Birdy gibt den Cherry Ghost

Läuft zurzeit immer öfter im Radio: People Help The People, ein wunderschöner Schmachtfetzen, gesungen von der Britin Birdy, die im Mai gerade mal 17 wird.

Birdy steht für Coverversionen von Songs nicht ganz so offensichtlicher Künstler. Während andere aufstrebende Stars gerne irgendwelche Welthits neu verwursten, um auf sich aufmerksam zu machen, wählt Birdy – Hut ab! – bevorzugt In- und Kenner-Material für ihre Single-Veröffentlichungen aus. So hatte sie ihre ersten großen Erfolge mit Songs von Bon Iver (Skinny Love) und The xx (Shelter). Auch People Help The People stammt nicht von Birdy selbst, sondern von der wunderbaren britischen Band Cherry Ghost, für die ich neulich schon mal in diesem Blog geschwärmt hatte.

Die Lyrics wirken auf den ersten Blick recht simpel, erweisen sich aber bei genauerem Hinhören als ganz schön vertrackt. Sicher liegt man nicht falsch, wenn man im hymnischen Refrain die einfache, klare Kernaussage vernimmt: Menschen sollten einander helfen. „People help the people / And if you’re homesick, give me your hand and I’ll hold it / People help the people / And nothing will drag you down.“ Zu Deutsch: „Menschen helfen den Menschen (oder: Menschen, helft den Menschen!) / Und wenn du Heimweh hast, gib mir deine Hand, und ich werde sie halten. / Wenn Menschen den Menschen helfen, / wird nichts dich runterziehen…“

In den Strophen aber werden lauter Menschen angesprochen, die verschlossen oder von inneren Dämonen getrieben sind, die etwas für sich behalten, sich zudröhnen und andere Menschen verletzen – sowie Menschen, die von anderen Menschen enttäuscht werden. So heißt es in der ersten Strophe ziemlich bilderreich: „God knows what is hiding in that weak and drunken heart / I guess you kissed the girls and made them cry / Those hard-faced queens of misadventure“, und: „God knows what is hiding in those weak and sunken eyes / A fiery throng of muted angels giving love and getting nothing back.“ Also: „Weiß Gott, was sich in diesem schwachen, trunkenen Herz verbirgt… / Ich schätze, du hast die Mädchen geküsst und sie unglücklich gemacht, / diese Königinnen des Missgeschicks mit den steinernen Gesichtszügen. / Weiß Gott, was sich in diesen (deren?) schwachen, eingefallenen Augen verbirgt… / Ein flammendes Gedränge stummer Engel, die Liebe geben und nichts zurückbekommen…“

Bezeichnend sind auch die den Refrain abschliependen widersprüchlichen Verse: „Oh, and if I had a brain I’d be cold as a stone and rich as the fool / That turned all those good hearts away…“ – „Oh, und hätte ich ein Hirn, dann wäre ich einfach kalt wie Stein und so reich wie der Dummkopf, der all diese guten Herzen weggeschickt hat…“ Das klingt, als sei es womöglich schlauer, eiskalt durchs Leben zu gehen und nur nichts an sich heranzulassen, um ja keine Verletzungen zu erleiden – und gleichzeitig wird diese Haltung als letztlich „dumm“ charakterisiert. Auch im weiteren Verlauf des Songs geht es um dunkle Dinge, die sich hinter Tränen und in Lebenslügen verbergen, um die Einsamkeit, die die Menschen umschlosse hält.

Ein existenzialistisches Statement? Der Einzelne hilflos zurückgeworfen auf sich selbst und seine Abgründe, obwohl er doch in komplexen Beziehungen mit vielen anderen Menschen lebt? Ein solches Statement kann man ebenso heraushören wie den einfachen Appell an Aufrichtigkeit, Mitmenschlichkeit, Empathie. Vertrackt wirkt der Songtext, weil nicht immer klar ist, auf wen sich was bezieht – etwa das flammende Gedränge stummer Engel in der ersten Strophe – und weil sich das Song-Ich nur schwer festmachen, kaum identifizieren lässt. Über weite Strecken scheint der Sprecher von außen auf die Welt und das deprimierende Mit- bzw. Gegeneinander der Menschen zu blicken. Ist er wirklich in der Lage, zu helfen, eine Hand zu reichen, wenn es jemandem schlecht geht?

