„Danke, dass Sie mich ausgewählt haben“

Die aufschlussreiche TV-Dokumentation „Schlagerland“ von Arne Birkenstock

Auf dem deutschen Schlager rumhacken ist müßig – auch wenn er gelegentlich nervt. Größtenteils ist Schlager Genremusik, die ab und zu möglichst sanft aktuelle musikalische Entwicklungen integriert und ansonsten niemandem wehtut. Romantische Liebe und ein bisschen Herzschmerz sind seit eh und je die zentralen Themen, dazu wird meistens Foxtrot oder Discofox getanzt, und gesanglich dominiert ein familientaugliches Timbre. Wem’s gefällt… Es gibt doch weiß Gott wichtigere Themen, über die man sich aufregen kann.

Und dennoch barg „Schlagerland“, die kürzlich ausgestrahlte TV-Dokumentation von Arne Birkenstock, spannende Erkenntnisse. Ohne zu urteilen, ganz nüchtern und in der Grundhaltung neugierig, zeigte sie nicht nur die Anstrengungen des Tingelns altgedienter Schlagerrecken und die harte Arbeit, die der Aufbau eines Nachwuchsstars bedeutet, sondern gab auch interessante Einblicke in das Denken einiger Protagonisten. Dass das Musikgeschäft eine wahre Tortur sein kann, dass Marketingstrategien und die Verpackung, das eiskalte Zurechtdesignen und Platzieren des Endprodukts oftmals wichtiger sind als Inhalte und die Persönlichkeiten der Künstler, wusste man schon aus Pop- und Rockdokumentationen. Was die Beteiligten aber über ihre Arbeit sagen, das machte schon stutzig.

Der Schlager entstand einst aus dem Geist der Operette und erlebte seine erste Blüte in den 1920er und -30er Jahren – in Kabaretts und Revuen. Die Komponisten waren ausgebuffte Profis, und als Texter waren selbst Literaten am Werk. Die Folge: Schlager-Lyrics waren voll Humor und Wortwitz, auch voll beißender Satire. Ringelnatz, Claire Waldoff, Georg Kreisler oderdie Comedian Harmonists waren, um nur einige wenige zu nennen, mehr oder minder erfolgreich aktiv. Nach dem Zweiten Weltkrieg hielt sich der Anspruch vielleicht noch ein Weilchen, aber zusehends verflachte der Schlager. Er wurde einfach seicht. Während andernorts nahtlose Übergänge zu Pop und Rock entstanden, entwickelte sich in Deutschland fast schon ein musikalisches Paralleluniversum: Hier wird bis heute die immer gleiche harmlose Musik produziert, nur ab und zu kommen ein paar neue Gesichter hinzu. Götz Alsmann hat in diesem Zusammenhang einmal festgestellt, der deutsche Schlager habe sich nach dem Zweiten Weltkrieg „selbst entmannt“.

Vor diesem Hintergrund hätte man erwartet, dass die heutigen Protagonisten ihre Arbeit souverän und realistisch einschätzen – als Kunsthandwerk, als Genremusik, als Mitwirken an einem Produkt, das zuverlässig ein stets gleichbleibendes Publikumsbedürfnis bedient. Was die Doku „Schlagerland“ aber offenbart, sind ein gewisses Unbehagen auf der einen und ein erschreckendes Verharmlosen, auch Schönreden auf der anderen Seite. Am vernünftigsten klingt hier noch der Veteran Roland Kaiser. Er greift – als bekennendes SPD-Mitglied und erklärter Pegida-Gegner – indirekt Götz Alsmanns Einschätzung auf und beklagt den Mangel an Realitätsnähe, auch an Gesellschaftskritik im deutschen Schlager. O-Ton Kaiser: „Wir hatten ja, wenn man so will, nach dem Dritten Reich ein ziemliches Kulturloch in Deutschland. Dann hat man sich dem englischen Schlager zugewandt, den man dann eingedeutscht hat. Und irgendwann mal setzte Normalität ein, was unsere Sprache angeht, die ist komplett wieder da. (…) Hier schämt sich keiner mehr zu sagen: Ich höre deutsche Musik. Warum auch? Was mir ein bisschen fehlt am deutschen Schlager, ist Zeitgeist, also textlicher Zeitgeist. In den Fünfziger-, Sechzigerjahren gab es – Jean-Paul Sartre hat mal gesagt, Kunst ist reflektierte Gegenwart – Schlager, die waren das. In Deutschland begann das Wirtschaftswunder, da wurde gesungen: ‚Geh’n Sie mit der Konjunktur!’ Dann kam der Italientrend, da wurde gesungen: „Komm ein bisschen mit nach Italien!“ In Deutschland lief jeden Abend ein Krimi – Krimiserien, Durbridge, Edgar Wallace –, und dann wurde gesungen: ‚Ohne Krimi geht die Mimi nicht ins Bett.’ Das heißt, da wurde das aufgegriffen von den Textern und in Schlagerform gefasst, in Schlager, die nicht unbedingt nur von Liebe sprachen. Und das fehlt mir heute eigentlich komplett. Der Letzte, der das geschafft hat, war Udo Jürgens mit Dieses ehrenwerte Haus. Mit ‚In diesem ehrenwerten Haus’ hat er es geschafft, einen sozialkritischen Aspekt aufzugreifen und hinten die Kurve zu kriegen, zu sagen: ‚Du und ich, wir gehören nicht in dieses ehrenwerte Haus’. Das war Michael Kunze, der den Text geschrieben hat.“

