Die young, make money

Der Tod ist der beste Vertriebler – das zeigt sich nicht nur an David Bowie, Lemmy Kilmister und womöglich Glenn Frey, damit spielte auch schon Bill Drummond, der Kopf hinter KLF und Ex-Manager der Teardrop Explodes

Es ist schon befremdlich, wenn Stars, die einen über weite Strecken des eigenen Lebens als Idole oder auch als Objekte der Verachtung begleitet haben, plötzlich und allzu früh sterben. Keine Frage: Ein Promitod berührt uns selten derart intensiv wie das Ableben enger Verwandter oder guter Freunde. Aber auch mit ihm bricht einer der Fixpunkte im Alltag unerwartet weg. Die Welt ist anders als zuvor, gleichzeitig kommen Jugenderinnerungen hoch, alte Hoffnungen und Sehnsüchte, schöne Momente, vielleicht der eine oder andere geplatzte Traum. Und nicht zuletzt wird man sich der eigenen Vergänglichkeit bewusst.

Kollektive Trauer als alle verbindendes Trost-Event

Noch befremdlicher als der Promitod aber sind die öffentlichen Reaktionen darauf. Besonders eindrücklich war das nach dem Tod von Mr. Motörhead Lemmy Kilmister Ende Dezember zu beobachten. Schon bizarr, wer plötzlich alles Fan gewesen sein wollte und das Hohelied des brachialen Rock sang. Kerngesunde nette und geerdete Menschen, die man eher im Roxette-Universum verortet hätte, demonstrierten ihre bisher offenbar gut getarnte Taffness und Verruchtheit in wehmütigen Social-Network-Kommentaren, konservative Zeitungen wie die „Welt“ ehrten Kilmister als „edlen Wilden“, und selbst das öffentlich-rechtliche Nachrichtenfernsehen brachte dem Heavy-Metal-Pionier samt seinem Sex-and-Drugs-and-Rock-’n’-Roll-Lifestyle beinahe dieselbe Wertschätzung entgegen wie wenige Wochen zuvor dem verstorbenen Altkanzler Helmut Schmidt. Ganz wichtig in all der Aufregung: das Duzen. Man sprach natürlich vorzugsweise nur von Lemmy – so als sei dieser Lemmy schon immer der beste eigene Kumpel gewesen. Vor dem Hintergrund der alltäglichen Schreckensmeldungen aus Politik und Wirtschaft schien die kollektive Trauer um den Abgang eines Stars, den viele zu seinen Lebzeiten reichlich abgründig fanden und persönlich eher gemieden hätten, zum alle vereinendenden Trost-Event zu werden.

Ähnlich kurios das Bohei um David Bowie. Sicherlich war die Nachricht von seinem Tod für die Musikwelt und die Fans rund um den Globus eine schlimme Überraschung. Aber wie so mancher Radiomoderator einen ganzen Vormittag lang seiner Bestürzung Ausdruck verlieh und dann doch immer wieder nur Space Oddity und Let’s Dance anmoderierte, hatte schon etwas Peinliches. Posen konnte Bowie einfach besser. Mindestens ebenso peinlich waren die biblischen Überhöhungen, zu denen sich Feuilletonisten weltweit gleich in Scharen hinreißen ließen. Und die Dauerposts in den sozialen Netzwerken, die sich hier und da zu bloßen Nerd-Wettbewerben verselbstständigten, frei nach dem Motto: Wer postet das noch obskurere Song-Fundstück, wer die noch bizarrere Coverversion? Etwas verhaltener verläuft die Reaktion auf den Tod von Eagles-Mitgründer Glenn Frey. Aber auch hier nur allerwärmste Worte, dabei galten die fantastsischen Eagles durchaus mal als Inbegriff des dekadenten Rockstartums. Wie immer gilt: Der Star stirbt – eine plötzlich entstandene Schein-Community feiert sich selbst.

