Verbrechen lohnt sich …

Von Bushido über 4 Blocks bis Nur Gott kann mich richten: Warum ist es plötzlich so schick, rappende Halbwelt-Machos zu Kino- und Serienstars zu machen?

Vanessa Schneider von „puls“, dem jungen Programm des Bayerischen Rundfunks, ist total geflasht: „Abbas, gespielt von Rapper Veysel, und Frederick Lau als Vince haben eine irre Chemie“, freut sich die Autorin im Mai 2017 auf der Website des BR. „Die beiden spielen mit einer Ernsthaftigkeit und Brutalität – ich spüre jeden der ungezügelten Schläge, jeden Blick. Und das ist so ungewohnt, so aufregend, dass ich beim Schauen Schmetterlinge im Bauch hab. Genau wie der Berliner Rapper Massiv gibt Veysel Gelin in ‚4 Blocks’ sein echt beeindruckendes Schauspieldebüt. Er hat seine Rolle auf der Straße gelernt: Wegen Körperverletzung mit Todesfolge hat er drei Jahre im Knast gesessen.“

Aua …

Auch Daniel Krüger vom „Musik Express“ ist trotz kleiner Irritationen total fasziniert vom neuen deutschen TV-Serien-Highlight 4 Blocks: „Ein Choreograph erklärt, wer jetzt gleich wen und wie schlagen soll“, beschreibt er Eindrücke vom Set. „Mehrere Takes werden gedreht, nur ein Darsteller braucht kaum Anweisungen: Veysel saß nämlich wegen Körperverletzung mit Todesfolge im Gefängnis. Gefühlt halten alle Beteiligten kurz den Atem an, sobald der Hüne die jungen Darsteller am Genick packt und durch den Raum schleudert. Dieser Moment ist ‚4 Blocks’ in Reinkultur. Gefilmt wird Fiktion, genährt wird sie von unangenehm viel Wirklichkeit.“ Das Unangenehme fällt aber nicht weiter ins Gewicht, denn schon wenig später schwärmt der Autor von den Straßen Neuköllns, „die durch Drohnenaufnahmen und Farbfilter besonders verführerisch wirken.“ Als wäre ihm doch nicht ganz wohl bei der Sache, dimmt Krüger die Hoffnung auf eine baldige zweite Staffel und seine Begeisterung am Schluss ein wenig herunter: „Statisten und Nebendarsteller der Serie kommen zusammen auf ein hübsches Vorstrafenregister. Kunstnebel und Rapsongs erinnern aber daran, dass das, was hier gedreht wird, am Ende doch Entertainment und keine erhellende Doku sein soll.“

Unterhaltung oder grausame Realität?

Na, was denn nun: Wirklichkeit oder Fiktion? Entertainment oder Doku? Genau in dieser Spannung liegt in meinen Augen das Befremdliche an 4 Blocks: Einerseits beansprucht die Serie ein ungewöhnliches Maß an Authentizität, das ihr von der Kritik auch fasziniert bescheinigt wird; andererseits versucht man sich genau von dieser Authentizität immer wieder zu distanzieren. Denn sonst müssten die Macher genauer erklären, wieso sie Ex- und Nochkriminellen den Weg ins Filmgeschäft ebnen, um eine faszinierende Gangsterwelt aus der Innenperspektive zu zeigen, die Gangster auch als Sympathieträger etabliert. Und Fans müssten sich intensivere Gedanken darüber machen, wieso sie eigentlich „Schmetterlinge im Bauch“ haben, wenn ihnen so viel ernsthafte Gansterbrutalität von Leinwand und Bildschirm entgegenschlägt. Wie gesagt: Neben Rapper Veysel ist auch der einschlägig bekannte Massiv in 4 Blocks mit von der Partie, jener reimende Körperverletzer, der 2008 als erster Rapper in Deutschland Opfer eines Attentats mit Schusswaffe wurde. Noch heute hört man hin und wieder das Gerücht, Massiv habe damals den Vorfall selbst inszeniert, um seine Musik zu promoten. Mit Gzuz, einem Mitglied der berüchtigten 187 Straßenbande, stieß inzwischen ein weiterer Rapper mit mehrjähriger Hafterfahrung zur gefeierten Darstellerriege von 4 Blocks. Auch er darf sich freuen: Denn das Gangsterepos wird mit einem Fernsehpreis nach dem anderen ausgezeichnet.

