Der Selbstermächtigungsirrtum

Immer wieder werden erotisch aufgeladene Hochglanz-Musikvideos von R&B- und Rap-Künstlerinnen als feministische Geste, als weibliches Empowerment gefeiert. Natürlich sind diese Videos schick und sexy anzusehen. Aber was die Deutung als emanzipatorische Statements betrifft, scheint es etlichen Rezensent:innen die Sinne vernebelt zu haben. Das zeigt auch die Diskussion um WAP, den Sommer-„Skandalsong“ von Cardi B. und Megan Thee Stallion.

Afghanische Mädchen, die Skateboard fahren. Saudische Frauen, die sich schon vor der verhaltenen Legalisierung 2019 trauten, ein Auto zu steuern. Türkische Frauen, die ihr Kopftuch ablegen. Die Kunstaktivistinnen von Pussy Riot, die im Kampf gegen das System Putin und die orthodoxe Kirche sogar die Verurteilung zu Arbeitslager in Kauf nehmen. Die Gründerinnen von #metoo. Die Frauen von Belarus, im friedlichen Protest gegen Diktator Lukaschenko … All diese Initiativen stehen für weibliches „Empowerment“, formulieren Botschaften mit politischer Sprengkraft. Es sind wichtige Initiativen, die höchsten Respekt verdienen – auch wegen des unglaublichen Muts, den diese Frauen in patriarchalisch-repressiven Umfeldern aufbringen. Word!

Ja, das Popuniversum mag ein weniger gefährliches, leichter zu bearbeitendes Umfeld sein als der vom Existenzkampf geprägte graue Alltag. Dennoch setzen auch hier Frauen seit Jahrzehnten immer wieder kraftvolle, Respekt gebietende  Zeichen, ob sie nun weißer Hautfarbe oder „People of Color“ sind, ob sie Joan Baez oder Lydia Lunch, Lady Gaga oder Kate Tempest heißen, Aretha Franklin oder M.I.A., Missy Elliott oder Janelle Monae. Vor diesem Hintergrund mutet es besonders grotesk an, dass seit geraumer Zeit alle paar Monate ein neuer freizügiger Song, ein neues offenherziges Video einer schwarzen oder Latina-Rapperin als emanzipatorisches Statement, als Inbegriff des weiblichen Empowerment gefeiert wird. Um nicht missverstanden zu werden: Harter Hip-Hop von Frauen, gleich welcher Herkunft, ist schon an sich ein selbstbewusstes Statement – oft unterhaltsam und ein wohltuendes Gegengewicht zum Macho-Gangster-Rap männlicher Kollegen. Dass aber ausgerechnet immer solche Werke in den Empowerment-Himmel gehoben werden, in denen die Künstlerinnen als prollige Sexgöttinnen auftreten, mutet schon etwas schizo an.

Königskobra statt Gartenschlange

Der Aufreger des Sommers in dieser Hinsicht war ein Song und Hochglanzvideo der amerikanischen Rapperinnen Cardi B. und Megan Thee Stallion. Die Rede ist von WAP – das steht für „Wet-Ass Pussy“, zu Deutsch: „Nassarsch-Muschi“. Im Song rappen die beiden Protagonistinnen über einem eher eintönigen Beat von ihrer Lust auf Sex und ihrer eigenen Verführungskraft, dazu feiern sie erotische Rollenspielchen, das hoffentlich große Geld des Mannes und diverse Körperflüssigkeiten, von Spucke über  Scheidensekret bis Sperma. Das alles wird eindeutig zweideutig bis hochgradig explizit formuliert – die Kerle, die bitte megacool sein und keine Gartenschlange, sondern eine Königskobra in der Hose haben sollen, mögen doch bitte Eimer und Wischmop mitbringen, wenn sie ihren großen Truck in der kleinen Garage ihrer Partnerin parken wollen. Ja, es geht zur Sache, aber neu ist das alles nicht. Schon das häufig von Frauen getragene Genre des „dirty blues“ im frühen 20. Jahrhundert lebte von diesem lustvoll-obszönen Spiel mit der Sprache, im Hip-Hop der Gegenwart ist es ohnehin gang und gäbe.

