Verbrechen lohnt sich …

Von Bushido über 4 Blocks bis Nur Gott kann mich richten: Warum ist es plötzlich so schick, rappende Halbwelt-Machos zu Kino- und Serienstars zu machen?

Vanessa Schneider von „puls“, dem jungen Programm des Bayerischen Rundfunks, ist total geflasht: „Abbas, gespielt von Rapper Veysel, und Frederick Lau als Vince haben eine irre Chemie“, freut sich die Autorin im Mai 2017 auf der Website des BR. „Die beiden spielen mit einer Ernsthaftigkeit und Brutalität – ich spüre jeden der ungezügelten Schläge, jeden Blick. Und das ist so ungewohnt, so aufregend, dass ich beim Schauen Schmetterlinge im Bauch hab. Genau wie der Berliner Rapper Massiv gibt Veysel Gelin in ‚4 Blocks’ sein echt beeindruckendes Schauspieldebüt. Er hat seine Rolle auf der Straße gelernt: Wegen Körperverletzung mit Todesfolge hat er drei Jahre im Knast gesessen.“

Aua …

Auch Daniel Krüger vom „Musik Express“ ist trotz kleiner Irritationen total fasziniert vom neuen deutschen TV-Serien-Highlight 4 Blocks: „Ein Choreograph erklärt, wer jetzt gleich wen und wie schlagen soll“, beschreibt er Eindrücke vom Set. „Mehrere Takes werden gedreht, nur ein Darsteller braucht kaum Anweisungen: Veysel saß nämlich wegen Körperverletzung mit Todesfolge im Gefängnis. Gefühlt halten alle Beteiligten kurz den Atem an, sobald der Hüne die jungen Darsteller am Genick packt und durch den Raum schleudert. Dieser Moment ist ‚4 Blocks’ in Reinkultur. Gefilmt wird Fiktion, genährt wird sie von unangenehm viel Wirklichkeit.“ Das Unangenehme fällt aber nicht weiter ins Gewicht, denn schon wenig später schwärmt der Autor von den Straßen Neuköllns, „die durch Drohnenaufnahmen und Farbfilter besonders verführerisch wirken.“ Als wäre ihm doch nicht ganz wohl bei der Sache, dimmt Krüger die Hoffnung auf eine baldige zweite Staffel und seine Begeisterung am Schluss ein wenig herunter: „Statisten und Nebendarsteller der Serie kommen zusammen auf ein hübsches Vorstrafenregister. Kunstnebel und Rapsongs erinnern aber daran, dass das, was hier gedreht wird, am Ende doch Entertainment und keine erhellende Doku sein soll.“

Unterhaltung oder grausame Realität?

Na, was denn nun: Wirklichkeit oder Fiktion? Entertainment oder Doku? Genau in dieser Spannung liegt in meinen Augen das Befremdliche an 4 Blocks: Einerseits beansprucht die Serie ein ungewöhnliches Maß an Authentizität, das ihr von der Kritik auch fasziniert bescheinigt wird; andererseits versucht man sich genau von dieser Authentizität immer wieder zu distanzieren. Denn sonst müssten die Macher genauer erklären, wieso sie Ex- und Nochkriminellen den Weg ins Filmgeschäft ebnen, um eine faszinierende Gangsterwelt aus der Innenperspektive zu zeigen, die Gangster auch als Sympathieträger etabliert. Und Fans müssten sich intensivere Gedanken darüber machen, wieso sie eigentlich „Schmetterlinge im Bauch“ haben, wenn ihnen so viel ernsthafte Gansterbrutalität von Leinwand und Bildschirm entgegenschlägt. Wie gesagt: Neben Rapper Veysel ist auch der einschlägig bekannte Massiv in 4 Blocks mit von der Partie, jener reimende Körperverletzer, der 2008 als erster Rapper in Deutschland Opfer eines Attentats mit Schusswaffe wurde. Noch heute hört man hin und wieder das Gerücht, Massiv habe damals den Vorfall selbst inszeniert, um seine Musik zu promoten. Mit Gzuz, einem Mitglied der berüchtigten 187 Straßenbande, stieß inzwischen ein weiterer Rapper mit mehrjähriger Hafterfahrung zur gefeierten Darstellerriege von 4 Blocks. Auch er darf sich freuen: Denn das Gangsterepos wird mit einem Fernsehpreis nach dem anderen ausgezeichnet.

Die 4 Blocks-Macher behaupten, sie hätten sich an der amerikanischen Erfolgsserie Die Sopranos orientiert, die ebenfalls Einblicke in einen kriminellen Clan gewährt, einen Mafia-Clan. Nicht umsonst hört auch bei ihnen die Hauptfigur auf den Vornamen Tony. Es gibt für mich aber einen feinen Unterschied zwischen beiden Serien: Die Sopranos spielten damals mit der Doppeldeutigkeit des Begriffs „Familie“ und arbeiteten das Pathologische am Ehrverständnis der Mafia und an katholisch geprägten Vorstellungen wie „Mutter/Heilige/Hure“ heraus. Der tragische „Held“, „Familien“-Vater Tony Soprano, kriegt das brutale Verbrechens-Business, die anstrengende Gattin, seine komplizierten Affären, die heftigst pubertierenden Kinder, die unbeherrschten eigenen Handlanger und die konkurrierenden Clans allmählich nicht mehr auf die Reihe und unterzieht sich einer Psychotherapie. Mafiosi am Rande des Nervenzusammenbruchs – eine höchst groteske Grundidee. So waren Die Sopranos tatsächlich im Kern eine Familienserie, aber eine extrem artifizielle. Der brutale Mafia-Kontext lieferte so etwas wie einen Verfremdungseffekt, mit dem sich Alltagsprobleme überlebensgroß verhandeln ließen. Tony Sirico, der einzige Exkriminelle unter den Darstellern, hatte seine Mafiavergangenheit bereits mehr als ein Vierteljahrhundert zuvor hinter sich gelassen.

4 Blocks dagegen bewegt sich mit der Inszenierung einschlägig bekannter aktueller Szenegrößen gefährlich nah an der Romantisierung des kriminellen Milieus, am nägelkauend-faszinierten Feiern eines Gangster-Lifestyles. Klar, da ist die von Frederick Lau gespielte Figur eines innerlich zerrissenen Undercover-Agenten, und da ist eine weitere besondere Ausgangslage: Der vor dem Krieg geflüchtete libanesische Clan-Chef Tony ist nur deshalb kriminell geworden, weil er auch nach vielen Jahren in Deutschland noch keine Arbeitserlaubnis bekommen hat – und eigentlich will er die Kriminalität hinter sich lassen. Das alles bricht die Faszination ein wenig, macht auch Abgründe deutlich und bringt das Thema der gescheiterten Integration ins Spiel. Aber: Die kriminelle Energie und Kaltblütigkeit, mit der diese „Verzweifelten“ hier ans Werk gehen, sind doch sehr beachtlich. Wenn Migranten angesichts einer mangelhaften deutschen Integrationspolitik automatisch derart kriminell werden müssen – was sagt das über Migranten? Schließlich wird das Zusammenschlagen von unbescholtenen „Hipstern“ fast schon reißerisch-genüsslich inszeniert. Wirklich spannend und beeindruckend finde ich das jedenfalls nicht.

Wenn die Realität das Genre killt

Noch offensichtlicher offenbart sich diese befremdliche Konstellation im aktuellen Kinothriller Nur Gott kann mich richten mit Moritz Bleibtreu in der Hauptrolle. Der harte Gangsterstreifen versteht sich als Genrethriller, er arbeitet mit fast schon ausgelutschten Handlungs- und Gefühlsbausteinen. Als da wären: der todsichere letzte Coup, der gewaltig schiefgeht; die lebenswichtige Operation eines Kindes, für die verzweifelte Eltern eine Unsumme Geld benötigen; Loyalität und Verrat; oder die obligatorische „Spirale der Gewalt“, in der alles endet. Dass es hier mal eine Polizistin ist, die mit Blick aufs benötigte OP-Geld kriminell aktiv wird und so diversen Gangstern in die Quere kommt, überrascht nur kurz, zu abgedroschen wirkt das Schuld- und Sühne-Pathos insgesamt. Auch bei dieser Produktion freuen sich Kritiker über den tollen Look, den die Drehorte Frankfurt und Offenbach lieferten: „Sehr drastisch, aber doch glaubwürdig, wird in dem Film in den Straßen beider Städte ein Schatten-Milieu inszeniert“, lobt das Portal „OP-Online“. Andere Rezensenten überschlagen sich ob der Wucht, mit der hier amerikanische Genreklassiker von Abel Ferrara, Michael Mann oder Martin Scorsese auf deutschem Boden nachempfunden wurden. Fiktion! Thrillerghlight! Mitreißende Filmkunst!

