Zwischen Eigenem und Fremdem

Neues von Jens Balzer: Das lesenswerte Musiksachbuch Schmalz und Rebellion kreist um den deutschen Pop und seine Sprache

Es ist bereits das fünfte Buch in sechs Jahren. Jens Balzer, Kulturjournalist für „ZEIT“, „Rolling Stone“ und „radioeins“, Dozent für Popkritik an der Berliner Universität der Künste und Co-Kurator des Popsalons am Deutschen Theater Berlin, zählt zu den produktivsten Autoren seiner Zunft. Nach Abhandlungen über das Phänomen „Pop“ an sich, über „Pop und Populismus“, über „das entfesselte Jahrzehnt“ der Seventies und „das pulsierende Jahrzehnt“ der Achtziger widmet sich Balzer nun dem „deutschen Pop und seiner Sprache“. Dass Schmalz und Rebellion, so der griffige Titel des ansprechend gestalteten Bandes, im Berliner Dudenverlag erscheint, wirkt stimmig.

Wer nun erwartet, dass sich der Autor in sprachwissenschaftlichen Betrachtungen und stilistischen oder grammatikalischen Detailanalysen ergeht, wird enttäuscht. Zum Glück. Balzer schreibt eher über Sprachfindung und den Umgang mit Sprache in Songs aus dem deutschsprachigen Raum seit 1946 – und das leicht verständlich, gut begründet, mit gelegentlicher feiner Ironie, die nie zynisch oder verletzend wirkt. Selbst Acts wie Sandra und Modern Talking, die gemeinhin gern belächelt werden, erfahren in diesem kritisch-historischen Abriss eine kurze, angemessene Beschreibung und Einordnung – die mehr als berechtigte Kritik an sexistischen, homophoben und antisemitischen Rap-Tracks erfolgt in klaren Worten, aber sachlich. Und weil Balzer es nicht nur versteht, überraschende Bezüge herzustellen, sondern auch bisher wenig erforschte Popnischen ausleuchtet und die eine oder andere obskure Songperle in den Ring wirft, ist sein neuester Streich selbst für Leute, die schon viel über Pop zu wissen glauben, unbedingt lesenswert.

Bruch mit der Vergangenheit

Schmalz und Rebellion entwirft ein einnehmendes Narrativ von Pop-Entwicklungslinien im deutschsprachigen Raum, die sich fast folgerichtig und stets in Reaktion aufeinander oder auf bestimmte gesellschaftliche Strömungen ergeben haben. So wendet sich die rebellische Jugend im Deutschland der frühen Sechziger dem mehr schlecht als recht verstandenen, aber ungemein coolen Englisch der Rock-’n’-Roll- und Beatmusik zu, um sich gegen die Sprache der Nazis, der schuldbeladenen Elterngeneration, des eskapistischen deutschen Nachkriegsschlagers abzugrenzen. Weil aber gesellschaftskritische Botschaften über den trotzigen Gestus hinausgehen und dann auch verstanden werden sollten, traten Ende der Sechziger politische Künstler wie Franz Josef Degenhardt, Hannes Wader, Ihre Kinder und Floh de Cologne auf den Plan – mit konsequent deutschen Texten. Die Brücke zurück zur Jugendmusik schlugen dann Ton Steine Scherben, die erste echte Rockgruppe mit engagierten deutschsprachigen Songs. Für die leichtgängigere Variante sorgte in diesem Kontext Udo Lindenberg mit seinen ungemein lässigen und gleichzeitig sprachschöpferisch-artifiziellen Texten über ebenso schräge wie einsame Charaktere. Ein Beispiel für die gelegentlich aufblitzende Balzer’sche Ironie: „Er (Lindenberg) stand auch für all jene Männer, die die sexuelle Revolution der Zeit vor allem als Chance ansahen, mit möglichst vielen Frauen ins Bett zu gehen.“

Kein Wunder, dass sich in den Siebzigern auch eine neue Frauenbewegung etablierte – mit musikalischen Vertreterinnen wie den Flying Lesbians, Schneewittchen und Östro 430, die eine Skepsis gegenüber der Mainstream-Gesellschaft und gegenüber gesellschaftsverändernden politischen Bewegungen hegten. Ganz klar, der Bruch mit deutscher Kulturgeschichte und Tradition lag in der Luft. Und den wollten, so Balzer weiter, die sogenannten Krautrocker noch verschärfen: indem sie Sprache nur noch als beliebig form- und auseinandernehmbares Material ansahen oder gleich ganz ohne Text, also instrumental musizierten. Ein ebenso folgerichtiger Ansatz wie der der Wiederaneignung unverfänglicher deutscher Traditionen, die Jahrhunderte vor dem Nationalsozialismus gewirkt hatten. Diesen zweiten Ansatz verfolgten in den Siebzigern die unterschiedlichsten Acts: Ougenweide, Novalis oder Hölderlin vertonten Minnelyrik, sangen auf Alt- und Mittelhochdeutsch; andere, etwa Achim Reichel, äußerten sich auf Plattdeutsch, zelebrierten Shanties und Seemannslieder. Im Rheinland begannen BAP, auf Kölsch zu rocken, in Österreich hatte Wolfgang Ambros mit Popsongs in Mundart Erfolg. Die Lieder der Friedensbewegung – Gefühliges von Bots, Juliane Werding & Co – kündeten von der Kriegsangst in dieser Zeit, und die in deutscher, in türkischer oder in gemischter Sprache gefassten Lieder türkischer „Gastarbeiter“, auf die Balzer – ein großes Verdienst dieses Buchs – ebenfalls verweist, formulierten neben Heimweh die Wut und die Enttäuschung über die in Deutschland erlebte Diskriminierung. In den Songs von Yüksel Özkasap, Metin Türköz oder Cem Karaca (Die Kanaken) lässt sich deutlich ein Vorgriff auf die gesellschaftskritischen Raps migrantischer Hip-Hop-Crews der neunziger Jahre erkennen, von Advanced Chemistry bis Fresh Familee.

Entfremdung und Transzendenz

Deutsche Künstler in den Siebzigern so Balzer, suchten „nach dem sprachlich Eigenen in einer fremd gewordenen Form“. Doch dann betraten Kraftwerk die Bühne, mit einer völlig neuen, rockfreien, vollelektronischen Roboter-Ästhetik und simplen, fragmentartigen deutschsprachigen Texten. Analyse Balzer: Mit Kraftwerk kehrt Deutsches als Fremdes zurück, indem es Klischees erfüllt, die andere Nationen von Deutschland haben: „sonderbar“, „kalt“, „futuristisch“.

In den Achtzigern sang Herbert Grönemeyer ein seltsam regionales Deutsch, das gleichzeitig vertraut und fremd klang. Parallel dazu zelebrierten Punk- und Avantgarde-Bands wie Fehlfarben, S.Y.P.H. und Einstürzende Neubauten einen niederschmetternden Nihilismus – als Reaktion auf den apokalyptischen Zustand der Welt, als Absage an Friedens- und Öko-Utopien. Ähnlich gelagert, aber durchsetzt mit bitterer Systemkritik gaben sich Punk- und Avantgarde-Bands in der DDR der Achtziger. Auch hier gebührt Balzer Dank für die Erinnerung an ein selten beleuchtetes Kapitel deutschsprachiger Popmusik – und für den Hinweis auf eine faszinierend sonderbare Band wie AG Geige, der wir gar eine „Ästhetik der Transzendenz“ für beide Deutschlands verdanken. Wie im Fall von Nina Hagen Ende der Siebziger kam auch mit AG Geige, Zitat, „die eindringlichste Stimme der Emanzipation und Rebellion im deutschsprachigen Pop nicht aus dem Westen, sondern aus der von Zensur und Unterdrückung geprägten DDR.“ Manches aus dieser Zeit, vor allem in Punk und Neuer Deutscher Welle, klang „wie eine Sprache, die man gerade erst erlernt hatte“. Oder „wie eine Sprache, die gar nicht zur Musik passte“. Der Autor grundsätzlich: „Alles musste fremd werden, um zu etwas Neuem zu finden.“ Das schafften dann vor allem DAF, die zu seltsamen elektronischen Beats auf assoziative, ambivalente Weise Sprache kaputt machten, um daraus eine neue Sprache der Romantik und der Liebe zu entwickeln. Ein für Balzer sehr gelungenes Songbeispiel: Der Räuber und der Prinz.

Dekonstruktion und so

Spannend ist Balzers Blick auf Cpt. Kirk &, auf Blumfeld und Die Sterne, auf die für griffige Slogan-Texte gefeierten Tocotronic und andere Bands der Hamburger Schule. Angesichts eines Nebeneinanders von schlagermäßig aufgeweichter Neuer Deutscher Welle, wieder englischsprachiger Italodisco, Untergangsangst, Vereinzelung, Rechtsrock und aufkeimenden Debatten über Heimat und Nationalismus klangen auch sie in den späten Achtzigern und frühen Neunzigern nach Dekonstruktion, nach Verunsicherung und Skepsis. Zum Ausdruck kommt in den neuartigen Rocksongs die „Fremdheit in der Gesellschaft“, es ist die Musik von „Menschen, denen die Sprache im Weg ist“, die „Deutsch als Fremdsprache empfinden“ und sich selbst im Weg stehen beim Ausdruck ihrer Gefühle. Eine verführerische Erklärung für die oft so seltsam anmutenden Songtexte dieser nordischen Schule des deutschsprachigen Pop.