Aber vielleicht haben wir es hier auch gar nicht mit einem durchgehenden Ich-Sprecher zu tun, der seine Gedanken über die Welt und die Menschen äußert, sondern nur mit als O-Tönen in Ichform wiedergegebenen Haltungen einzelner Menschen. Oder mit möglichen Haltungen. „Wie schön wäre es, wenn die Menschen einander helfen würden“, mag sich mancher denken, „wenn du Heimweh oder andere Schwierigkeiten hättest, dann würde ich dir einfach meine Hand hinhalten.“ Während sich jemand anders vielleicht sagt: „Könnte ich doch nur gefühl- und herzlos sein, dann hätte ich weniger Probleme, so dumm das auch wäre.“ „No one needs to be alone, oh, save me“, heißt es an einer anderen Stelle, also: „Niemand muss einsam sein, oh, außer mir“, worin sich wiederum eine weitverbreitete Haltung des Selbstmitleids andeuten könnte.

Ob Montage von Haltungen und Beobachtungen oder Gedankengang eines einheitlichen Ich-Sprechers – People Help The People ist auf jeden Fall ein Song, über den man herzhaft nachdenken kann. Und den man sich unbedingt auch im (natürlich tausend Mal besseren) Original von Cherry Ghost anhören sollte!

frei.wild oder: Das fiese Handwerk des Falsch-verstanden-Werdens

Als Song- und Lyrics-Freund muss ich manchmal leiden. Es sind jedoch nicht 08/15-Songs und Klischeetexte, die mich leiden lassen – die gehören einfach dazu und haben oft sogar einen gewissen Trash- oder anderen Unterhaltungswert; nein, es sind Songs und Lyrics, die miese Assoziationen wecken, die vom Hörer verlangen, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob ihre Urheber Frauen- oder Schwulenfeinde, Antisemiten oder Neonazis sind.

Das letzte Mal habe ich wegen Xavas gelitten: Ihr selten dämlicher Song Wo sind sie? hatte kaum belegbare „Ritualmorde an Kindern“ (ein echtes Nicht-Thema) angeprangert und dabei unnötigerweise Antifaschisten sowie Lesben- und Schwulenorganisationen auf den Plan gerufen, die jede Menge Unkorrektes herausgehört haben wollten. Meine genauere Analyse mündete dann in eine Verteidigung des Künstlerduos, allerdings in eine schlechtgelaunte. Wie blöd kann man nur sein?, hätte ich Xavier Naidoo und Kool Savas am liebsten zugerufen.

Aktuell lässt mich frei.wild leiden, jene Band, wegen der sich Kraftklub und Mia von der Echo-Nominiertenliste streichen ließen. Und diesmal springt nicht mal eine schlechtgelaunte Verteidigung dabei heraus. Denn die Südtiroler „Deutschrocker“ kotzen mich einfach nachhaltig an. Seit Jahren schon streiten sie eine rechtsradikale Gesinnung ab, äußern sich sogar in Songtexten gegen Neonazis – und tun doch alles, um diese leidige Diskussion immer wieder zu befeuern, unter klammheimlichem Beifall von Teilen der rechten Szene.

Da sind Widersprüche – etwa wenn die Band einerseits behauptet, unpolitisch zu sein, und andererseits anprangert, dass Südtirol zu Italien gehört. Da ist ein widerwärtiger Jargon, der nicht nur allen Ernstes und im Brustton der Überzeugung mit Ewiggestrigen-Vokabular wie „Heimat“, „Ahnen“ und „Brauchtum“ um sich wirft, sondern auch voller Drohgebärden gegen Andersdenkende steckt, bis hin zur Thematisierung körperlicher Gewalt. Und da ist die abstoßende Selbststilisierung der Bandmitglieder zu Märtyrern, die allen Anfeindungen von Heuchlern und Moralaposteln zum Trotz ihren Weg gehen.

frei.wild fordern ein, dass man genau hinhört – aber je genauer ich hinhöre, je mehr Songs und Videos ich im Internet anspiele, desto abgetörnter bin ich. Es ist eine Band, die nicht in der Lage ist, aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen angemessen, ernst oder humorvoll zu reflektieren und sich stattdessen vor allem übers Nicht- oder Falsch-verstanden-Werden und übers verbale Zurückschlagen definiert. Beides bedingt und ergänzt sich gegenseitig: eine armselige Masche – und eine miefige Nische, in der es sich frei.wild auf ärgerliche Weise bequem gemacht haben. Wer nichts mit Extremismus, Nationalismus, Faschismus, Drohungen und Gewalt am Hut hat, braucht einfach nicht davon zu singen und hat es auch nicht nötig, sich ständig selbstverliebt zu rechtfertigen. So einfach ist das.