Das Video zu WAP zeigt Cardi B. und Megan Thee Stallion, wie sie staunend, kichernd, als Geisha-artig tippelnde Barbiepuppen ein Fantasieschloss erkunden. Und man interpretiert sicher nicht über, wenn man in diesem Schloss ein Sinnbild für den weiblichen Körper erkennt. In jedem Raum wartet eine Überraschung, es wimmelt – ja, ja – von Schlangen und Raubkatzen, ein Raum steht gar unter Wasser, und immer wieder bewegen sich die beiden „Heldinnen“ allein, zu zweit oder mit anderen Frauen in diesen Räumen, twerkend, fummelnd oder einladend sich räkelnd in lasziven Posen.

„Es sind Huren im Haus“

Ganz offenbar geht es hier um neue Heldinnen, die den eigenen Körper und die eigene Lust entdecken, die Männern sagen, was sie wollen, und bei allem ganz in Einklang mit sich selbst sind. Auch wenn der Blick auf das Geld und das Auto des willig gebenden Sexpartners den Eindruck etwas trübt. Das ist, keine Frage, schön und sexy anzusehen – und ein bisschen offensive Haltung der Gesellschaft, den Männern gegenüber kann sicher nicht schaden. Doch dass vor allem das Video, das die Protagonistinnen zu dem wohl ironisch gemeinten wiederkehrenden Sprachsample „There’s some whores in this house“, „Es sind Huren im Haus“, mit Wildtieren assoziiert und als dauergeile Sexmaschinen inszeniert, selbst von gestandenen deutschen Rockkritikern als höchst gelungenes feministisches Statement promotet wird, kann schon Kopfschütteln verursachen. So ist für „Süddeutsche“-Autor Joachim Hentschel „die bodenlose Versautheit von ‚WAP’ die transgressive Utopie der Stunde.“ Und „Zeit“-Kollege Jens Balzer kommt angeregt zu dem Schluss: „Wir sehen hier mithin nichts anderes als eine vollendete Emanzipation.“

Rumms, das sitzt! Vor allem drei Aspekte sind es, die die Verfechter der weiblichen Selbstermächtigungsthese am WAP-Song und am WAP-Video feiern:

– dass die Protagonistinnen beim Geschlechtsakt das Sitzen auf dem Mann, also die dominante Pose präferieren;

– dass ihre Körperflüssigkeiten konservative, verklemmte Männer verschrecken;

– und dass im Video die Männer abwesend seien, was gleichbedeutend sei mit dem Feiern weiblicher Autonomie.

Hentschel hebt zusätzlich die „Kunstkleider von Nicolas Jebran und Thierry Mugler“ hervor und ist regelrecht ergriffen davon, „dass im Diskurs über Song und Video wirklich alles zusammendiffundiert ist, was derzeit an Hashtags und kulturellen Topoi umherfliegt: Gender- und Hautfarbenpolitik, Cancel Culture, kulturelle Aneignung, der US-Wahlkampf, sogar Hygienefragen.“ Und Balzer zitiert „Gynäkologinnen, die den Song feiern, weil er jungen Mädchen ein positives Verhältnis zu ihrer Körperlichkeit und auch zur Masturbation vermittle.“

Wer dominiert beim Ponyreiten?

Junge, Junge, das provoziert Widerspruch. „Frau sitzt oben“, das ist doch eine ganz normale Sexstellung – die man machtpolitisch aufladen kann, aber nicht machtpolitisch aufladen muss. Und es gibt Songs aus der männliche Perspektive, die Frauen exakt zu dieser Stellung einladen, ohne damit irgendein Machtgefüge zu verändern. Man denke nur an den R&B-Künstler Ginuwine und die folgenden Zeilen aus seinem One-Hit-Wonder Pony von 1996:  „… if I have the chance / The things I would do to you / You and your body / Every single portion / Send chills up and down your spine / Juices flowing down your thigh / If you’re horny lets do it, ride it, my pony / My saddle’s waiting, come and jump on it.“ Die Einladung zum „Ponyreiten“ enthält hier mit Sicherheit keine Geste der Unterwerfung des Mannes unter den Willen der Frau. Und, ganz nebenbei, Körperflüssigkeiten, die an Schenkeln hinabrinnen, werden in Pony auch schon ausgiebig zelebriert. Klar geht es in WAP besonders feucht-fröhlich zu, aber wenn Gynäkologinnen ausgerechnet diesen Song als Lehrstück für junge Frauen heranziehen wollen, die eine gesunde Einstellung zu ihrer Körperlichkeit und zur Masturbation entwickeln sollen, dann ist Vorsicht angebracht. Genauso wie die Frage, ob Amerika – Heimat einer riesigen Sex- und Pornoindustrie, Land der „American Pie“-Filme, des „Hustler“-Magazins und der „Spring Break“-Exzesse – hier noch alle Tassen im Schrank hat.