Zu den Solitären, die aus Balzers Abhandlung herausragen, gehört neben Lindenberg, Grönemeyer oder Nina Hagen auch die erfolgreichste Band der Neunziger: Rammstein. Mit der Interpretation ihrer Kunst als Karikaturen und ironische Brechungen des Deutschseins liegt der Autor sicher richtig – seine Ansicht, dass dieser Kunst gleichzeitig eine Anschlussfähigkeit für den Rechtsrock innewohne, muss man nicht teilen, ist aber legitim und weit verbreitet. Erstaunlich, dass in Balzers Ausführungen zu dieser historischen Phase erwartbare explizite Fingerzeige auf „die Wende“ und „die Wiedervereinigung“, auf eine „Nachwendezeit“ oder die „Auflösung des Ostblocks“ fehlen: Mal klingen lediglich die letzten Jahre der alten Bundesrepublik an, mal veränderte Zeitstimmungen, auf die Künstlerinnen und Künstler unter anderem mit dem Aufgreifen poststrukturalistischer Einflüsse reagieren. Unmittelbare Gedanken zum historischen Einschnitt 1989/90 werden offenbar der mündigen Leserschaft überlassen.

Progression und Reaktion

Und dann sind wir auch schon beim Deutschrap des neuen Jahrtausends, der sich bald zwischen sprachverliebten Gute-Laune-Tracks im Stil der Fantastischen Vier, Antidiskriminierungs-Empowerment der Marken Advanced Chemistry und Fresh Familee sowie menschenverachtendem Battle- respektive Gangsta-Rap à la Bushido, Fler, Haftbefehl oder Kollegah bewegt. Überwiegend geht es um Menschen, die sich „fremd im eigenen Land“ fühlen und darauf unterschiedlich reagieren. Tatsächlich wird auch Popmusik in Deutschland nach der Jahrtausendwende immer diverser – vor allem im Hip-Hop sind so viele migrantische Stimmen zu hören wie nie zuvor. Und selbst dem unappetitlichen Gangsta-Rap gebührt das Verdienst, viele neue Begriffe in die deutsche Alltagssprache eingeführt zu haben. In Balzers Narrativ geht es stets um Fremdes und die Aneignung von Fremdem, also verweist er in diesem Zusammenhang auch auf deutsche Mittelschichtkids, die sich – analog zu den deutschen Sixties-Halbstarken und ihrer Hinwendung zum neuen, englischsprachigen Rock ’n’ Roll – die Posen der coolen Gangsta-Rapper aneignen: Statt „Wan, tuu, zrie, forr, läts go“ singen sie heute: „Chabos wissen, wer der Babo ist.“ Was zu weiteren Reaktionen führt: Wo es so viele diverse Stimmen gibt, muss als Gegenbewegung an den eskapistischen, exotisierenden Schlager der Fünfziger, an die Shanties, die Mundart- und Mittelalter-Trends der Siebziger angeknüpft werden. Erfolgreiche Acts wie In Extremo, Santiano und Schandmaul, aber auch Helene Fischer mit ihrem eklektizistischen Elektro-Schlager-Pop erfüllen, so die verlockende These, entsprechenden Bedürfnisse.

Dezenter theoretischer Überbau

Es klingt in dieser kleinen Zusammenfassung schon an: Balzer hat seinem überzeugenden Narrativ einen dezenten theoretischen Überbau gegeben. „Generell“, so postuliert er, „ist keine Popmusik, keine Kultur ohne das Spiel von Aneignungen, Neu- und Umdeutungen denkbar – also all dessen, was fremd und anders erscheint und deswegen reizvoll ist.“ Und so erweist sich seine Geschichte der deutschen Sprache im Pop tatsächlich als, Achtung: Plural, „eine Geschichte der Sprachen“ – sie handelt „von der Aneignung des anderen, von der Abwehr des Eigenen, von der Erneuerung des Eigenen durch die Auseinandersetzung mit dem Fremden und von der Wiederaneignung dessen, was zu einem gehört, aber fremd zu werden beginnt. Insofern ist es auch die Geschichte einer Gesellschaft und ihrer Kultur, die sich das andere in exotisierenden und oftmals rassistischen Projektionen zurechtlegt – und die erst langsam damit beginnt, durch den Schleier der Projektionen hindurchzublicken auf die Vielfalt und Vielstimmigkeit der realen Welt.“ Wenn es abschließend über gute Songs heißt: „Sie lassen die eigene Sprache fremd werden und weisen dadurch den Weg zu einem anderen Bild von sich selbst“, dann wird dem Leser beinahe warm ums Herz. Der Autor ist mit Leidenschaft bei der Sache, kennt seinen Stoff und weiß genau, was er da macht. Nur an einer Stelle im Buch zuckt man kurz zusammen, wenn von der „Kölner Punkband Böhse Onkelz“ die Rede ist. Richtig ist, dass die höchst umstrittenen Onkelz aus Frankfurt am Main kommen. Es ist eine kleine Unachtsamkeit, über die man gerade bei diesem Werk mit seinen kenntnisreich zusammengestellten Beispielen und Quellen gern hinwegliest.  

Eine andere Geschichte der deutschsprachigen Musik

Vor vier Jahren erschien bereits ein Musiksachbuch mit dem Titel Es geht voran: Die Geschichte der deutschsprachigen Popmusik, verfasst von Manfred Prescher. Und es lohnt sich, kurz einen vergleichenden Blick auf beide Bücher zu werfen. Darüber, dass Pop im deutschsprachigen Raum nach dem Ende der Nazidiktatur erst eine eigene Sprache finden musste und dass die Suche über Versuche mit der englischen Sprache, mit Dialekten, politischen Texten und mittelalterlichen Traditionen lief, sind sich Prescher und Balzer einig. Doch wo für Balzer deutsche Popmusik auch in den Achtziger-, Neunziger- und Zweitausenderjahren noch von Aneignungs- und Entfremdungsprozessen gekennzeichnet ist, wirkt bei Prescher die Suche bereits um die Achtziger abgeschlossen. Natürlich eignet sich immer irgendjemand irgendetwas an, aber in Es geht voran wird deutlich weniger gefremdelt. Die vielfältige emanzipatorische Leistung der deutschsprachigen Popmusik eröffnet dem Autor die Möglichkeit, etliche weitere individuelle Acts und Traditionslinien zu würdigen, aus der BRD, der DDR und aus Österreich, von den Ärzten bis zu den Toten Hosen, von den Puhdys und der Stern-Combo Meißen bis zu Wanda und dem urkomischen Ersten Wiener Heimorgelorchester. Überhaupt kommen bei Prescher selbst Blödelbarden wie Insterburg & Co und Kreativrocker mit feinstem Sprachwitz zu ihrem Recht.

Auch in meiner persönlichen Wahrnehmung gab es in den Achtzigern deutlich mehr als Fehlfarben und Neubauten auf der einen und Fräulein Menke oder Spider Murphy Gang auf der anderen Seite. Die Band Ideal etwa war für mich eine Offenbarung. Beinahe aus dem nichts kam Sängerin und Texterin Annette Humpe mit einer neuen deutschen Szenesprache um die Ecke, die frisch und alltagsnah wirkte und gleichzeitig auf lyrische Kniffs und Tricks der großen Kabarettkünstler und Vokalensembles der 1920er und -30er Jahre zurückgriff. In Verbindung mit einer krachig-melodischen New-Wave-Musik schien mir bei Ideal, aber auch bei anderen jungen Bands dieser Zeit deutschsprachige Popmusik endlich auf Augenhöhe mit den energiegeladenen, sprachgewitzten Stars aus England und den USA zu rangieren – ohne dass Haltung, gesellschaftliches Engagement oder Ideen von Transzendenz darunter leiden mussten. Extrabreit, Andreas Dorau oder Huah!, auch die gut gelaunten Fanta 4 und Fettes Brot, Die Braut haut ins Auge, Wir sind Helden, Jennifer Rostock, Kraftklub, Maurice und die Familie Summen, Mia, Bilderbuch, Max Raabe oder Die höchste Eisenbahn, um nur einige unter sehr vielen zu nennen, haben bis heute diese Tradition einer durchaus anspruchsvollen, kritischen, aber im Ansatz hochenergetischen, positiv gestimmten deutschsprachigen Popmusik fortgesetzt.

