Birdy gibt den Cherry Ghost

Läuft zurzeit immer öfter im Radio: People Help The People, ein wunderschöner Schmachtfetzen, gesungen von der Britin Birdy, die im Mai gerade mal 17 wird.

Birdy steht für Coverversionen von Songs nicht ganz so offensichtlicher Künstler. Während andere aufstrebende Stars gerne irgendwelche Welthits neu verwursten, um auf sich aufmerksam zu machen, wählt Birdy – Hut ab! – bevorzugt In- und Kenner-Material für ihre Single-Veröffentlichungen aus. So hatte sie ihre ersten großen Erfolge mit Songs von Bon Iver (Skinny Love) und The xx (Shelter). Auch People Help The People stammt nicht von Birdy selbst, sondern von der wunderbaren britischen Band Cherry Ghost, für die ich neulich schon mal in diesem Blog geschwärmt hatte.

Die Lyrics wirken auf den ersten Blick recht simpel, erweisen sich aber bei genauerem Hinhören als ganz schön vertrackt. Sicher liegt man nicht falsch, wenn man im hymnischen Refrain die einfache, klare Kernaussage vernimmt: Menschen sollten einander helfen. „People help the people / And if you’re homesick, give me your hand and I’ll hold it / People help the people / And nothing will drag you down.“ Zu Deutsch: „Menschen helfen den Menschen (oder: Menschen, helft den Menschen!) / Und wenn du Heimweh hast, gib mir deine Hand, und ich werde sie halten. / Wenn Menschen den Menschen helfen, / wird nichts dich runterziehen…“

In den Strophen aber werden lauter Menschen angesprochen, die verschlossen oder von inneren Dämonen getrieben sind, die etwas für sich behalten, sich zudröhnen und andere Menschen verletzen – sowie Menschen, die von anderen Menschen enttäuscht werden. So heißt es in der ersten Strophe ziemlich bilderreich: „God knows what is hiding in that weak and drunken heart / I guess you kissed the girls and made them cry / Those hard-faced queens of misadventure“, und: „God knows what is hiding in those weak and sunken eyes / A fiery throng of muted angels giving love and getting nothing back.“ Also: „Weiß Gott, was sich in diesem schwachen, trunkenen Herz verbirgt… / Ich schätze, du hast die Mädchen geküsst und sie unglücklich gemacht, / diese Königinnen des Missgeschicks mit den steinernen Gesichtszügen. / Weiß Gott, was sich in diesen (deren?) schwachen, eingefallenen Augen verbirgt… / Ein flammendes Gedränge stummer Engel, die Liebe geben und nichts zurückbekommen…“

Bezeichnend sind auch die den Refrain abschliependen widersprüchlichen Verse: „Oh, and if I had a brain I’d be cold as a stone and rich as the fool / That turned all those good hearts away…“ – „Oh, und hätte ich ein Hirn, dann wäre ich einfach kalt wie Stein und so reich wie der Dummkopf, der all diese guten Herzen weggeschickt hat…“ Das klingt, als sei es womöglich schlauer, eiskalt durchs Leben zu gehen und nur nichts an sich heranzulassen, um ja keine Verletzungen zu erleiden – und gleichzeitig wird diese Haltung als letztlich „dumm“ charakterisiert. Auch im weiteren Verlauf des Songs geht es um dunkle Dinge, die sich hinter Tränen und in Lebenslügen verbergen, um die Einsamkeit, die die Menschen umschlosse hält.

Ein existenzialistisches Statement? Der Einzelne hilflos zurückgeworfen auf sich selbst und seine Abgründe, obwohl er doch in komplexen Beziehungen mit vielen anderen Menschen lebt? Ein solches Statement kann man ebenso heraushören wie den einfachen Appell an Aufrichtigkeit, Mitmenschlichkeit, Empathie. Vertrackt wirkt der Songtext, weil nicht immer klar ist, auf wen sich was bezieht – etwa das flammende Gedränge stummer Engel in der ersten Strophe – und weil sich das Song-Ich nur schwer festmachen, kaum identifizieren lässt. Über weite Strecken scheint der Sprecher von außen auf die Welt und das deprimierende Mit- bzw. Gegeneinander der Menschen zu blicken. Ist er wirklich in der Lage, zu helfen, eine Hand zu reichen, wenn es jemandem schlecht geht?