Aus Lemmy Kilmister und Motörhead habe ich mir nie viel gemacht. Den Geschichten um Unmengen von Alkohol und Drogen oder um die Frauen, die „Lemmy“ mit seinem eigenen Sohn „getauscht“ haben soll, konnte ich nichts abgewinnen – ebensowenig wie dem hingekeuchten Räuspergesang, den Songs an sich oder der immensen Lautstärke, in der sie live wohl gespielt wurden. Beeindruckt war ich allerdings von dem einen oder anderen Interview, zum Beispiel vor Jahren in der Zeitschrift „GALORE“, als sich Kilmister als unglaublich scharfsinniger, zynischer Geist entpuppte, der eine klare, konsequente Haltung zum aktuellen Weltgeschehen an den Tag legte. Natürlich sind es diese Unangepasstheit, die Aura des Gefährlichen und ein stolz der Welt entgegengestreckter Mittelfinger, die die Fans bewundern. Kilmister stand für eine verwegene Attitude, die sich der Normalfan selbst kaum zutraute. Das offene Machotum, die Verantwortungslosigkeit und das Maß an Selbstzerstörung, sprich: die persönlichen Tragödien dahinter weden allerdings gerne ausgeblendet. Mit Bowie konnte ich da schon mehr anfangen. Obwohl er – meiner Meinung nach – schon seit vielen Jahren eher zähe CDs mit wenigen Highlights als wirkliche Offenbarungen veröffentlicht hatte. Schwamm drüber, schließlich hat der Mann in den ersten Jahrzehnten seiner Karriere enormen Einfluss auf die Rockmusik ausgeübt und einen ganzen Sack voll moderner Klassiker geschaffen.

Mit unzugänglichen Songs auf Platz eins

Nun würde ich nie auf die Idee kommen, mir – nur weil ein Rockstar gestorben ist – plötzlich seine letzte CD oder, besser noch, all seine Veröffentlichungen zuzulegen. Umso erstaunter bin ich immer wieder, dass sich ausgerechnet der Tod als stärkster Tonträgerumsatzmotor erweist. So schaffte es Bowie ausgerechnet mit einem eher unzugänglichen Werk, dem fast zeitgleich mit seinem Ableben erschienenen Blackstar, erstmals überhaupt auf Platz eins der US-Album-Charts. Und über Motörhead las man staunend, dass nach Lemmy Kilmisters Tod allein in Deutschland drei ihrer Alben in die Charts einstiegen, während sich Ace of Spades, der Motörhead-Song schlechthin, erstmals überhaupt in die Top 100 der Single-Charts lärmte.

Und es gibt noch mehr Beispiele. In seiner Elvis-Presley-Biografie zieht das Internetportal laut.de die folgende Bilanz: „Der König ist tot, lang lebe der König! So klang es am 16. August 1977 wehmütig durch die Medien. Bis dahin hatte Elvis Presley bereits 600 Millionen Tonträger mit seiner Stimme verkauft. Nach dem Todestag kamen in kürzester Zeit noch mal 200 Millionen hinzu und im Jahr 2002 zählt man weltweit 1,6 Milliarden abgesetzte Tonträger.“ Über einen anderen König, den „King of Pop“, heißt es auf Wikipedia: „Resultierend aus seinem Tod verkauften sich weltweit in weniger als einem halben Jahr 29 Millionen Alben von Michael Jackson.“ Zu Österreichs größtem Popstar wiederum weiß dasselbe Portal zu berichten: „Wenige Wochen nach Falcos Tod wurde das Album Out of the Dark (Into the Light) veröffentlicht und entwickelte sich zu einem großen kommerziellen Erfolg. Das Album stieg in Österreich auf Platz 1 ein und blieb drei Monate lang in den Charts; in Deutschland hielt es sich fast ein Jahr in den Top 100. Das Album wurde allein in Deutschland und Österreich zwei Millionen Mal verkauft, die gleichnamige Single über 3,5 Millionen Mal.“ Aber galt das Gleiche auch für die Rockgruppe Queen und ihren Frontmann Freddie Mercury? Na klar doch, wie der „Spiegel“ festhält: „Nach Mercurys Tod vervierfachte sich der Umsatz von Queen-CDs. ‚Bohemian Rhapsody’ landete kurz nach seinem Tod noch einmal auf dem ersten Platz der Charts. Und selbst ein neu gemischtes Mercury-Soloalbum mit alten Flops, die postum mit einem Disko-Beat aufgepeppt worden waren, wurden ein Verkaufshit.“ Selbst im Independent- oder Alternative-Lager greift es verlässlich, das Prinzip vom Tod als bestem Vertriebler. So wurde 1980 nach dem Selbstmord von Ian Curtis, dem Sänger der Band Joy Division, deren wiederveröffentlichte Single Love Will Tear Us Apart zum Welthit. Dass sich auch die Solowerke von Glenn Frey einer plötzlichen Beliebtheit erfreuen werden, steht zu erwarten. Das immergleiche Prinzip: Kaum Bekannte werden berühmt – schon Berühmte werden legendär.