Es folgt eine prima Frage des Interviewers: „Und warum machen Sie’s nicht?“ Aber Kaisers Antwort lautet: „Soll ich Ihnen mal was sagen? Weil: Das ist nicht einfach. Ich bin immer unterwegs und grübele und versuche immer, etwas zu finden, und es ist nicht so leicht. Wenn es so leicht wäre, würde es ja jeder machen. Aber es fehlt mir halt im Schlager.“ Okay… Dabei hätte doch gerade einer wie Roland Kaiser zig Fachleute an der Hand, die ihm über Nacht ein neues Image und etwas mehr Anspruch herbeizaubern könnten. Er bräuchte doch nur mit dem Finger schnippen, und schon stünden gleich mehrere begabte junge Texter-/Komponisten-Teams auf der Matte, die es als wunderbare Herausforderung sehen würden, einen niveauvollen, zeitgeistigen, auch gesellschaftskritischen Schlager für den Grandseigneur der Szene zu schreiben. Die Vermutung liegt nahe: Der Mann hat gar keine Lust auf so etwas, vielleicht will er auch einfach sein Stammpublikum nicht verprellen.

Anders sieht es aus bei Jürgen Drews, dem über 70-jährigen Sonnyboy, der immer noch in jugendlichem Jeans-Outfit von Festival zu Festival zieht, um seinen Oldie Ein Bett im Kornfeld zu trällern. Warum er sich das antue, will der Interviewer wissen, und Drews antwortet: „Weil ich bescheuert bin.“ Aber auch: Weil ein Song wie König von Mallorca „so bescheuert ist, dass es schon wieder geil ist“. Als Pragmatiker und Menschenfreund, so der Offkommentar, denke sich Drews: „Solange es dem Volk Spaß macht, macht es auch ihm Spaß.“ So weit so gut. Aber dann versteigt sich der ewige Strandjunge in einen Rückblick, in dem sich plötzlich alles zu Schlager verklärt: „Ich hab mir auch überlegt: Prostituierst du dich jetzt eigentlich? Wie weit bist du jetzt gegangen? Und ich hab mal in mich hineingehört: Worauf stand ich denn früher? Ich hab zum Beispiel auf Cliff Richard gestanden, auf: ‚Got myself a crying, talkin’, sleepin’, walkin’ livin’ doll’. Also: Das ist ein Schlager! Ich habe im Jazz gespielt – und das machen wir jetzt auch wieder mit der Gruppe: ‚I scream, you scream, everybody wants ice cream…’ Was ist das? ’N Schlager! Das ist wirklich Schlager! Und dann hab ich gemerkt: Drews, du hast gar nicht gemerkt, dass du auf Schlager standest. Du hast bloß so viele Vorurteile dagegen gehabt, dass das alles überlagert hat. Du warst betriebsblind.“ Will heißen: Wenn Pop, Rock und sogar Jazz nichts anderes als Schlager sind, dann arbeitet Drews durchaus in einem anspruchsvollen Genre, ja auf Augenhöhe mit großen Rockstars und mit Jazzkönnern wie Bill Ramsey, am Ende gar mit Vokalgrößen wie Al Jarreau. So kann man sich sein eigenes Künstlerdasein, das manchmal schon ein wenig trist und peinlich anmutet, auch zurechtrücken.