Ein Lehrstück für Masturbation dürfte WAP aber vor allem für einsame Jungs und Männer sein, die nun nicht mehr auf Pornowebsites zur Triebabfuhr ausweichen müssen, sondern ganz unverfänglich ein Musikvideo als Vorlage nutzen können. Denn seien wir ehrlich: Wie Cardi B. und Megan Thee Stallion in sexy Outfits durch das Schloss geistern, wie sie ihre bebenden Brüste und Hintern in die Kamera halten, sich die Lippen lecken und gegenseitig liebkosen, das bedient schlicht und einfach den hetero-männlichen Blick. Dass ihre Klamotten, die so auch aus einem Beate-Uhse-Katalog oder einem Fetischladen stammen könnten, von Thierry Mugler und Nicolas Jebran designt wurden, macht die Sache nicht kunstvoller, schon gar nicht besser. „Für männliche Betrachter ist es hier kaum möglich, die Brüste und Hintern irgendwie auf sich zu beziehen, diesen Sex persönlich zu nehmen“, schreibt Joachim Hentschel, und man fragt sich, auf welchem Planeten der Autor lebt. Als ob man irgendwelche Körperteile persönlich auf sich selbst beziehen müsste, um Spaß mit einem Heftchen oder Filmchen zu haben.

Peepshow-Ästhetik

Womit wir bei einem der wichtigsten Streitpunkte angelangt sind: der Abwesenheit der Männer. „Sie haben sich zum Tanzen und Schubbern und An-sich-Herumspielen ein paar andere Musikerinnen eingeladen“, schwärmt Jens Balzer von der visuellen WAP-Umsetzung: „Gemeinsam und jede für sich feiern sie ihre Körper und ihre Lust. Männer sind dazu gar nicht vonnöten; sie werden zur Stimulanz nicht gebraucht und nicht mal als sexuelle Objekte.“ Aha, so, so. Und na ja, tatsächlich: Im Video sind keine Männer zu sehen. Aber: In den Lyrics sind sie überpräsent: als taffe Typen, die es den Protagonistinnen blind vor Geilheit besorgen und freiwillig Geld und Auto rausrücken. So entsteht ein seltsamer Bruch zwischen Song und Video. Spitzt man diesen Aspekt ein wenig zu, dann kann man Peepshows als Vergleich heranziehen. Auch dort sind auf der Bühne keine Männer zu sehen, die schauen aus den Kabinen mit den Gucklöchern zu, so wie es sich die Videozuschauer am heimischen Bildschirm gemütlich machen. Die Frage ist nur: Wer würde Peepshows ernsthaft als Institutionen des gelebten Feminismus betrachten, die Sexarbeiterinnen dort als Heldinnen der Selbstermächtigung? Von daher gibt es Extra-Peinlichkeitspunkte, wenn Hentschel die Tanzszenen aus dem WAP-Video mit der Lage der amerikanischen Nation und vor allem mit den „Black Lives Matter“- oder Genderdebatten der letzten Monate kurzschließt, um ihnen eine gesellschaftlich heilende Wirkung zuzuschreiben: „Denn besonders nach den verschiedenen Schreckensbildern der letzten Monate liegt eine geradezu unbändige Kraft im Anblick einer Chorus Line aus schwarzen Frauen, die im knöcheltiefen Wasser tanzen, Stolz und Fleischlichkeit behaupten, das verbindende Element menschlicher Körperausflüsse feiern.“ Als wenn es Revuen aus twerkenden schwarzen Frauen in feuchter Umgebung nie zuvor in einem Musikvideo gegeben hätte, zum Einstieg in die Materie bietet sich Anaconda von Nicki Minaj an.

