Xavas-Kontroverse: Sind die Vorwürfe berechtigt?

Gern würde ich nur über schöne, aufregende, clevere oder anders positiv stimmende Songs schreiben. Aber das Leben ist bekanntlich kein Ponyhof, und so sind Songs auch kein Abenteuerspielplatz. Im Gegenteil: Manchmal bringen sie höchst Unappetitliches zur Sprache, und wenn sie nicht aufpassen, geraten sie dabei ins Kreuzfeuer. Aktuelles Beispiel: Wo sind?, ein Song des Duos Xavier Naidoo und Kool Savas, das unter dem Projektnamen Xavas firmiert und gerade mit der CD Gespaltene Persönlichkeit Chartserfolge feiert. Wo sind? ist ein sogenannter „hidden track“, ein „verstecktes Lied“, das nicht in der Titelliste geführt wird. Auf Vinylschallplatten erklangen „hidden tracks“ manchmal überraschend nach dem letzten offiziellen Song, wenn man schon die Auslaufrille erwartete. Im digitalen Zeitalter ist der „hidden track“ Teil eines anderen Songs: So macht Wo sind? gewissermaßen die Hälfte des Tracks Lied vom Leben aus, dessen Länge mit 7:14 Minuten angegeben wird.

Worum geht’s?

Die Vorwürfe gegen Wo sind? wiegen schwer: Die Jugendorganisation Linksjugend Solid stellte Strafanzeige wegen des Verdachts des Aufrufs zur schweren Körperverletzung und zu Totschlag sowie wegen Volksverhetzung. Die Landesarbeitsgemeinschaft queer.NRW, die gegen Diskriminierung von Schwulen und Lesben kämpft, soll an der Anzeige beteiligt sein.

Gleich vorweg: Ich halte das für völlig überzogen und nicht gerechtfertigt.

Der Song

Um mitreden zu können, habe ich den Verdacht einer cleveren Xavas PR-Aktion ausgeblendet und mir den Song bzw. beide Songs runtergeladen. Und ja, es geht sehr drastisch zur Sache.  Schwerer, dramatischer Beat, unheilvolle Streicher, großes Klagen und Wettern:

Naidoo raunt: „Ich schneid euch jetzt mal die Arme und die Beine ab / Und dann fick ich euch in‘ Arsch so wie ihr’s mit den Kleinen macht / Ich bin nur traurig und nicht wütend trotzdem will ich euch töten / Ihr tötet Kinder und Föten und dir zerquetsch ich die Klöten.“ Oha… Und weiter: „(Gesangsstimme) Ihr habt einfach keine Größe / (Sprechstimme) Und eure kleinen Schwänze nicht im Griff / (Gesangsstimme) Warum liebst du keine Möse? / (Sprechstimme) Weil jeder Mensch doch aus einer ist. (Gesangsstimme) Wo sind unsere Helfer, unsere starken Männer? Wo sind unsere Führer, wo sind sie jetzt? Wo sind unsere Kämpfer, unsere Lebensretter? Unsere Fährtenspührer? Wo sind sie jetzt?“

Dann rappt Kool Savas: „Die Stadt strahlt kaum, sie treffen sich im Keller und rasten aus, zelebrieren den Satan, schrein: ‚Lasst ihn raus! Wir liefern dir ein Opfer gerade nackt im Rausch’. Niemand will drüber reden, wenn die Treibjagd beginnt, zieh’n sie los, um zu wildern, denn ihr Durst ist unstillbar und schreit nach dem Kind. Okkulte Rituale besiegeln den Pakt der Macht. Mit unfassbarer Perversion werden Kinder und Babys abgeschlachtet. Teil einer Loge, …“ etc. pp.

Inspiration für den Song, so Savas und Naidoo, seien Berichte im Fernsehen und aus Fankreisen über tatsächliche Ritualmorde an Kindern. Aber auch sexuellen Missbrauch sprechen sie als Thema an. Die Aufgabenverteilung im Song: Naidoos Sprecher äußert unter anderem die Rachegelüste, der Erzähler des Savas-Parts liefert die Hintergrundinfo.

Genauer hingehört

Ich finde den Song weder schön noch herausragend, aber ich verstehe auch die Aufregung nicht. Hier sieben Argumente:

Erstens: In der Literaturwissenschaft hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass das Ich eines poetischen Textes nicht mit dem Ich des Autors gleichzusetzen ist, auch wenn eine Nähe bestehen mag. Das heißt nicht, dass Autoren ihre Sprecher im Gedicht oder Song jeden Unsinn äußern lassen. Um die Aussagen dieser Sprecher letztlich ins rechte Licht zu rücken, bedienen sie sich etwa der Mittel der Satire und der Ironie. Ironie ist im Xavas-Song zwar nicht gegeben, aber es kommt etwas anderes hinzu, nämlich

Zweitens: die Künstler mit ihrem öffentlichen Image und im Lichte ihrer bisherigen Arbeit. Gerade Xavier Naidoo, einem längst im Establishment angekommenen Künstler mit offensichtlichem Migrationshintergrund, vorzuwerfen, er sei Teil eines volksverhetzenden, homophoben Projekts, ist absurd. Viele seiner Songs sind religiös gefärbt, werben für ein friedliches Miteinander. Und wenn man will, dann schwingt auch in Wo sind?  etwas Biblisches mit: das Spiel mit der alttestamentarischen Losung „Auge um Auge, Zahn um Zahn“.