Entlarvend ist die Aussage von Texterin und Komponistin Kristina Bach, maßgeblich verantwortlich für den Helene-Fischer-Superhit Atemlos durch die Nacht: „Der deutsche moderne Schlager ist technoid. Und Techno ist verkappte Marschmusik. Und das liebt der Deutsche.“

Die Haltungsnote eins aber, und zwar im negativen Sinne, geht an Franziska Wiese. Die junge Sängerin und Geigerin ist das hoffnungsvolle Nachwuchstalent, das die Doku auf dem steinigen Weg zum Erfolg begleitet. So naiv kommt sie rüber, dass es beinahe schmerzt, ihr zuzuhören und zuzuschauen. Mit leuchtenden Kinderaugen staunt sie über die schillernde Welt, in die sie da eintauchen darf, lässt sämtliche Maßnahmen zum Produktdesign und zur Optimierung ihrer Performance über sich ergehen und sagt nach einem erfolgreichen Promoauftritt mit ergebungsvollem Augenaufschlag zu Electrola-Boss Jürgen Hellwig: „Danke, dass Sie mich ausgewählt haben.“ Anfangs ist sie noch grell geschminkt und mit Dauerwelle zu sehen, doch kommt das bei den Machern der großen Schlagersendungen nicht an. Die möchten „die Bilderwelt“ von Wieses Songs „authentischer präsentiert“ sehen. Ein herber Schlag. Erst nach einem gründlichen Downsizing in Richtung Natürlichkeit, begleitet von hartem Choreographietraining, schafft sie es doch noch in die große Show. Am Ende – Herzkasper! – darf sie gemeinsam mit Florian Silbereisen auf der Bühne stehen.

Was dem Fass die Krone aufsetzt, sind die Aussagen zu ihrem Anspruch und zur Wirkung ihrer Musik. Franziska Wiese war tatsächlich mal in einer Hartz-IV-Behörde tätig, weil sie immer schon im sozialen Bereich hatte arbeiten wollen, weil sie „Menschen helfen“ wollte. „Aber das war da leider eben nicht so“, stellt sie sehr, sehr traurig fest. „Man bekommt eher den Frust der Menschen ab, will helfen und macht Überstunden und arbeitet, aber es bringt nichts, ich mach’ die Menschen damit nicht glücklich.“ Irgendwann, erzählt Wiese weiter, habe sie nicht mehr geschlafen und viel geweint. Sie habe irgendetwas gesucht, das ihr Halt gibt, und das sei die Musik gewesen. „Das hat sich lange, lange gezogen, aber ich habe immer diesen roten Faden beibehalten und bin dem treu geblieben.“ Und dann fasst die aufstrebende Sängerin etwas verschwurbelt eine seltsame Sehnsucht in Worte: „Es wär vielleicht ganz schön, dass ich genau den Menschen, denen ich damals vielleicht nicht helfen konnte, vielleicht auch sogar ’n bisschen Mut machen kann mit der Musik oder dass die sich denken: (…) Jetzt kann ich mir vielleicht was von ihr kaufen, und dann – mit einem Lied wie Frei oder so – gibt sie mir eben ein bisschen Freiheit zurück oder schenkt mir vielleicht was, was ich damals dieser Person nicht geben konnte.“

Hey, meine Musik sollen Hartz-IV-Empfänger kaufen und dadurch ein bisschen Freiheit zurückgewinnen… Geht’s noch?

Es lässt sich nicht durchschauen, ob Franziska Wiese hier nur knallhart performt oder ob sie wirklich so naiv ist, wie sie rüberkommt. Auf jeden Fall vermitteln ihre Statements und die von anderen Protagonisten in dieser Doku ein düsteres Bild vom aktuellen Zustand des deutschen Schlagers: weltfremd, überangepasst und fast schon zynisch. Ein bisschen rumhacken auf diesem sonderbaren Phänomen ist vielleicht doch nicht ganz falsch…

 

Saniert durch Sugar Man?

Erst der späte Ruhm, dann der preisgekrönte Dokumentarfilm „Searching for Sugar Man“ – und jetzt ist auch noch ein Buch über die Suche nach dem legendären Seventies-Songwriter Rodriguez erschienen. Hat der „Sugar Man“ das verdient? Und: Befeuern hier nicht einfach ein paar Selbstdarsteller immer wieder ihren selbst kreierten Mythos?