Kausalität und wildes Durcheinander

Wenn mir also etwas fehlt am neuen Buch von Jens Balzer, dann sind es solche Beispiele für ein überzeugendes Zu-sich-selbst-Finden von Pop-Künstlerinnen und Künstlern in der deutschen Sprache. Ebenso wie Acts vom Schlage eines Udo Jürgens oder einer Hildegard Knef, die mühelos eine Brücke zum Chanson, zum engagierten Liedermachertum und sogar zu Pop und Rock schlagen konnten. Balzer bleibt eng an den Impulsen, die von Suchenden und Entfremdeten, von Skeptikern, Vereinzelten und Verunsicherten, von Subversiven oder auch von Reaktionären ausgingen. Da bleibt eine leise Ahnung, dass es noch mehr und anderes an auch sprachlich relevantem Pop aus Deutschland gibt als das, was in Schmalz und Rebellion angeführt wird, noch weitere Geschichten oder Nebenstränge, auch Dynamiken wie Transformation und Innovation – und dass nicht alles einer strikten Kausalität folgt, sondern oftmals ein buntes, wildes Nebeneinander von auch zufällig auftretenden Phänomenen herrscht. Das schmälert nicht die Überzeugungskraft der von Balzer entworfenen Erzählung – schließlich lebt spannende Geschichtsschreibung von zugespitzten, verdichtenden Interpretationen der Vergangenheit. Was man selbst in all den Jahrzehnten eher halbbewusst und wenig reflektiert miterlebt hat, bringt Schmalz und Rebellion immer wieder analytisch scharf und erhellend auf den Punkt. Und wenn der Autor augenzwinkernd etwa fragt, warum um Himmels willen ein Schlager, der auf Hawaii spielt, mit Sprachfloskeln aus dem Spanischen hantiert oder wen Dieter Bohlen wohl mit seiner semantisch verwirrenden Cheri Lady adressieren wollte, dann kommt auch der Unterhaltungswert nicht zu kurz. Dass sich dieses Buch bei aller Informationsdichte und Tiefe sogar als Strandlektüre empfiehlt, ist als großes Kompliment zu verstehen.

Jens Balzer, Schmalz und Rebellion: Der deutsche Pop und seine Sprache. Dudenverlag Berlin, 2022. 224 Seiten, 20 Euro

Sachbuch-Wundertüte mit Ecken, Kanten und Tiefgang

33 Texte aus der Frankfurter Pop-Anthologie der FAZ sind jetzt als Buch erschienen. Titel: Drop It Like It’s Hot. Leseeindrücke

Das populärwissenschaftliche bis akademische Unter-die-Lupe-Nehmen von Songs erfreut sich großer Beliebtheit. Und gern erfolgt es in Serie. Das Spektrum reicht hier von der Hörfunk- und Fernsehinstitution Popsplits über Buchreihen wie The Story Behind … von Thomas Steinberg oder Berühmte Songzeilen und ihre Geschichte von Manfred Prescher/Günther Fischer bis hin zu großangelegten Anthologien im Internet. Das Onlineportal Deutsche Lieder. Bamberger Anthologie darf dabei als Nonplusultra für Songs aus dem deutschsprachigen Raum gelten: Unter der Regie von Martin Rehfeldt (Herausgeber) und Jan Hurta (Redaktion) erscheinen auf Deutsche Lieder seit Jahren ernsthafte Auseinandersetzungen mit gefeierten, aber auch mit umstrittenen deutschen Songs der unterschiedlichsten Genres – die Beiträge haben oftmals erhellenden Charakter. International und vor allem auf die popmusikalischen Genres ausgerichtet gibt sich dagegen die Frankfurter Pop-Anthologie der FAZ. Unter diesem Label – frei nach der 1974 von Marcel Reich-Ranicki begründeten Frankfurter (Literatur-)Anthologie – sind auf faz.net in einem Zeitraum von mehr als fünf Jahren an die 140 Beiträge erschienen, wobei der Ansatz weniger wissenschaftlich als spielerisch offen ist. Die Autorinnen und Autoren schreiben einfach über ihre Lieblingssongs – auf welche Aspekte sie dabei den Schwerpunkt legen, bleibt ganz ihnen überlassen. Auch der Bekanntheitsgrad eines Songs scheint keine große Rolle zu spielen: So findet selbst Obskures, längst Vergessenes oder nur einer Handvoll Nerds Bekanntes seinen Weg in die Sammlung.

Mit Drop It Like It’s Hot sind nun 33 Texte dieser Frankfurter Pop-Anthologie als Buch erschienen. Die Herausgeber des Bandes, die FAZ-Feuilleton-Redakteure Uwe Ebbinghaus und Jan Wiele, äußern sich nicht zu den Kriterien ihrer Textauswahl – diese scheint aber einen guten Querschnitt durch das bisher aufgelaufene Internetangebot zu bieten. So werden neben Welthits wie Bobby Brown (Frank Zappa) und Hallelujah (Leonard Cohen) Artrock-Perlen wie The Musical Box (Genesis), experimentelle Filmmusiken wie Container (Fiona Apple), französische Sixties-Nischenhits der Marke Les Élucubrations (Antoine) und verstörende Schlager wie Smog in Frankfurt (Michael Holm) besprochen – zu den Autorinnen und Autoren gehören Kolleginnen und Kollegen sowie der eine oder andere Gaststar, darunter Annette Humpe, einst Songwriterin und Sängerin der wunderbaren NDW-Band Ideal.

Der „Kessel Buntes“-Ansatz der Frankfurter Pop-Anthologie ist Fluch und Segen zugleich. Einerseits sorgt er für ein Leseerlebnis voller Überraschungen, da jeder Text anders an seinen Gegenstand herangeht. Er fördert unerwartete Erkenntnisse zutage und macht Lust, selbst abseitige Songs neu zu entdecken. Auf der anderen Seite muss man sich auf teils sehr subjektive Einschätzungen und wilde Spekulationen einlassen, gerade bei weniger bekannten Songs und Acts fühlt man sich ohne behutsame Moderation in medias res geworfen, mitunter bleibt man unzufrieden, im schlechtesten Fall ratlos zurück. So kämpft sich Rose-Maria Gropp zwar tapfer durch die verschiedenen Fassungen von Hallelujah, nennt unzählige biblische Bezüge und literarische Assoziationen, suggeriert sprachlich geschliffen ein tieferes Verständnis, lässt aber letztlich einen roten Faden ihrer Argumentation geschweige denn ein klares Statement zur Bedeutung, zum Clou oder eben zur Uninterpretierbarkeit des Cohen-Klassikers vermissen. Ähnlich anstrengend sind die Einlassungen von Kunstgeschichtler Stefan Trinks zum Nick-Cave-Song The Mercy Seat, da lediglich der Songinhalt und vor allem das dazugehörige Musikvideo minuziös nacherzählt werden, ohne dass Zitate aus den Original-Lyrics Halt geben. Das liest sich zwar leidenschaftlich-blumig, ist aber zu sehr Fanperspektive und zieht letztlich abstrakt, wie ein surrealer Clip am inneren Auge des wissbegierigen Popfans vorbei. Mercy Seat sei ein „Lied der Urängste, von (Gott-)Verlassenheit, Verzweiflung, Auflehnung, Resthoffnung auf Erlösung“, schreibt Trinks: „An Cave ist tatsächlich, wie oft geschrieben wurde, ein Priester verloren gegangen.“ Gibt’s ja nicht – aber hätte man das nicht auch in weniger als achteinhalb Buchseiten auf den Punkt bringen können? Wenn Uwe Ebbinghaus bei der Betrachtung des Songs Drop It Like It’s Hot (Snoop Dog feat. Pharell) aus augenzwinkernd unbedarfter Elternperspektive die „oft eindeutig nur gespielte Fluch- und Drohkulisse“ der „meist schwarzen Rapper“ betont und die lässig behauptete Ironieerkennungskompetenz vieler Jugendlicher feiert, läuft er zumindest Gefahr, die wirklich unappetitlichen Aspekte des Gangsta-Rap zu verharmlosen. Und wenn Hip-Autor Joachim Bessing (Tristesse Royale) im Text zu Michael Holm einen exklusiven Szenetalk einschließlich Namedroppings und nerviger Schwafel- und Schachtelsätze zelebriert, zieht’s einem schon mal die Schuhe aus. Kostprobe: „Thomas Meinecke, der damals leider nicht dabei war, obwohl er ja Hamburger ist, wohingegen ihn beinahe alle für einen Bayern halten aufgrund seines lebensfrohen Leibesumfangs, hat ja angesichts der Dichtkunst Albert Ostermeiers ganz richtig angemerkt, dass solche Poesie vor allem in der Kunst besteht, am rechten Ort in der Zeile die Return-Taste zu drücken. In dieser Hinsicht ist der Text von ‚Smog in Frankfurt’ Avantgarde.“ Selige SPEX-Zeiten lassen grüßen …