Ansonsten verweise ich auf die gelungene Analyse, die Christoph Twickel vor ein paar Tagen für SPIEGEL Online geschrieben hat: Für Twickel transportiert frei.wild ganz klar die Botschaft: „Offensiv vor sich hergetragener Patriotismus ist okay“. Die Band vertrete konservative Werte, verkaufe „ihre Positionen als Tabubrüche“, „als ‚Gegenkultur’ zu einer vermeintlich verlogenen Mehrheitsgesellschaft“ und äußere „Gewaltphantasien und Verwünschungen gegen die anonymen Gegner“. In Twickels Analyse kommt auch ein Aussteiger aus der Nazi-Szene zu Wort. Für ihn „ist die Band genau wegen des angeblich unpolitischen Patriotismus ‚furchtbar gefährlich’: ‚Was sie auf jeden Fall tun: Sie relativieren Rechtsextremismus.’“

Dem ist nichts hinzuzufügen – außer dem beunruhigenden Hinweis, dass frei.wild nicht etwa ein Randgruppenphänomen mit unerheblichen Verkaufszahlen darstellen, sondern regelmäßig Top-Ten-Platzierungen in den Charts erreichen. Deshalb waren sie ja auch zunächst für den Echo nominiert. Das vor allem lässt mich leiden, nicht nur als Song- und Lyrics-Freund.

Frauenfußball-EM 2013: Auf den richtigen Song kommt es an

Deutschland im Fußballfieber. Neben der Bundesliga verspricht auch die Champions League packende Duelle. Und mit der Frauen-Fußballeuropameisterschaft, die im Juli 2013 in Schweden ausgetragen wird, wirft bereits ein weiteres Highlight seine Schatten voraus. Einen etwas bemüht wirkenden Stadion-/Fansong mit prägnanten Zeilen wie „Macht das Ding rein“ gibt es schon für das Team von Bundestrainerin Sylvia Neid – jetzt bin ich gespannt, welchen Ohrwurm sich die deutschen Fernsehsender als Soundtrack für ihre Berichterstattung aussuchen werden. Zum letzten großen Frauenfußballturnier, der WM 2011 „im eigenen Land“, hatte man sich zwar ein starkes Lied herausgepickt, aber mit Blick auf das zu begleitende Sportereignis war das Ganze reichlich fragwürdig.

Bestimmt haben Frida Gold damals die Champagnerkorken knallen lassen, als sie erfuhren, dass das ZDF seine WM-„Bilder des Tages“ mit ihrem dynamischen Dancefloor-Kracher Wovon sollen wir träumen? unterlegen würde. Tatsächlich liefen an allen WM-Übertragungstagen zwischen 26. Juni und 17. Juli immer wieder Schnipsel aus dem Song, und natürlich war es vor allem der höchst eingängige, dramatische Refrain, den man brachte. Die Häufigkeit der Einspielungen und die Kombination mit spektakulären Fußballszenen machten Wovon sollen wir träumen? zur inoffiziellen Hymne des Turniers und Frida Gold, eine Newcomerband aus dem Ruhrgebiet, quasi über Nacht zu Stars.

Natürlich gönnt man dem ungewöhnlichen Quintett den Erfolg, der mit weiteren starken Stücken untermauert wurde. Aber war ihr Erfolgssong überhaupt kompatibel mit dem WM-Turnier? Passte er wirklich zur Erwartungshaltung von halb Fußballdeutschland, dass „unsere Mädels“ daheim den Titel holen würden? Klar, der erste Refainvers schien zu passen wie die Faust aufs Auge: „Wovon sollen wir träumen?“, fragte er fast schon rhetorisch, und jeder deutsche Fußballfan antwortete im Geiste: Natürlich von der WM-Trophäe! Aber das war’s dann auch schon mit eventuellen Bezügen zwischen Lied und Turnier, auch wenn sich die Band selbst in einem ZDF-Beitrag mühte, diese Bezüge zu bestätigen. Fakt ist: Der Einsatz im Rahmen der ZDF-„Bilder des Tages“ riss nicht nur den Refrain aus seinem Kontext, sondern stellte auch den gesamten Song in einen völlig anderen Kontext, mit dem zusammen er in zigtausend Hirnen abgespeichert wurde. Eine Songmisshandlung erster Güte.

Wovon handelt Wovon sollen wir träumen? Auf keinen Fall von Höhenflügen, sondern exakt vom Gegenteil – von Absturz und Hoffnungslosigkeit. Gleich die ersten Verse präsentieren ein Ich, das ausgiebig feiert und das Leben genießt, dabei aber seine Energie verschwendet. Tagsüber ist es müde und antriebslos, die Euphorie der Nacht weicht Traurigkeit, wahrscheinlich auch Schuldgefühlen: „Ich bin mitten drin / Und geb mich allem hin 
/ Aber schaut man hinter die Kulissen 
/ Dann fängt es immer so an / Ich schlafe immer zu lang / Krieg’s nicht hin und fühl mich deshalb beschissen.“ Wahlloser Konsum vorbei an den eigentlichen Bedürfnissen und die sinnentleerte Orientierung an Superlativen sprechen aus den nächsten Versen. Außerdem formuliert das Ich eine kitschige Sehnsucht nach dem Partner fürs Leben: „Ich erkenn mich nicht 
/ In den Schaufensterscheiben /
Entdecke nichts, was mir gefällt /
Ich brauch die schönsten Kleider 
/ Und die stärksten Männer /
Und eine Hand, die meine Hand für immer festhält.“