Die 4 Blocks-Macher behaupten, sie hätten sich an der amerikanischen Erfolgsserie Die Sopranos orientiert, die ebenfalls Einblicke in einen kriminellen Clan gewährt, einen Mafia-Clan. Nicht umsonst hört auch bei ihnen die Hauptfigur auf den Vornamen Tony. Es gibt für mich aber einen feinen Unterschied zwischen beiden Serien: Die Sopranos spielten damals mit der Doppeldeutigkeit des Begriffs „Familie“ und arbeiteten das Pathologische am Ehrverständnis der Mafia und an katholisch geprägten Vorstellungen wie „Mutter/Heilige/Hure“ heraus. Der tragische „Held“, „Familien“-Vater Tony Soprano, kriegt das brutale Verbrechens-Business, die anstrengende Gattin, seine komplizierten Affären, die heftigst pubertierenden Kinder, die unbeherrschten eigenen Handlanger und die konkurrierenden Clans allmählich nicht mehr auf die Reihe und unterzieht sich einer Psychotherapie. Mafiosi am Rande des Nervenzusammenbruchs – eine höchst groteske Grundidee. So waren Die Sopranos tatsächlich im Kern eine Familienserie, aber eine extrem artifizielle. Der brutale Mafia-Kontext lieferte so etwas wie einen Verfremdungseffekt, mit dem sich Alltagsprobleme überlebensgroß verhandeln ließen. Tony Sirico, der einzige Exkriminelle unter den Darstellern, hatte seine Mafiavergangenheit bereits mehr als ein Vierteljahrhundert zuvor hinter sich gelassen.

4 Blocks dagegen bewegt sich mit der Inszenierung einschlägig bekannter aktueller Szenegrößen gefährlich nah an der Romantisierung des kriminellen Milieus, am nägelkauend-faszinierten Feiern eines Gangster-Lifestyles. Klar, da ist die von Frederick Lau gespielte Figur eines innerlich zerrissenen Undercover-Agenten, und da ist eine weitere besondere Ausgangslage: Der vor dem Krieg geflüchtete libanesische Clan-Chef Tony ist nur deshalb kriminell geworden, weil er auch nach vielen Jahren in Deutschland noch keine Arbeitserlaubnis bekommen hat – und eigentlich will er die Kriminalität hinter sich lassen. Das alles bricht die Faszination ein wenig, macht auch Abgründe deutlich und bringt das Thema der gescheiterten Integration ins Spiel. Aber: Die kriminelle Energie und Kaltblütigkeit, mit der diese „Verzweifelten“ hier ans Werk gehen, sind doch sehr beachtlich. Wenn Migranten angesichts einer mangelhaften deutschen Integrationspolitik automatisch derart kriminell werden müssen – was sagt das über Migranten? Schließlich wird das Zusammenschlagen von unbescholtenen „Hipstern“ fast schon reißerisch-genüsslich inszeniert. Wirklich spannend und beeindruckend finde ich das jedenfalls nicht.

Wenn die Realität das Genre killt

Noch offensichtlicher offenbart sich diese befremdliche Konstellation im aktuellen Kinothriller Nur Gott kann mich richten mit Moritz Bleibtreu in der Hauptrolle. Der harte Gangsterstreifen versteht sich als Genrethriller, er arbeitet mit fast schon ausgelutschten Handlungs- und Gefühlsbausteinen. Als da wären: der todsichere letzte Coup, der gewaltig schiefgeht; die lebenswichtige Operation eines Kindes, für die verzweifelte Eltern eine Unsumme Geld benötigen; Loyalität und Verrat; oder die obligatorische „Spirale der Gewalt“, in der alles endet. Dass es hier mal eine Polizistin ist, die mit Blick aufs benötigte OP-Geld kriminell aktiv wird und so diversen Gangstern in die Quere kommt, überrascht nur kurz, zu abgedroschen wirkt das Schuld- und Sühne-Pathos insgesamt. Auch bei dieser Produktion freuen sich Kritiker über den tollen Look, den die Drehorte Frankfurt und Offenbach lieferten: „Sehr drastisch, aber doch glaubwürdig, wird in dem Film in den Straßen beider Städte ein Schatten-Milieu inszeniert“, lobt das Portal „OP-Online“. Andere Rezensenten überschlagen sich ob der Wucht, mit der hier amerikanische Genreklassiker von Abel Ferrara, Michael Mann oder Martin Scorsese auf deutschem Boden nachempfunden wurden. Fiktion! Thrillerghlight! Mitreißende Filmkunst!