Gewagt, aber durchaus spannend lesen sich Beiträge, die ihrem Gegenstand mit Überidentifikation oder aber mit einer lässigen Ignoranz begegnen. So lässt Jan Wiele in seinen Ausführungen zu Diamonds and Rust von Joan Baez literaturwissenschaftliche Grundannahmen wie „Das lyrische Ich ist nicht gleichzusetzen mit dem Autor oder der Autorin“ ganz bewusst außer Acht und deutet den Song völlig schmerzfrei als autobiografisch motivierte Abrechnung der Folk-Ikone Joan Baez mit ihrem arschigen Ex-Lover Bob Dylan. Zwischen aufschlussreichen Informationen zur Musikszene der Siebzigerjahre zeigt sich Wiele dabei derart empathisch gegenüber der Songwriterin, dass man meinen könnte, er selbst sei auch schon mal so arschig behandelt worden oder gar ein bisschen in Joan Baez verliebt. FAZ-Mitherausgeber Jürgen Kaube bringt es fertig, fast einen ganzen Essay lang allgemein über das Wesen von Lyrik und Lyrics, das lyrische Ich und das lyrische Du zu philosophieren, sein eigentliches Thema aber, den Song Wrecking Ball von Miley Cyrus, nur in den allerletzten Zeilen kurz zu streifen – ein kleines Husarenstück, vielleicht. Und Annette Humpe, die eigentlich etwas über den Rolling-Stones-Klassiker Sympathy for the Devil schreiben soll, bekennt gleich am Anfang, dass sie eigentlich die Beatles für die Größten hielt und hält. Die Stones hätten durchaus etwas Faszinierendes und sogar Angsteinflößendes gehabt, gibt sie zu, „Die wollten Sex, das war mir zu viel“, aber auch Waiting for the Man von The Velvet Underground sei kein schlechter Song gewesen, was fast unmittelbar zu Blondie, Devo, Talking Heads oder Flying Lizards und schließlich zur Gründung von Humpes eigener Band Ideal führt. Huch? Der Text wirkt naiv und fast schon fahrlässig am Thema vorbei – gleichzeitig erzählt er, oszillierend zwischen Scharlatanerie und Genialität, wie die Autorin sich selbst fand und zur Künstlerin wurde. Hm, ja … so kann man’s auch machen. Ein weiterer origineller Beitrag kommt von Jens Buchholz: Rund um den Alphaville-Hit Forever Young schwadroniert er launig über popspezifisches „Smurfing“ – eine Fantasiesprache, die sich aus dem immer wieder scheiternden Entschlüsseln schwer verständlicher Songlyrics ergibt. Sein erheiterndes, die übrigen Buchbeiträge wohlwollend konterkarierendes Fazit: „Nicht Englisch ist die Muttersprache des Pop, sondern Smurfing.“

Und natürlich gibt es etliche Texte, die Langweilern wie dem Rezensenten genau das bieten, was sie von Anfang an erwartet haben: ordentliche Leserführung, relevante Hintergrundinfos und eine gut begründete Einschätzung zur Bedeutung des besprochenen Songs. So erklärt Oliver Jungen, Grammatikspezialist und Koautor eines Buchs über das Scheitern, eindrucksvoll die Wirkmacht des Songs Meat Is Murder und der Band, die ihn produziert hat, des kämpferischen britischen Außenseiter-Quartetts The Smiths. Elene Witzeck entschlüsselt einfühlsam die Naturmetaphorik im Bossa-Nova-Klassiker Aguas de Marco von Elis Regina und Tom Jobim. Die Lektorin und Literaturkritikerin Miryam Schellbach wiederum bringt uns das Werk der auch in der abendländischen Independent-Film- und -Musikszene geschätzten libanesischen Songwriterin Yasmine Hamdan näher, und Christina Dongowski macht verständlich, wie Kate Bush sich in ihrem ersten Hit Wuthering Heights einerseits auf Emily Brontës gleichnamigen Roman aus dem Jahr 1847 bezieht und andererseits den Grundstein für eine ganz eigene, einzigartige künstlerische Vision legt. Talk Talk, Adriano Celentano, Element of Crime, Peter Fox oder die Hothouse Flowers sind weitere Stars, die mit je einem ihrer Songs ins Schaufenster gestellt werden.

Holla … Auf den ersten Blick dachte ich, Drop It Like It’s Hot sei ein leichtgängiger Band zum Wegschmökern, auch als feines Geschenk für Popfans im Freundeskreis bestens geeignet. Und ja: Das Buch lässt sich prima verschenken. Aber das mit dem Wegschmökern war wohl doch eher „wishful thinking“. Für eine entspannende Strandlektüre hat das Textmaterial letztlich zu viele Ecken und Kanten, auch ungeahnte Tiefen, in denen es sich zurechtzufinden gilt. Weshalb ich angefangen habe, Drop It Like It’s Hot gleich ein zweites Mal zu lesen …

Uwe Ebbinghaus & Jan Wiele (Hg.), Drop It Like It’s Hot. 33 (fast) perfekte Popsongs. Reclam 2022, 15 Euro

Schokopudding & Stagediving

Luftgitarrengott von Herbert Hirschler: ein aberwitziger Musikroman mit volkstümlichem Wumms

Wer liest schon James Joyce, wenn die Sonne auf den Balkon oder den Strandkorb knallt? Urlaubslektüre muss leichtgängig und süffig sein, mit gelegentlichem Tiefgang. Und wenn das Lesepublikum auch noch staunen, sich obendrein mal aufregen kann, umso besser. Für Musikfans könnte Herbert Hirschler die perfekte Urlaubslektüre geschrieben haben. Der Österreicher, der mehrere Hundert Texte für Songs aus den Bereichen Schlager und Volksmusik auf dem Gewissen hat, darunter einige große Erfolge, erzählt in seinem Romandebüt Luftgitarrengott die haarsträubende Geschichte der hochmusikalischen Geschwister Bastian und Lisa Berger aus einem Städtchen mit dem lustigen Namen Singing: er ein begnadeter Songwriter und Hobbykellerproduzent mit Gespür für Riesenhits, aber introvertiert, etwas naiv und von Gewichtsproblemen gebeutelt – sie eine hyperattraktive Rampensau mit Wahnsinnsstimme, aber hochneurotisch, exzessiv und gnadenlos durchtrieben. Zunächst planen die beiden noch, als Duo berühmt zu werden, dann ergreift Lisa die erste sich bietende Topchance beim Schopf, gibt Bastians Songs als die ihren aus und steigt als Songwriterin Lucy Hill zum international gefeierten Superstar auf. Und nicht nur das: Wann immer sich für Bastian, der mit seinen Kumpels lediglich in einer Kneipenband rockt und wenigstens ein paar Songwriting-Tantiemen kassiert, die Möglichkeit ergibt, selbst zum Star zu werden, ist Lisa zur Stelle und macht all seine Hoffnungen zunichte. Den Rest erledigen dumme Zufälle.

Interessant ist der Aufbau des Romans: Zentrale Figur und Sympathieträger ist Bastian, erzählt wird sein gesamtes Leben, und zwar in Zehnjahresschritten – von vor(!) der Geburt bis zu seinem 90. Geburtstag, von 1980 bis 2070. Stets werden die Ereignisse der letzten Dekade aufgerollt, dann dürfen wir im Detail erleben, wie Bastians nächster runder Geburtstag ruiniert wird, meist von seiner durchgeknallten Schwester. Als bis zum Äußersten strapazierter „Running Gag“ zieht sich Weiße Rosen aus Athen durch die Geschichte – jener Erfolgsschlager von Nana Mouskouri, den Bastian und Lisa als Kinder regelmäßig für ihre Tante Finni singen müssen, der sie dann ein Leben lang verfolgt, aber für Bastian sehr, sehr spät noch eine große Rolle spielen soll. Atempausen gibt es in dieser Tour de Force keine. Im Grunde ist Luftgitarrengott eine flott und lässig dahingeworfene Aneinanderreihung von familiären und karrieretechnischen Katastrophen: Da landet Schokopudding im Aquarium, da gehen Kircheninnenräume in Flammen auf und platzen Studiotermine auf die tragischste Weise. Am Ende erscheint auch noch eine uneheliche Tochter Lisas, die Bastian weiteres Ungemach bereitet. Von schrecklichen Stagediving-Unfällen ganz zu schweigen.

Nein, Herbert Hirschler ist kein Mann der zarten, leisen Töne, auch nicht der tiefschürfenden Figuren- oder eleganten, auf Plausibilität bedachten Plotentwicklung. Bei ihm muss es krachen, Logik ist zweitrangig, die Charaktere haben etwas Holzschnittartiges, wirken wie in die Jetztzeit gebeamte Figuren der Commedia dell’arte. Sein auktorialer Erzähler bleibt nicht immer sachlich, schon gar nicht politisch korrekt – und so gibt’s auch mal Seitenhiebe gegen Veganer und Pflegekräfte aus der Ukraine. Mit Lust werden Musikbranchenklischees bedient, das vorherrschende Stilmittel ist die Übertreibung, und manchmal menschelt es arg an der Schwelle zum Kitsch. Lisa erlebt Aufstieg, Fall und Wiederaufstieg, Sex- und Drogenexzesse, vorübergehend landet sie in der Psychiatrie und wird sogar in einen halben Kriminalfall verwickelt. Bastian wiederum wird ob der vielen Misserfolge zum Alkoholiker, kann aber – unterstützt von seiner Frau Susi, einer wahren Lichtgestalt, und seiner Familie – die Sucht überwinden. Dass dieser talentierte Loser immer wieder mehr als vorhersehbar auf seine fiese Schwester hereinfällt und als trockener Alkoholiker sogar irgendwann aus Versehen eine ganze Flasche Whisky ex trinkt, weil er deren Inhalt für Apfelsaft hält, gehört zu den vielen Kapriolen der Story, die man auch mal schlucken muss.