Aber vielleicht haben wir es hier auch gar nicht mit einem durchgehenden Ich-Sprecher zu tun, der seine Gedanken über die Welt und die Menschen äußert, sondern nur mit als O-Tönen in Ichform wiedergegebenen Haltungen einzelner Menschen. Oder mit möglichen Haltungen. „Wie schön wäre es, wenn die Menschen einander helfen würden“, mag sich mancher denken, „wenn du Heimweh oder andere Schwierigkeiten hättest, dann würde ich dir einfach meine Hand hinhalten.“ Während sich jemand anders vielleicht sagt: „Könnte ich doch nur gefühl- und herzlos sein, dann hätte ich weniger Probleme, so dumm das auch wäre.“ „No one needs to be alone, oh, save me“, heißt es an einer anderen Stelle, also: „Niemand muss einsam sein, oh, außer mir“, worin sich wiederum eine weitverbreitete Haltung des Selbstmitleids andeuten könnte.

Ob Montage von Haltungen und Beobachtungen oder Gedankengang eines einheitlichen Ich-Sprechers – People Help The People ist auf jeden Fall ein Song, über den man herzhaft nachdenken kann. Und den man sich unbedingt auch im (natürlich tausend Mal besseren) Original von Cherry Ghost anhören sollte!

frei.wild oder: Das fiese Handwerk des Falsch-verstanden-Werdens

Als Song- und Lyrics-Freund muss ich manchmal leiden. Es sind jedoch nicht 08/15-Songs und Klischeetexte, die mich leiden lassen – die gehören einfach dazu und haben oft sogar einen gewissen Trash- oder anderen Unterhaltungswert; nein, es sind Songs und Lyrics, die miese Assoziationen wecken, die vom Hörer verlangen, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob ihre Urheber Frauen- oder Schwulenfeinde, Antisemiten oder Neonazis sind.

Das letzte Mal habe ich wegen Xavas gelitten: Ihr selten dämlicher Song Wo sind sie? hatte kaum belegbare „Ritualmorde an Kindern“ (ein echtes Nicht-Thema) angeprangert und dabei unnötigerweise Antifaschisten sowie Lesben- und Schwulenorganisationen auf den Plan gerufen, die jede Menge Unkorrektes herausgehört haben wollten. Meine genauere Analyse mündete dann in eine Verteidigung des Künstlerduos, allerdings in eine schlechtgelaunte. Wie blöd kann man nur sein?, hätte ich Xavier Naidoo und Kool Savas am liebsten zugerufen.

Aktuell lässt mich frei.wild leiden, jene Band, wegen der sich Kraftklub und Mia von der Echo-Nominiertenliste streichen ließen. Und diesmal springt nicht mal eine schlechtgelaunte Verteidigung dabei heraus. Denn die Südtiroler „Deutschrocker“ kotzen mich einfach nachhaltig an. Seit Jahren schon streiten sie eine rechtsradikale Gesinnung ab, äußern sich sogar in Songtexten gegen Neonazis – und tun doch alles, um diese leidige Diskussion immer wieder zu befeuern, unter klammheimlichem Beifall von Teilen der rechten Szene.

Da sind Widersprüche – etwa wenn die Band einerseits behauptet, unpolitisch zu sein, und andererseits anprangert, dass Südtirol zu Italien gehört. Da ist ein widerwärtiger Jargon, der nicht nur allen Ernstes und im Brustton der Überzeugung mit Ewiggestrigen-Vokabular wie „Heimat“, „Ahnen“ und „Brauchtum“ um sich wirft, sondern auch voller Drohgebärden gegen Andersdenkende steckt, bis hin zur Thematisierung körperlicher Gewalt. Und da ist die abstoßende Selbststilisierung der Bandmitglieder zu Märtyrern, die allen Anfeindungen von Heuchlern und Moralaposteln zum Trotz ihren Weg gehen.

frei.wild fordern ein, dass man genau hinhört – aber je genauer ich hinhöre, je mehr Songs und Videos ich im Internet anspiele, desto abgetörnter bin ich. Es ist eine Band, die nicht in der Lage ist, aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen angemessen, ernst oder humorvoll zu reflektieren und sich stattdessen vor allem übers Nicht- oder Falsch-verstanden-Werden und übers verbale Zurückschlagen definiert. Beides bedingt und ergänzt sich gegenseitig: eine armselige Masche – und eine miefige Nische, in der es sich frei.wild auf ärgerliche Weise bequem gemacht haben. Wer nichts mit Extremismus, Nationalismus, Faschismus, Drohungen und Gewalt am Hut hat, braucht einfach nicht davon zu singen und hat es auch nicht nötig, sich ständig selbstverliebt zu rechtfertigen. So einfach ist das.