Wo waren all die posthumen Fans zu Lebzeiten des Stars?

Da frage ich mich, wo all die Fans und Tonträgerkäufer zu Lebzeiten der Stars waren, als diese selbst noch etwas von der enormen Zuwendung gehabt hätten. Und ich frage mich, was Stars posthum so unwiderstehlich macht. Ist es der Reiz des Morbiden? Die beruhigende Erkenntnis, dass Idole auch nur Menschen sind und man selbst noch am Leben ist? Feiert man vielleicht den frühen Tod als den unausweichlichen dramatischen Höhepunkt dieses fast schon mythischen Spiels von „Sex and drugs and rock ’n’ roll“, als die Königsdiziplin sozusagen? Oder ist es das Gefühl, ein großes Vermächtnis in Händen zu halten? Spürt man als Fan plötzlich den Atem der Geschichte, wenn das Werk des Verstorbenen in den musealen Status übergeht?

„Bill Drummond said…“

Wie auch immer: Der Mechanismus vom Sensemann als Ruhmes- und Umsatztreiber ist auch den aktiven Künstlern selbst bewusst – mal mehr, mal weniger. Zu den Rockmeistern, die ihn nicht nur explizit, sondern auch sehr fantasievoll thematisiert haben, gehört Bill Drummond. Er stand im Mittelpunkt jener Liverpooler Szene, die Ende der 1970er und in den 1980er Jahren Furore machte. Post Punk und New Wave waren angesagt, und zu den Stars der Stunde zählten Bands wie Echo & The Bunnymen und Teardrop Explodes, deren Mitglieder auch schon zusammen in anderen Bands gespielt hatten. So waren Julian Cope, Kopf der Teardrop Explodes, und Ian McCulloch, sein Gegenstück bei Echo & The Bunnymen, zuvor Mitglieder des Trios The Crucial Tree gewesen. Die „Bunnymen“ und die „Teardrops“ erhielten Plattenverträge bei dem Independent-Label Zoo, dessen Eigentümer David Balfe und besagter Bill Drummond waren. Balfe und Drummond wiederum kannten sich unter anderem von ihrem gemeinsamen Engagement bei der relativ erfolglosen Gruppe Big In Japan und wirkten nun tatkräftig am Geschick ihrer Zoo-Labelschützlinge mit: Balfe als zeitweiliges Mitglied bei den Teardrop Explodes und Drummond als Manager der Teardrop Explodes wie auch der Bunnymen. In den ersten Jahren beider Bands, so heißt es, sollen alle Beteiligten regelmäßig darüber gestritten haben, welche Truppe nun bevorzugt zu promoten sei und wie man ihr am besten zum Erfolg verhelfe – bei aller Freundschaft waren Eifersüchteleien an der Tagesordnung. Ian McCulloch und seine Kollegen stehen noch heute auf der Bühne, die Teardrop Explodes dagegen lösten sich 1983 auf: wegen „persönlicher und musikalischer Differenzen“, wie es so schön heißt. Bill Drummond sollte später zusammen mit Jimmy Cauty durch Kunst-und-Musik-Projekte wie The Timelords, The Justified Ancients of Mu-Mu und, vor allem, The KLF zu Weltruhm gelangen, David Balfe wiederum gründete unter anderem das Plattenlabel Food, auf dem, wen wundert’s?, auch Songs von The KLF erschienen.