Herbert Hirschler  (c) Gerald Tschank
Herbert Hirschler, Foto: (c) Gerald Tschank

Aber: Lässt man sich auf Hirschlers Holzhammerstil ein und begreift das Ganze als eine Art hippes Volkstheater, als derbe Musikposse, dann entwickelt der Roman nach und nach einen eigenartigen Sog. Und nicht selten erkennt man zwischen den Zeilen so etwas wie die Wahrheit. Es geht um die Absurdität unseres Daseins – und um die fragilen zwischenmenschlichen Bande, die am Ende doch alles zusammenhalten. So wie die Berger-Geschwister samt Kindern und Enkelkindern die Familientradition des ekstatischen Luftgitarrespielens perfektionieren, so treibt die Geschichte nach vielen Irrungen und Wirrungen plötzlich zielstrebig auf etwas Großes zu. Mit dem Effekt, dass man herrgottnochmal wissen will, wie das Ganze ausgeht. Und hier gelingt dem Autor auf den letzten 60 bis 80 Seiten ein geradezu herzzerreißendes Finale. In nicht wenigen Internet-Kundenrezensionen ist von ein paar Tränchen die Rede, die beim Lesen am Ende verdrückt wurden. Ein Effekt, den ich … ähm, räusper … bestätigen kann. Fazit: Luftgitarrengott ist ein sonderbarer Musikroman, der einen nicht kalt lässt – der unterhält, der rührt und hin und wieder enerviert. Ob’s ein Kultroman wird, muss die Zeit zeigen. Flotte Sonnenschirmlektüre ist er allemal.

Herbert Hirschler, Luftgitarrengott, 384 Seiten, Leykam 2021, 19 Euro (Taschenbuch)/14,90 Euro (Kindle)

Ein gedrucktes Denkmal für die elektronische (Club-)Musik

Das Corona-Desaster hat dramatische Entwicklungen beschleunigt, darunter auch diese: Die Techno-/House-getriebene Clubkultur ist historisch geworden. Zunehmend wehmütig und ergriffen vom jeweils eigenen fantastischen Beitrag beginnen DJ-, Booker-, Feier- und Medien-Persönlichkeiten, auf gut drei Jahrzehnte Rave & Roll zurückzublicken. Während man in Frankfurt am Main bald ein Museum of Modern Electronic Music (MOMEM) eröffnen will und mit „Electronic Germany“ schon einen Abriss der bundesrepublikanischen Technokultur vorgelegt hat, feiert „Blumenbar“, eine Marke des Berliner Aufbau Verlags, das 20-jährige Jubiläum von „Electronic Beats“ – der außergewöhnlichen Subkulturmarke des Telekom-Konzerns. „Electronic Beats“, Mitte März erschienen, entpuppt sich als schwergewichtiger Bild- und Essay-Band, der es in sich hat.

Für alle, die keine Lust auf längere Lesezeit haben, sondern einfach nur wissen wollen, ob das Buch meiner Meinung nach was taugt: Ja, es taugt was. Mit seinem raufasertapetenartigen Einband samt vieldeutiger Inschrift „Feelings aren’t final“ (Gefühle sind nicht endlich/endgültig/rechtskräftig) und dem teilweise starken Bildmaterial im Innenteil taugt es sogar zum eleganten Geschenk; aber natürlich sind es die Inhalte und die Leidenschaft für sein Thema, mit denen dieses Werk in erster Linie punktet. Als eigenwilliger Mix aus rauem Kunstband, schickem Coffeetable-Book und gehaltvollem Journalismus setzt „Electronic Beats“ der elektronischen (Club-)Musik ein gedrucktes Denkmal. Das kommt nicht ganz überraschend in einer Zeit, da Corona besiegelt, was sich vorher bereits abgezeichnet hatte: das vorläufige Ende einer Rave- und Clubkultur, wie sie in den Neunziger- und Zehnerjahren von Höhepunkt zu Höhepunkt eilte.

Die Marke „Electronic Beats“

Doch von vorn: „Electronic Beats“ ist kein irgendwie zufällig gewählter Buchtitel, sondern eine über 20 Jahre hinweg etablierte und gepflegte Marke. Dahinter steht, man glaubt es kaum, der Telekom-Konzern. Was im ersten Moment irritiert, folgt einer inneren Logik. Seit jeher versuchen große Konzerne, immer wieder neue und vor allem junge Zielgruppen zu erschließen. Und seit jeher bieten Lifestyle und Musik dafür gute Anknüpfungspunkte. Doch wo andere Unternehmen höchstens sponsern, eine Veranstaltung „präsentieren“ oder Stars für Promoaktionen gewinnen können, hat die Telekom spätestens seit Beginn der Digitalisierung und dem Siegeszug des Internets einen entscheidenden Vorteil: Sie war und ist unmittelbar in den popmusikalischen Austausch involviert. Wann immer räumlich getrennte Künstler:innen sich gegenseitig Soundfiles zwecks Komposition von Tracks zuschicken, wann immer Websites auf- und Podcasts abgerufen, Songs gestreamt oder Livekonzerte via Internet übertragen werden, liefert der deutsche Telekommunikationsriese die nötige Infrastruktur: Musik als Träger von Ideen – die Telekom als Trägerin von Musik. Was lag da näher, als selbst eine popkulturelle Marke ins Leben zu rufen, die sich vor allem auf elektronische Musik konzentriert: „Electronic Beats“ war geboren.

Die große Leistung der Telekom, über die man als kleiner Festnetz- oder Mobil-Kunde ja gern mal flucht, bestand nun darin, einen im Grunde simplen, aber oft ignorierten Sachverhalt zu beherzigen: Nichts ist wertvoller als Glaubwürdigkeit. Und so holte man kompetente Leute aus der Szene ins Boot, statt rasch ein seelenloses Marketingprodukt in die Welt zu setzen und die Zielgruppe noch rascher zu vergraulen: Musikjournalist:innen, DJs, Booker:innen oder Designfreaks, kurz: renommierte kreative Köpfe aller Disziplinen schlugen bei dem Branchengiganten auf und durften, tatsächlich, einfach machen. So nahmen unter dem Label „Electronic Beats“ fundierte DVD-Musikmagazine, Printmagazine, Festivals, eine Onlineplattform, Podcasts, virtuelle Konzerte oder ein Youtube-Kanal schillernde Gestalt an. Wo es kaum ästhetische oder inhaltliche Beschränkungen zu geben scheint, entsteht Raum zum Experimentieren, auch mal zum Scheitern oder zum Über-die-Stränge-Schlagen. Und so genießt „Electronic Beats“ bis heute ein hohes Maß an Credibility in der Szene. Die Angebote werden von den Fans genutzt, und nicht nur Underground-Helden wie Peaches, Carl Craig oder Hercules and Love Affair, auch Topstars von Gorillaz bis Billie Eilish, von Underworld bis The Prodigy gingen schon für die Telekom-Marke auf die Bühne. Entsprechende Festivals expandierten dann zunehmend nach Osteuropa, wo die Ravekultur auch Minderheiten, etwa der LGBT-Szene, die Möglichkeit bietet, sich auszudrücken, also verstärkt politische Kraft entwickelt. Diversität wird bei den Macher:innen von „Electronic Beats“ großgeschrieben – es ist in der Tat eine verwegene, zukunftsorientierte Marke, die der Kommunikationskonzern da unter seinem Dach hat erblühen lassen.

Kluger, abwechslungsreicher Mix

Nun könnte man erwarten, dass der Jubiläumsband zum 20-jährigen Bestehen ganz auf aufwendig gemachte Selbstbeweihräucherung setzt. Aber nichts da. Statt bunter Bildchen, gut abgehangener Porträts und euphorischer Rückblicke präsentiert das Buch einen klugen, abwechslungsreichen Mix aus Szene-Interviews, ungewöhnlichen Reportagen, taffen Gesprächsrunden und tiefschürfenden Essays. Dabei begibt er sich häufiger auf so etwas wie die Metaebene, um dem Lesepublikum Erkenntnisgewinn zu vermitteln. Letztlich bekommt man einen Eindruck davon, wie die Rave- und Clubszene tickt, was die Faszination des Auflegens, die Faszination des Kontrollverlusts beim Tanzen ausmacht, wie elektronische Beats musikhistorisch einzuordnen sind, welche Synthesen sie mit Computergames eingehen, sogar welchen Zwängen die mediale Berichterstattung über Clubkultur ausgesetzt ist und wie es nach der Corona-Pandemie weitergehen könnte. Es ist ein mit Herz und Verstand zusammengestellter Rundumschlag, der Interessierten die Augen öffnet und selbst Insidern noch einiges an interessanten Informationen bieten dürfte.