Ansonsten verweise ich auf die gelungene Analyse, die Christoph Twickel vor ein paar Tagen für SPIEGEL Online geschrieben hat: Für Twickel transportiert frei.wild ganz klar die Botschaft: „Offensiv vor sich hergetragener Patriotismus ist okay“. Die Band vertrete konservative Werte, verkaufe „ihre Positionen als Tabubrüche“, „als ‚Gegenkultur’ zu einer vermeintlich verlogenen Mehrheitsgesellschaft“ und äußere „Gewaltphantasien und Verwünschungen gegen die anonymen Gegner“. In Twickels Analyse kommt auch ein Aussteiger aus der Nazi-Szene zu Wort. Für ihn „ist die Band genau wegen des angeblich unpolitischen Patriotismus ‚furchtbar gefährlich’: ‚Was sie auf jeden Fall tun: Sie relativieren Rechtsextremismus.’“

Dem ist nichts hinzuzufügen – außer dem beunruhigenden Hinweis, dass frei.wild nicht etwa ein Randgruppenphänomen mit unerheblichen Verkaufszahlen darstellen, sondern regelmäßig Top-Ten-Platzierungen in den Charts erreichen. Deshalb waren sie ja auch zunächst für den Echo nominiert. Das vor allem lässt mich leiden, nicht nur als Song- und Lyrics-Freund.

Frauenfußball-EM 2013: Auf den richtigen Song kommt es an

Deutschland im Fußballfieber. Neben der Bundesliga verspricht auch die Champions League packende Duelle. Und mit der Frauen-Fußballeuropameisterschaft, die im Juli 2013 in Schweden ausgetragen wird, wirft bereits ein weiteres Highlight seine Schatten voraus. Einen etwas bemüht wirkenden Stadion-/Fansong mit prägnanten Zeilen wie „Macht das Ding rein“ gibt es schon für das Team von Bundestrainerin Sylvia Neid – jetzt bin ich gespannt, welchen Ohrwurm sich die deutschen Fernsehsender als Soundtrack für ihre Berichterstattung aussuchen werden. Zum letzten großen Frauenfußballturnier, der WM 2011 „im eigenen Land“, hatte man sich zwar ein starkes Lied herausgepickt, aber mit Blick auf das zu begleitende Sportereignis war das Ganze reichlich fragwürdig.

Bestimmt haben Frida Gold damals die Champagnerkorken knallen lassen, als sie erfuhren, dass das ZDF seine WM-„Bilder des Tages“ mit ihrem dynamischen Dancefloor-Kracher Wovon sollen wir träumen? unterlegen würde. Tatsächlich liefen an allen WM-Übertragungstagen zwischen 26. Juni und 17. Juli immer wieder Schnipsel aus dem Song, und natürlich war es vor allem der höchst eingängige, dramatische Refrain, den man brachte. Die Häufigkeit der Einspielungen und die Kombination mit spektakulären Fußballszenen machten Wovon sollen wir träumen? zur inoffiziellen Hymne des Turniers und Frida Gold, eine Newcomerband aus dem Ruhrgebiet, quasi über Nacht zu Stars.

Natürlich gönnt man dem ungewöhnlichen Quintett den Erfolg, der mit weiteren starken Stücken untermauert wurde. Aber war ihr Erfolgssong überhaupt kompatibel mit dem WM-Turnier? Passte er wirklich zur Erwartungshaltung von halb Fußballdeutschland, dass „unsere Mädels“ daheim den Titel holen würden? Klar, der erste Refainvers schien zu passen wie die Faust aufs Auge: „Wovon sollen wir träumen?“, fragte er fast schon rhetorisch, und jeder deutsche Fußballfan antwortete im Geiste: Natürlich von der WM-Trophäe! Aber das war’s dann auch schon mit eventuellen Bezügen zwischen Lied und Turnier, auch wenn sich die Band selbst in einem ZDF-Beitrag mühte, diese Bezüge zu bestätigen. Fakt ist: Der Einsatz im Rahmen der ZDF-„Bilder des Tages“ riss nicht nur den Refrain aus seinem Kontext, sondern stellte auch den gesamten Song in einen völlig anderen Kontext, mit dem zusammen er in zigtausend Hirnen abgespeichert wurde. Eine Songmisshandlung erster Güte.