Avantgardistische Kunst- und Marketingstrategien

In seiner Zeit als Manager der Teardrop Explodes wurden Bill Drummond und dem Kopf der Band, Julian Cope, heftige Meinungsverschiedenheiten nachgesagt, die sich zu einer regelrechten Fehde ausgeweitet haben sollen. Was man sich sehr gut vorstellen kann, zeigte doch der auch mit Drogen experimentierende Cope schon früh Züge eines Egomanen und Exzentrikers, während Drummond ein Faible für avantgardistische Kunst- und Marketing-Strategien besaß. Wie ernst es ihm mit seinen eigenwilligen Ideen war, sollte Drummond etwa 1992 beweisen, als er im Namen seiner K-Foundation der frisch gebackenen Turner-Kunstpreisträgerin Rachel Whiteread den mit 40.000 britischen Pfund dotierten Preis für die schlechteste Künstlerin des Jahres verlieh, oder auch ein Jahr später, als er an der öffentlichen Verbrennung von sage und schreibe einer Million Pfund mitwirkte. Die Teardrop Explodes hatten sich trotz anfänglicher Riesenerfolge nie endgültig durchsetzen können, und man darf annehmen, das Drummond dies einem falschen musikalischen Weg und der Entscheidung für die falschen Vermarktungskonzepte zugeschrieben hat.

Bill Drummond Said hieß denn auch prompt ein Song, den Julian Julian Cope 1984, also ein Jahr nach dem Ende der Band, auf seinem Soloalbum Fried veröffentlichte. Es ist ein eingängiger Song, der allerdings einen kryptischen Text aufweist. Mit etwas interpretatorischer Fantasie kann man herauslesen, dass Julian Cope den Manager Drummond für das Ende der Teardrop Explodes verantwortlich macht und ihm obendrein vorsätzliches Handeln unterstellt. Mit seiner eiskalten Erfolgs- und Umsatzorientiertheit habe er das zarte Bandkonstrukt regelrecht erwürgt. Dass das Stück Bill Drummond wirklich verletzt hat, darf man guten Gewissens bezweifeln. Dafür ist es zu unscharf, zu wenig pointiert und letztlich zu wenig aggressiv. Es befeuert eher den Mythos um die Liverpooler Szene der 80er Jahre mit ihren wilden Kreativen, ihren Freigeistern und Exzentrikern, ihren in den Medien immer wieder besungenen „bigger than life“-Figuren.

Warum Julian Cope sterben musste

Ähnliches lässt sich auch über Julian Cope Is Dead sagen, einen Song, der zwei Jahre später, also 1986, von – na wem wohl? – Bill Drummond veröffentlicht wurde. Der charismatische Macher hatte eine Zeit lang als A&R-Manager bei der großen Plattenfirma WEA gearbeitet, jetzt meldete er sich mit dem Soloalbum The Man zurück. Dass Julian Cope Is Dead keine bierernste Abrechnung mit dem einstigen Sänger der Teardrop Explodes ist, zeigt schon die Präsentation. Der Song zitiert musikalisch und gesanglich das Genre des Folksongs, und Drummond, gebürtiger Schotte, trägt auch den Text in schottischem Dialekt, komplett mit rollendem „R“ vor. Das Ganze kommt daher wie ein derbes Trinklied aus alten Zeiten, dessen Autor niemand mehr kennt – was die geschilderten Gedanken und Gefühle augenzwinkernd in den Status des Märchenhaften erhebt: Keine Panik, Leute – alles nur Folklore!

Aber auch der Text klingt nach sehr vielem, nur nicht nach knallhartem Realismus: „Julian Cope is dead, / I shot him in the head“, heißt es erschreckend gut gelaunt zu Beginn, „If he moves some more, / I’ll kill him for sure. / Now, Julian Cope is dead.“ Im Gegensatz zu Bill Drummond Said ist die Perspektive hier eindeutig – es spricht ein einziges Ich, das sich im Lauf des Songs als Julian Copes Manager, also als Bill Drummond, entpuppt.

