Von Agathe Bauer zu Taylor Swift

oder „I left my brains down in Africa“: Die wundersame Welt der falsch verstandenen Lyrics

Kennen Sie das? Sie hören einen Song und rätseln über den Wortlaut eines bestimmten Wortes oder einer bestimmten Zeile? Sie könnten schwören, Sie haben da etwas ganz Bestimmtes gehört, aber irgendwie ergibt das, was Sie gehört haben, im Zusammenhang keinen Sinn? Jahre später schauen Sie auf einer Lyrics-Website nach, oder Freunde klären Sie auf. Und siehe da: Sie hatten die entsprechenden Worte, besagten Vers völlig falsch verstanden. Und warum? Weil sie in einer Fremdsprache gesungen wurden, derer Sie nicht ganz mächtig waren; weil die Interpreten wie Til Schweiger genuschelt haben; weil der Gesang einfach verwaschen produziert war; oder weil Sie in einer bestimmten Lebenssituation waren und einfach etwas Bestimmtes hören wollten.

Natürlich kennen Sie das. Und eigentlich kennen wir es alle. So hat sich eine von mir überaus geschätzte Person als junge Schülerin immer wieder gewundert, warum Marius Müller-Westernhagen so leidenschaftlich eine „6c“ beschwor – und erst später spitzgekriegt, dass das männliche Ich des Songs eine Frau einfach Sexy fand. Mir persönlich ging stets eine bestimmte Zeile im Refrain von Olivia Newton-Johns Hit Physical unter die Haut: „Let’s get into physical, let me in and find your heart!“, hörte ich als Jugendlicher gern heraus und war mir hundertprozentig sicher, dass die Worte bei allen erotischen Konnotationen auch noch etwas von Seelenverschmelzen und Romantik vermittelten. Nur um später festzustellen, dass Frau Newton-John doch nur Körper sprechen lassen wollte: „Let’s get into physical, let me hear your body talk…“

Einen zeitlos universellen Verhörer dürfte Kenny Loggins provoziert haben: Noch heute verstehen wohl Millionen Menschen jedes Mal „Oh oooh hard life“ oder „Oh oooh hard light“, wenn sein 1982 erschienener Gassenhauer Welcome to Heartlight erklingt. Zum einen ist das Ding an einzelnen Stellen so nachlässig dahingeworfen, dass man Feinheiten der Aussprache kaum noch heraushört – zum anderen kann sich wahrscheinlich niemand vorstellen, dass es um so etwas wie „Herzlicht“ gehen könnte. Ein „Herzlicht“? Was soll das sein? Liegt ein „hartes Leben“ oder ein „grelles Licht“ nicht viel näher? Wie gesagt: Man versteht, was man verstehen will. Eigentlich geht es auch Herrn Loggins nicht um ein „Herzlicht“, obwohl er tatsächlich „Heartlight“, singt. „Heartlight“ ist einfach der Name einer Schule in Kalifornien, und die wird hier, warum auch immer, überschwänglich gelobt: „I hold the hand / I walk with the teacher / (…) / I know we’ve learned to live together / Here in the Heartlight…“

Um solche Verhörer hat sich längst so etwas wie eine kleine Wissenschaft gebildet. Und die unterscheidet gleich mehrere Verhörer-Kategorien. Bewegen sich das tatsächlich Gesagte und das falsch Gehörte in derselben Sprache, dann hat man es mit einem „Mondegreen“ zu tun. Schon wie es zu diesem Begriff kam, ist eine schöne Geschichte – denn der Begriff „Mondegreen“ ist selbst ein „Mondegreen“: Die amerikanische Autorin Sylvia Wright hatte 1954 in der Zeitschrift „Harper’s“ einen Artikel veröffentlicht, in dem sie sich an Verhörer aus ihrer Kindheit erinnerte. So hatte sie, als ihre Mutter ihr eine schottische Ballade aus dem 18. Jahrhundert vorlas, verstanden, dass man den Earl of Murray samt Lady Mondegreen erschlagen habe: „They hae slain the Earl Amurray, / And Lady Mondegreen.” Tatsächlich aber gab es in dem Schauerstück gar keine Lady Mondegreen – der arme Earl of Murray war nach seinem Tod lediglich ins Gras gelegt worden: „They hae slain the Earl Amurray, / And laid him on the green.“ Und wie das Leben so spült: Der „Harper’s“-Artikel machte „Mondegreen“ zum feststehenden Begriff.