Damit kein Missverständnis entsteht: Ich finde Rodriguez, den lang vergessenen Seventies-Singer-Songwriter, und seine Lieder wirklich außergewöhnlich. Und auch außergewöhnlich gut. Aber ich gehöre zu der wachsenden Zahl von Skeptikern, die in dem seit einigen Jahren herrschenden Hype um Rodriguez immer mehr Lücken und Schwachstellen entdecken. Die Kritik richtet sich weniger gegen den ganz offensichtlich zurückhaltend bis bescheiden auftretenden Künstler als gegen diejenigen, die aus seiner wundersamen Wiederentdeckung Kapital geschlagen haben und noch immer Kapital schlagen. Namentlich sind das der südafrikanische Plattenladenbetreiber Stephen Segerman, der Journalist Craig Bartholomew Strydom, ebenfalls aus Südafrika, und der schwedische Dokumentarfilmer Malik Bendjelloul. Segerman und Bartholomew Strydom haben erst kürzlich ihr Buch Sugar Man – The Life, Death and Resurrection of Sixto Rodriguez veröffentlicht (auf Deutsch erschienen bei Ullstein unter dem Titel Sugar Man – Leben, Tod und Auferstehung des Sixto Rodriguez). Darin schildern sie einmal mehr, wie sie sich in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts auf die Suche nach dem tot geglaubten Songwriter machten, ihn schließlich aufspürten und ihm mit einem Vierteljahrhundert Verspätung zum verdienten Ruhm verhalfen.

Diese Suche und der unglaubliche anschließende Erfolg von Rodriguez stehen auch im Zentrum des Films Searching for Sugar Man, den Malik Bendjelloul 2012 veröffentlichte und der ihm 2013 die höchstmögliche Auszeichnung einbrachte, die ein Regisseur erhalten kann: den Oscar. Bendjelloul beging im Mai dieses Jahres Selbstmord, angeblich war er depressiv; und nicht zuletzt die Veröffentlichung des Buchs von Segerman und Bartholomew Strydom motivierte mich, endlich mal den allseits hochgelobten Film anzuschauen, den ich mir Weihnachten 2014 als DVD hatte schenken lassen. Es ist ein auf den ersten Blick wirklich schöner, ergreifender Film. Er erzählt also die Geschichte von Sixto Rodriguez, einem amerikanischen Songwriter mexikanischer Herkunft, der Anfang der 1970er Jahre Cold Fact und Coming from Reality veröffentlichte, zwei fantastische Psychedelic-Folk-Alben mit tollen Melodien und ungewöhnlich tiefgründigen Lyrics. Das Tragische: Beide Alben, obwohl von der Kritik gepriesen, waren totale Flops. Weshalb sich, so der Film weiter, Rodriguez komplett zurückzog – nicht ahnend, dass seine Musik in den 1970er und 80er Jahren ausgerechnet in Südafrika ungemein populär wurde. Über von Touristen mitgebrachte Audiokassetten, über Bootlegs und spätere Wiederveröffentlichungen avancierten Cold Fact und Coming from Reality zum Soundtrack der südafrikanischen Anti-Apartheid-Bewegung und wurden hunderttausendfach verkauft. Aufgrund eben jener Apartheid aber war über regierungskritische Künstler nichts herauszufinden, und irgendwann machten Gerüchte die Runde, Rodriguez hätte sich irgendwo bei einem Konzert auf der Bühne das Leben genommen. Die einen sagten, er hätte sich angezündet, die anderen meinten, er hätte sich erschossen. Was den Mythos natürlich ungemein nährte. Bis zwei südamerikanische Fans, eben Segerman und Bartholomew Strydom, Sixto Rodriguez Ende der 1990er Jahre mühselig aufspürten und ihn für eine umjubelte Konzerttournee nach Südafrika holten. So hätte schließlich die ganze Welt von diesem außergewöhnlichen Künstler erfahren.