Ich hab Julian Cope erschossen, behauptet dieser Manager, doch der Sänger scheint nicht wirklich tot zu sein, denn er kann sich noch bewegen. Aber, und das ist das Entscheidende: Für die Öffentlichkeit da draußen weilt Julian Cope nicht mehr unter den Lebenden. Der Rest des Songs erklärt, wie es zu der Tat kam und was der Manager damit bezweckt. Auf den Punkt gebracht: Die Teardrop Explodes waren zwar eine tolle Band (was durch den Einschub „auf ihre eigene kleine Weise“ gleichzeitig wieder zynisch-ironisch relativiert wird), sie hatten mit den (tatsächlich aufgenommenen und veröffentlichten) Titeln Treason, Reward und The Thief of Bagdad auch durchaus ein paar gute Titel im Programm, konnten sich aber nie einen festen Platz in der Rockgeschichte ergattern. Sie waren bloß eine Fußnote. Weshalb der Manager – selbstverständlich auch im Interesse der Künstler – einen cleveren Plan ausbrütete: nämlich den Tod ihres Frontmanns zu fingieren, sie damit größer als die Beatles zu machen und so mit dem Kult um die Band auch die Plattenverkäufe dramatisch zu steigern: „The Teardrops weren’t they great? / In their own wee way. / ‚Treason’, ‚Reward’, ‚The Thief Of Bagdad’, / The Teardrops weren’t they great? // A footnote’s all they’d have got, / In the annals of rock. / Until I got wise, / And hatched up my plan, / A footnote’s all they’d have got. // Jules C. just follow me, / I have your interests at heart. / Now take this knife, / And write to your wife. / Tell her it had to be. / Now Julian said no, / He didn’t want to go. / More records he wanted to make. / But if ?pitch? is your man, / You’ll go with a bang, / Bigger than the Beatles for sure.“

Super Idee: Durch den Tod des Frontmanns „bigger than The Beatles“

Doch der Sänger, der im Rahmen dieses gewagten Marketingplans natürlich auch seine Frau hätte belügen müssen, wollte nicht mitmachen und stattdessen weiter erfolglose Platten produzieren wie bisher. Deshalb griff der Manager tatsächlich zur Pistole und verletzte ihn zumindest so schwer, dass er den Plan nicht zunichte machen konnte. „Now, Julian Cope is dead, / I shot him in the head, / He didn’t understand, / The glory of the plan, / Now, Julian Cope is dead.“ Gegen Ende malt sich Bill Drummond den zukünftigen Erfolg aus: Er hat Platin-Auszeichnungen an der Wand, die es ihm leicht fallen lassen, vor den Nachbarn noch einmal Krokodilstränen zu vergießen und heuchlerisch die guten alten Bandzeiten zu beschwören: „We’ll have platinum records, not gold, / To hang on our walls at home. / When the neighbours come round, / I’ll always break down, / Repeating the stories of old.“ Man darf vermuten, dass der Sänger irgendwo versteckt gehalten wird, denn er wird auch im Finale des Songs noch adressiert. Dort macht sich Drummond über Copes Märtyrergetue, aber auch über die ständig nach Erlöserfiguren suchenden Medien lustig, indem er süffisant darauf hinweist, dass doch erst sein genialer Plan den Sänger tatsächlich zum Märtyrer mache: „But who is this man, / With holes in his hands, / A halo round his head. / That Arab smock, / And golden locks, / It can’t be, it could be, it is!“ Da passt es natürlich prima, dass Julian Copes Initialen J. C. identisch sind mit denen von Jesus Christus: „J. C., please, you’ve got to see, / I was doing what a manager ought. / The records weren’t selling, / And Balfie was drooping, / And Gary had a mortgage to pay.“ Drummonds Fazit: Seine Tat war schlichtweg das, was ein Manager tun muss, wenn Schallplatten sich nicht verkaufen und Bandmitglieder – hier „Balfie“ (= David Balfe) und „Gary“ (= Schlagzeuger Gary Dwyer) – entweder durchhängen oder ihre Hypotheken nicht mehr abzahlen können.