Alles in Ordnung also? Nicht ganz. Denn auch hier sorgen aktuelle Gangsterrapper und echte Gangster für eine merkwürdige „Authentizität“. Als schillernder Nebendarsteller und Lieferant des Filmsoundtracks fungiert etwa Rapper Xatar, dessen Halbweltaktivitäten 2009 die ebenso aufschlussreiche wie erschütternde 3sat-Doku Westside Kanaken schilderte. Auch Xatar hat in seinem Leben schon ordentlich Körper verletzt und saß wegen des hollywoodreifen Überfalls auf einen Geldtransporter im Knast. Zuletzt produzierte er die rappende Ex-Prostituierte Schwesta Ewa, die letztes Jahr wegen Steuerhinterziehung und Körperverletzung verurteilt wurde. Dass sie selber in Frankfurt Frauen zum Anschaffen gezwungen hat, wird vermutet, konnte aber nicht nachgewiesen werden. Auch Schwesta Ewa ist auf dem Soundtrack zu Nur Gott kann mich richten vertreten, und natürlich weilte sie mit ihrem Mentor Xatar auf der Frankfurter Kinopremiere im Metropolis, Blitzlichtgewitter und roter Teppich inklusive. Auf letzterem freute sich Moritz Bleibtreu, der nach zahlreichen Milieu-Rollen fast schon selbst wie ein smarter Gangsterboss wirkt, über einen besonders schönen Effekt seines neuen Films. „Ich bin irre stolz, dass wir es geschafft haben, Leute aus den verschiedensten gesellschaftlichen Milieus zusammenzuführen“, so wird er Ende Januar in der „Frankfurter Rundschau“ zitiert.

Aber was ist eigentlich plötzlich so schick daran, Gangsterrapper und Schwerkriminelle ins Rampenlicht zu rücken, sie zu glamourösen Stars aufzubauen, gern noch mit Mitteln der Filmförderung? Wieso sind Halbweltgrößen auf einmal gesellschaftsfähig? Weshalb werden ihren oftmals stereotypen prolligen Sex-and-Crime-Lyrics weitere Vertriebskanäle eröffnet? Und wozu sollen so unterschiedliche „gesellschaftliche Milieus“ überhaupt zusammengebracht werden? Gegen gutes Genrekino an sich ist ja nichts einzuwenden. Gutes Genrekino spielt kreativ mit den bekannten Handlungsmustern, verhandelt in extremem, verfremdendem Gewand gesellschaftliche Fragen und Probleme. Gutes Genrekino ist packende, erhellende Fiktion. Sobald Genrekino aber mit einem seltsamen Authentizitätsverständnis feiste Milieugrößen einbindet, die sich eigentlich ganz pudelwohl fühlen mit Knarren und all dem, was sie im Alltag tun, dann wird es problematisch. Dann flirtet es verführerisch mit der Halbwelt, biedert sich romantisierend der düsteren Realität an. Es beraubt sich nicht nur seiner dramaturgischen Möglichkeiten, sondern auch seines Zaubers.

Kluft zwischen Verkaufs- und Radio-Charts

Die Autoren von 4 Blocks geben bei „business-punk.com“ an, sie hätten ihre Milieu-Geschichte einmal radikaler erzählen wollen, auch um auf Schwächen des deutschen Ausländerrechts aufmerksam zu machen. Nun ja – angesichts der wesentlich älteren Sopranos (1999–2007) und der ebenfalls mit Innenperspektive arbeitenden Rockerserie Sons of Anarchy (2008–2014), deren Grundidee Shakespeare’s Hamlet variiert, scheint mir dieser Ansatz überhaupt nicht mehr so radikal. Ein Grund für den seltsamen Echte-Gangster-im-Film-Trend könnten auch die unglaublichen Erfolge sein, die Gangsterrap nicht nur hierzulande in den Verkaufscharts feiert. Es besteht eine regelrechte Kluft zwischen der mal harmlosen, mal geschmäcklerischen Popmusik, die täglich im Formatradio oder in tollen kleinen Nischenradiosendungen gespielt wird, und dem „harten Zeug“, das die Kids hören, wenn sie unter sich sind. Gangsterrap verkauft sich da wie geschnitten Brot, erzielt regelmäßig Topplatzierungen und -reichweiten, ohne jemals im Radio zu laufen. Die Promotion erfolgt über Youtube und soziale Medien, wo Haftbefehl, Xatar, Massiv und 187 Straßenbande, Farid Bang und zig andere mit ihrem Fließband-Output gefeierte Größen sind, auch bei Kids aus Mittel- und Oberschicht. Apropos Farid Bang. Hier ein paar aktuelle Textzeilen aus dem Song AMG, Anfang 2018 gemeinsam veröffentlicht mit Fler: „Aus dem Lamborghini zieh’ ich diese Carolin in den Jeep / Und die alte Bitch wird im Wald gefickt wie Aborigine (…) Fick Alice Schwarzer mit ’ner Horde schwarzer Alis …“ Yo, Mann, das ist der Stoff, der Fanherzen höher schlagen lässt. Was liegt da näher, als die coolen harten Jungs zusätzlich ins Filmgeschäft zu bringen und sich über Actionstreifen und Krimiserien, aber auch über die dazugehörigen Soundtracks ein Stück vom großen Kuchen abzuschneiden?

Ein weiterer – respektablerer – Faktor könnte Rehabilitation sein. Resozialisierung, das Heimholen in den Schoß der Gesellschaft. Nach dem Motto: Überlasst die gefallenen Engel nicht ihrem Schicksal, holt sie ins Boot. Öffnet ihnen die Tür zu einer bürgerlichen Existenz, zeigt ihnen einen Weg raus aus dem Milieu. Es ist ein bewundernswerter Ansatz, der leider nicht immer funktioniert. Erinnert sei an den ehemaligen Kleinkriminellen Bushido, dem Regisseur Uli Edel und Produzent Bernd Eichinger 2010 mit Zeiten ändern dich schon früh ein Kinodenkmal setzten. Plötzlich war der umstrittene Erfolgsrapper gesellschaftlich rehabilitiert, machte sogar ein Kurzpraktikum im Bundestag. Spitzenpolitiker und andere Prominente ließen sich gern mit dem ehemaligen „bad boy“ ablichten und fühlten sich gleich ein bisschen „taffer“, „gefährlicher“, was teilweise an Peinlichkeit nicht zu überbieten war. Und dann? Brachte Bushido 2013 zusammen mit Rapkollege Shindy den Skandalsong Stress ohne Grund heraus. Textkostprobe: „Halt die Fresse, fick die Presse – Kay, du Bastard, bist jetzt vogelfrei / Du wirst in Berlin in deinen Arsch gefickt wie Wowereit / Yeah, fick die Polizei: LKA, BKA (…) Ich verkloppe blonde Opfer so wie Oli Pocher (…) Und ich will, dass Serkan Tören jetzt ins Gras beißt (…) Ich schieß’ auf Claudia Roth und sie kriegt Löcher wie ein Golfplatz.“ Klar war das genretypisches Dissen, aber doch in einer Respektlosigkeit und Aggressivität formuliert, die vor allem ein Ziel hatte: dem gesellschaftlichen Establishment den Mittelfinger zu zeigen. In einem „ZEIT“-Interview vom Juni 2017 verriet Bushido außerdem, dass er nicht viel vom Grundgesetz halte, nicht wählen gehe und ganz froh über seine umstrittenen Verbindungen zum kriminellen Abou-Chaker-Clan sei. So viel zum Thema Resozialisation, Rehabilitation, Integration.