Alles in Ordnung also? Nicht ganz. Denn auch hier sorgen aktuelle Gangsterrapper und echte Gangster für eine merkwürdige „Authentizität“. Als schillernder Nebendarsteller und Lieferant des Filmsoundtracks fungiert etwa Rapper Xatar, dessen Halbweltaktivitäten 2009 die ebenso aufschlussreiche wie erschütternde 3sat-Doku Westside Kanaken schilderte. Auch Xatar hat in seinem Leben schon ordentlich Körper verletzt und saß wegen des hollywoodreifen Überfalls auf einen Geldtransporter im Knast. Zuletzt produzierte er die rappende Ex-Prostituierte Schwesta Ewa, die letztes Jahr wegen Steuerhinterziehung und Körperverletzung verurteilt wurde. Dass sie selber in Frankfurt Frauen zum Anschaffen gezwungen hat, wird vermutet, konnte aber nicht nachgewiesen werden. Auch Schwesta Ewa ist auf dem Soundtrack zu Nur Gott kann mich richten vertreten, und natürlich weilte sie mit ihrem Mentor Xatar auf der Frankfurter Kinopremiere im Metropolis, Blitzlichtgewitter und roter Teppich inklusive. Auf letzterem freute sich Moritz Bleibtreu, der nach zahlreichen Milieu-Rollen fast schon selbst wie ein smarter Gangsterboss wirkt, über einen besonders schönen Effekt seines neuen Films. „Ich bin irre stolz, dass wir es geschafft haben, Leute aus den verschiedensten gesellschaftlichen Milieus zusammenzuführen“, so wird er Ende Januar in der „Frankfurter Rundschau“ zitiert.

Aber was ist eigentlich plötzlich so schick daran, Gangsterrapper und Schwerkriminelle ins Rampenlicht zu rücken, sie zu glamourösen Stars aufzubauen, gern noch mit Mitteln der Filmförderung? Wieso sind Halbweltgrößen auf einmal gesellschaftsfähig? Weshalb werden ihren oftmals stereotypen prolligen Sex-and-Crime-Lyrics weitere Vertriebskanäle eröffnet? Und wozu sollen so unterschiedliche „gesellschaftliche Milieus“ überhaupt zusammengebracht werden? Gegen gutes Genrekino an sich ist ja nichts einzuwenden. Gutes Genrekino spielt kreativ mit den bekannten Handlungsmustern, verhandelt in extremem, verfremdendem Gewand gesellschaftliche Fragen und Probleme. Gutes Genrekino ist packende, erhellende Fiktion. Sobald Genrekino aber mit einem seltsamen Authentizitätsverständnis feiste Milieugrößen einbindet, die sich eigentlich ganz pudelwohl fühlen mit Knarren und all dem, was sie im Alltag tun, dann wird es problematisch. Dann flirtet es verführerisch mit der Halbwelt, biedert sich romantisierend der düsteren Realität an. Es beraubt sich nicht nur seiner dramaturgischen Möglichkeiten, sondern auch seines Zaubers.

Kluft zwischen Verkaufs- und Radio-Charts

Die Autoren von 4 Blocks geben bei „business-punk.com“ an, sie hätten ihre Milieu-Geschichte einmal radikaler erzählen wollen, auch um auf Schwächen des deutschen Ausländerrechts aufmerksam zu machen. Nun ja – angesichts der wesentlich älteren Sopranos (1999–2007) und der ebenfalls mit Innenperspektive arbeitenden Rockerserie Sons of Anarchy (2008–2014), deren Grundidee Shakespeare’s Hamlet variiert, scheint mir dieser Ansatz überhaupt nicht mehr so radikal. Ein Grund für den seltsamen Echte-Gangster-im-Film-Trend könnten auch die unglaublichen Erfolge sein, die Gangsterrap nicht nur hierzulande in den Verkaufscharts feiert. Es besteht eine regelrechte Kluft zwischen der mal harmlosen, mal geschmäcklerischen Popmusik, die täglich im Formatradio oder in tollen kleinen Nischenradiosendungen gespielt wird, und dem „harten Zeug“, das die Kids hören, wenn sie unter sich sind. Gangsterrap verkauft sich da wie geschnitten Brot, erzielt regelmäßig Topplatzierungen und -reichweiten, ohne jemals im Radio zu laufen. Die Promotion erfolgt über Youtube und soziale Medien, wo Haftbefehl, Xatar, Massiv und 187 Straßenbande, Farid Bang und zig andere mit ihrem Fließband-Output gefeierte Größen sind, auch bei Kids aus Mittel- und Oberschicht. Apropos Farid Bang. Hier ein paar aktuelle Textzeilen aus dem Song AMG, Anfang 2018 gemeinsam veröffentlicht mit Fler: „Aus dem Lamborghini zieh’ ich diese Carolin in den Jeep / Und die alte Bitch wird im Wald gefickt wie Aborigine (…) Fick Alice Schwarzer mit ’ner Horde schwarzer Alis …“ Yo, Mann, das ist der Stoff, der Fanherzen höher schlagen lässt. Was liegt da näher, als die coolen harten Jungs zusätzlich ins Filmgeschäft zu bringen und sich über Actionstreifen und Krimiserien, aber auch über die dazugehörigen Soundtracks ein Stück vom großen Kuchen abzuschneiden?