Vom guten Bekannten zum Heiligen

Neben dem Vorwurf, dass Julian Cope einfach kein kommerzielles Gespür habe, nutzt Drummond den Song auch als Vehikel für die Erörterung einer grotesk übersteigerten Vermarktungsstrategie. Und diese fußt natürlich auf der hier schon eingangs erwähnten realen Beobachtung: Sterben Rockstars, dann entsteht eine unglaubliche Dynamik, und der Star beziehungsweise die Band, in der er gespielt hat, verkauft Unmengen Tonträger und DVDs. Drummond selbst erinnert in einem Interview an den ebenfalls schon erwähnten Sänger Ian Curtis. Durch seinen Freitod bescherte er Joy Division auf makabre Weise Weltruhm – und auch die Nachfolgeband, New Order, feierte quasi aus dem Stand international Erfolge. Auf die Frage nach der Bedeutung des Songs Julian Cope Is Dead erzählt Drummond im November 1998 dem Portal intro.de: „Du weißt, wer Ian Curtis ist? Joy Division waren Freunde von uns, und als Ian Curtis starb, wurde er von der Presse zu einer Art Messias aufgebaut. Auch wenn mir immer klar war, dass der Tod eines Popmusikers jenen in etwas anderes verwandelt, war das doch ein besonderes Erlebnis, zu sehen, wie jemand, den man gut gekannt hat, plötzlich ein Heiliger wird. Ich habe dann Mac [Ian McCulloch] vorgeschlagen, seinen Tod zu lancieren, zwei Monate zu verschwinden und zu sehen, was passiert, aber er fand es unfair seiner Familie gegenüber. Im Song wurde das dann zu Julian Cope.“

Wir wissen nicht, ob sich die Anekdote mit Bill Drummond und Ian McCulloch, dem Sänger von Echo & The Bunnymen, tatsächlich so zugetragen hat. Aber es ist natürlich eine nette Story, die sich gut erzählen lässt und zur Mythenbildung um die Liverpooler Szene der frühen 80er Jahre beiträgt. So wie auch Julian Cope Is Dead den von der Fachpresse oft thematisierten Konflikt zwischen Drummond und dem Sänger der Teardrop Explodes auf die Spitze treibt und zur legendären Anekdote hochstilisiert. Ganz nebenbei gibt Drummond einen ironischen Kommentar zu den Mechanismen des Rockgeschäfts ab. Und wer weiß, wie man diesen Song eines Tages bewerten wird, wenn Drummond selbst einmal den Löffel abgibt.

Wo sind Sie, Herr Bowie?

Wow, ein neuer Berlin-Song von David Bowie, der Altmeister erinnert sich an die Zeit Ende der 70er Jahre, als er in der geteilten Stadt lebte und ein paar bahnbrechende Alben einspielte. So heißt es gern in den euphorischen Kritiken zu Bowies aktuellem Hit Where Are We Now?, den er pünktlich zu seinem 66. Geburtstag als Vorgeschmack auf die neue Lang-CD The Next Day veröffentlichte.

Kurz: Es ist wirklich ein wunderschöner Song, der vor allem die Fans des „alten“ Bowie der 70er und 80er Jahre ansprechen dürfte. Aber was die Zeitebenen und autobiografische Momente betrifft, stellt sich die Sache für mich etwas anders dar. Strophen, Refrain und Sprachbilder sind überraschend simpel gehalten und reihen ein paar bekannte Berliner Locations aneinander, unterbrochen von ein paar mal mehr, mal weniger kryptischen Gedanken: „Had to get the train from Potsdamer Platz / You never knew that… that I could do that / Just walking the dead“, heißt es in der ersten Strophe und:  „Sitting in the Dschungel on Nürnberger Straße / A man lost in time near KaDeWe / Just walking the dead.“ Das heißt frei übersetzt etwa: „Ich musste den Zug vom Potsdamer Platz kriegen / Du hättest nicht gedacht, dass ich das… dass ich das jemals tun könnte. / Die Toten begleiten. / Ich sitze im ‚Dschungel’ in der Nürnberger Straße / Ein Mann verschollen in der Zeit um die Ecke vom KaDeWe.“