Der Refrain umreißt dann die existenzielle Trostlosigkeit, die das Ich empfindet. Es spricht nicht nur für sich selbst, sondern für eine ganze Gruppe von Menschen, womöglich für eine Generation. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie keine echten Träume, keine Visionen mehr hat und nichts, woran sie glaubt. Und: Diese Generation ist, wie sie ist – sie scheint sich auch nicht ändern zu können: „Wovon sollen wir träumen? /
So wie wir sind, so wie wir sind, so wie wir sind 
/ Woran können wir glauben? 
Wo führt das hin? Was kommt und bleibt? So wie wir sind…“ Diese Verse reichen eigentlich schon, um zu zeigen, wie sehr der ZDF-Einsatz dem eigentlichen Anliegen der Lyrics entgegenläuft. Machen wir trotzdem noch einen Sprung ins letzte Drittel des Songs. Auf die zweite Strophe, die die Grundgedanken fortführt, und einem weiteren Refrain folgt ein Zwischenteil, der die eingangs geäußerte Sehnsucht nach dem Partner fürs Leben als trügerisch entlarvt: „Wir lassen uns treiben durch die Clubs der Stadt / 
Durch fremde Hände, und wir werden nicht satt
/ Wir wachen dann auf bei immer anderen Geliebten /
Von denen wir dachten, dass wir sie nie verlassen.“ Das Ich ist offenbar nur zu kurzlebigen Affären fähig und betrügt sich damit immer wieder selbst. Und es kommt noch düsterer: Eine Atemlosigkeit, mit der auch Asthmaanfälle gemeint sein können, eine mangelnde Ernährung, in der sich auch Magersucht andeutet, dazu ein übertriebener Alkoholgenuss – das alles untermauert die letztliche Orientierungs- und Heimatlosigkeit des Ichs, die völlige Ausweglosigkeit seiner Situation: „Wir können nicht mehr atmen und vergessen zu essen /
Wir trinken zu viel, es bleibt ein Spiel ohne Ziel / Wann hört das auf?
Wann kommen wir hier raus? /
Wovon sollen wir träumen? 
Wo sind wir zu Haus? / Wo sind wir zu Haus? Wo sind wir zu Haus?“

Ich würde mal sagen, euphorische Songstatements, die man mühelos auf den Willen zu sportlichem Erfolg übertragen kann, hören sich anders an. Immerhin erwies sich der ZDF-Einspieler aus deutscher Sicht im Nachhinein als unfreiwillig visionär. Denn Birgit Prinz & Co schieden viel zu früh aus dem WM-Turnier aus, erreichten noch nicht einmal das Halbfinale. Sicher war dabei auch Pech im Spiel. Doch muss man ebenso festhalten, dass die Hoffnungsträgerinnen unter dem immensen Druck der öffentlichen Erwartungshaltung meist verkrampft aufgetreten waren und ihr eigentlich vorhandenes Potenzial nur selten hatten abrufen können. „Wovon sollen wir träumen, so wie wir sind?“ – mit dieser ernüchternden Einsicht in die eigenen Schwächen passte der Frida-Gold-Song nach dem deutschen WM-Aus deutlich besser. Er war jetzt so etwas wie ein trauriger Epilog. Und die nachträgliche Bestätigung dafür, dass Sportteams mit einer derart belastenden Songmisshandlung auf dem Buckel einfach keine Trophäen gewinnen können.

Mehr Songmisshandlungen in meiner Essayreihe „What have they done to my song?“ auf Faustkultur.

Das Spuk-„Haus am See“

Eigentlich ist das von Peter Fox beschworene Haus am See ein Sehnsuchtsort. Ein Ort, den viele gern erreichen würden und an dem man sich einfach wohlfühlen sollte. Doch irgendwie will dieses Haus nicht zur Ruhe kommen. Aktuell sorgt Heino für Unruhe in den Gemäuern. Der nicht mehr ganz taufrische Volksbarde hat sich einfach der Schlüssel bemächtigt und das Haus am See auf seinem mitunter gespenstisch anmutenden neuen Album Mit freundlichen Grüßen hier und da renoviert. Jetzt wirkt die kleine, feine Herberge wie eine rustikale Almhütte mit Kuhglockengebimmel im Hintergrund. Die Soundspitzen des Originals wurden eliminiert, der herrlich schnoddrige Gesang von Peter Fox durch inbrünstiges Jubilieren mit angedeuteten Seufzern ersetzt – so könnte sich letztlich auch ein Florian-Silbereisen-Fan eingeladen fühlen.