Ein weiterer – respektablerer – Faktor könnte Rehabilitation sein. Resozialisierung, das Heimholen in den Schoß der Gesellschaft. Nach dem Motto: Überlasst die gefallenen Engel nicht ihrem Schicksal, holt sie ins Boot. Öffnet ihnen die Tür zu einer bürgerlichen Existenz, zeigt ihnen einen Weg raus aus dem Milieu. Es ist ein bewundernswerter Ansatz, der leider nicht immer funktioniert. Erinnert sei an den ehemaligen Kleinkriminellen Bushido, dem Regisseur Uli Edel und Produzent Bernd Eichinger 2010 mit Zeiten ändern dich schon früh ein Kinodenkmal setzten. Plötzlich war der umstrittene Erfolgsrapper gesellschaftlich rehabilitiert, machte sogar ein Kurzpraktikum im Bundestag. Spitzenpolitiker und andere Prominente ließen sich gern mit dem ehemaligen „bad boy“ ablichten und fühlten sich gleich ein bisschen „taffer“, „gefährlicher“, was teilweise an Peinlichkeit nicht zu überbieten war. Und dann? Brachte Bushido 2013 zusammen mit Rapkollege Shindy den Skandalsong Stress ohne Grund heraus. Textkostprobe: „Halt die Fresse, fick die Presse – Kay, du Bastard, bist jetzt vogelfrei / Du wirst in Berlin in deinen Arsch gefickt wie Wowereit / Yeah, fick die Polizei: LKA, BKA (…) Ich verkloppe blonde Opfer so wie Oli Pocher (…) Und ich will, dass Serkan Tören jetzt ins Gras beißt (…) Ich schieß’ auf Claudia Roth und sie kriegt Löcher wie ein Golfplatz.“ Klar war das genretypisches Dissen, aber doch in einer Respektlosigkeit und Aggressivität formuliert, die vor allem ein Ziel hatte: dem gesellschaftlichen Establishment den Mittelfinger zu zeigen. In einem „ZEIT“-Interview vom Juni 2017 verriet Bushido außerdem, dass er nicht viel vom Grundgesetz halte, nicht wählen gehe und ganz froh über seine umstrittenen Verbindungen zum kriminellen Abou-Chaker-Clan sei. So viel zum Thema Resozialisation, Rehabilitation, Integration.

„Hey, ich deale mit Drogen. Wie cool!“

Auch bei Xatar und Schwesta Ewa bin ich mir nicht sicher, ob sie überhaupt an so etwas wie Rehabilitation oder einer bürgerlichen Existenz interessiert wären. Zu kraftstrotzend-selbstverliebt sind ihr Auftreten, ihre Beats und ihre Texte. Interessant in diesem Zusammenhang war der Hip-Hop-Kongress „Sex, Money & Respect“, der im Dezember letzten Jahres im Frankfurter Mousonturm stattfand. Dort packte die Expertin Tricia Rose die Entwicklung des Gangsta-Rap in ein treffendes Bild: Damals hätten Straßenrapper ihre prekäre Lage so formuliert: „Ich deale mit Drogen, weil ich anders meine Familie nicht ernähren kann.“ Heute dagegen hieße es millionenschwer: „Hey, ich deale mit Drogen! Wie cool!“ Aktuelle Gangsterrapper, so Tricia Rose weiter, hätten 500 verschiedene Begriffe für Frauen parat, und 499 davon seien wenig schmeichelhaft. Xatar & Co gehören für mich in diese zweite Kategorie, sie verkaufen ihr „Gangsta-“ und Milieu-Dasein via Musik als glamourösen, lukrativen Lifestyle, verdienen ordentlich Kohle damit. Der mit billigen Autotune-Effekten lieblos dahingeworfene Titelsong zum Bleibtreu-Film enthält Dumpfbackenzeilen wie „Die Heuchler, sie lachen mir in meine Fresse / Sie kamen zu mir, und sie aßen mein Essen.“ Außerdem heißt es: „Der Richter kann mich zwar verurteilen, aber nur Gott kann mich richten“ oder: „Rotzende Richter auf Weißwein / Was denkst du, wer du bist / Dass du mit dei’m Mundgeruch über meine Existenz urteilst / Für dich ein Verbrecher, doch in meiner Welt / Macht dich ein Coup zum King.“ Natürlich kann man solche Verse genretrunken schwerst biblisch und herrlich schicksalhaft mit Blick auf die Filmhandlung deuten. Darüber hinaus aber lassen sie auch an Bushidos Mittelfinger denken. Botschaft: Eure Werte und Moralvorstellungen sind mir scheißegal! Soziale Härte? Hab ich lange hinter mir. Reue? Spüre ich nicht. Politisches Statement? Bleibt mir fort! Integration? Pah! … Und die Kids sind fasziniert. Labileren unter ihnen könnte das Ganze sogar als attraktives Lebens- und Geschäftsmodell erscheinen.