Wenn man den Zug vom Potsdamer Platz nehmen, also etwas tun kann, was lange nicht für möglich gehalten wurde, dann scheint das Song-Ich über die Zeit des Mauerfalls zu sprechen – also über den Zeitpunkt 1989/90, als man plötzlich von Ost nach West fahren konnte, und umgekehrt. 70er Jahre? Keine Spur. Dieser Eindruck verstärkt sich in der zweiten Strophe, in der es heißt: „Twenty thousand people cross Bösebrücke / Fingers are crossed just in case / Walking the dead“, also: „20.000 Menschen überqueren die Bösebrücke / Sie drücken die Daumen, nur für den Fall, dass… / Die Toten begleiten.“ Die Bösebrücke war der erste Grenzübergang nach dem Mauerfall – die Menschen, die nun herüberströmen, können es noch nicht glauben. Der Mauerfall war ein kaum fassbares weltgeschichtliches Großereignis, was indirekt der Refrain unterstreicht: „Where are we now? / Where are we now? / The moment you know you know you know“, frei übersetzt etwa: „Wo stehen wir jetzt? / Wo stehen wir jetzt? / In dem Moment, in dem du es weißt, weißt du, dass du es weißt.“ Für mich kommt hier das Gefühl zum Ausdruck, dass man im Moment des Erlebens oft nicht begreift, dass man Zeuge eines Ereignisses ist, das die Welt verändern wird. Es dauert eine Weile, bis man realisiert hat, dass nichts mehr ist, wie es vorher war. Und auch wo man „heute“ steht, muss man immer wieder neu ergründen.

Nimmt man diese knappen Aussagen, dann ergibt sich das Bild eines Song-Ichs, das zeitlich entweder in den Jahren 1989/90 verankert ist oder sich aus der heutigen Zeit an damals zurückerinnert. Der Einwurf „A man lost in time“ unterstützt die letztere Vermutung, und dazu passt auch der Refrain: Damals, Mauerfall – und wo stehen wir heute? Was ist nur inzwischen wieder alles passiert? Die wehmütige Stimmung und der langsame, getragene Rhythmus vermitteln den Eindruck, dass sich die Welt unaufhörlich dreht, dass immer wieder Neues passiert, dass man nichts davon wirklich kontrollieren kann. Das Einzige, was man tun kann, ist zu leben und sich mitzudrehen. Fast folgerichtig steigert sich der Song zum Ende hin in die Aufzählung und inständige Wiederholung von wenigen simplen, aber unumstößlichen Gewissheiten, an die man sich klammern kann: „As long as there’s sun / As long as there’s sun / As long as there’s rain / As long as there’s rain / As long as there’s fire / As long as there’s fire / As long as there’s me / As long as there’s you.“ Sonne, Regen, Feuer, du und ich, das ist alles, was zählt im Leben, so scheint der Sprecher sich selbst zu trösten. Man existiert, man liebt, und mehr kann man in dieser verrückten Welt nicht verlangen.

Das sind für mich die Kernaussagen von Where Are We Now?. Ein einfaches Lied über den Lauf der Zeit, die Unberechenbarkeit des Lebens – und über die Liebe als Anker. Von den 70er Jahren und Bowies eigenen Erlebnissen klingt im Text überhaupt nichts explizit an. Das Song-Ich kann während des Mauerfalls kurz in Berlin gewesen sein oder schon immer dort gelebt haben, es kann aber auch lediglich aus der Ferne – über die Nachrichten, am heimischen Fernseher – Zeuge der damaligen Ereignisse gewesen sein. Und doch liegen die Rezensenten nicht falsch, die behaupten, es gehe auch um Bowies eigene Vergangenheit. Hier zeigt sich die Macht der nichtsprachlichen, außertextlichen Elemente, die einen Songtext mit zusätzlicher Bedeutung füllen können.

Denn wenn man sich ein bisschen für Rockmusik interessiert und vor allem wenn man Bowie-Fan ist, weiß man, dass in Berlin Ende der 70er Jahre die Alben Low und Heroes entstanden. Man weiß, wie diese Alben klingen, und Where Are We Now? greift deutlich den Sound und die Stimmung einiger Tracks von damals auf. Low revisited und Heroes in Zeitlupe, das waren meine ersten Höreindrücke.

Und dann ist auch nachzuvollziehen, dass im Text der „Dschungel“ erwähnt wird, jene legendäre Disco, in der sich Ende der 70er Jahre die schillerndsten Rockstars tummelten, natürlich auch Bowie. Zur Zeit des Mauerfalls war der „Dschungel“ allerdings zum Technoschuppen mutiert, und wenn man die Verse „Sitting in the Dschungel“, „A man lost in time“ und „Where are we now?“ zusammendenkt, dann kann man sich hinter dem eigentlich nur wenige persönliche Züge aufweisenden Song-Ich plötzlich auch einen David Bowie vorstellen, der sich um 1989/90 irritiert an das szenige Berlin der 70er Jahre zurückerinnert. À la: Mein Gott, nur zehn Jahre ist das her, wie hat sich alles verändert?! „Ein Mann verschollen in der Zeit“ weckt dann durchaus noch weitere Assoziationen: Lässt hier nicht auch Major Tom noch grüßen, jener Held aus den Bowie-Songs A Space Oddity und Ashes to Ashes, der einst auf einem fernen Planeten strandete?