Aber seien wir ehrlich: Ein bisschen kann man auch grinsen bei dieser Coverversion – hat doch Heino mit seinem – Untertitel! – „Verbotenen Album“ insgesamt einen unverschämt frechen Überraschungscoup gelandet. Den Inhalt muss man nicht mögen, aber die Verpackung ist erste Sahne! Viel ärgerlicher finde ich das, was das Kölner rheingold Institut für qualitative Markt- und Medienanalysen 2010 mit Haus am See angestellt hat. „Die Absturz-Panik der Generation Biedermeier“ hieß damals eine von IKEA Deutschland finanziell unterstützte Jugendstudie des Instituts, in der der Peter-Fox-Song auf fragwürdige Weise vereinnahmt wurde. Hinter der Studie standen durchaus kluge Köpfe. So gehörten zum rheingold-Analyseteam der Diplom-Psychologe Stephan Grünewald, Autor von „Deutschland auf der Couch“, der Diplom-Psychologe Frank Quiring sowie die Diplom-Psychologinnen Jasmin Volk und Stephanie Morzinek. Um die Studien-Supervision kümmerten sich ein Herr Prof. Wilhelm Salber und ein Dr. Wolfram Domke.

In seiner Pressemitteilung vom September 2010 fasste das Institut die Ergebnisse mit folgenden Worten zusammen: „Die Jugend 2010 gibt ein verblüffendes Bild ab. Sie präsentiert sich sehr erwachsen, kontrolliert und vernünftig. Zielstrebig will sie ihren eigenen Weg finden. Dabei stehen Bildung, Karriere und ein hoffentlich gutes Einkommen hoch im Kurs. Eine große Anpassungs-Bereitschaft, persönliche Beweglichkeit und Pflichtbewusstsein werden ebenso als Garanten eines erfolgreichen bzw. abgesicherten Lebens angesehen, wie ein breites Kompetenz-Spektrum. Die Lebensentwürfe der jungen Menschen sind von klaren und vor allem erreichbaren Zielen bestimmt. Dabei scheint in diesen Entwürfen immer eine Biedermeierwelt durch, in der das zentrale Lebensziel darin besteht, ein kleines Haus mit Garten oder eine Eigentumswohnung zu besitzen. Bewohnt mit der eigenen Familie, den (beiden) Kindern und dem Hund.“

Dagegen war erst mal nichts einzuwenden. Schließlich hatten die Forscher 100 zweistündige psychologische Tiefeninterviews mit Jugendlichen zwischen 18 und 24 Jahren aus verschiedenen Gesellschaftsschichten durchgeführt. Doch dann kamen zwei Sätze, die Musikfreunde aufhorchen ließen: „Das Lied von Peter Fox über das ‚Haus am See’ ist daher eine Hymne an ein beschauliches Leben, in dem man endgültig angekommen ist, sich niedergelassen hat und sich im Kreise der Familie wohlfühlt. Zuhause will man sich gemütlich einrichten und Geborgenheit erfahren – möglichst mit einem verlässlichen und treuen Partner, an den man sich fest bindet.“

Peter Fox das Sprachrohr eines neuen jugendlichen Biedermeiertums? Haus am See die Hymne an ein beschauliches Leben im Kreise der Familie? Das muss man erst einmal verdauen. Immerhin ist Fox Mitglied der weitgereisten Berliner Reggae- und Dancehall-Band Seeed, die die deutschsprachige Musikszene zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit heißen karibischen Rhythmen und originell-provokanten, teils anzüglichen Texten aufmischte. Und Haus am See, diesen wunderbar dahinfließenden Song mit seinen originellen Sound-Akzenten und dem ironischen Frauenchor, hatte man doch immer ganz anders verstanden… Okay, in zwei Versen des Refrains klingt so etwas wie ein beschauliches Leben an: „Und am Ende der Straße steht ein Haus am See (…) Alle komm’n vorbei, ich brauch nie rauszugehn.“ Aber der Rest ist doch alles andere als das Zelebrieren einer engstirnigen deutschen Biedermeierwelt. Schon die beiden übrigen Refrainverse, die eben unter den Tisch fielen, deuten in eine ganz andere Richtung: „Orangenbaumblätter liegen auf dem Weg / Ich hab 20 Kinder, meine Frau ist schön.“ Wenn ich mich nicht irre, wachsen Orangenbäume kaum in Deutschland, sondern in südlichen Ländern wie Portugal, Spanien und Italien oder noch viel weiter weg, auf anderen Kontinenten; und die 20 Kinder aus den Song-Lyrics stehen in deutlichem Kontrast zu der Idylle „mit der eigenen Familie, den (beiden) Kindern und dem Hund“, die die rheingold-Studie so betont. 20 Kinder, das klingt eher nach einem kleinen zufriedenen Karibik-Macho, einem „Sugardaddy“, der sich irgendwo am Strand faul die Sonne auf den Pelz scheinen lässt und endlos seine Frau beglückt, die ihm im Gegenzug zig Kinder schenkt und den Haushalt schmeißt.