Gangster sind nur cool, solange man selbst keine in die Fresse kriegt

Nun kann man einmal mehr argumentieren: Ist doch alles nur ein Rollenspiel, überhaupt nicht ernst gemeint. Und genau so scheinheilig argumentieren Gangsterrapper ja häufig auch, wenn sie von den Medien zu ihren Texten befragt werden. Da beschreiben sie sich gerne als engagierte Straßenreporter oder als Künstler, die in fremde Charaktere schlüpfen. Vor den Fans und in der eigenen Community aber zelebrieren sie ihre Songs als authentischen Ausdruck ihres unbesiegbaren Egos, das sich nimmt, was es will, und alle anderen plattmacht. Da ist es dann wieder, das gangsterrapspezifische Changieren zwischen bloßem Entertainment und selbstverliebter Dokumentation der eigenen Haltung – eine clever schillernde, aber irgendwann auch nervende Strategie, die von allen bösen Jungs Bushido am perfektesten kultiviert hat. Sie passt in eine turbulente Zeit, in der gewinnt, wer am rücksichtslosesten bescheißt oder anderen brutal seinen Willen aufzwingt, wer alles aus dem Weg räumt, was ihm nicht passt. Eine Zeit, in der Schauspieler und skrupellose Unternehmer Staatspräsidenten werden, in der Staatspräsidenten zu Diktatoren mutieren. Eine Zeit, in der Topmanager trotz unterirdischer Leistungen gigantische Bonuszahlungen erhalten und gewievte Banker weltweite Finanzkrisen auslösen. In der Autokonzerne trotz großangelegten Betrugs der Verbraucher ihre Umsätze steigern und Lobbys aller Art gnadenlos ihre Interessen durchsetzen.

Vielleicht sind Gangsterrapper und Gangster ein besonders spektakuläres Symbol oder auch ein Spiegel dieser unserer Zeit – sie zeigen, dass man es mit wenig Talent und etwas krimineller Energie sehr weit bringen kann. Die 4 Blocks-Macher, so noch einmal „business-punk.com“, „suchten den Kontakt zu den wichtigen Leuten in der Unterwelt von Berlin-Neukölln“ und schwärmten vom „sehr respektvollen Umgang miteinander“, ja, sie durften sogar die Frauen von Clanmitgliedern interviewen. Wie geil war das denn? Dabei ist es doch so: Gangster sind nur cool, solange man selbst keine in die Fresse bekommt. Dass wir sie in Filmen überhöhen, sie ins Rampenlicht rücken und zu Stars machen, dass ein Redakteur von „VICE.com“ sich zu dem Thrill bemüßigt fühlt, „die Serie mit echten Neuköllner Gangstern zu gucken, eine Art Qualitätskontrolle mit Leuten vom Fach“, das mutet schon ein bisschen schizo an. Oder soll das eine andere Erkenntnis untermauern: dass wir vielleicht alle ein bisschen kriminell sind? Wer weiß … Auf jeden Fall scheint kriminelle Energie heutzutage den Einstieg ins Filmgeschäft zu erleichtern. Dort warten Drehbuchschreiber und Regisseure, die nach entsprechend brisanten Stoffen gieren. Und so zeichnet sich ein Trend ab, der noch weitere einschlägige Highlights hervorbringen könnte: Drahtzieher der Finanzkrise und der Autoabgasschweinereien als gut bezahlte Berater in entsprechenden Hollywood-Aufarbeitungen ihrer „Leistungen“; Guantanamo-Wärter mit Schaupieltalent in einer abgründigen Familienserie; Larry Nassar, die zentrale Figur im Missbrauch über 100 junger US-Turnerinnen, als Nebendarsteller in einem zweiteiligen Dokudrama; der Kannibale von Rothenburg als Off-Sprecher einer hintergründigen Parabel aufs Fressen und Gefressenwerden. Und so weiter und so fort. Ich frage mich ja schon manchmal: Sind wir eigentlich bescheuert? Oder bin ich langsam zu alt für diesen Scheiß?

Bei meiner Seele – warum muss nun auch noch Xavier Naidoo den Ärzte-Song „Junge“ covern?