Für einen der bekanntesten jüngeren Mondegreens sorgte Taylor Swift, als sie ihren Song Blank Space veröffentlichte. An einer Stelle hörten Millionen von Fans immer wieder die Phrase „all the lonely Starbucks lovers“ und fragten sich, was ihr Star wohl mit all den einsamen Liebenden einer Kaffeekette am Hut haben könnte. Dabei heißt es in den Lyrics deutlich plausibler: „…got a long list of ex-lovers“ – offensichtlich ein Resultat der vielen Soundeffekte, die man im Studio über Taylor Swifts Stimme gelegt hatte. Wenn man weiß, auf was man hören soll, funktioniert’s kaum noch – aber die Medien waren eine Zeit lang voll davon. Wer dagegen bei Klassiksendungen im Radio statt „Köchelverzeichnis“ immer wieder „Knöchelverzeichnis“ hört, der erliegt einem der bekanntesten Mondegreens innerhalb der deutschen Sprache. Aus dem Verhörer „Der weiße Neger Wumbaba“ (nach „der weiße Nebel wunderbar“ aus dem Abendlied Der Mond ist aufgegangen) haben Axel Hacke und Michael Sowa 2004 gleich ein ganzes „Kleines Handbuch des Verhörens“ gemacht.

Um ein „Soramimi“ dagegen handelt es sich, wenn man in einem englischsprachigen Text eine deutsche Phrase zu hören glaubt. Die am häufigsten zitierten Beispiele sind hier „Agathe Bauer“ – ein Verhörer angesichts der Wucht des SNAP!-Hits I Got the Power – und „Anneliese Braun“, frei missverstanden nach dem Songvers „All the leaves are brown“ aus dem The-Mamas-and-The-Papas-Klassiker California Dreaming. Freilich wird bei all dem gern die Grenze zur – Achtung: weitere Kategorie – mutwilligen Verballhornung überschritten. Wer in Internetsuchmaschinen die Stichworte „misheard lyrics“ eingibt, stößt auf etliche Portale und Videos, die neben Beispielen für „echtes“ falsches Raushören auch jede Menge böswilliger Unterstellungen präsentieren. Schade, dass es dafür nicht so einen schönen Begriff wie „Mondegreen“ oder „Soramimi“ gibt.

Wie auch immer: Es scheint, als sei das bewusste Missverstehen ein Volkssport geworden, und manche Ergebnisse, da darf man auch mal prollig und politisch unkorrekt sein, sind, na ja, einfach witzig. Da wird aus „See that girl, watch that scene, diggin’ the dancing queen“ im ABBA-Klassiker Dancing Queen die Zeile „See that girl, watch her scream, kicking the dancing queen“; aus der nüchternen Feststellung „That’s me in the corner, that’s me in the spotlight“ im Gassenhauer Losing My Religion von R.E.M. die Aufforderung „Let’s pee in the corner, let’s pee in the spotlight“; und aus der salbungsvollen Erkenntnis „I bless the rains down in Africa“ im Toto-Evergreen Africa das bescheuerte Geständnis „I left my brains down in Africa“. „Misheard lyrics“ dürften die am weitesten verbreiteten Songmissverständnisse sein, und der Fantasie scheinen keine Grenzen gesetzt.

Manchmal gibt es Wichtigeres als Songs

„Hey, schon länger keinen neuen Post in deinem Songblog gelesen“, sprach mich kürzlich ein Freund am Telefon an. „Was ist denn los?“ Ja holla, gibt’s denn so was? Einerseits hat mich diese Frage sehr gefreut, denn „wenn auch nur ein Leser einen Text von mir vermisst“ – und ich zitiere sinngemäß einen zum Pathos neigenden Frankfurter Clubmacher aus den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts – „dann habe ich nicht umsonst gelebt!“, schluchz…

Andererseits habe ich mich tatsächlich selbst gefragt: Ja, was ist denn los?

Link zum Video: http://www.gruene-bundestag.de/medien_ID_4387997/videos_ID_4387007/medium/nohatespeech

Klar, da war das jährliche Sommerloch – Themenflaute vorprogrammiert. Das gibt es auch in der Musik. Was soll man im Juli/August schon über Songs und Interpreten schreiben? Wenn keiner da ist, der einen Aufreger produziert – und keiner, der es lesen möchte? Und dann, als ich dachte, ich könnte langsam wieder auf Themensuche gehen, wurde ich plötzlich von Kundenanfragen überrollt. Auch das eigentlich wie jedes Jahr: Denn irgendwann kommen besagte Kunden hochmotiviert aus besagten Urlauben zurück, und dann wollen sie nicht nur Neues für den Herbst an den Start bringen, sondern gleichzeitig auch noch das aufgearbeitet haben, was durch ihre Urlaube liegen blieb.