Es sind laut Film unter anderem drei Wege, die die beiden bei ihrer tränentreibenden Suche nach Rodriguez beschritten haben wollen. Erstens: Sie versuchten, den Fluss des Geldes zurückzuverfolgen. Denn, so ihr nicht ganz falscher Gedanke, wer so viele Platten verkauft hatte, der musste doch irgendwelche Tantiemen ausgezahlt bekommen haben. Dabei stießen die beiden aber schnell an ihre Grenzen und auf windige Ex-Labelchefs, die eine Mauertaktik an den Tag legten. Hmmmm, sehr verdächtig! Zweitens: Sie nutzten das gerade aufkommende Internet und legten eine Website namens „The Great Rodriguez Hunt“ an, auf der sie zur Suche nach Rodriguez aufforderten und Fans in aller Welt um Mithilfe baten. Und drittens: Sie hörten sich noch einmal gezielt die Songs von Rodriguez an. Wo sie dann – im Stück Inner City Blues – auf die magische Zeile „Met a girl from Dearborn, early six o’clock this morn / A cold fact“ stießen. Der Film inszeniert noch einmal genüsslich, wie einer der beiden Helden elektrisiert zum Weltatlas greift, um nachzuschauen, wo denn Dearborn liegt. Und potztausend, Dearborn entpuppt sich da als ein kleiner Ort südwestlich von Detroit! Womit allmählich der Knoten platzt. Irgendwann – der Film suggeriert, die Suche habe mehrere Jahre gedauert – laufen die Fäden dann endlich zusammen: Unsere südafrikanischen Helden finden einen der Produzenten der ersten Rodriguez-Platte, und auf der Website meldet sich tatsächlich eine leibhaftige Tochter des Sängers. Rodriguez sei am Leben heißt es, er wohne gleich nebenan in Detroit. Und eines Tages, auch dieser Moment wird noch einmal hochdramatisch rekapituliert, haben Batholomew Strydom und Segerman endlich the man himself am Telefon.

Boaaaahhhhhh, ey, Gänsehaut!!!!!!

Spätestens hier überkamen mich allerdings erste Zweifel. Nicht an der Tatsache, dass die beiden überhaupt Kontakt zu Rodriguez aufgenommen hatten, denn das war ja nicht zu bestreiten. Nein, es waren Zweifel an der Art und Weise, wie sie Rodriguez aufgespürt haben wollten – an der vermeintlichen Detektivarbeit, an den ganzen Krimielementen, die der Film so spannend aufbereitet; an der Glorifizierung dieser beiden Fans, die Erstaunliches geleistet haben sollten, um hinter den Mythos zu schauen, um ihrem Idol zum verdienten Ruhm zu verhelfen. Vor allem ein Gedanke machte mich stutzig: Jede Schallplatte enthält Informationen über die Urheber der Songs und über die Produzenten im Studio. Und selbst die obskursten Schallplatten sind in telefonbuchartigen Verzeichnissen mit sämtlichen Labelnummern gelistet, was sowohl für die Originalveröffentlichungen als auch für Wiederveröffentlichungen gilt, auch bei wechselnden Labels. So hätte man nicht nur schnell auf den Ursprung der Platten schließen können, sondern auch Informationen darüber erhalten können, wann und wo die Platten überall noch erschienen waren. Ausgerechnet ein Plattenladenbetreiber und ein investigativer Journalist aber, selbst wenn sie im restriktiven Südafrika arbeiteten, sollten nicht in der Lage gewesen sein, die einfachstmöglichen Wege zu beschreiten, die es in einem solchen Fall gibt? In Katalogen nachzuschlagen oder schlichtweg direkt nach den auf den Plattencovern vermerkten Produzenten zu fahnden? Wohlgemerkt: Liberalisierungsprozesse und der Übergang von der Apartheid zur rechtlichen Gleichstellung der Schwarzen in Südafrika hatten bereits in den späten 1980er Jahren begonnen, 1994 wurde Nelson Mandela zum Präsidenten gewählt. Das Land war also während der Suche nach „Sugar Man“ schon gar nicht mehr abgeschottet. Außerdem hatte man ja inzwischen auch das aufstrebende Internet zur Verfügung! Und: Mindestens einer der Produzenten von Rodriguez war alles andere als ein Unbekannter.

Die Rede ist von Dennis Coffey, einem Session-Gitarristen jener Funk Brothers, die für das berühmte Soul-Label Motown tätig waren. Coffey und sein Partner Mike Theodore waren es, die das erste Rodriguez-Album Cold Fact produziert hatten, sozusagen im Herzen der amerikanischen Musikindustrie! Sie hatten den Künstler in seiner Heimat Detroit entdeckt, und es mutet aus heutiger Sicht wie ein schlechter Witz an, dass die beiden südafrikanischen Meisterrechercheure Rodriguez nach langer mühsamer Suche schließlich, nun ja, genau dort aufspürten: in seiner Heimatstadt Detroit!