Herrgott noch mal, was ist bloß in Xavier Naidoo gefahren? Hat sich neulich erst mit Kool Savas und dem völlig verunglückten Kindermörderrächersong Song Wo sind sie? fast ins Abseits gesungen – und unterzieht nun auf seinem neuen Album, das den salbungsvollen Titel Bei meiner Seele trägt, ausgerechnet den Ärzte-Song Junge einer unpassend weinerlichen Coverversion. Dabei ist es gerade mal ein Vierteljahr her, dass Heino das größtmögliche Überraschungsmoment und den ultimativen Unverschämtheitsbonus aus diesem Stück herausgeholt hat.

Zur Erinnerung: Junge nimmt spöttisch die Perspektive verständnisloser Eltern ein, die nicht verstehen können, warum ihr Sohn lieber abgerissene Klamotten trägt, laut Musik macht und mit Gleichgesinnten abhängt, anstatt sich fleißig um den Aufbau einer bürgerlichen Existenz zu bemühen: „Guck dir den Dieter an, der hat sogar ein Auto!“ – „Es ist noch nicht zu spät, dich an der Uni einzuschreiben!“ – „Und wie du wieder aussiehst, Löcher in der Nase und ständig dieser Lärm!“ Den Eltern im Song ist es nicht nur wichtig, die Fassade aufrechtzuerhalten („Was soll’n die Nachbarn sagen?“), sie versuchen auch, ihren Jungen emotional zu erpressen: „Willst du, dass wir sterben?“ Eine Einstellung, der vor allem der punkrockige Refrain den Mittelfinger zeigt.

Nun kann man von Heino halten, was man will, aber mit seiner Coverversion von Junge landete der biedere Volksmusikbarde einen echten Coup. Inbrünstig, selbstbewusst, in staatstragender Hoch auf dem gelben Wagen-Manier schmetterte Heino den Song, als wolle er sagen: Euch werd ich’s zeigen, ihr Rotzlöffel! Und wisst ihr was? Die Eltern im Song haben verdammt noch mal recht! „Junge, brich deiner Mutter nicht das Herz!“, das klang so unverschämt anrührend nach Freddy Quinn, dass die Ärzte zumindest einen Moment lang wie kleine dumme Jungs dastanden. Den Song einfach mal frech gegen seine respektlosen Urheber gewendet – da fiel selbst coolsten Musikern und abgebrühtesten Szenejournalisten die Kinnlade runter.

Doch was macht nun Herr Naidoo? Trägt Junge vor, als wolle er das „Wort zum Sonntag“ sprechen. Ersetzt lärmenden Punk und feisten Schlager-Sound durch unpassend nachdenkliche Soulgrooves. Übertüncht jegliche Ironie mit möglichst „einfühlsamem“ mehrstimmigem Schöngesang. Wirft sämtliches Einfühlungsvermögen über Bord und stülpt dem fremden Streich ein wenig selbstverliebt die Marke „Xavier Naidoo auf Sinnsuche“ über. Kurz: Gewinnt dem Original nicht etwa eine unerwartete neue Facette ab, sondern intoniert und arrangiert komplett am Text vorbei. Vielleicht wollte Naidoo den Song, nachdem Heino ihn gewissermaßen geraubt und entweiht hatte, einfach in die Welt des Pop zurückholen. Das wäre aber auch das Einzige, was für diese Coverversion spräche. Ansonsten ist sie einfach überflüssig.

 

Birdy gibt den Cherry Ghost

Läuft zurzeit immer öfter im Radio: People Help The People, ein wunderschöner Schmachtfetzen, gesungen von der Britin Birdy, die im Mai gerade mal 17 wird.

Birdy steht für Coverversionen von Songs nicht ganz so offensichtlicher Künstler. Während andere aufstrebende Stars gerne irgendwelche Welthits neu verwursten, um auf sich aufmerksam zu machen, wählt Birdy – Hut ab! – bevorzugt In- und Kenner-Material für ihre Single-Veröffentlichungen aus. So hatte sie ihre ersten großen Erfolge mit Songs von Bon Iver (Skinny Love) und The xx (Shelter). Auch People Help The People stammt nicht von Birdy selbst, sondern von der wunderbaren britischen Band Cherry Ghost, für die ich neulich schon mal in diesem Blog geschwärmt hatte.