„Hey, ich deale mit Drogen. Wie cool!“

Auch bei Xatar und Schwesta Ewa bin ich mir nicht sicher, ob sie überhaupt an so etwas wie Rehabilitation oder einer bürgerlichen Existenz interessiert wären. Zu kraftstrotzend-selbstverliebt sind ihr Auftreten, ihre Beats und ihre Texte. Interessant in diesem Zusammenhang war der Hip-Hop-Kongress „Sex, Money & Respect“, der im Dezember letzten Jahres im Frankfurter Mousonturm stattfand. Dort packte die Expertin Tricia Rose die Entwicklung des Gangsta-Rap in ein treffendes Bild: Damals hätten Straßenrapper ihre prekäre Lage so formuliert: „Ich deale mit Drogen, weil ich anders meine Familie nicht ernähren kann.“ Heute dagegen hieße es millionenschwer: „Hey, ich deale mit Drogen! Wie cool!“ Aktuelle Gangsterrapper, so Tricia Rose weiter, hätten 500 verschiedene Begriffe für Frauen parat, und 499 davon seien wenig schmeichelhaft. Xatar & Co gehören für mich in diese zweite Kategorie, sie verkaufen ihr „Gangsta-“ und Milieu-Dasein via Musik als glamourösen, lukrativen Lifestyle, verdienen ordentlich Kohle damit. Der mit billigen Autotune-Effekten lieblos dahingeworfene Titelsong zum Bleibtreu-Film enthält Dumpfbackenzeilen wie „Die Heuchler, sie lachen mir in meine Fresse / Sie kamen zu mir, und sie aßen mein Essen.“ Außerdem heißt es: „Der Richter kann mich zwar verurteilen, aber nur Gott kann mich richten“ oder: „Rotzende Richter auf Weißwein / Was denkst du, wer du bist / Dass du mit dei’m Mundgeruch über meine Existenz urteilst / Für dich ein Verbrecher, doch in meiner Welt / Macht dich ein Coup zum King.“ Natürlich kann man solche Verse genretrunken schwerst biblisch und herrlich schicksalhaft mit Blick auf die Filmhandlung deuten. Darüber hinaus aber lassen sie auch an Bushidos Mittelfinger denken. Botschaft: Eure Werte und Moralvorstellungen sind mir scheißegal! Soziale Härte? Hab ich lange hinter mir. Reue? Spüre ich nicht. Politisches Statement? Bleibt mir fort! Integration? Pah! … Und die Kids sind fasziniert. Labileren unter ihnen könnte das Ganze sogar als attraktives Lebens- und Geschäftsmodell erscheinen.

Gangster sind nur cool, solange man selbst keine in die Fresse kriegt

Nun kann man einmal mehr argumentieren: Ist doch alles nur ein Rollenspiel, überhaupt nicht ernst gemeint. Und genau so scheinheilig argumentieren Gangsterrapper ja häufig auch, wenn sie von den Medien zu ihren Texten befragt werden. Da beschreiben sie sich gerne als engagierte Straßenreporter oder als Künstler, die in fremde Charaktere schlüpfen. Vor den Fans und in der eigenen Community aber zelebrieren sie ihre Songs als authentischen Ausdruck ihres unbesiegbaren Egos, das sich nimmt, was es will, und alle anderen plattmacht. Da ist es dann wieder, das gangsterrapspezifische Changieren zwischen bloßem Entertainment und selbstverliebter Dokumentation der eigenen Haltung – eine clever schillernde, aber irgendwann auch nervende Strategie, die von allen bösen Jungs Bushido am perfektesten kultiviert hat. Sie passt in eine turbulente Zeit, in der gewinnt, wer am rücksichtslosesten bescheißt oder anderen brutal seinen Willen aufzwingt, wer alles aus dem Weg räumt, was ihm nicht passt. Eine Zeit, in der Schauspieler und skrupellose Unternehmer Staatspräsidenten werden, in der Staatspräsidenten zu Diktatoren mutieren. Eine Zeit, in der Topmanager trotz unterirdischer Leistungen gigantische Bonuszahlungen erhalten und gewievte Banker weltweite Finanzkrisen auslösen. In der Autokonzerne trotz großangelegten Betrugs der Verbraucher ihre Umsätze steigern und Lobbys aller Art gnadenlos ihre Interessen durchsetzen.

Vielleicht sind Gangsterrapper und Gangster ein besonders spektakuläres Symbol oder auch ein Spiegel dieser unserer Zeit – sie zeigen, dass man es mit wenig Talent und etwas krimineller Energie sehr weit bringen kann. Die 4 Blocks-Macher, so noch einmal „business-punk.com“, „suchten den Kontakt zu den wichtigen Leuten in der Unterwelt von Berlin-Neukölln“ und schwärmten vom „sehr respektvollen Umgang miteinander“, ja, sie durften sogar die Frauen von Clanmitgliedern interviewen. Wie geil war das denn? Dabei ist es doch so: Gangster sind nur cool, solange man selbst keine in die Fresse bekommt. Dass wir sie in Filmen überhöhen, sie ins Rampenlicht rücken und zu Stars machen, dass ein Redakteur von „VICE.com“ sich zu dem Thrill bemüßigt fühlt, „die Serie mit echten Neuköllner Gangstern zu gucken, eine Art Qualitätskontrolle mit Leuten vom Fach“, das mutet schon ein bisschen schizo an. Oder soll das eine andere Erkenntnis untermauern: dass wir vielleicht alle ein bisschen kriminell sind? Wer weiß … Auf jeden Fall scheint kriminelle Energie heutzutage den Einstieg ins Filmgeschäft zu erleichtern. Dort warten Drehbuchschreiber und Regisseure, die nach entsprechend brisanten Stoffen gieren. Und so zeichnet sich ein Trend ab, der noch weitere einschlägige Highlights hervorbringen könnte: Drahtzieher der Finanzkrise und der Autoabgasschweinereien als gut bezahlte Berater in entsprechenden Hollywood-Aufarbeitungen ihrer „Leistungen“; Guantanamo-Wärter mit Schaupieltalent in einer abgründigen Familienserie; Larry Nassar, die zentrale Figur im Missbrauch über 100 junger US-Turnerinnen, als Nebendarsteller in einem zweiteiligen Dokudrama; der Kannibale von Rothenburg als Off-Sprecher einer hintergründigen Parabel aufs Fressen und Gefressenwerden. Und so weiter und so fort. Ich frage mich ja schon manchmal: Sind wir eigentlich bescheuert? Oder bin ich langsam zu alt für diesen Scheiß?

Hauptsache berühmt

Aufreger des Jahres: Kanye Wests Famous-Coup featuring Taylor Swift und Donald Trump

 

Keine Frage, das Jahr 2016 wird als besonderes Jahr in die Musikgeschichte eingehen. Von David Bowie bis Prince, von George Martin bis Leonard Cohen – wohl in keinem anderen Jahr sind so viele Superstars gestorben. Gleichzeitig ist 2016 das Jahr, in dem mit Bob Dylan zum ersten Mal überhaupt ein Singer-Songwriter den Literaturnobelpreis erhalten hat. Aber 2016 kam auch eins der seltsamsten künstlerischen Statements der jüngeren Musikgeschichte heraus. Die Rede ist von Famous, einem Song und einem Video des amerikanischen Rappers Kanye West.

Es gibt mehrere Wege, sich dem Famous-Phänomen zu nähern. Zum Beispiel den über Taylor Swift, die in Song und Video prominent „platziert“ wird. Taylor Swift ist jenes ehemalige Country-Talent, das sich innerhalb weniger Jahre zum internationalen Superstar gemausert hat – heute ist sie in etwa so berühmt wie Lady Gaga und Madonna. Und sie hat so etwas wie ein Markenzeichen entwickelt: Sie geht nicht nur mit etlichen berühmten Musikern und Schauspielern aus, sie kokettiert damit auch in ihren Songs. So war es um 2014 fast schon so weit gekommen, dass Medien ihre zukünftigen Liebhaber ironisch zur Vorsicht mahnten – sonst würden sie womöglich in einem Song der Künstlerin landen. Frei nach dem Motto „Got a long list of ex lovers“ (Zitat aus dem Swift-Song Blank Space, 2014) listen Klatschportale und Musikmagazine mal 10, mal 15, mal 21 Swift-Songs auf, die von ganz konkreten Beziehungen und Affären handeln sollen, wenn auch gern versehen mit dem Hinweis, dass manches nur auf Spekulationen und Beobachtungen beruhe.