Wer genauer hinhört, entdeckt in Haus am See ein Ich, das sich aus einer beengten, traurigen, perspektivlosen Situation heraus ganz weit wegträumt. „Hier bin ich gebor’n und laufe durch die Straßen“, so skizzieren die ersten Verse den tristen Alltag, „Kenn’ die Gesichter, jedes Haus und jeden Laden. / Ich muss mal weg, kenn jede Taube hier beim Namen. / Daumen raus, ich warte auf ’ne schicke Frau mit schnellem Wagen.“ Das klingt nach vielem, nur nicht nach Kontrolliertheit und Vernunft, nach Zielstrebigkeit, Anpassungsbereitschaft, Pflichtbewusstsein und was die rheingold-Studie der Jugend 2010 sonst noch bescheinigt. Das Ich will viel eher raus aus seinem tristen Leben, alle Zwänge und Ängste hinter sich lassen, einfach etwas Aufregendes erfahren: „Die Sonne blendet, alles fliegt vorbei / Und die Welt hinter mir wird langsam klein. / Doch die Welt vor mir ist für mich gemacht! / Ich weiß, sie wartet und ich hol sie ab! / Ich hab den Tag auf meiner Seite, ich hab Rückenwind! / Ein Frauenchor am Straßenrand, der für mich singt! / Ich lehne mich zurück und guck ins tiefe Blau, / schließ’ die Augen und lauf einfach geradeaus.“ Das Ich pfeift also auf eine mögliche Karriere und tut dabei genau das Gegenteil von dem, was die rheingold-Studie konstatiert: „Die Lebensentwürfe der jungen Menschen sind von klaren und vor allem erreichbaren Zielen bestimmt.“

In den nächsten Versen konkretisiert der Sprecher seine Vorstellungen – und verliert sich in überbordenden, völlig unerreichbaren Fantasien. Er will jede Menge Abenteuer erleben, unermesslichen Reichtum erlangen und am Ende eines auch an sinnlichen Erfahrungen reichen Weges an einem paradiesischen Ort zur Ruhe kommen. Es geht um Freiheit und Ungebundenheit, ums Entdecken, um Glücksspiel und Schatzsuche, um Abenteuer mit Frauen in möglichst exotischen Umgebungen, kurz: um ein illusorisches, märchenhaftes Leben und eine übermenschliche Heldenidentität irgendwo zwischen Indiana Jones und James Bond: „Ich suche neues Land mit unbekannten Straßen, / Fremde Gesichter und keiner kennt mein’n Namen! / Alles gewinnen beim Spiel mit gezinkten Karten. / Alles verlieren, Gott hat einen harten linken Haken. / Ich grabe Schätze aus in Schnee und Sand, / Und Frauen rauben mir jeden Verstand! / Doch irgendwann werd ich vom Glück verfolgt / Und komm zurück mit beiden Taschen voll Gold.“

Auch was das Ich für den Fall seiner ruhmreichen Heimkehr fantasiert, hat wenig mit deutschem Biedermeier zu tun. Statt eines gemütlichen Kaffeeekränzchens muss eine rauschhafte Feier im Kreise einer Großfamilie her, wie man sie klischeehaft eher in südlichen Ländern oder eben in der Karibik erwartet: „Ich lad’ die alten Vögel und Verwandten ein. / Und alle fang’n vor Freude an zu wein’n. / Wir grillen, die Mamas kochen, und wir saufen Schnaps. / Und feiern eine Woche jede Nacht.“ Am Ende des Songs offenbart sich die ganze Tragik des Ichs. Seine Träume ufern immer weiter aus – nun spielen schon 100 Enkel exotische Spiele auf dem Rasen –, doch es hat noch nicht einmal den ersten Schritt aus seiner traurigen Gegenwart heraus gemacht. Und es wird diesen ersten Schritt wohl auch niemals tun: „Hier bin ich gebor’n, hier werd ich begraben. / Hab taube Ohr’n, ’nen weißen Bart und sitz im Garten. / Meine 100 Enkel spielen Cricket auf’m Rasen. / Wenn ich so daran denke, kann ich’s eigentlich kaum erwarten.“ Angesichts der unglaublichen Abenteuer, die vorher ausgemalt wurden, klingt der letzte Vers reichlich bitter. Haus am See ist eine Aussteigerfantasie. Nicht die eines ausgebrannten Karrieristen, sondern die eines armen Schluckers, der überhaupt keine Perspektiven hat. Und der, auch das kann man in die letzten Verse hineininterpretieren, vielleicht längst ein ergrauter alter Mann ist, dem allmählich die Sinne schwinden. Dass der Sprecher weder seine Träume verwirklichen noch zielstrebig eine Biedermeierwelt mit Haus und Garten, Auto, zwei Kindern und Hund erreichen wird, unterstreicht auch das zu Haus am See gedrehte Video: Dort sitzt der Protagonist am Ende tatsächlich an einem See und angelt. Doch er trägt abgerissene Klamotten, ist unrasiert. Und: Er angelt ganz allein. Die vielbeschworene Behausung, die im Hintergrund zu sehen ist, erweist sich als ein armseliger Holzverschlag.