Die Lyrics wirken auf den ersten Blick recht simpel, erweisen sich aber bei genauerem Hinhören als ganz schön vertrackt. Sicher liegt man nicht falsch, wenn man im hymnischen Refrain die einfache, klare Kernaussage vernimmt: Menschen sollten einander helfen. „People help the people / And if you’re homesick, give me your hand and I’ll hold it / People help the people / And nothing will drag you down.“ Zu Deutsch: „Menschen helfen den Menschen (oder: Menschen, helft den Menschen!) / Und wenn du Heimweh hast, gib mir deine Hand, und ich werde sie halten. / Wenn Menschen den Menschen helfen, / wird nichts dich runterziehen…“

In den Strophen aber werden lauter Menschen angesprochen, die verschlossen oder von inneren Dämonen getrieben sind, die etwas für sich behalten, sich zudröhnen und andere Menschen verletzen – sowie Menschen, die von anderen Menschen enttäuscht werden. So heißt es in der ersten Strophe ziemlich bilderreich: „God knows what is hiding in that weak and drunken heart / I guess you kissed the girls and made them cry / Those hard-faced queens of misadventure“, und: „God knows what is hiding in those weak and sunken eyes / A fiery throng of muted angels giving love and getting nothing back.“ Also: „Weiß Gott, was sich in diesem schwachen, trunkenen Herz verbirgt… / Ich schätze, du hast die Mädchen geküsst und sie unglücklich gemacht, / diese Königinnen des Missgeschicks mit den steinernen Gesichtszügen. / Weiß Gott, was sich in diesen (deren?) schwachen, eingefallenen Augen verbirgt… / Ein flammendes Gedränge stummer Engel, die Liebe geben und nichts zurückbekommen…“

Bezeichnend sind auch die den Refrain abschliependen widersprüchlichen Verse: „Oh, and if I had a brain I’d be cold as a stone and rich as the fool / That turned all those good hearts away…“ – „Oh, und hätte ich ein Hirn, dann wäre ich einfach kalt wie Stein und so reich wie der Dummkopf, der all diese guten Herzen weggeschickt hat…“ Das klingt, als sei es womöglich schlauer, eiskalt durchs Leben zu gehen und nur nichts an sich heranzulassen, um ja keine Verletzungen zu erleiden – und gleichzeitig wird diese Haltung als letztlich „dumm“ charakterisiert. Auch im weiteren Verlauf des Songs geht es um dunkle Dinge, die sich hinter Tränen und in Lebenslügen verbergen, um die Einsamkeit, die die Menschen umschlosse hält.

Ein existenzialistisches Statement? Der Einzelne hilflos zurückgeworfen auf sich selbst und seine Abgründe, obwohl er doch in komplexen Beziehungen mit vielen anderen Menschen lebt? Ein solches Statement kann man ebenso heraushören wie den einfachen Appell an Aufrichtigkeit, Mitmenschlichkeit, Empathie. Vertrackt wirkt der Songtext, weil nicht immer klar ist, auf wen sich was bezieht – etwa das flammende Gedränge stummer Engel in der ersten Strophe – und weil sich das Song-Ich nur schwer festmachen, kaum identifizieren lässt. Über weite Strecken scheint der Sprecher von außen auf die Welt und das deprimierende Mit- bzw. Gegeneinander der Menschen zu blicken. Ist er wirklich in der Lage, zu helfen, eine Hand zu reichen, wenn es jemandem schlecht geht?

Aber vielleicht haben wir es hier auch gar nicht mit einem durchgehenden Ich-Sprecher zu tun, der seine Gedanken über die Welt und die Menschen äußert, sondern nur mit als O-Tönen in Ichform wiedergegebenen Haltungen einzelner Menschen. Oder mit möglichen Haltungen. „Wie schön wäre es, wenn die Menschen einander helfen würden“, mag sich mancher denken, „wenn du Heimweh oder andere Schwierigkeiten hättest, dann würde ich dir einfach meine Hand hinhalten.“ Während sich jemand anders vielleicht sagt: „Könnte ich doch nur gefühl- und herzlos sein, dann hätte ich weniger Probleme, so dumm das auch wäre.“ „No one needs to be alone, oh, save me“, heißt es an einer anderen Stelle, also: „Niemand muss einsam sein, oh, außer mir“, worin sich wiederum eine weitverbreitete Haltung des Selbstmitleids andeuten könnte.

Ob Montage von Haltungen und Beobachtungen oder Gedankengang eines einheitlichen Ich-Sprechers – People Help The People ist auf jeden Fall ein Song, über den man herzhaft nachdenken kann. Und den man sich unbedingt auch im (natürlich tausend Mal besseren) Original von Cherry Ghost anhören sollte!

Junge, Junge – Heino gibt den Highno!

Volksbarde Heino covert Rockstars wie Rammstein und Die Ärzte – und die coolen Rocker verstehen absolut keinen Spaß? Blödsinn! Die gecoverten Bands, die sauer gewesen sein sollen, weil Heino ohne Anküdigung zur Tat geschritten sei, haben längst dementiert. Vielleicht gab es anfangs Irritationen, doch inzwischen geben sich alle Beteiligten reläxt. Heino soll nur machen…

Dabei hat sich der große Blonde mit der schwarzen Sonnenbrille einmal selbst „not amused“ gezeigt. Das war Mitte der 1980er Jahre. Damals trat ein Mann namens Norbert Hähnel regelmäßig als „Der wahre Heino“ im Vorprogramm der Toten Hosen auf – natürlich eine Parodie. Heino, furztrocken, erwirkte eine einstweilige Verfügung und eine Strafe gegen Hähnel. So viel zum Thema „Keinen Spaß verstehen“.