Es sind freilich Spekulationen und Beobachtungen, die Taylor Swift oftmals selbst befeuert hat: etwa indem sie zu bestimmten Zeitpunkten entprechende Songs veröffentlichte, gern auch unter Nennung von Vornamen in den Lyrics, oder indem sie Andeutungen und vieldeutige Songzeilen twitterte. Harry Styles von der Boygroup One Direction, Songwriter John Mayer, Schauspieler Jake Gyllenhaal und sein Kollege Taylor Lautner sind nur einige von vielen smarten Herren, die Swift auf die eine oder andere Weise in ihren Songs verwurstet haben soll.

Bei so viel direkter und indirekter Promi-Verarbeitung durch die Künstlerin blieb natürlich lange Zeit eine Frage offen: Wann dreht endlich jemand den Spieß mal um? Wann ist jemand so frei, seinerseits Taylor Swift in einem Song zu „droppen“? Womit wir zu den denkwürdigen Auftritten von Kanye West kommen. Der Rapper, der gemeinsam mit seiner Frau Kim Kardashian so etwas wie „Die Geissens“ des amerikanischen Hip-Hop verkörpert, sorgte 2016, wie schon angedeutet, mit einer rustikalen Swift-Anspielung in seinem Track Famous für einen handfesten Skandal. Um diesen strategischen „move“ zu verstehen, muss man aber noch einmal in die Vergangenheit zurückgehen. Denn er war der Gipfel einer medienwirksamen Fehde, die sich schon einige Jahre lang hingezogen hatte und die beiden Seiten – bei aller öffentlich zur Schau gestellten Wut, Enttäuschung und Angriffslust – „ruhmmäßig“ bestens bekommen war.

„I made that bitch famous“: Kanye Wests unerwartet kunstvoller Kommentar zu Taylor Swift und zum Thema Ruhm

Alles fing an mit den MTV Video Music Awards 2009. Damals hatte der Clip zu Taylor Swifts Song You Belong With Me die Auszeichnung als „Best Female Video“ erhalten, weshalb die überglückliche Künstlerin auf die Bühne gebeten wurde. Doch mitten in ihre Dankesrede platzte Kanye West, riss das Mikro an sich und tat dem überraschten Publikum kund, dass für ihn das ebenfalls nominierte Video zum Song Single Ladies von Beyoncé eins der besten Videos aller Zeiten sei. West wurde umgehend ausgebuht, doch das schadete ihm erstaunlicherweise überhaupt nicht. Im Gegenteil: Jetzt kannte man seinen Namen. Und dass sogar US-Präsident Barack Obama persönlich ihn einen „jackass“, einen „dummen Esel, nannte, dürfte er als Adelung von höchster Stelle empfunden haben.

In der Folge gab der Rüpelrapper den Reumütigen, entschuldigte sich auf den unterschiedlichsten Kanälen und ließ 2010 auch den Swift-Song Innocent über sich ergehen, aus dem Kritiker jede Menge Anspielungen auf den unrühmlichen Vorfall heraushörten. Und so schien die Sache Ende 2010 erledigt. Doch dann polterte West in einem Interview los, das Swift-Album Fearless sei aktuell zu Unrecht mit einem Grammy ausgezeichnet worden, und seine spektakuläre Einlage bei den MTV Music Awards 2009 hätte doch eine gewisse Berechtigung gehabt. Dabei ließ er nicht unerwähnt, dass exakt dieser Skandalauftritt Swift 100 Magazin-Titelbilder und Millionenverkäufe ihrer Alben beschert habe. Eigentlich, so die Botschaft zwischen den Zeilen, habe er, Kanye West, sie erst richtig berühmt gemacht.

Das war starker Tobak. Doch Taylor Swift blieb einmal mehr verhältnismäßig entspannt und hatte sogar die Größe, Kanye West bei den Video Music Awards im August 2015 den „Michael Jackson Video Vanguard Award“ zu überreichen – wobei man sich allmählich fragen durfte, warum die Konflikte der beiden Stars in schöner Regelmäßigkeit rund um irgendwelche publicityträchtigen Preisverleihungen entbrannten. Aber egal. Im Frühjahr 2016 jedenfalls stellte West sein neues Album Life of Pablo vor, und besonders der etwas wirre Track Famous hatte es in sich: Da beteuert eine von Superstar Rihanna „verkörperte“ Frau, dass sie ihren Kerl liebe, aber verstehen könne, dass er frei sein wolle, während ein von Kanye West impersonierter Sprecher nicht nur seinen Ruhm feiert, sondern all die Frauen, die er „hatte“. Die aber seien neidisch, weil sie nicht berühmt seien und nur irgendwelche erfolglosen Männer an ihrer Seite hätten. Hm, waren das die im Hip-Hop üblichen Prahlereien und Männer-/Frauen-Dialoge? Nur bedingt. Denn gleich am Anfang fallen die explosiven Verse: „For all my Southside niggas that know me best / I feel like me and Taylor might still have sex / Why? I made that bitch famous / Goddamn, I made that bitch famous.“ Zu Deutsch: „An all meine Southside-Leute, die mich am besten kennen / Ich hab das Gefühl, ich und Taylor könnten immer noch Sex haben / Warum? Ich habe die Schlampe berühmt gemacht / Gottverdammt, ich habe die Schlampe berühmt gemacht.“ Das knüpfte natürlich direkt an die alte Interview-Äußerung an, West habe Swift 100 Magazin-Titelbilder und Millionenverkäufe beschert.

Von da an wurde es unübersichtlich. Nicht nur aus dem Swift-Lager kam der Vorwurf, diese Verse gingen dann doch etwas zu weit. Woraufhin West konterte, er hätte mit Swift im Vorfeld der Veröffentlichung gesprochen, und diese hätte sich erfreut darüber gezeigt, dass er sie in einem Song erwähnen wolle – sogar so erfreut, dass sie die Passage explizit genehmigt hätte. Was wiederum Swift zu der Einlassung bewog, sie habe lediglich die Zeile „I feel like me and Taylor might still have sex“ genehmigt – die beleidigende Fortführung „Why? I made that bitch famous“ habe West ihr vorenthalten. Bis Juni 2016 flogen Anschuldigungen und Rechtfertigungen hin und her, wobei Kanye West etwas heuchlerisch darauf hinwies, dass der Begriff „bitch“ im Hip-Hop doch durchaus ein positiv besetzter Begriff, also ein Kompliment sei. Und just als die Fehde langsam abzuflauen schien, ereigneten sich – na so was! – zwei weitere Eskalationsstufen: Erstens überraschte Wests treu sorgende Ehefrau Kim Kardashian, ihrerseits TV-Star, Modeunternehmerin und Dauerthema in der Klatschpresse, die Öffentlichkeit mit der Information, dass ein Mitschnitt des Gesprächs existierte, in dem Swift die umstrittenen Verse aus dem West-Song Famous genehmigt hatte – ein absoluter Affront, der zudem die heikle Frage aufwarf, ob das heimlich Mitschneiden eines Gesprächs überhaupt rechtens gewesen sei. Zweitens veröffentlichte Kanye West am 24. Juni 2016 mit dem Video zum Track Famous den seltsamsten Clip der jüngeren Musikgeschichte. Seltsamst deshalb, weil der von einem Sonnenuntergang und einem Sonnenaufgang umrahmte Hauptteil des 10:37 Minuten langen Streifens aus langsamen, immer wieder Details fokussierenden Kamerafahrten über eine Reihe nackter Menschen besteht, die mal mehr, mal weniger von Laken bedeckt nebeneinander auf einem gigantischen Bett schlafen.