Es geht auch anders

Das WAP-Video wurde, wie nicht anders zu erwarten, von einem Mann gedreht – von Collin Tilley. Wobei die Künstlerinnen nicht müde werden zu betonen, wie mitbestimmend sie in den Produktionsprozess eingebunden waren. Und so könnte man ein weiteres Mal zuspitzend behaupten: Früher wurden weibliche Popstars von Männern ungefragt als Sexobjekte inszeniert – heute entscheiden sich weibliche Stars sehr selbstbewusst dafür, als Sexobjekte inszeniert zu werden. Ein Video über Körperflüssigkeiten, das erzreaktionäre Männer verschreckt? Geschenkt! Diese erzreaktionären Männer erleiden ja schon einen Herzanfall, wenn sie zwei sich küssende Menschen sehen. Wenn das Feminismus ist, dann habe ich etwas gründlich missverstanden.

Weibliches Empowerment und die Thematisierung von Körperflüssigkeiten, das gibt es natürlich nicht erst seit Cardi B. und ihrem WAP-Video. Echtes Künstlerinnen-Empowerment und wirklich irritierende Einblicke liefern zwei andere Videos, die außerdem musikalisch mehr zu bieten haben als WAP. Das eine ist Bad Guy aus dem Jahr 2019, Billie Eilishs dezent blutige Persiflage auf überkommene Männlichkeitsbilder und erotisch aufgeladene Musikclips. Im Songtext geht es um eine abgründige junge Frau, die ihrer pseudotaffen Muttersöhnchen-Affäre zeigt, wer wirklich die Kontrolle hat.

Das andere ist schon etwas älter und – Achtung! – ganz bestimmt nicht jedermanns Sache. Es stammt aus dem Jahr 2015, ist von Peaches und trägt den Titel Rub. Rub scheint wie als Ohrfeige gemacht für Joachim Hentschel, der sich angesichts von Cardi B.’s WAP zu der poetischen Bemerkung verleiten lässt: „Nein, natürlich wird keine Vulva gezeigt in dem Musikvideo. Und ja, trotzdem glaubt man sie zu sehen, viele sogar. Wenn man ‚WAP’ laufen lässt, den radikalen, sensationellen Hip-Hop-Clip der US-Rapperinnen Cardi B und Megan Thee Stallion, werden die Vulven und Vaginen sogar irgendwie hörbar. Was schon semiotisch bemerkenswert ist.“ In der „uncensored version“ von Rub sind sie einfach explizit zu sehen, die in den Lyrics besungenen „pussies“ – und zwar im Rahmen einer wilden Frauen-Orgie mit Transgender-Touch. An einigen Stellen tritt Transgender-Pornostar Danni Daniels in Aktion, zu wenig blumigen Versen wie: „Can’t talk right now, this chick’s dick is in my mouth …“ Nochmals, nicht falsch verstehen: Sie sollen gerne weitermachen, die Cardi B.s, Nicki Minajs und – ja, auch die – Beyoncés dieser Welt. Es ist ja durchaus spektakulär, was sie machen. Aber man muss uns diese auf Click- und Verkaufszahlen hin optimierten voyeuristischen Hochglanzproduktionen nicht weiter als revolutionäre, gesellschaftsverändernde Kunst verkaufen.

Wiener Artpop vom Feinsten

LIENER – ein neuer Stern am österreichischen Pophimmel

Mannomann, so viel tolle Popmusik, die da aus Österreich zu uns herüberschwappt, und das schon seit Jahren. Aus allen Genres kommen die Künstler, und in allen Genres leisten sie Bemerkenswertes: Bands wie Mynth, Julian und der Fux, Erwin & Edwin, Ja, Panik, Cari Cari, Kreisky, Wiener Blond oder das Erste Wiener Heimorgelorchester. Von Wanda und Bilderbuch, den nach wie vor berühmtesten Gegenwarts-Acts aus Österreich, ganz zu schweigen. Als besonders reizvoll erweisen sich diese Austropopper, wenn sie in deutscher Sprache singen und mit ihr spielen. Das klingt mal bodenständig sinnlich wie bei Wanda („Tante Cecarelli hat in Bologna Amore gemacht – Bologna, meine Stadt“), nach gehobenem Nonsense wie beim Ersten Wiener Heimorgelorchester („Die Letten werden die Esten sein“) oder schwarzromantisch surreal wie bei Bilderbuch: „Es tropft dein feuchter Blick auf mein Verlangen / Sieben Sünden, alle auf einmal begangen.“