Zu Beginn erzählt eine geschickte Collage aus O-Tönen der Macher:innen, wie sich das „Electronic Beats“-Universum Schritt für Schritt entwickelt hat. Für gute Laune sorgt ein Elder-Statesman-Talk zwischen Bryan Ferry und Dieter Meier (Yello), bevor zwei unkonventionelle Reportagen nachdenkliche Akzente setzen: In Kalabrien gibt es unter dem Stichwort „Tarantella“ rituelle Lieder und vor allem Tänze, in denen Mitglieder krimineller Banden miteinander kommunizieren, auch Konflikte austragen. So etwas liest man nicht jeden Tag … Im repressiven Georgien wiederum hat sich ein wegen eines Bagatelldelikts verurteilter DJ und Veranstalter im Knast zu einem Producer entwickelt. Ein dezidiertes Musikkapitel beleuchtet unter anderem die interessante Geschichte der Drum Machine und nennt Pionierinnen der elektronischen Musik: Namen und Zusammenhänge, die zum Weiterrecherchieren anregen. Schauspieler Lars Eidinger wird dann auch noch interviewt, und ja, das ergibt Sinn – ist er doch selbst als DJ aktiv und genießt wegen seiner schrägen Auftritte in Musikvideos von Deichkind zusätzlichen Kultstatus. Allerdings: So wunderbar Eidinger spielt, so spätpubertär wirkt manches, was er jenseits von Bühne und Filmset von sich gibt. Das Gespräch mit „Electronic Beats“ ist einigermaßen informativ und erträglich, doch auch hier macht er selbstverliebt auf „Ich bin anders, ja beinahe selbst ein Kunstwerk“. Zitat: „Mir macht es am meisten Spaß, erst beim Reden Gedanken überhaupt zu verfassen. Ich fordere mich dabei selbst – und hatte schon immer Freude daran, mal die genaue Gegenposition einzunehmen von dem, was ich eigentlich denke. (…) Ich bewundere diejenigen, die im Lauf eines Gesprächs ihre Meinung ändern.“ Ach, Lars … Wie bodenständig und berührend sind dagegen die an anderer Stelle im Buch wiedergegebenen Erinnerungen von Ellen Allien oder die Aussagen und Lebensgeschichten einer Barfrau, eines Hausmeisters, eines künstlerischen Leiters und anderer Club-Persönlichkeiten, die von Heimatverlust und Existenzangst im Angesicht der Corona-Pandemie erzählen.

Starke Marken, starker Druck

Wieder aufschlussreicher wird es im Kapitel „Marken“: Wir erfahren, dass und warum klassische Musik-Labels an Bedeutung verloren haben; dass auch moderne Protestbewegungen wie „Fridays for Future“ und „Black Lives Matter“ als starke Marken funktionieren, obwohl ihre Repräsentant:innen das selten so sehen wollen; und dass selbst Superstar Beyoncé bei allen Ansätzen zum Ausverkauf einen Hauch an feministischer Inspiration ins Publikum rettet. Wie aufrechte Journalist:innen und Musikmedien bei sinkenden Reichweiten und geringeren Verdienstmöglichkeiten damit umgehen, dass große Unternehmen den PR-Druck erhöhen, erörtert eine spannende Diskussionsrunde, auch vor dem Hintergrund, dass heute via „Social Media“ praktisch jede:r als Medium senden kann – dass wir zu so etwas wie einer „redaktionellen Gesellschaft“ mutieren.

Daran knüpft nahtlos das Kapitel über Vernetzung und Kommunikation an. Die Ravekultur in Osteuropa als befreiender, als politischer Akt ist ein ebenso spannendes Thema wie der Aufstieg der Rapmusik an den herkömmlichen Medien vorbei. Nach dem Lesen dieses Beitrags versteht man etwas besser, wieso Gangsta-Rap regelmäßig an der Spitze der Charts rangiert, ohne dass das fragwürdige Zeug im Radio läuft. Von Honey Dijon hatte ich persönlich noch nie etwas gehört, ein von schicken Schwarz-Weiß-Porträts begleitetes Gespräch weckt aber Interesse an den Clubsounds und dem politischen Engagement des Transgender-Stars. „Wie die Musik aufs Handy kam“, „Vernetzte Musikproduktion“ und „Vom Buchdruck zum Stream“, das sind selbsterklärende Titel für lehrreiche Essays, die den historisch-theoretischen Background beleuchten und zeigen, welchen Veränderungen die Musik der letzten 20 Jahre unterworfen war.

Räume für die Zukunft

Den Aspekt des radikalen Wandels spinnt dann auch das letzte Buchkapitel „Räume“ weiter. Unter anderem erörtert es ein faszinierendes  Konzertevent im Rahmen einer Fantasy-Computerspielwelt: Im April 2020 ließ Rapper Travis Scott tatsächlich seinen Avatar live im Rahmen des Onlinespiels „Fortnite“ auftreten, inklusive Präsentation eines neuen Tracks. Sage und schreibe 27,7 Millionen Menschen schauten zu, einfach unglaublich. Astronomical, noch heute auf Youtube zu bewundern, lässt erahnen, was im nächsten Jahrzehnt an weiteren verrückten Musikentwicklungen auf uns zukommen könnte. Skeptisch war ich bei einem Beitrag über Clubs als Kirchen von heute – der Text der aktuellen „Electronic Beats“-Chefredakteurin Whitney Wei stellt dann allerdings erstaunliche Bezüge und Assoziationen her. Damit unterstreicht er, was gerade durch Corona verloren geht. Werden sich nach der Pandemie die Gagen-Exzesse der letzten Jahre erledigt haben? Werden die Line-ups in Clubs regionaler? Und inwieweit wird die Clubkultur überhaupt überleben? Das sind Fragen, die eine abschließende Gesprächsrunde erörtert. Und dann ist der letzte Track verklungen. Das Licht geht an, wir müssen zurück in den Alltag. Ein schwermütiger, aber ehrlicher Kehraus.

„Keine Serendipität …“

Es sind der Mut zu unkonventionellen Ansichten, ein Bewusstsein für historische Kontexte, fundiertes Expert:innenwissen und eine klare politische Haltung, die dieses Buch so lesenswert machen. „Electronic Beats“ kommt mit einer Ernsthaftigkeit daher, die beeindruckt. Genau diese Ernsthaftigkeit aber, und damit sind wir bei den Schwachpunkten aus meiner Sicht, wirkt ab und an befremdend. In anderen Worten: Nur Bryan Ferry und Dieter Meier dürften dem Lesepublikum ein Schmunzeln entlocken, der Rest ist komplett humorfrei. Wo bleibt der Spaß? Und: Vielleicht hätte hier und da auch ein Schuss Selbstironie gutgetan. Dahinter, so mein Eindruck, steht das Bemühen, der elektronischen (Club-)Musik höhere Weihen angedeihen zu lassen, sie als würdigen Gegenstand akademischer Forschung zu etablieren. Vielleicht auch Stolz und das Bedürfnis, dem Auftraggeber gegenüber die eigene Daseinsberechtigung zu formulieren. À la: Ihr könnt sicher sein: Ihr finanziert da eine total wichtige Sache, ihr finanziert Hochkultur! Fun und Rausch, aber leider auch die Begleiterscheinung, dass man es in der Clubkultur gelegentlich mit einfach nur zugedröhnten jungen Menschen zu tun hat, werden da möglicherweise bewusst ausgeblendet. „Dass ausgerechnet der ehemalige Staatskonzern Telekom mit Electronic Beats eine der zentralen Plattformen der elektronischen Musikkultur etabliert hat, ist keine Serendipität und zugleich eine Geschichte voller interessanter Wendungen und glücklicher Entscheidungen“, schwelgt Ji-Hun Kim, Ex-Chefredakteur von „De:Bug“ und Redaktionsleiter „Das Filter“, im Vorwort. Als verantwortlicher Konzeptioner und Redakteur des „Electronic Beats“-Jubiläumbandes feiert er am Ende des kurzen Texts „das Entwickeln neuer Narrative und auch das persistente Führen aktueller Debatten“. Holla! Ich habe das Große Latinum und, hey, ein Studium absolviert, aber das Wort „Serendipität“ musste ich nachschauen. Es bedeutet „Zufälligkeit“. Wie banal. Mit Blick auf den schillernden Gegenstand von „Electronic Beats“ und die abgebildete Partyszene wirkt das Wort ebenso fehl am Platz wie das Geschwurbel um Narrative und persistente, sprich: anhaltende Debatten. Da schwört die Redaktion Stein und Bein auf Diversität und Gleichberechtigung, erhebt sich aber gerade sprachlich klar über das Durchschnitts-Clubpublikum. Bestimmt keine Absicht, aber auch eine Form von Ausgrenzung.

Richtig problematisch wird das bei Jens Gerrit Papenburg, seines Zeichens Professor für Musikwissenschaft und Sound Studies. Eigentlich beackert er in seinem Essay „Bewirtschaftung der Zukunft“ ein spannendes Thema, nämlich die Art und Weise, wie Big Data, Streamingdienste, Empfehlungsalgorithmen und aktive Kopfhörer unseren Musikkonsum verändern. Was er dann aber auf vielen Buchseiten über sogenanntes „Soundfilehören“ zu Papier bringt, ist anstrengendster elitärer Wissenschaftsjargon, hinter dem das Thema buchstäblich verpufft. Kostprobe: „Eine Bewirtschaftung des Musikhörens begreift das Hören als Ressource und als ökonomisches Problem. Als Ressource soll es exploriert werden, dabei aber nicht nur als Bestandteil einer vordergründigen Aufmerksamkeitsökonomie nutzbar gemacht werden. Zudem sollen die Ohren auch für die affektiven Hintergründe sensibilisiert werden. Jedoch umfasst Bewirtschaftung neben Ökonomisierung immer auch eine zweite Hälfte: die Kultivierung respektive Kulturalisierung. (…) Eine Bewirtschaftung des Hörens umfasst neben Ökonomie und Medien immer auch schon Kultur und Ästhetik.“ Uffz … Vielleicht lassen sich mit Texten dieser Art wissenschaftliche Fachpublikationen erfolgreich bewirtschaften – für „Electronic Beats“ hätte Papenburg seine Thesen in verständliche Sätze kleiden sollen.