Da sind Autoren und Lektoren extrem gefragt. Und die Miete muss man ja auch irgendwie bezahlen…

Aber es gibt noch zwei andere Gründe, warum ich keine Motivation für einen neuen Blogeintrag über Songs verspürt habe: das aktuelle Flüchtlingsthema und die Flut von Hasskommentaren – in den Internetforen etablierter Medien wie in sozialen Medien. Ich hatte immer gedacht, unsere Welt, erst recht Europa und ganz besonders Deutschland seien längst weiter. Aber wie seit Wochen und Monaten auch hierzulande über Flüchtlinge debattiert wird – mal will man übereilt mehr Herkunftsländer als „sicher“ deklarieren, mal durchleuchtet man Flüchtlinge als „Wirtschaftsfaktor“, mal vermutet man hinter jedem zweiten Neuankömmling einen IS-Kämper oder Schläfer – und was irgendwelche Dummköpfe an menschenverachtendem Mist ins Internet stellen dürfen, ohne dafür belangt zu werden, das verschlägt mir schon die Sprache.

Keine Angst, es folgt keine Betroffenheitstirade, nur so viel: Menschen in Not muss geholfen werden, dabei müssen auch minimale Risiken eingegangen werden. Und: Hasskommentare sind inakzeptabel, sie müssen verfolgt und geahndet werden, weil sie nichts mit freier Meinungsäußerung zu tun haben, sondern nur mit unmenschlicher Hetze. Es kann einfach nicht sein, dass Friedensaktivisten und Antikapitalismusgegner regelmäßig mit Hilfe eines immensen Polizeiaufgebots eingekesselt werden und Neonazis, die Flüchtlingsunterkünfte angreifen, Helfer und sogar Odnungshüter verletzen, nicht belangt werden, unter anderem weil angeblich zu wenig Einsatzkräfte zur Verfügung stünden. Auch wenn das demonstrative Flüchtlingsumarmen derzeit ins fast schon Peinliche kippt: Ich finde es grundsätzlich gut, dass allmählich wieder auch solche positive, von Menschlichkeit zeugende Bilder aus Deutschland um die Welt gehen.

Vor diesem Hintergrund erscheint mir das, was die Pop- und Rockwelt so bewegt, gerade mal ziemlich irrelevant und banal. International waren wohl die kürzlich zelebrierten MTV Video Awards der größte Aufreger: Kanye West erklärte dämlicherweise, als Präsidentschaftskandidat antreten zu wollen, und eine unterbelichtete Miley Cyrus machte mit einem bescheuerten Outfit nach dem anderen von sich reden. Wenn das der Hauptgesprächsstoff und die gesellschaftlichen Impulse der Musikwelt sind, dann Gute Nacht. Und hierzulande? Machen gerade K.I.Z. und Schnipo Schranke von sich reden: K.I.Z. mit einem unnötigen Stück namens Ich bin Adolf Hitler, das – wenn man es oft genug dreht und wendet – sicher das Herz am rechten, äh, richtigen Fleck hat, aber doch etwas krampfhaft-pubertär schreit: „Ich will provozieren!“; da war Beate Zschäpe hört U2 von der Antilopen Gang schon deutlich ab- und tiefgründiger. Schnipo Schranke wiederum sind zwei ehemalige Kunstschulstudentinnen, die im späten Fahrwasser von Charlotte Roches Feuchtgebiete klassische Jugendthemen wie Einsamkeit, Beziehungsprobleme und verhasstes Spießertum in einer etwas arg kalkulierten Mischung aus Lo-Fi-Sound und provokantem Fäkalhumor bearbeiten. Ihr Song Pisse weiß ein paar Momente lang zu beeindrucken, vor allem sprachlich, hinterlässt dann aber doch nur ein gelangweiltes Achselzucken. Und spätestens wenn im Video ein Mann an den Frühstückstisch tritt, um in eine Kaffeetasse zu pinkeln – BOAAAAHHHH, ECHT JETZT, VOLL KRASS! – denkt man sich einfach nur: Drauf geschissen!

So deplatziert, selbstverliebt und hermetisch in sich abgeschlossen wirkt das alles vor dem Hintergrund des aktuellen Tagesgeschehens, dass einem die Lust, über Songs zu schreiben, auch mal vergeht. Videos schaue ich trotzdem noch gern, aber mein aktuelles Lieblingsvideo ist eben kein Musikvideo, sondern das von Grünen-Politikerin Katrin Göring–Eckardt, in dem sie nicht nur Stellung bezieht gegen „hate speech“, sondern auch den Internetgiganten Facebook auffordert, endlich etwas gegen entspechende Posts in seinem „SOZIALEN Netzwerk“ zu unternehmen.

(Link zum Video von Katrin Göring-Eckardt:
http://www.gruene-bundestag.de/medien_ID_4387997/videos_ID_4387007/medium/nohatespeech)