Drittens: Die Produktion des Songs zielt nicht auf den üblichen Naidoo’schen Schöngesang, sondern inszeniert die Stimme in einem raunenden Singsang, zudem technisch verfremdet. Das eröffnet Interpretationsspielraum. So markiert das Song-Ich für mich eher eine Stimme aus dem Unbewussten – den unmittelbaren Impuls, den man verspüren kann, wenn man erfährt oder gar unmittelbar erlebt, dass anderen Menschen oder auch Tieren furchtbare Gewalt angetan wird. Diesen Racheimpuls unreflektiert in den Raum zu stellen, ist irritierend und beunruhigend, aber er erfährt eine ästhetische Bearbeitung und Stilisierung. Es ist die künstlerische Zuspitzung eines Gefühls oder Gedankens, eine Art „eingefrorener Moment“.

Viertens: Die von Naidoo vorgebrachten krassen Aussagen werden im selben Atemzug relativiert. Entscheidend ist hier der Wechsel zwischen Sprechstimme und Gesangsstimme. Die raunende Sprechstimme äußert dumpfe Rachegelüste. Die Singstimme dagegen – Naidoos Stimme, wie man sie kennt – erzählt von Liebe und einer gesunden Sexualität.

Fünftens: Nirgendwo findet ein Aufruf zu irgendetwas statt. Einer der Sprecher im Song gibt einen Hintergrundbericht, der andere bringt eine Vergeltungsfantasie zum Ausdruck. Und: Statt aufzustacheln, fragt der Song nach Leuten, die nicht wegschauen, sondern versuchen, das Problem zu lösen: Wo sind die Helfer, wo die Kämpfer, wo die Führer, das heißt, die politisch Verantwortlichen?

Sechstens: Auch homophobe Äußerungen werden an keiner Stelle gemacht. Es geht nicht etwa um Schwule, sondern um Verbrecher, die sich an Kindern vergehen, an Jungen wie an Mädchen. Das drastische Bild des In-den-Arsch-Fickens ist eher metaphorisch gemeint. Dass Xavier Naidoo und Savas diesen Akt tatsächlich vollziehen würden und wollten, ist schwer vorstellbar. Maßgeblich ist die Vorstellung, den Tätern denselben Schmerz zuzufügen, den sie Kindern zugefügt haben. Das kann auch eine andere grausame Strafe sein. Und der Hinweis, die Täter sollten lieber eine „Möse lieben“, beinhaltet alles andere als eine schwulenfeindliche Aussage. Denn es soll doch nicht der Gegensatz „Sex mit Männern = verwerflich“/“Sex mit Frauen = die Norm“ suggeriert werden. Es geht vielmehr um den Gegensatz „Sexuelle Gewalt gegen Kinder“/“Erfüllte sexuelle Beziehung unter Erwachsenen“, also um das krankhafte Verhalten pädophiler Okkultisten. Der zunächst etwas seltsam anmutende Hinweis auf die gebärende Frau macht da durchaus Sinn, markiert er doch den Unterschied zwischen Kindern und erwachsenen Menschen, zwischen „noch nicht entwickelt“ und „geschlechtsreif“.

Siebtens: Im Song bleibt es nicht einfach beim Ruf nach „dem Führer“ – was mit „Führer“ gemeint ist, wird erklärt: „Helfer“, „Lebensretter“, „Fährtenspürer“…

Verpeilte Künstler?

Dass der Song tatsächlich vor Gericht kommt, kann ich mir nicht vorstellen. Dessen ungeachtet ärgere ich mich aber auch ein wenig über die Künstler: Denn Phrasen wie „Wo sind die Führer?“ werden nun mal mit dem Nationalsozialismus assoziiert und wecken simple Reflexe. Wer sie dort einsetzt, wo man auch von der „Polizei“, von „Kriminologen“ von „politisch Verantwortlichen“ oder auch der „Kanzlerin“ sprechen könnte, ist entweder unterbelichtet oder aber will provozieren und genau diese Volksverhetzungsvorwürfe hervorkitzeln. Das hilft dem eigentlichen Anliegen des Songs genauso wenig wie die Vermischung des Themas „Gewalt gegen Kinder und sexueller Missbrauch von Kindern“ mit dem trendigen Okkultthema „Ritualmord“. Gewalt und sexueller Missbrauch ist ein gesellschaftlich relevantes Problem, für das Lösungen gefunden werden müssen. Ritualmord führt eher in den Bereich der Fiktion, zu Dan Brown und irgendwelchen Verschwörungstheoretikern. Und sollte es doch Ritualmorde geheimbündlerischer Psychopathennetzwerke in Europa geben, dann mutet ein „Ich fick dich in den Arsch“-mäßiger Rachesong wie der von Xavas nachgerade lächerlich an.