Publikumsnäher, dafür ohne wirklichen roten Faden kommt ein Text des DJs, Label-Betreibers und Producers Daniel Wang daher. Wang versucht sich an einem „Plädoyer gegen das Mittelmaß auf dem Dancefloor“ und hat eigentlich im Spitztitel schon alles gesagt. Beim Versuch „die Evolution der populären Musik“ nachzuzeichnen, verzettelt sich der ansonsten sehr sympathisch wirkende Fachmann gehörig zwischen Trio, Wagner, Fela Kuti und YMCA. Das wirkt vor allem prätentiös, erst recht mit Blick auf die simple Message seines Beitrags: Mehr Musikalität, mehr Qualität in der Dance-Musik bitte! Der Wunsch nach einer strenger redigierenden Hand drängt sich schließlich auch beim Lesen des Interviews mit Billie Eilish auf. Klar haben wir es mit einer hochbegabten Teenage-Künstlerin zu tun – aber man muss dem Gespräch doch nicht diesen blödsinnigen BRAVO-/Onkel-Touch geben. „Wie geht es dir? Was machst du im Moment? Was sind die Namen deiner Welpen? Was war die beste Entscheidung, die du in deiner Karriere getroffen hast? Hast du konkrete Ziele oder Träume, denen du nacheiferst? Vielleicht sollten mehr Leute Pitbulls adoptieren?“ Derek Opperman stellt tatsächlich diese Fragen: Wo Herr Papenburg eine lupenreine Überperformance liefert, erreicht er unterirdisches Niveau.

Let’s talk about Handwerk

Das war’s aber auch schon an Beiträgen, die mich irritiert haben. Drei Ausrutscher? Auf 300 Seiten eine verschwindend geringe Zahl! Bleiben ein paar handwerkliche Dinge, die ich nicht schön finde, die aber letztlich zu verkraften sind: die fehlenden Porträts der Gesprächsrundenteilnehmer:innen – man würde doch gern auch mal sehen, wer da spricht; Doppelseiten, die nur aus Text bestehen und beim Lesen ermüden; gelegentlich weiße Schrift auf pechschwarzem oder leuchtend rotem Untergrund, eine Belastung für die Augen; schwarze Bildunterschriften über quietschbunten Fotos, nur durch Zufall zu erkennen – das hätte man von den renommierten Designern Meiré und Meiré nicht erwartet; und überraschend viele Kommafehler, der eine oder andere vertrackte Satz – bezeichnenderweise sind Lektor:innen im Impressum nicht aufgeführt. Dabei sind sie extrem wichtig für eine Buchproduktion, und auch sie brauchen Aufträge. In Corona-Zeiten mehr denn je.

Letzter Kritikpunkt: die auffällige Hauptstadtlastigkeit. Über die gesamte „Electronic Beats“-Produktpalette hinweg mag das anders sein, aber im Jubiläumsband wird sie spürbar. Die überwiegende Zahl der Mitwirkenden „lebt“ oder „lebt und arbeitet in Berlin“, großen Raum nimmt die dortige Szene ein, zum Beispiel der „Tresor“. Wenn aus dem Rest der Republik lediglich ein Augsburger Club oder das Offenbacher Housejuwel „Robert Johnson“ hier und da erwähnt werden, ansonsten London, Chicago oder New York und eben Berlin als „Electronic Beats“-Zentren erscheinen, muss man als Frankfurter schon mal schmunzeln. In der Mainmetrole, die einen nicht unbedeutenden Beitrag zur globalen Clubkultur der letzten 30 Jahre geleistet hat, entsteht gerade das MOMEM – das Museum of Modern Electronic Music –, und aus der Mainmetropole hat vor nicht allzu langer Zeit Christian Arndt die ebenfalls monumentale Buchveröffentlichung „Electronic Germany“ in die Welt geschickt. Weniger theoretisch, eher dokumentarisch, letztlich offener. Aber lassen wir das, über Blasen und den leichten Hang zum Nerdtum sollen andere urteilen. Feiern wir lieber die vielen anregenden, lehrreichen, erhellenden und beeindruckenden Seiten dieses Buchs, das in Anbetracht der Qualität, die es bietet, einen mehr als fairen Preis verlangt. 4 von 5 Sternen, 8 von 10 Punkten, 4 to the floor!

Electronic Beats
Hg. Deutsche Telekom AG
Leinen, 304 Seiten
Blumenbar
978-3-351-05088-7
34,00 €

A Scotsman in New York

David Byrnes wunderbares Buch How Music Works

Es sind nun schon acht Jahre vergangen, seit dieses Buch in der englischen Originalausgabe erschienen ist, aber was soll ich machen: Ich hab’s nun mal jetzt erst für mich entdeckt. Und dieser Blog gibt mir alle Freiheiten: Ich kann darin thematisieren, was immer ich will – und wann ich es will. „To work“ heißt auf Deutsch „arbeiten“, „funktionieren“, auch „klappen“ und „gelingen“, insofern ist „Wie Musik wirkt“, die deutsche Übersetzung des Buchtitels, nicht ganz akkurat. „How Music Works“, die 2012 erschienene Abhandlung des Talking-Heads-Masterminds David Byrne, ist eben keine Wirkungsgeschichte, kein Fabulieren über das, was Musik mit dem Publikum macht, sondern eine Compilation aus Betrachtungen über das Wesen von Musik, über Bedingungen ihrer Produktion, über die Rolle, die die Künstlerpersönlichkeit dabei spielt, über die Funktion von Musik in der Gesellschaft.

Das klingt erst mal sehr abstrakt und hat, das gebe ich gerne zu, auch in mir Vorbehalte geweckt. Aber diese Vorbehalte haben sich beim Lesen rasch zerstreut. Warum? Weil David Byrne sehr unterhaltsam schreibt und dabei immer wieder zum Brüllen komische Spitzen einbaut; weil er auf den Punkt formuliert; weil er hochspannende Informationen präsentiert; und – vor allem – weil er wirklich erhellende Einblicke in seine Arbeit mit den Talking Heads und anderen hochkarätigen Künstlerinnen und Künstlern gewährt. Hier spricht kein Intellektueller im Elfenbeinturm, auch kein selbstverliebtes selbst erklärtes Genie, sondern ein mit reichlich Humor und feiner Ironie gesegneter kreativer Kosmopolit, der völlig unprätentiös von seinem Schaffen, seinen Erlebnissen und seinen beglückenden Erfahrungen mit guter Musik berichtet, ob es sich nun um Rock, Jazz, Wave oder Latin, um Klassik oder Pop, um vermeintliche U- oder mutmaßliche E-Musik handelt, um rituelle, improvisierte oder von Künstlicher Intelligenz hervorgebrachte Musik, um individuelle Songs oder für Musicalproduktionen konzipierte Auftragslieder. Natürlich bekommt man zwischen den Zeilen mit, welche Arten von Musik, welche Künstlerpersönlichkeiten und welche Entwicklungen im Musikbusiness er gut findet und welche weniger – aber stets erweist sich Byrne als Gentleman und begegnet den Phänomenen und Charakteren, über die er schreibt, mit Aufgeschlossenheit und Respekt, notfalls mit einem vielsagenden Augenzwinkern.

Wer hochtrabende postrukturalistisch, marxistisch oder anderweitig ideologisch gefärbte Betrachtungen erwartet, wird hier glücklicherweise ebenso enttäuscht wie ein Publikum, das auf Sex-and-drugs-and-rock-and-roll-Geschichten, auf Anekdoten aus der US-Post-Punk-Szene oder auf peinliche Geständnisse aus Byrnes Privatleben hofft. Byrne hegt eine viel zu große Skepsis gegenüber Rockismen oder gebrochen-genialischen Künstlerseelen und ist auf seinem kreativen Weg viel zu sehr zum Universalgelehrten in Sachen Musik gereift, um sich mit Boulevardkram dieser Art zu beschäftigen. Mit Sicherheit hatte er sehr viel Spaß im „Rockzirkus“, das kann, wer will, aus dem Buch herauslesen; aber vor allem ging (und geht) es ihm um das Entdecken und Erforschen, um ständig neue Erfahrungen, um die Verwirklichung von Ideen und um die Kotrolle über sein eigenes künstlerisches Tun.

So erfahren wir, wie Musik in archaischen Gemeinschaften
funktionierte und wie sie sich über die Jahrhunderte zum Produkt entwickelte; wie
die Orte und Kontexte, in denen Musik aufgeführt wird, ihre Beschaffenheit
bestimmen; oder wie auch Künstlerinnen und Künstler immer nur mit den ihnen zur
Verfügung stehenden Mitteln und Ressourcen arbeiten können, von den eigenen
Fähigkeiten über die verfügbaren technischen Mittel bis hin zu den
Mitstreitern. Natürlich leugnet Byrne nicht, dass individuelle Kompetenzen und
Eingebungen beim Musikmachen eine Rolle spielen – und doch macht er anschaulich
deutlich, dass nicht wir die Musik spielen, sondern dass die Musik zu einem
großen Teil uns spielt. Eine wohltuend realistische Absage an das romantische Konzept
vom genialisch kaputten, visionären Künstler, der aus den Abgründen seiner
Seele Einzigartiges erschafft. Die zum Teil aberwitzige Entwicklung von den
ersten erfolgreichen Schallaufzeichnungen bis zur Entstehung einer Platten- und
Musikindustrie werden ebenso packend veranschaulicht wie die neuerlichen
Umwälzungen, die sich aus der Digitalisierung ergeben haben. Und mittendrin in
all dem Chaos: David Byrne und die Talking Heads, David Byrne und Brian Eno,
David Byrne und Fatboy Slim, David Byrne und die Weltmusiker dieser Welt.