Was genau mit „Walking the dead“ gemeint ist, bleibt unklar. Es könnten bei Fluchtversuchen aus der DDR getötete Menschen sein, aber auch ganz allgemein die Geister der Vergangenheit – und, durch die „Autobiografie-Brille“ betrachtet, auch die Geister aus Bowies Vergangenheit. Vielleicht seine längst abgelegten Show-Ichs, von Aladdin Sane bis zum Thin White Duke? „Walking the dog“ heißt „den Hund ausführen“, „Gassi gehen“. Führt hier jemand in Gedanken noch mal seine früheren Persönlichkeiten als Verstorbene spazieren?

Ein bisschen „namedropping“, der Sound der späten 70er, das Spiel mit autobiografischen Schnipseln und Protagonisten aus früheren Songs – es ist schon erstaunlich, mit wie einfachen Mitteln Bowie in Where Are We Now? die unterschiedlichsten Bedeutungsebenen „antriggert“. Was man als Hörer daraus macht, bleibt jedem selbst überlassen. Man kann das Stück als wehmütigen Schmachtfetzen genießen, sich selbst ins Song-Ich hineinversetzen und ein Feuerzeug schwenken, man kann die Rückschau eines in die Jahre gekommenen Künstlers heraushören, und man kann, wenn man will, auch ein augenzwinkerndes Eigenlob hineininterpretieren. Denn die Verknüpfung des Mauerfalls mit musikalischen Anspielungen auf eine der kreativsten Bowie-Phasen unterstreicht die rockhistorische Bedeutung des Altstars und seines Oevres, auch wenn ein Bewusstsein davon anklingt, wie sehr sich die Welt und die Musik seit Low und Heroes tatsächlich verändert haben. Gleichzeitig weist das Stück in die Zukunft: Denn nach langer schöpferischer Pause ruft Bowie mit seinen 66 Jahren in die Welt hinaus: „Hey, ich bin noch da, ich will’s noch mal wissen!“ Ob er selbst, der mit bürgerlichem Namen David Jones heißt, um die Zeit des Mauerfalls tatsächlich in Berlin war oder die Ereignisse nur aus der Ferne verfolgt hat, ist, nebenbei bemerkt, gänzlich unerheblich. Das Ich des Songs ist ein höchst stilisierter Sprecher, und der Song macht Angebote auf mehreren Ebenen.

Künstlichkeit und Stilisierung, diese Bowie-Konstanten kommen im Video zu Where Are We Now? noch offensichtlicher zum Tragen. Inmitten einer Rumpelkammer oder eines Ateliers mit vielen sonderbaren Objekten steht eine Leinwand, auf die Filme projiziert werden, davor ein Tisch, darauf ein Holzblock, auf dem zwei Stoffpuppen mit ausgeschnittenen Gesichtern sitzen. Bowie und eine Frau (laut Bowie-Website Jacqueline Humphries, die Frau des Regisseurs Tony Oursler) halten lediglich ihre Gesichter in die Schablonen, wie man erst am Schluss des Videos wirklich erkennt. Im selben Moment merkt man auch, dass Tisch, Puppen und Künstler tricktechnisch einmontiert sein müssen – denn Bowie und Begleiterin sind nicht mehr im Raum zu sehen. Es ist ein irreales Atelier, ein künstlicher Raum, mit dem gespielt wird – genauso wie Bowie hinter dem vordergründigen Zu-Tränen-rühr-Song den altersweisen „Grandseigneur“ gibt, dazu mit seinem früheren Image, mit geografischen Bezügen, mit alten Songmotiven spielt. Mehrere Ebenen „bildbildlich“ also auch im Video. Vieles anreißen, Spekulationen anheizen, Masken aufsetzen, aber letztlich nichts preisgeben, same procedure as every decade. Einfachste Mittel, große Wirkung – schon clever, dieser Bowie!