Bildschirmfoto Kanye West, "Famous", vom Videoportal vevo

Bildschirmfoto Kanye West, „Famous“, vom Videoportal vevo

Was neben der provozierenden Ereignislosigkeit und der nicht gerade hochauflösenden Bildqualität an diesem Video irritiert: Bei den schlafenden Nackten handelt es sich nicht etwa um namenlose Models, sondern durchweg um amerikanische Prominente, um „famous people“ sozusagen, aus Politik, Unterhaltung und Kultur. So werden die Republikaner George W. Bush und Donald Trump, „Vogue“-Chefredakteurin Anna Wintour, die Popstars Rihanna und Chris Bown, Kim Kardashians rappender Exmann Ray J, Kanye Wests Exfreundin und Model Amber Rose, die ehemalige Goldmedaillengewinnerin im Zehnkampf und heutige Transsexuelle Caitlyn Jenner sowie Komiker Bill Cosby gezeigt. Mittendrin liegt Kanye West, flankiert von seiner Frau Kim Kardashian und, na wem wohl, Taylor Swift! Sie ist barbusig! Ihr Gesicht ist Kanye West zugewandt, der sich wiederum von ihr ab- und Kim Kardashian zuzuwenden scheint! Krrrrass! Was für ein spektakulärer Effekt – dem bald Erläuterungen und eine gewisse Erleichterung folgen sollten. Denn natürlich sind die im Clip gezeigten Promis nicht echt. Außer bei Kanye West, der am Ende des zentralen Teils den Kopf in die Kamera dreht und die Augen öffnet, und vielleicht noch seiner Gattin handelt es sich bei allen Personen um Wachsfiguren.

Es kam, wie es kommen musste: Heftige Wortgefechte erschütterten Fans und Medien. Bis die Fehde, man kannte inzwischen den Rhythmus aus Hochkochen- und Abkühlenlassen, irgendwann Ende 2016 einmal mehr im Sand verlief. Da stellt sich aus heutiger Sicht natürlich die Frage: Illegal mitgeschnittene Gespräche, Zurschaustellung von Nacktskulpturen – warum hat Taylor Swift ihren Widersacher Kanye West nie verklagt? Und warum haben sich auch die anderen im Famous-Video gezeigten Promis nicht gegen solch eine buchstäbliche „Bloßstellung“ gewehrt, allen voran der als aufbrausend und nachtragend berüchtigte Donald Trump? Ja, die eine oder andere der gezeigten Berühmtheiten soll „not amused“ gewesen sein, während George W. Bush von einem Sprecher verlauten ließ, er fühle sich schlecht getroffen, der echte Mr. Bush sei viel besser in Schuss als das schlaffe Wachsmodell in dem Video. Aber sonst? Die Antwort könnte lauten: Weil das Ganze letztlich ein großangelegtes Spiel zu sein scheint, bei dem jeder und jede am Ende gerne mitspielt. Genau das ist das Zwingende an diesem sonderbaren Video von Kanye West: Es zeigt einerseits, was Promis und VIPs über sich ergehen lassen müssen – wie sie in der Öffentlichkeit zur Schau gestellt und teilweise sogar entblößt werden; andererseits unterstreicht es, wie Promis und VIPs durch genau dieses Zur-Schau-gestellt-Werden und Sich-selbst-zur-Schau-Stellen profitieren: Es steigert ihren Ruhm ins Unermessliche. Selbst schuld, wer dagegen gerichtlich vorgeht. „Bitte überzieht mich mit Klagen“, soll West rund um die Videopräsentation ebenso selbstironisch wie siegessicher erklärt haben. Er wusste, dass ihm letztlich nichts passieren würde – und dass manch anderer Promi alles dafür gegeben hätte, um in diesem Video „auftreten“ zu dürfen.

Bildschirmfoto Andy Warhols "Sleep" vom Videoportal vimeo

Bildschirmfoto Andy Warhol, „Sleep“, vom Videoportal vimeo

Auch dass die dargestellten Promis nichts anderes als Wachsfiguren sind, gehört zur Aussage: Die Berühmtheiten erscheinen als formbare leere Hüllen, auf die wir, die nicht berühmten Menschen im Publikum, unsere Fantasien, unsere Hoffnungen, unsere Aggressionen projizieren. Die suboptimale Bildqualität unterstreicht den Schlüsselloch-Blick, den voyeuristischen Charakter des Streifens. Hinzu kommt, dass das Video künstlerische Vorlagen zitiert. Da ist zum einen der fast sechs Stunden lange Film Sleep von Andy Warhol aus dem Jahr 1963, der nichts anderes tut, als den Beat-Poeten John Giorno beim Schlafen zu zeigen: Es geht um den Prominenten als gewöhnlichen Menschen, um die Berühmtheit in einer Art Stand-by-Modus, um das Unterlaufen von Zuschauererwartungen, das intensive Wahrnehmen von Zeit und um die Entdeckung minimaler Variationen. Zum anderen bezieht sich das Video auf das 2008 entstandene Gemälde Sleep des Künstlers Vincent Desidorio, der dabei nach eigenen Aussagen an „schlummernde Götter“ gedacht haben will. Und so sind auch die „famous people“ im Video von Kanye West schlummernde Götter, die unter unserer Bewunderung zum Leben erwachen.

Bildschirmfoto Vincent Desidorios "Sleep" auf www.nytimes.com

Bildschirmfoto Vincent Desidorio, „Sleep“, auf www.nytimes.com

Bei all diesen Schlafenden handelt es sich zudem um Prominente mit besonders großem Hang zur Selbstinszenierung, teilweise auch zum Skandal. Sie haben sich sozusagen selbst zu spektakulären medialen Gottheiten gemacht. Die beiden äußerst nachlässig mit der Wahrheit umgehenden Spitzenpolitiker Bush und Trump, von denen Letzterer auch als Immobilien-Tycoon, als TV-Star und nicht zuletzt als polternder Populist für Aufregung sorgte; der unbeherrschte Rapper Chris Rock, der seine damalige Freundin Rihanna geschlagen hatte; sein großspuriger Kollege Kanye West; die Transsexuelle Caitlynn Jenner; die im Bestseller Der Teufel trägt Prada verewigte streitbare Starmacherin Anna Wintour vom „Vogue“-Magazin; oder der in hohem Alter mit Missbrauchsvorwürfen und Sexskandalen konfrontierte Komiker Bill Cosby – fast jede der hier versammelten Persönlichkeiten ist auf irgendeine Weise schon für sich genommen berühmt-berüchtigt. Aber auch im Verbund betrachtet stehen diese Promis für publikumswirksame, den Bekanntheitsgrad steigernde Kontroversen: Ausgerechnet zwei erzkonservative weiße Vertreter des politischen Establishments finden sich in einem Bett mit schwarzen Showgrößen und Transsexuellen wieder; ausgerechnet die verfehdeten Stars Taylor Swift und Kanye West oder das nach häuslicher Gewalt auseinandergegangene Expaar Rihanna/Chris Brown werden unter demselben Laken wiedervereint; ausgerechnet Kim Kardashian, ihr Ex-Lover Ray J und ihr aktueller Lover Kanye West teilen dasselbe Lager – es ist eine extreme Konstellation, die jede Menge Zündstoff birgt. Aus solchem Stoff ist Ruhm gemacht.

Genauer betrachtet erweist sich das Famous-Video als intelligenter Kommentar zu den Mechanismen des Ruhms. Auf der Metaebene beleuchtet der Clip mit cleveren Anspielungen auf künstlerische Vorbilder, wie Medienstartum entstehen kann und was er für alle Beteiligte bedeutet, die Stars ebenso wie ihr Publikum. Dabei schwingt auch etwas von dem Warhol’schen Gedanken mit, dass ein jeder Mensch seine 15 Minuten Ruhm haben kann, wenn er nur genügend präsent ist oder massiv genug behauptet, ein Star zu sein. Kanye West steigert hier seinen Ruhm, indem er sich mit anderen Berühmtheiten umgibt. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem skandalgetriebenen Ruhm, auf den Mechanismen, mit denen man zum Aufmacher in den Boulevardmedien wird.

