dafür passender sein als der Literaturnobelpreis?