Schon in einem der ersten Kapitel gibt es Betrachtungen zur Arbeit der Talking Heads, und gerade wenn man glaubt, man hätte schon alles Wesentliche zu diesem Thema erfasst, erhält man gegen Ende des Buchs mit ausführlichen Betrachtungen zum Geschehen im und um den legendären New Yorker Club „CBGB’s“ erst das vollständige Bild. „How to Make a Scene“ heißt das schöne Kapitel, in dem Byrne schildert, wie sich in einem abgerissenen Club in einem abgerissenen Viertel New Yorks jene schillernde Szene entwickeln konnte, aus der Tom Verlaine und Television, Blondie, die Patti Smith Group, The Ramones und nicht zuletzt die Talking Heads hervorgingen. Anders als die traditionellen Musikclubs der Stadt, die zum Teil drei verschieden Konzerte etablierter Acts an einem Abend veranstalteten, für die jeweils neu Eintritt gezahlt werden musste(!), ließ sich der Macher des CBGB’s in den 1970ern dazu überreden, ein geringes Eintrittsgeld zu erheben, das die Bands des Abends ausgezahlt bekamen, und ansonsten die Einnahmen aus den Getränken zu kassieren. So wurde der einstige Biker-Club nicht nur zu einer Goldgrube für den Betreiber, sondern auch zu einem unvergleichlichen künstlerischen Experimentierfeld, zu einem zwanglosen Treff, in dem junge, von der Rockgigantomanie à la Eagles und Fleetwood Mac enttäuschte Bands ihre eigenen Vorstellungen einer zeitgemäßen Popmusik präsentieren konnten. Es gab keinen richtigen Backstage-Bereich, auch der Aufbau des Equipments und das Stimmen der Instrumente geschahen vor den Augen des Publikums, die Bühne war eher irgendwo am Rande platziert, die Gäste tranken an der langgezogenen Bar oder spielten Billard, auch waren all die innerlich brennenden Combos nicht unbedingt solidarisch miteinander. Ganz wichtig war ironischerweise, dass niemand gezwungen war, andächtig zu lauschen. Das Lob eines Billard-Spielers, der den ganzen Abend mit dem Rücken zur Band ein paar Kugeln über den Tisch gestoßen hatte, war manchmal das einzige und motivierendste Feedback, das man als Künstler bekam. Byrne unterstreicht diese eher nüchternen Beschreibungen mit wenig glamourösen Fotos und selbst gezeichneten Lageplänen des Clubs – wodurch man einen ziemlich lebendigen Eindruck von dieser Location und ihrer spezifischen Szene erhält, die so mancher erwartungsvolle Schaulustige und Rocktourist entsetzt wieder verließ.

Es war hier im CBGB’s, wo Byrne, der mit seinen Bandkollegen in einer WG lebte, nach Jahren des ziellosen Straßenmusikertums und nerdigen Noise-Produzierens im Jugendzimmer seine Ideen von einer neuen Popmusik als „work in progress“ ausprobieren und weiterentwickeln konnte. Da waren die Pop-Art-Bands, die Expressionisten und die posenden Romantiker unter den jungen New Yorker Bands – die Talking Heads wiederum gehörten zu den Konzeptkünstlern und Minimalisten: Genüsslich befreiten sie ihre Musik und Bühnenshows von allem Rock-, Barock- und Kunst-Bombast, kleideten sich wie Otto Normalbürger, sangen von Angst, Psychosen und gestörten Beziehungen und untermauerten das Ganze rhythmisch mit alten Funk- und Soul-Grooves. Verfremdungseffekt Galore, hochartifiziell und doch ungeheuer mitreißend. So entstand jene blassgesichtig-linkische Tanzmusik, die Rocktraditionalisten in den Wahnsinn trieb, aber nachrückende Generationen elektrisierte. Entdeckungsfreudige Künstler, die sie waren, entwickelten sich die Talking Heads rasch weiter, und der weitgereiste Byrne, immer auf der Suche nach neuen künstlerischen Erfahrungen, begann, sein Konzept zu variieren. Er entdeckte Parallelen zwischen den Posen großer Rockstars und den stilisierten Präsentationsformen des traditionellen japanischen Theaters, spürte dem rituellen Charakter afrikanischer Musik nach und passte seine Bühnenkonzepte immer wieder an. Jemand sagte ihm, auf der Bühne müsse alles ein bisschen größer sein als im wirklichen Leben – weshalb er sich im überdimensionierten Anzug präsentierte und nicht nur zu dem bahnbrechenden Album Remain In Light gelangte, sondern auch zu gefeierten Tourneen mit einer polyrhythmisch versierten Funk-Rock-Truppe. Später baute er in seine Shows Informationen darüber ein, wie diese Shows „gemacht“ waren, indem er die einzelnen Bühnen- und Beleuchtungslemente nach und nach auf die Bühne rollen und installieren ließ – eine wunderbare Botschaft auf der Metaebene, die den Zauber der Live-Performance in keinster Weise trübte. Dann folgte die Entdeckung der lateinamerikanischen Musik mit den entsprechenden Song- und Tourkonzepten, und so weiter und so fort.

Ich hatte immer ein GEFÜHL zu den Talking Heads und zu David Byrne, aber nach der Lektüre von How Music Works verstehe ich erstmals wirklich, was hinter dieser Musik und den Konzerten steckte, und zwar ohne dass es die Faszination zerstört. Dasselbe gilt für die geschilderten Details zur Entstehung einiger Songtexte, etwa zu Once In A Lifetime: Selbstverständlich macht David Byrne nicht den Fehler, seine Lyrics bis ins kleinste Detail zu erklären und sich damit festzulegen. Aber er verrät, wie diese teils kryptischen und doch zwingenden Lyrics entstanden sind, und regt dazu an, sich näher mit ihnen zu beschäftigen. Auch hier wird deutlich: Abgesehen von Auftragslyrics für ein Musical, die bestimmte Funktionen innerhalb eines Gesamtswerks zu erfüllen hatten, waren die Songtexte auch den Entstehungsbedingungen im Proberaum oder im Studio geschuldet, den Voraussetzungen, die man vorher festgelegt hatte oder die sich einfach irgendwie ergaben. Mr. Spock, der eigentlich gar nicht hierhergehört, würde sagen: Faszinierend!

Gibt es weniger gelungene Passagen in diesem Buch? Nicht wirklich. Auch wenn ich gestehen muss, dass ich zwei Kapitel eher flüchtig gelesen und darin sogar ein paar Seiten übersprungen habe. Das eine, „Business and Finances“, handelt fast schon betriebswirtschaftlich akkurat von Vertragsformen und Kostenplanungen für Tour- und Studioprojekte. Das andere, „Harmonia Mundi“, kreist um das Wesen und den Ursprung von Musik und die teils bizarren philosophischen Konzepte, die die Menschheitsgeschichte dazu hervorgebracht hat. Da wird es beinahe ein wenig esoterisch. Ich bin aber sicher, gerade aufstrebende Musikerinnen und Musiker, die hoffnungsvoll an ihrem Erfolg basteln, werden in „Business and Finances“ wertvolle Hinweise für ein gezieltes wirtschaftliches Produzieren finden und sich deutlich motiviert fühlen, ihre Karriere nicht irgendwelchen Managern und windigen Plattenfirmen anzuvertrauen, sondern sie mutig in die eigenen Hände zu nehmen. „Harmonia Mundi“ wiederum lässt sich, bei allen endlosen Abschweifungen, auf den einen schönen Nenner bringen: Musik ist und bleibt letztlich etwas Geheimnisvolles, dessen Wesen unergründlich ist. Irgendwie scheint Musik von vorneherein im Menschen zu schlummern. Und wie auch immer: Hauptsache, sie berührt und bewegt – nichts anderes zählt.

Gerade als ich hier einmal wieder weiterblättern wollte, erzählte Byrne noch von Kirchenvater Augustinus und seiner Annahme, jeder Mensch würde im Moment des Todes einen göttlichen kosmischen Akkord vernehmen und dazu die letzten Geheimnisse des Universums enthüllt bekommen. Trockener Kommentar von Freigeist Byrne: „very exciting, although just a little late to be of much use.“ Eigentlich nachvollziehbar: Was bringt mir die Erkenntnis der Geheimnisse des Universums, wenn ich im nächsten Moment tot bin? Jene Geheimnisse, die Augustinus gekannt haben soll, seien dann über Jahrhunderte weitergereicht worden, heißt es weiter, seien aber, wie Renaissance-Philosophen einräumten, irgendwann  leider verloren gegangen. Byrnes Fazit: „Oops.“ Es sind staubtrockene Einschübe wie diese, die die Leserin, den Leser bis zuletzt bei der Stange halten. Und dazu anregen, Byrnes spätere Alben American Utopia oder Here Lies Love (mit Gatsängerinnen wie Roisin Murphy, Kate Pierson, Santigold und der unterschätzten Nicole Atkins) noch einmal hervorzukramen.

David Byrne, How Music Works, Edinburgh/London 2012.