Famous ist ein feines kleines Stück Gegenwartskunst. Und betrachtet man Song und Video speziell mit Blick auf Taylor Swift, dann macht Kanye West nicht nur das mit der Künstlerin, was diese mit berühmten Verflossenen aus dem wirklichen Leben macht, sondern zieht auch die Schraube noch einmal kräftig an. Konkret: Er droppt ihren Namen in einem Song, denkt öffentlichkeitswirksam laut über eine sexuelle Begegnung nach – und legt sie obendrein noch nackt neben sich ins Bett. Am Ende schlägt Kanye West Taylor Swift mit ihren eigenen Waffen. Ein aggressiveres Namedropping als Marketingstrategie ist kaum vorstellbar. Mit irgendwelchen „autobiografischen“ Einblicken in Kanye Wests biografisches Ich hat das nicht im Mindesten zu tun.

Epilog: Trump, West und die Folgen

Bei diesen Bemerkungen könnte man es belassen – wenn nicht am 8. November 2016 Donald Trump völlig unerwartet zum Nachfolger von Barack Obama als Präsident der Vereinigten Staaten gewählt worden wäre. Mit Blick auf den Famous-Coup hatte diese Wahl zwei erstaunliche Konsequenzen: Erstens erwies sich das Video plötzlich als geradezu visionär – denn Trump, zur Entstehungszeit des Videos noch umstrittener Kandidat, hatte durch den Wahlsieg tatsächlich denselben Status wie einst sein „Bettnachbar“ George W. Bush erlangt; zum anderen offenbarte sich Kanye West als Bruder Trumps im Geiste. Im Rahmen seiner Konzerttour Mitte November 2016 wetterte er nämlich plötzlich live von der Bühne gegen seine berühmten Musikerkollegen Jay-Z und Beyoncé, die die demokratische Kandidatin Hillary Clinton unterstützt hatten, und feixte, er sei zwar nicht wählen gegangen, hätte aber für Trump gestimmt – auch wenn er die „Black Lives Matter“-Initiative und andere antirassistische Bewegungen wichtig finde. Begründung: Trumps Kampagne, ihr Ansatz, sei „absolut genial“ gewesen, und sie bringe Rassisten endlich dazu, ihr wahres Gesicht zu zeigen. Trotz des halbherzigen Nachsatzes ein echter Abtörner, denn die unverhohlene Bewunderung für den siegreichen Republikaner und die Ausfälle gegen Beyoncé & Co dominierten. Bei seiner Glorifizierung der Trump’schen Wahlkampfstrategie, die auf größtmögliche Provokation, auf Sexismus, Rassismus und Ausgrenzung, kurz: auf die zynische Missachtung demokratischer Grundwerte zielte, ließ sich West nicht aus dem Konzept bringen, auch nicht von empörten Buhrufen aus dem Publikum. Vielmehr toppte er den Skandal noch mit der schon früher mal gemachten Ankündigung, im Jahr 2020 selbst für das Amt des US-Präsidenten kandidieren zu wollen. Was dem respektlos-cleveren Famous-Schachzug dann endgültig den Glamour nahm. In der Rückschau offenbarten sich plötzlich sämtliche widersprüchlichen, verletzenden Äußerungen und Auftritte Wests als Adaption der Trump’schen Populismus-Strategie ins Musikgeschäft und in den Kunstbetrieb: Austeilen, schädigen, Unsinn verbreiten, Zurücknehmen, Nachlegen, Toppen, und das alles ohne Rücksicht auf Verluste. Hauptsache: Ruhm und Quoten, also größtmöglicher Erfolg. Letztlich ein zweifelhafter Spaß, der unter anderem die Frage aufwirft: Sozial engagiert sein, aber ausgerechnet bei dieser Wahl seine Stimme nicht abgeben und schlussendlich noch Trumps Rhetorik gutheißen – kann das wirklich zusammenpassen? Ein Widerspruch, den der Rapper möglicherweise selbst nicht aushalten konnte. Wenige Tage nach seinen Tiraden auf der Konzertbühne musste er die Tour aus gesundheitlichen Gründen abbrechen und kam in ein Krankenhaus. Zur Beobachtung. Nicht wenige wären erfreut gewesen, hätte man ihn für immer dabehalten.

 

Im Battle mit Klaus und Claudia? Peinlicher Bushido!

„Scheiße, leise sollst du sein, kleiner Stricher / Lächerliches Tröpfchen Pisse, hier kommt der Scheibenwischer / Ich entsicher’, spann’ und schieß’ / und mach dich weg, wie du hoffentlich siehst / Ich fließ’ wie ein Fluss, schieß’ wie ein Schuss, / bin positiv wie ein Plus und mache Schluss mit dem Frust / Also muss ich dich zerstör’n, kannste mich hör’n…“ Ein Rap-Text von Gewalt-Rapper Bushido? Nein, ein Rap-Text von der Frankfurterin Sabrina Setlur. In ihrem Stück Pass auf aus dem Jahr 1995 macht die im wahren Leben eher friedliche Ex-BWL-Studentin das, was viele Rapperinnen und Rapper traditionsgemäß gerne tun: Andere mit Worten attackieren, um sich selbst zum Besten, Größten, Härtesten zu stilisieren, was auf diesem Planeten gerade kreucht und fleucht.

Dissen aus Tradition

Die Wurzeln dieser textlichen Strategie liegen in Amerika, in Metropolen wie New York, wo vor einigen Jahrzehnten rivalisierende schwarze Jugendliche anfingen, ihre Konflikte nicht mehr mit Fäusten und Waffen, sondern mit Worten, in Form von Tänzen und über Graffiti, kurz: über den künstlerischen Ausdruck auszutragen. Es ging darum, auf verschiedenen Gebieten die eigenen „Skills“, also Fähigkeiten, zu testen und den jeweils Besten zu ermitteln. Der Wettkampfaspekt, die „Competition“ – gern auch zur „Battle“, zur „Schlacht“ stilisiert – war von Anfang an ein wichtiger Aspekt der Hip-Hop-Kultur. Textlich äußert sich das auch heute noch neben einem möglichst originellen und kreativen Sprachgebrauch häufig im Prahlen und im verbalen Niedermachen des Kontrahenten, im sogenannten „Dissen“. Nur so ist es zu verstehen, wenn der Rapper Kool Savas 2005 in Das Urteil seinen ehemaligen Weggefährten Eko Fresh, der ihn zuvor in einem Track namens Die Abrechnung „gedisst“ hatte, mit Worten wie diesen belegt: „Meinen Flow übertriffst du nicht, nach dem Part übergibst du dich / Was du machst ist nicht korrekt wie Behindertenwitze / Alles, was du schreibst, ist für mich nicht mehr als Kindergekritzel / (…) / Fuck mich ab und ich mach dir Dampf, zerstör dich voll und ganz / EK, lutsch meinen Schwanz!“

Setlur und Kool Savas benutzen ähnliche Bilder, fast schon Standardfloskeln, es geht um die Zerstörung des Kontrahenten, womöglich mit einer Schusswaffe – wobei ausgerechnet der Text von Sabrina Setlur noch „krasser“ wirkt als der ihres männlichen Kollegen. Letztlich aber sind beide Raps, so brutal und hasserfüllt sie daherkommen, gleichermaßen harmlos. Denn die Künstler, die sie vortragen, sind im wahren Leben nicht für Mord und Totschlag bekannt – ihre Texte bieten lediglich eine derbe Wettkampfrhetorik, die versucht, an Drastik immer noch einen draufzusetzen. Dass dabei auch schwulen- und frauenfeindliche Parolen gedroschen werden, finde ich persönlich ziemlich beknackt, gehört aber in einigen Rapper-Kreisen offenbar dazu. Es ist leider auch Alltag auf vielen Schulhöfen, wobei die Spanne des Gebrauchs solcher Parolen je nach persönlichem Hintergrund vom „Nicht wissen, was man da sagt“ über das „So reden, weil man irgendwo dazugehören will“ bis hin zum tatsächlichen Schwulenhass reicht. Hier haben wir, nebenbei, ein gesamtgesellschaftliches Problem und keins, das im Hip-Hop begründet liegt.