Simpel gefragt: Warum sind sie nicht über die Labels und die Tonstudios gegangen? Warum haben sie nicht einfach bei der Stadtverwaltung in Detroit beziehungsweise bei Dennis Coffey angerufen bzw. einen Brief oder eine E-Mail geschrieben und sich nach Sixto Rodriguez erkundigt? Es wirkt, als wollte man von Frankfurt nach Wiesbaden fahren und würde noch einen Umweg über Darmstadt und Köln machen.

Der schwedische Dokumentarfilmer Bendjelloul trat überhaupt erst 2006 auf den Plan, als der Käse eigentlich schon Jahre lang gegessen war. Bereits 1998 war Rodriguez als Folge seiner Wiederentdeckung in Südafrika aufgetreten. Aber jetzt wurde das Ganze noch einmal richtig groß aufgerollt. Schließlich gab es weltweit noch immer etliche Musikinteressierte, die noch nie etwas von Rodriguez gehört hatten. Die ungeheure Wirkung des Films erscheint umso grotesker, je mehr man hinterher über Rodriguez und seinen Werdegang herausfindet, ganz einfach über diverse Zeitungsartikel. Denn der Künstler war in all den Jahren mitnichten so obskur und vergessen gewesen, wie dem Kino- und DVD-Publikum in Searching or Sugerman aufwendig suggeriert wird. Mal abgesehen davon, dass Rodriguez in seiner Heimatstadt Detroit Ende der 1980er Jahre sogar bei den Bürgermeisterwahlen angetreten war, hatte er auch über die 1970er Jahre hinaus einigen Erfolg als Künstler gehabt. So war er über mehrere Jahrzehnte hinweg nicht nur in amerikanischen und europäischen Indie-Kreisen ein Begriff, sondern vor allem in Neuseeland und in Australien ein regelrechter Star. Down Under hatte eine seiner Schallplatten Goldstatus erreicht, und 1981 war er dort mit Superstars wie Midnight Oil getourt. Klar war er in den 1990er Jahren etwas in Vergessenheit geraten – aber wer sich wirklich für ihn interessierte, erst recht, wenn er Plattenladenbetreiber oder investigativer Journalist war, für den hätte es ein Leichtes gewesen sein müssen, das Nötigste schnell in Erfahrung zu bringen. Auch von Südafrika aus.

Und mal ehrlich: Ein Rockstar, der sich auf der Bühne selbst verbrennt oder mit einem Revolver erschießt – soll das ernsthaft jemand glauben? Hätte es so etwas tatsächlich gegeben, wäre das nicht eine der weltweiten Storys des Jahrhunderts geworden? Ein bisschen albern, so etwas groß aufzubauen, um dann spektakulär gegen alle Gerüchte das unfassbare Gegenteil zu beweisen… Es muss also all die Jahre lang glasklar gewesen sein, dass Rodriguez irgendwo ziemlich normal vor sich hinlebte. Das ganze Brimborium wäre möglicherweise gar nicht nötig gewesen. Vor diesem Hintergrund erscheint mir die Dokumentation Searching for Sugerman mit einigen Tagen Abstand als immer größeres Ärgernis. So wie etlichen Journalisten und Filmkritikern, vor allem aus dem englischsprachigen Raum, die sich über die Lücken und Schwächen des Films ausgelassen haben. Symptomatisch ist der Beitrag von Bill Cody vom 21. Januar 2013 auf comingsoon.net, in dem er skeptisch fragt, ob Bartholomew Strydom und Segerman wirklich ernsthaft nach Rodriguez gesucht hätten und wie viel künstlerische Freiheit wohl erlaubt sei bei einem Dokumentarfilm, der doch so etwas wie die Wahrheit wiedergeben solle: „Is it okay to bend the truth in order to make the story better than it really is?“

Zu den Schwächen des Films gehört neben all den Unterschlagungen und Dramatisierungen auch, dass er zwar die richtige Frage nach den nicht gezahlten Tantiemen stellt und viele schlimme Dinge suggeriert, aber letztlich keine befriedigenden Antworten gibt. So wie er überhaupt mehr Fragen aufwirft, als er löst. Weil er sich auf alle möglichen Erzählstränge konzentriert und kaum einen davon wirklich zu Ende bringt. Am wenigsten den über Rodriguez selbst. Aus den unterschiedlichen Namen „Sixto Rodriguez“ und „Jesus Rodriguez“ in den Songwriting-Credits, die sich am langen Ende irgendwie erklären lassen, werden höchst mysteriöse Nebelbomben und Erschwernisse kreiert. Es reden Leute aus dem Musikbusiness, es reden die fieberhaft Suchenden, dann die Töchter von Rodriguez, von denen sich eine – noch so eine rührende Geschichte – in ein Crewmitglied verliebte und prompt eine Familie gründete, außerdem zwei ungemein eloquente Rodriguez-Kollegen und -Freunde aus Detroit, die ihren Kumpel „Sugar Man“ als edlen Helden beschreiben. Waren das die einzigen beiden Menschen aus dem persönlichen Umfeld des Künstlers, die man auftreiben konnte? Nur in ein paar wenigen Szenen spricht Rodriguez selbst – das heißt, ausgerechnet über die Hauptfigur erfährt man am allerwenigsten.