Wovon handelt Wovon sollen wir träumen? Auf keinen Fall von Höhenflügen, sondern exakt vom Gegenteil – von Absturz und Hoffnungslosigkeit. Gleich die ersten Verse präsentieren ein Ich, das ausgiebig feiert und das Leben genießt, dabei aber seine Energie verschwendet. Tagsüber ist es müde und antriebslos, die Euphorie der Nacht weicht Traurigkeit, wahrscheinlich auch Schuldgefühlen: „Ich bin mitten drin / Und geb mich allem hin 
/ Aber schaut man hinter die Kulissen 
/ Dann fängt es immer so an / Ich schlafe immer zu lang / Krieg’s nicht hin und fühl mich deshalb beschissen.“ Wahlloser Konsum vorbei an den eigentlichen Bedürfnissen und die sinnentleerte Orientierung an Superlativen sprechen aus den nächsten Versen. Außerdem formuliert das Ich eine kitschige Sehnsucht nach dem Partner fürs Leben: „Ich erkenn mich nicht 
/ In den Schaufensterscheiben /
Entdecke nichts, was mir gefällt /
Ich brauch die schönsten Kleider 
/ Und die stärksten Männer /
Und eine Hand, die meine Hand für immer festhält.“

Der Refrain umreißt dann die existenzielle Trostlosigkeit, die das Ich empfindet. Es spricht nicht nur für sich selbst, sondern für eine ganze Gruppe von Menschen, womöglich für eine Generation. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie keine echten Träume, keine Visionen mehr hat und nichts, woran sie glaubt. Und: Diese Generation ist, wie sie ist – sie scheint sich auch nicht ändern zu können: „Wovon sollen wir träumen? /
So wie wir sind, so wie wir sind, so wie wir sind 
/ Woran können wir glauben? 
Wo führt das hin? Was kommt und bleibt? So wie wir sind…“ Diese Verse reichen eigentlich schon, um zu zeigen, wie sehr der ZDF-Einsatz dem eigentlichen Anliegen der Lyrics entgegenläuft. Machen wir trotzdem noch einen Sprung ins letzte Drittel des Songs. Auf die zweite Strophe, die die Grundgedanken fortführt, und einem weiteren Refrain folgt ein Zwischenteil, der die eingangs geäußerte Sehnsucht nach dem Partner fürs Leben als trügerisch entlarvt: „Wir lassen uns treiben durch die Clubs der Stadt / 
Durch fremde Hände, und wir werden nicht satt
/ Wir wachen dann auf bei immer anderen Geliebten /
Von denen wir dachten, dass wir sie nie verlassen.“ Das Ich ist offenbar nur zu kurzlebigen Affären fähig und betrügt sich damit immer wieder selbst. Und es kommt noch düsterer: Eine Atemlosigkeit, mit der auch Asthmaanfälle gemeint sein können, eine mangelnde Ernährung, in der sich auch Magersucht andeutet, dazu ein übertriebener Alkoholgenuss – das alles untermauert die letztliche Orientierungs- und Heimatlosigkeit des Ichs, die völlige Ausweglosigkeit seiner Situation: „Wir können nicht mehr atmen und vergessen zu essen /
Wir trinken zu viel, es bleibt ein Spiel ohne Ziel / Wann hört das auf?
Wann kommen wir hier raus? /
Wovon sollen wir träumen? 
Wo sind wir zu Haus? / Wo sind wir zu Haus? Wo sind wir zu Haus?“

Ich würde mal sagen, euphorische Songstatements, die man mühelos auf den Willen zu sportlichem Erfolg übertragen kann, hören sich anders an. Immerhin erwies sich der ZDF-Einspieler aus deutscher Sicht im Nachhinein als unfreiwillig visionär. Denn Birgit Prinz & Co schieden viel zu früh aus dem WM-Turnier aus, erreichten noch nicht einmal das Halbfinale. Sicher war dabei auch Pech im Spiel. Doch muss man ebenso festhalten, dass die Hoffnungsträgerinnen unter dem immensen Druck der öffentlichen Erwartungshaltung meist verkrampft aufgetreten waren und ihr eigentlich vorhandenes Potenzial nur selten hatten abrufen können. „Wovon sollen wir träumen, so wie wir sind?“ – mit dieser ernüchternden Einsicht in die eigenen Schwächen passte der Frida-Gold-Song nach dem deutschen WM-Aus deutlich besser. Er war jetzt so etwas wie ein trauriger Epilog. Und die nachträgliche Bestätigung dafür, dass Sportteams mit einer derart belastenden Songmisshandlung auf dem Buckel einfach keine Trophäen gewinnen können.

Mehr Songmisshandlungen in meiner Essayreihe „What have they done to my song?“ auf www.faust-kultur.de