Trotzdem hat Mit freundlichen Grüßen, so der Titel des neuen Heino-Albums, eine zündende Idee und wird äußerst clever vermarktet. Heino gibt den Highno. Mit dem lautstark behaupteten Unwillen der gecoverteten Interpreten korrespondiert der reißerische Untertitel „Das verbotene Album“. Einige der gecoverten Bands stehen, was Image, Haltung, Musik betrifft, scheinbar in größtmöglichem Kontrast zum gehaßliebten Volksmusikpapst. Und vor dem offiziellen Veröffentlichungstermin 1. Februar war nirgendwo auch nur ein kompletter Song zu hören. Die Spannung stieg enorm.

Coversongs kann man als eigenständige Musikstücke genießen. Einen besonderen Reiz entwickeln sie aber meist erst im Bezug auf das Original. Coverversionen dienen noch unbekannten Künstlern gern als Sprungbrett, wobei sie entweder nah am Original bleiben oder – wie in der Swingversion des Blondie-Klassikers Heart of Glass von den Puppini Sisters – den Song mit Überraschungseffekt in ein anderes musikalisches Genre übertragen.

Spannend wird es, wenn Coverversionen mit dem Original wirklich etwas anstellen: wenn etwa der Cher-Song A Woman’s Story plötzlich von dem schwulen Künstler Marc Almond interpretiert oder ein aus der Männerperspektive vorgetragenes Stück wie Let The Loss Be Your Lesson von der Sängerin Alison Kraus gecovert wird; oder wenn Sid Vicious von den Sex Pistols Frank Sinatras selbstverliebte Edelschnulze My Way mit den Mitteln des Punk zertrümmert.

Auch Heino stellt mit den Originalen etwas an. Die Vorlagen sind mit Bedacht gewählt, im Interview gesteht der Sänger, er habe die Auswahl größtenteils jungen Leuten überlassen, die was davon verstehen. Und es ist schon erstaunlich, welche Effekte erzielt werden, wenn sich der Mittsiebziger neuerer Gassenhauer wie Junge von den Ärzten, Sonne von Rammstein oder Kompliment von Sportfreunde Stiller annimmt. Kompliment wird von allem nerdig-nölend postpubertär Verklemmtem befreit und erweist sich im Kern als eigentlich ganz netter Schlager.

Rammstein dagegen werden in ihrer Brachialästhetik, die einschließlich des auffällig gerollten „R“s gern mit Teutonentum und Blut-und Boden-Assoziationen kokettiert, buchstäblich heimgeholt. „’Ein wirklich schönes Stück Volksmusik‘, sagt Heino dazu. ‚Die Kollegen haben durchaus Talent für volkstümliche Texte’“ – so wird treffend auf Youtube kommentiert. Ziemlich durchtrieben, und fast schon etwas tragisch für Rammstein.

Junge ist aus der Perspektive verständnisloser Eltern erzählt, die ihrem Sprössling ständig Vorhaltungen machen und darauf drängen, dass er sich endlich eine bürgerliche Existenz aufbaut. Vater und Mutter beschweren sich über sein Aussehen, die Musik, die er hört, die Freunde, mit denen er abhängt, das durch ihn verschuldete Gerede der Nachbarn. Vorgetragen von den Ärzten, ist das natürlich reine Satire – die Eltern werden in ihrer spießigen Haltung entlarvt, der Junge wird ermutigt, seinen eigenen Weg zu gehen. Bei Heino allerdings hört es sich ganz danach an, als würde hier tatsächlich der Vater sprechen, und als wäre der Song nichts anderes als ernst gemeint. Passenderweise wird der ehrwürdig-stolze Gesang nicht von Gitarrenlärm, sonden von einem Blasorchester begleitet. Heino wendet den Song schlichtweg gegen die Ärzte, was nicht einer gewissen Komik entbehrt. „Das Imperium schlägt zurück“, so ein gern abgegebener Userkommentar im Internet.

Ist das nun reaktionär? Irgendwie schon. Und doch muss man schmunzeln. Schließlich haben „junge Leute“ mit einem Augenzwinkern an dem Coup mitgewirkt. Und, ganz ehrlich: Es tut doch gut, wenn auch die nach wie vor geschätzten Herren Rockstars, die sich gerne über andere lustig machen, mal eins vor den Bug bekommen. Sonst werden sie noch irgenwann zu cool und zu selbstgefällig.