Es ist schon erstaunlich, wie nonchalant, in einem schnell dahingeworfenen Satz, Wissenschaftler einen unschuldigen Song für ihre Thesen vereinnahmen – ohne offenbar genauer in das Stück hineingehocht zu haben. Dabei sollten doch gerade Psychologen aufs Hineinhorchen geeicht sein. Hier scheinen der plakative Titel Haus am See und ein paar aufgeschnappte Verse gereicht zu haben, um – schwups! – einen „echt coolen“ Bezug zwischen Song und Studie herzustellen. So wird das Song-Haus zum interpretatorischen Spukhaus. „rheingold zählt zu den renommiertesten Adressen der qualitativ-psychologischen Wirkungsforschung“, heißt es in der oben erwähnten Pressemitteilung. Auf die Durchführung von Jugendstudien mag das zutreffen. Am Songverstehen müssen die Verantwortlichen aber noch ein bisschen arbeiten.

Songs im Kreuzverhör: Trio Lescano

Neulich lief sie mal wieder im Fernsehen: die 2010 gedrehte italienische TV-Produktion Die Swingmädchen. Sie erzählt die wahre Geschichte von drei holländischen Schwestern, die Mitte der 30er Jahre, also während der Mussolini-Zeit, in ihrer Wahlheimat Italien entdeckt wurden und zu großen nationalen Stars aufstiegen. Trio Lescano nannten sie sich und wurden als italienische Antwort auf die berühmten amerikanischen Andrews Sisters (Bei mir bist du schön, Rum and Coca-Cola u.a.) vermarktet. Trio Lescano und die Andrews Sisters sind Vorbilder für heutige Gruppen wie die wunderbaren Puppini Sisters. Und über die Andrews Sisters ergibt sich ein weiterer aktueller Anlass für diesen Blogeintrag: Patty Andrews, die jüngste und letzte der berühmten Sisters, verstarb am 30.1.2013 im Alter von 94 Jahren.

Aber zurück zu den Swingmädchen: Der anfangs leichtfüßig daherkommende und später zunehmend Tiefgang entwickelnde Film mit Lotte Verbeek, Andrea Osvàrt und Elise Schaap in den Hauptrollen erzählt zunächst den atemberaubenden Aufstieg der Damen vom Trio Lescano. Sie sangen meist in italienischer Sprache und waren wohl auch deshalb kaum im Ausland bekannt. Obwohl sie sich bemühten, nicht in die große Politik hineingezogen zu werden, konnten sie sich den Umwerbungsversuchen der Faschisten immer schwerer entziehen. Selbst der „Duce“ soll Fan ihrer Musik gewesen sein, was sie letztlich in die eine oder andere kompromittierende Situation brachte.

Das Tragische: Die Mutter der drei, gespielt von der einstigen Emanuelle-Darstellerin Sylvia Kristel, war Jüdin. Und so geriet das Trio Lescano, je enger sich Italien während des Zweiten Weltkriegs mit Deutschland arrangierte, ins Visier der Polizei. Das absurde „Dilemma“ der Faschisten: Sie erteilten Juden alsbald Berufsverbote, liebten aber ihr Trio Lescano, das die italienische Bevölkerung in Kriegszeiten unterhielt und ihr Hoffnung gab. Eine Verhaftung der Sängerinnen, „weil sie Jüdinnen waren“, wäre den Fans und selbst verschiedenen Funktionären kaum vermittelbar gewesen. Ziemlich schizophren… Einen perfiden Ausweg bot der Vorwurf antisemitischer Kreise, ihre Songs enthielten verschlüsselte Botschaften an den Feind. Und so wurden die harmlosen Sängerinnen 1943 während eines Konzerts vor Publikum festgenommen und ins Gefängnis gesteckt. Es folgten der Entzug der gerade erst erworbenen italienischen Staatsbürgerschaft und Rundfunkverbot.