Drastische Fiktionen zwischen Spaß und Ernst

Warum bis heute nicht jeder zweite Rap-Song indiziert wird, hat verschiedene Gründe. Da ist die Flut an Songs, die nicht zu überblicken, geschweige denn zu bändigen ist und oftmals nur ein Nischenpublikum erreicht. Da sind der nachlässige Vortrag und der überladene Sound, der viele Texte erst beim zweiten, dritten Hören oder gar erst beim Mitlesen im Internet verständlich werden lässt. Und da ist die – unbewusste bis stillschweigende – letztliche gesellschaftliche Übereinkunft, dass Songs im Allgemeinen und Rap-Texte im Besonderen auch bei aller Drastik und Geschmacklosigkeit am Ende des Tages doch nicht mehr als Fiktionen sind.

Es sind vor allem Sprüche und Images, um die es im Rap geht. Nicht um eine Eins-zu-Eins-Übertragung der eigenen Gefühle und Taten in Songs, sondern um ein möglichst taffes Show-Ich und eine starke, „krasse“ Performance, die dem Künstler beim Publikum, aber auch bei Kolleginnen und Kollegen Respekt verschafft. Was nicht ausschließt, dass sich Rap-Lyrics auch mit gesellschaftlichen Realitäten beschäftigen. And the Beef Goes On heißt eine Dokumentations des Musiksenders MTV aus dem Jahr 2008. Darin ist zu hören, wie einige der umstritteneren deutschsprachigen Rappern ihre Arbeit charakterisieren. Von „verarbeiten“ und „widerspiegeln“ ist da die Rede und von einer eher „journalistischen“ Herangehensweise. „Armut, Arbeitslosigkeit, Kids ohne Perspektive, Viertel, in denen das Gesetz der Straße herrscht und wo Konflikte durch Gewalt gelöst werden“, fasst der Offkommentar zusammen, „davon berichtet Rap.“ Was der Rapper Fler folgendermaßen kommentiert: „Meinen Frust, den ich im Leben durchgemacht habe, und meine schlechte Zeit, die ich im Leben durchgemacht habe, verarbeite ich mit der Musik.“ Kool Savas: „Die Musik spiegelt eigentlich nur wider, was in dieser Gesellschaft abgeht.“ Azad: „Wir sind so eine Art Straßenreporter, die über die Dinge berichten, die Medien nicht berichten.“ Massiv: „Ich reflektiere die Straße. In diesem Moment sehe ich mich als Journalist der Straße.“ Ein Selbstverständnis, das weniger auf eine bedingungslose Identität von biografischem Ich und Song-Ich schließen lässt als auf die künstlerische, bearbeitende Umsetzung von dem, was „da draußen“ in der Welt vor sich geht.

Das bedeutet nicht, dass Rapper nicht auch mal „persönlichere“ Töne anschlagen – ihre Song-Ichs näher an ihr biografisches Ich heranrücken lassen. „Vater du verleugnest deinen Jungen“, rappt etwa Bushido in Reich mir nicht deine Hand, „Ich möchte dir nichts beibringen / Und ich nenne dich nicht Feigling, aber / Wegen dir war ich ein Heimkind.“ Das sind Verse, die nah dran sind an Bushidos eigener Lebensgeschichte mit einem Vater, der früh die Familie im Stich ließ, und mit Erfahrungen als Insasse eines Heims für schwer erziehbare Jugendliche. Im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Song-Ich und Realität aufschlussreich ist, wie Bushido Reich mir nicht deine Hand in der MTV-Doku kommentiert: „Das war für mich auf jeden Fall einer der wichtigsten Songs, die ich bis jetzt gemacht habe. Diese Geschichte, die da erzählt wird, da weiß mein Vater von, meine Mutter weiß davon, und ich weiß davon. Natürlich trage ich das in die Öffentlichkeit. Aber im Endeffekt wissen wirklich wir drei, wie die Sache für uns gelaufen ist.“ Was heißt: Der Song bezieht sich durchaus auf persönliche Erlebnisse aus dem Leben von Anis Mohamed Youssef Ferchichi, der realen Person hinter dem Show-Ich Bushido. Aber in erster Linie erzählt er eine Geschichte – und die ist das Ergebnis künstlerisch bearbeiteter Erfahrung. Wie es wirklich war, das wissen nur die unmittelbar beteiligten Personen.

„Ich und schwulenfeindlich? Ich gebe doch nur wieder, was ich auf der Straße gehört habe“ Oder: Hinter der Authentizitätsfassade kann man sich prima verstecken

So verwundert es kaum, wenn die Macher von And the Beef Goes On zu dem Schluss kommen, dass es auch im Hip-Hop zu einem großen Teil um Show und Unterhaltung geht, um Entertainment! „Provozieren, schocken, übertreiben: Genau das ist es, was viele Rapper in ihren Tracks veranstalten“, hält der Offkommentar fest. „Es ist ein Spiel. Ein derbes Spiel, aber eben ein Spiel.“ Und die Szene bekräftigt. B-Tight: „Du kannst auch Sachen einfach ironisch meinen – sie hart sagen, aber ironisch meinen.“ Marcus Staiger, Chef des Szenelabels Royal Bunker: „Rap hat eben auch das Recht, Dinge zu dramatisieren und zuzuspitzen.“ Bushido: „Und dann spielst du mit der Musik, mit den Wörtern – mit der Sprache einfach auch.“ Kool Savas: „Rap ist teilweise maßlose Übertreibung.“ Staiger: „Sonst wär’s ja langweilig.“ Fler: „Es ist die Ironie. Ich nehme mich ja selber dabei nicht ernst. Ich achte darauf, dass meine Musik auch provoziert, weil’s alles Entertainment ist.“ Massiv: „Ich versuche, die Leute zu entertainen, ich versuche, sie zu unterhalten.“ Und noch einmal B-Tight: „Der Entertainment-Faktor, der ist ganz hoch.“

Aber genau dieses Oszillieren zwischen dem angeblichen Reporterblick, der Verarbeitung persönlicher Erfahrungen und dem unterhaltsamen krassen „Dissen“ anderer Menschen und sozialer Gruppen sorgt auch dafür, dass sich viele Gangsterrapper nicht festlegen lassen, dass eine Art Geheimwissen, bestimmte Codes etabliert werden, die nur Szene-Insider verstehen. Es ist zudem eine kunstvolle Fassade, hinter der man sich prima verstecken kann, à la: „Ich und frauenfeindlich, schwulenfeindlich oder gar gewaltverherrlichend? Wieso, ich hab doch nur wiedergegeben, was ich täglich auf der Straße höre. Das Ich im Text, das bin doch nicht ich!“ Oder einfach: „Danke für die Aufregung, kurbelt den CD-Verkauf an, aber ist doch alles nur Show!“ Die Frage ist, ob nicht auch die coolen Rapper, die sich mal als benachteiligte Opfer der Gesellschaft, mal als gutgelaunte Entertainer stilisieren und Respekt verlangen, eine Verantwortung für das tragen, was sie in ihren Texten von sich geben. Gibt es vielleicht doch Zusammenhänge zwischen dem Rap-Ich im Text und dem biografischen Ich des Künstlers, zum Beispiel durch Erfahrungen in kriminellen Milieus? Und: Wo hört die spielerische Geschmacklosigkeit auf? Wo wird wirklich eine Grenze zum nicht mehr Akzeptablen überschritten?

Böse Menschen haben keine Raps?

Die MTV-Doku entlastet deutschsprachige Gangsterrapper generell, und zwar mit den Worten: „Rapper sind keine Gangster. Sie rappen über Gewalt, aber leben sie nicht.“ Den Gegenbeweis liefern Rap-Subszenen, quasi Rap-„Parallelwelten“, in Deutschland, für deren Protagonisten schwerere kriminelle Handlungen zum Alltag gehören. Eine davon ist die Köln-Bonner Szene um Rapper wie Bero Bass und Xatar. Allein oder im Rahmen von Projekten wie La Honda erzählen sie in ihren Texten, wie sie sich auf der Straße behaupten, wie sie ihre Gegner plattmachen, Überfälle begehen, Haftstrafen absitzen oder Verrätern drohen, die allzu eng mit der Polizei kooperieren. Das ließe sich leicht als das eben beschriebene hip-hop-typische Prahlen, Protzen und kategorische Übertreiben abtun – wäre nicht Bero Bass vor einiger Zeit wieder in eine blutige Messerstecherei mit anschließendem Gefängnisaufenthalt verwickelt gewesen und hätte nicht Xatar nach ähnlichen Körperverletzungs- und Drogenhandelsdelikten im Dezember 2009 zusammen mit sieben weiteren Tätern bei Ludwigsburg einen Goldtransporter überfallen. Die Beute von 1,8 Millionen Euro blieb verschwunden, Xatar selbst wurde ein halbes Jahr später gefasst.