Bildschirmfoto 2015-11-24 um 15.41.31Wenn schon aktuell unbedingt noch ein weiteres Buch zum Thema auf den Markt kommen sollte, dann wäre doch eine (Auto-)Biografie des Künstlers beziehungsweise die wahre Geschichte aus der Sicht von Rodriguez das Gebot der Stunde gewesen. Oder ein investigativer Report, der die einstigen Geldströme wirklich offenlegt, um dem Urheber der Songs endlich zu seinen wohlverdienten Tantiemen zu verhelfen. Stattdessen aber inszenieren sich noch einmal die Herren Bartholomew Strydom/Segerman selbst, mit der altbekannten Geschichte. Und schaut man ins Buch, dann staunt man nicht schlecht über den Stil: Die beiden Autoren schreiben über sich selbst in der dritten Person! Das wirkt nicht nur arg selbstverliebt und artifiziell, sondern auch wie pure Geschäftemacherei. Immer schön weitermachen, lautet offenbar die Devise. Und das trotz alledem, was man inzwischen über Rodriguez weiß. Je weniger der Songwriter dazu sagt oder im Rampenlicht steht, desto geheimnisvoller wirkt er wohl weiterhin – und desto ungestörter kann man sein eigenes Rodriguez-Ding machen.

Bildschirmfoto 2015-11-24 um 15.39.54Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch die Homepage sugarman.org, die sich selbst als offizielle Rodriguez-Website bezeichnet. Dort sind als Aufmacher Filmplakate und Plattencover zu sehen, dann folgen eine 360-Grad-Ansicht von „Mabu Vinyl“, Segermans Buch- und Plattenladen in Kapstadt, sowie Ankündigungen, Interviews und Rezensionen zum neuen Buch von Segerman und Bartholmew Strydom. Es stellen sich weitere Fragen, zum Beispiel: Was sagt sugarman.org über die Rechtsstreitigkeiten, die sich in den letzten Monaten entsponnen haben, weil nach dem Erfolg des Films plötzlich alle möglichen Beteiligten aus ihren Löchern hervorkrochen, um zu eruieren, ob sie nicht auch noch ein bisschen mitverdienen könnten? Und was sagt der Künstler selbst zu alldem? Auch hier fällt auf: Es geht vor allem um die (Selbst-)Inszenierung der Rechercheure – wer etwas über Rodriguez erfahren will, muss eine ganze Weile klicken, um nur ein kleines bisschen zu erfahren. Fast möchte man an den genialen, aber psychisch labilen Beach Boy Brian Wilson denken, dessen Karriere ein paar Jahre lang von dem Psychotherapeuten Eugene Landy gesteuert worden war.

So bleibt es durchaus das Verdienst von Bendjelloul, Segerman und Bartholmew Strydom, eine breitere Weltöffentlichkeit über einen Zeitraum von knapp fünfzehn Jahren hinweg noch einmal auf den zu wenig gewürdigten Songwriter Rodriguez aufmerksam gemacht zu haben. Was aber das Thema Mythos betrifft, so haben sie nicht unbedingt hinter den Mythos Rodriguez geschaut. Vielmehr scheint es, als hätten sie vor allem ihren eigenen profitablen Mythos kreiert. Ob Bendjellouls Selbstmord in irgendeinem Zusammenhang damit steht, ist nicht überliefert.