In Die Swingmädchen hält sich Regisseur Maurizio Zaccaro einigermaßen genau an die historischen Fakten und arbeitet in einer interessant geschnittenen Verhörszene das Groteske der Vorwürfe gegen das Trio Lescano und ihre Songs heraus. Aufhänger ist das beschwingte Liedchen Tulipan, die italienische Version des Andrews-Sisters-Hits Tuli-Tulip Time aus dem Jahr 1938. Die Musik stammt von Maria Grever, der italienische Text von Riccardo Morbelli. Geht es im amerikanischen Originaltext um ein holländisches Liebespärchen („little Dutch boy“, „little Dutch girl“), erzählen die italienischen Lyrics eher allgemein von der Liebe wie von der holländischen Heimat der Interpretinnen, und das mit allen dazugehörigen Windmühlen- und Käse-Klischees. In der Verhörszene knöpfen sich der Polizeichef und ein Hauptmann ihre drei Opfer nacheinander vor. Das Ganze ist jedoch wie eine zusammenhängende Sequenz aufbereitet, nur wechselt nach kaum wahrnehmbaren Schnitten jeweils die Sängerin auf dem Verhörstuhl. Während sich Hauptmann und Polizeichef gegenseitig hochschaukeln, antworten die drei Schwestern quasi mit einer Stimme:

Polizeichef: Wer ist der Verfasser des Liedes „Tuli-Tulipan“?
Sängerin 1:
Wie bitte?
Polizeichef:
Wer hat das Lied „Tuli-Tulipan“ geschrieben? Irgendjemand muss es doch geschrieben haben!
Sängerin 1:
(leise, mit gesenktem Kopf) Riccardo Morbelli und Maria…
Polizeichef:
Wie bitte!!!
Sängerin 1:
Riccardo Morbelli und Maria Grever.
Polizeichef:
Aaaahhhh…
Hauptmann:
Und Sie wussten natürlich nicht, dass der Text des Liedes eine verschlüsselte Botschaft an die amerikanischen Streitkräfte enthielt?!
Sängerin 1:
(lacht ungläubig) Was für eine Botschaft soll das sein? Das ist ein Lied und nichts weiter. Und wir sind Sängerinnen und nichts weiter.
Polizeichef:
(zynisch) Sängerinnen…
(Schnitt, Verhör Sängerin 2)

Halten Sie uns für beschränkt? Das ist doch eindeutig: Landschaft, Illusion, Täuschung. Hier steht wörtlich: (liest von einem Blatt mit den Lyrics ab) „Die Windmühle schläft unter dem silbernen Mond.“ Was ist das für eine Windmühle? Wo steht sie, diese Windmühle, die unter dem silbernen Mond schläft?
Hauptmann:
(auffordernd) Also?!
Sängerin 2:
In Holland.
Polizeichef:
(ächzt ungläubig)
Hauptmann:
Ach so, in Holland. (lacht zynisch) Und wo genau in Holland, Frollein?
2. Sängerin:
Überall. In Holland stehen überall Windmühlen.
Hauptmann:
(haut mit einer Peitsche auf den Tisch) Spielen Sie keine Spielchen mit mir! Ich kann nämlich sehr unangenehm werden.
(Schnitt, Verhör Sängerin 3)

3. Sängerin:
Glauben Sie das wirklich? Sie müssen ja sehr viel Fantasie haben, wenn Sie meinen, dass das ein Code ist. Kompliment, Herr Hauptmann.
Hauptmann:
Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich mir die Ironie verkneifen, Frollein. Auf militärischen Geheimnisverrat steht nämlich die Todesstrafe.
Polizeichef:
(zitiert erneut den Songtext) „Rund am Maihimmel steigt der Mond auf wie ein holländischer Käse. Er beginnt seine Reise und sendet uns seinen Schimmer.“ Ich würde sagen, diese Zeilen dürften auf den Tag und die Stunde einer möglichen Landung der Alliierten an der holländischen Küste hinweisen.
3. Sängerin:
(singt selbstbewusst lächelnd das Lied in italienischer Sprache, der Hauptmann summt ansatzweise mit…) 
Polizeichef:
(unterbricht) Senorina, Sie sind hier, um Fragen zu beantworten, nicht um zu singen.

Wir wissen nicht, ob sich die Verhöre genau so zugetragen haben. Aber die grotesken Vorwürfe gegen harmlos-fröhliche Liedchen wie Tulipan sind historisch verbürgt. Und ein bitteres Exempel dafür, wie ideologischem Wahn auch Lieder zum Opfer fallen können. Für das Trio Lescano ging die Sache glücklicherweise einigermaßen glimpflich aus. Nach überstandenem Zweitem Weltkrieg gelang den Sängerinnen in teils neuer Besetzung ein Neuanfang – in Südamerika. Weitere Beispiele dafür, welchen Unfug Kritiker, Fans und Marketingfachleute, aber auch Soziologen und Politiker mit berühmten Songs treiben können, im soeben erschienenen Beitrag meiner Reihe auf Faust-Kultur: „Die schlimmsten Songmisshandlungen aller Zeiten“.