Und hier schließt sich der Kreis zu Bushido: Er blickt nicht nur auf ein Vorleben zurück, zu dem Körperverletzung, Drogendealereien, besagter Aufenthalt in einem Heim für schwer erziehbare Jugendliche und Gefängnis gehören, sondern soll auch aktuell Verbindungen zu Berliner Köpfen der organisierten Kriminalität haben. Hier haben wir es wieder, das unangenehme Oszillieren zwischen der nicht zu leugnenden künstlerischen Gestaltung im Rap, der Verfremdung, Zuspitzung, Übertreibung, bewussten Provokation auf der einen und klaren biografischen Bezügen auf der anderen Seite. Zwischen Wirklichkeit und Fiktion. Zwischen Ernsthaftigkeit und Koketterie. Da möchte man dem einen oder anderen Künstler schon mal Scheinheiligkeit unterstellen. „Warum ist es plötzlich cool, dass man früher Koks vertickt hat und sich mit Kalibern auskennt?“, wird Bushido, dessen Leben inzwischen verfilmt wurde, in einem Beitrag von Eric Leimann für http://www.viva.de/film.php?op=tv&what=show&Artikel_ID=62393 zitiert. „Ich empfehle das den Kids nicht, wenn ich sie persönlich treffe. Was ich mache, ist Kunst. In der Kunst ist manches überspitzt, und meine Rolle ist eben oft nur eine Rolle.’“

Bushido macht Stress – völlig ohne Grund

Und so kann sich Bushido auch in seinem umstrittenen neuen Song Stress ohne Grund erst mal prima hinter einer Rolle verstecken, die ganz bestimmt nicht seinem biografischen Ich entspricht. Denn der Sprecher in Stress ohne Grund scheint so etwas wie der Chauffeur einer erfolgreichen Geschäftsfrau zu sein, die er verachtet. Während sie in wichtigen Meetings sitzt, verbringt er die Wartezeit bis zum nächsten Fahrerjob und seine Freizeit mit halbseidenen Geschäften in ebenso halbseidener Gesellschaft. Das Ich feiert sich selbst als „Assi“ und zitiert genüsslich Frank Sinatra und Dean Martin, denen man einst eine Nähe zur Mafia nachsagte. „Peter-Pan-Syndrom, Bitch / Ich rauch Marlboro, Bitch / Du trinkst Aperol Spritz / Ich bin Fahrer, oh Bitch / (…) chill beim Geschäftsmeeting / Heartbreaker, Bartträger, steht in meinem Steckbrief / (…) / Ich bin Assi, aber dein Gesicht ist Asy- / -metrich, Bitch, du sammelst Briefmarken, ich sammel Kreditkarten / Yeah, Frank Sinatra chillt mit Dean Martin.“ Auffällig sind auch die ersten Worte des Raps, „Peter-Pan-Syndrom“. Mit diesem Begriff beschrieb der amerikanische Familientherapeut Dan Kiley „Männer, die nie erwachsen werden“ – und er dient Bushido hier offenbar als Mittel, seinen Song gleich im ersten Vers zu verharmlosen. So als wolle er sagen: „Ist doch alles nur ein Spiel, ich bin doch bloß ein dummer Junge, der nicht erwachsen werden will und sein Song-Ich noch mal ordentlich auf die Kacke hauen lässt.“

Vor diesem Hintergrund heißt es dann in Stress ohne Grund, übrigens eine Phrase, die man schon aus früheren Songs von Bushido alias Sonny Black kennt, über einen realen Rivalen, den Rapper Kay One, mit einem Seitenhieb auf den Bürgermeister von Berlin: „Halt die Fresse, fick die Presse / Kay, du Bastard bist jetzt vogelfrei / Du wirst in Berlin in deinen Arsch gefickt wie Wowereit“. Weiter geht es gegen Nordeuropäer, Spaßmoderatoren und zwei weitere führende Köpfe aus der Politik, die Grünen-Politikerin Claudia Roth und Serkan Tören, den integrationspolitischen Sprecher der FDP: „Du versteckst dich, doch ich finde dich wie Google Maps / Ich verkloppe blonde Opfer so wie Oli Pocher / Ich mach Schlagzeilen, fick deine Partei / Und ich will das Serkan Törun jetzt ins Gras beißt / Yeah, Yeah, was für Vollmacht?, du Schwuchtel wirst gefoltert / Ich schieß auf Claudia Roth, und sie kriegt Löcher wie ein Golfplatz.“

Songs sind keine Bekennerschreiben – aber ernstzunehmende Kunst hört sich anders an

Ganz klar: Songs sind keine Pressemitteilungen, keine öffentlichen Bekanntmachungen und Verlautbarungen, auch keine terroristischen Bekennerschreiben oder Bekennervideos. Songs sind mehr oder minder kunstvolle künstlerische Gebilde, angesiedelt im Bereich der Fiktion, der Bearbeitung von Erfahrungen und von Welt. Insofern gehen die erschütterten Stellungnahmen, die angesichts von Bushidos Song Stress ohne Grund von einer ernstzunehmenden Todesdrohung und vom definitiven Aufruf zum Mord sprechen, entschieden zu weit. Es wäre schön, würden Staatsanwaltschaften verstärkt mit Soziologen, mit Kunst-, Kultur- und Literaturwissenschaftlern zusammenarbeiten, um zu besonnenen Einschätzungen umstrittener „Kunstwerke“ zu gelangen. Wohin Zensur führen kann, ist hinlänglich bekannt. Nichtsdestotrotz ist Stress ohne Grund an Dumpfheit und pubertärem Schwachsinn kaum zu überbieten. Von der Verantwortung, die ein Künstler trägt für das, was er als Kunst präsentiert, ist hier keine Spur. Dass ausgerechnet einer wie Bushido, der inzwischen Familienvater, reicher Geschäftsmann und vom gesellschaftlichen Establishment hofierter Künstler ist, dazu ein Praktikum im Bundestag absolviert hat, noch einmal in die Rolle eines dumpfe Parolen schwingenden Asso-Kriminellen schlüpft, ist absolut unlustig, zudem unglaubwürdig, auch wenn an den Verbindungen zur organisierten Kriminalität etwas dran sein sollte. Ich würde sagen: im Praktikum nichts gelernt, Credibility ver-„spielt“.

Seine Rapperkollegen zu dissen, ist das eine. Aber das drastische Rap-Spiel völlig grundlos und ohne Argumente auf führende Politikerpersönlichkeiten zu übertragen, entbehrt jeder Grundlage. Will er Claudia Roth, Klaus Wowereit und Serkan Tören zur Hip-Hop-„Battle“ einladen? Dann kann er lange warten. Falscher Code. Und: Echte Sozialkritik und Diskussionsbeiträge zur Integrationspolitik sehen anders aus. Klaus Wowereit wäre gut beraten, nicht mit einer Strafanzeige zu reagieren, die doch Bushido nur noch mehr Publicity und ihm selbst weitere unliebsame Diskussionen beschert. Er sollte andere, intelligentere Mittel und Wege finden, dem Herrn Gangsterrapper aufzuzeigen, wie lächerlich seine Kunstfigur wirkt, wie unglaubwürdig er sich selbst in der eigenen Szene macht und wie künstlerisch wertlos seine Tiraden eigentlich sind.

Eine ausführlichere Fassung dieses Beitrags mit weiteren O-Tönen aus der Hip-Hop-Szene und Links zu Videos findet sich bei Faust-Kultur.