Moderner Bänkelsang oder abgründiger Schlager, rockiger Schmäh oder schlüpfriger Chanson, Metarap oder morbide Moritat – Österreich bringt immer neue Aushängeschilder des gehobenen Popwahnsinns hervor. Und gerade geht der nächste Stern an diesem eigenartigen wie -willigen Musikhimmel auf. Die Rede ist von LIENER, dem Soloprojekt von Matthias Liener. Der ist Mitglied einer Band namens Die 4 Spritbuam, außerdem singt er in verschiedenen Chören. Rosen und Mohn heißt die gerade erschienene Debüt-Single, und die wirft große Schatten auf ein hoffentlich bald erscheinendes Album voraus. „Oida, bist du deppat?“, tönt es programmatisch gleich zu Beginn, dann groovt es knarzend elektronisch los, mit ungewöhnlichen Harmonien, seltsamen Sound- und noch seltsameren Vokaleffekten. Kein Wunder, Liener war mal bei den Wiener Sängerknaben und steht auf Queen. Was außerdem der Grund dafür sein mag, dass mitten in die voyeuristisch-versauten Fantasien und bohrend-schlüpfrigen Fragen, die das durchgeknallte Song-Ich an eine Dame namens Anna richtet, eine Art Juristen-Chor hineingrätscht: „Und geloben Sie, die Wahrheit zu sagen, die reine Wahrheit.“

Der Song ist schräg und hochartifiziell, trotzdem eingängig, das ist das Kunstvolle daran. Mal scheint man Falco zu hören, mal werden – „Sag mir quando, sag mir, Anna, sag mir wann“ – alte Schlager-Schmonzetten zitiert. In Verbindung mit Versen wie „Ich kann deine Unterhose unter deiner Hose seh’n“ und „Ich kann eine kleine Rose unter deiner Hose seh’n, eine kleine feine, eine schöne reine …“ ergibt das seltsame Verfremdungseffekte. Rosen und Mohn, das ist Liebe und Rausch – als überhöhtes Konzept wie als Verheißung, die sich aber für das Song-Ich eher nicht erfüllen wird. Spricht hier tatsächlich ein schmieriger, sexuell verklemmter Nerd? Sprechen hier vielleicht sogar verschiedene Figuren, und ist es Anna, die ihrem sabbernden Verehrer ein „Bist du bescheuert?“ an den Kopf wirft? Oder ist das Ganze nur ein abstraktes Spiel mit Textsorten und Lovesong-Klischees? Man weiß es nicht genau. Ist aber auch egal. Denn es gibt ja so viel zu entdecken in diesem kleinen musikalischen Geniestreich, der mit augenzwinkerndem Pathos aufwartet und auch beim Drumherum besondere Akzente setzt. So wird die Anna aus dem Song im Video verkörpert von Caroline Perron, als Sängerin, Model und letzte Lebenspartnerin von Falco eng verbunden mit Österreichs Popszene.

Bei so viel Glamour und schwelgerischer Künstlichkeit mag man kaum glauben, dass es schon vereinzelte Stimmen gegeben haben soll, die das Frauenbild des Songs kritisieren. „Ja bist du dann deppat, Oida?“, möchte man gleich mit LIENER erwidern: Wenn es hier überhaupt um so etwas wie Männer- und Frauenbilder geht, dann wird doch eher ein fragwürdiges Männerbild vorgeführt als ein negatives Frauenbild gezeichnet, oder? Und: Erinnert Herr Liener im Video nicht an den Psychoanalytiker Sigmund Freud, der obendrein gelegentlich selbst auf der Couch liegt? Mit solchen Hintersinnigkeiten und lustvoll eröffneten Abgründen, die sich natürlich auch auf der musikalischen Ebene wiederfinden, rangiert LIENER viel näher an Bands wie den Sparks und Les Rita Mitsouko als an irgendwelchen Singer/Songwritern, die uns eine authentische Nabelschau vorgaukeln. LIENER ist kraftvoller Wiener Artpop vom Feinsten. Insider munkeln, dass dahingehende Erwartungen auch von kommenden Songs des Künstlers mehr als erfüllt werden. Um mit Peter Fox zu sprechen: Wenn ich so dran denke, kann ich’s eigentlich kaum erwarten!