Werber in der analen Phase

Songs werden gern als Allzweckwaffen missbraucht. Besonders gern nehmen Marketingleute sie zur Untermalung von Werbespots. Aus einem klassischen Lovesong wird dann eine Hommage an ein bestimmtes Automodell, aus einer Ode an die Jugend die Hymne für eine Anti-Aging-Creme. Okay… Aber manche Songs werden derart unglücklich eingesetzt, dass der Spot eigentlich nach hinten losgehen müsste. Nehmen wir Unbelievable, den supereingängigen Dancerock-Track der britischen Gruppe EMF aus dem Jahr 1990. Der Refrain mit dem Ausruf „Unglaublich!“, „Unbelievable!“, soll in dem Werbeclip, den er untermalt, einen schicken Sportwagen charakterisieren, natürlich im positiven Sinne. Dabei meint der Ausruf im deprimierenden Songkontext genau das Gegenteil, etwa im Sinne von: „Du bist so mies zu mir, es ist einfach unglaublich!“ Wer’s nicht glaubt, der höre selber nach.

Ganz anders lag der Fall bei Ring of Fire, einem der größten Hits des amerikanischen Countrysängers Johnny Cash. Hier wollten Werber den Text ganz bewusst in einen provokanten neuen Kontext stellen. Aber von vorn: Der 1962 erschienene Song handelt ganz offensichtlich von einer Liebesbeziehung. Ein Liebender bekundet seine leidenschaftliche Zuneigung, die er in das Bild eines lodernden Feuers kleidet. So heißt es in der zweiten Strophe: „The taste of love is sweet / When hearts like ours meet / I fell for you like a child / Oh, but the fire ran wild.“ – Übersetzt etwa: „Liebe schmeckt süß, / wenn zwei Herzen wie die unseren aufeinandertreffen. / Ich verfiel dir wie ein Kind, / oh, aber das Feuer loderte wild.“ Der Refrain, den auch heute noch fast jeder mitsingen kann, lautet: „I fell into a burnin’ ring of fire / I went down, down, down / And the flames went higher / And it burns, burns, burns, / The ring of fire, the ring of fire.“ Also: „Ich fiel in einen brennenden Ring aus Feuer. / Ich ging in die Knie, / und die Flammen schlugen höher. / Und er brennt, brennt, brennt, / der Ring aus Feuer, der Ring aus Feuer.“ Man kann nach autobiografischen Bezügen im Leben Johnny Cashs suchen oder einen spirituellen Gehalt in den Versen entdecken. Man kann das Feuer einfach als Leidenschaft deuten, aber auch im Sinne der Qualen, die Liebende zu durchleiden haben. Dass „Ring of Fire“ sowohl der geografische Begriff für einen Vulkangürtel im Pazifik als auch der Name eines Trinkspiels ist, das mit Karten gespielt wird, mag dabei jeweils zur Deutung der Metaphorik herangezogen werden. Stets aber beschreibt der Song eine äußerst innige Beziehung zwischen dem Ich und dem angesprochenen Du.

Dennoch war sich die amerikanische Texterin Sula Miller im Jahr 2004 nicht zu blöd, Ring of Fire ausgerechnet als Untermalung eines Werbespots für ein Medikament gegen Hämorrhoiden ins Visier zu nehmen. Den in den Versen besungenen Ring aus Feuer in vollster Absicht als entzündeten Schließmuskel zu interpretieren, das ging allerdings der Familie des ein Jahr zuvor verstorbenen Sängers zu weit. „Die Hinterbliebenen der Country-Ikone haben sich jedenfalls festgelegt, was die Interpretation des Songtextes betrifft“, schrieb SPIEGEL Online damals in einem Artikel über den Fall. „Es gehe um die gestalterische Kraft der Liebe. Etwas anderes werde er für die Familie niemals bedeuten.“ Weshalb der Welt die Umsetzung dieser hirnrissigen Idee letztlich erspart blieb. Eine Songmisshandlung der übleren Sorte bleibt die Attacke von Sula Miller trotzdem – zumal sie dem Klassiker noch heute unangenehm anhaftet und mitverantwortlich sein könnte für die Verbreitung einer weiteren Schwachsinnsthese: Nach wie vor stößt man im Internet auf Songportalen und in Chatforen auf die Mutmaßung, Ring of Fire handele von Analsex.

Diese und weitere Songmisshandlungen in meiner Essayreihe „What have they done to my song?“ auf http://faustkultur.de/, direkter Link:
http://faustkultur.de/kategorie/musiktheaterfilm/behrendt-what-have-they-done-to-my-song-v.html#.UVWHKhkcVEs

 

 

Frauenfußball-EM 2013: Auf den richtigen Song kommt es an

Deutschland im Fußballfieber. Neben der Bundesliga verspricht auch die Champions League packende Duelle. Und mit der Frauen-Fußballeuropameisterschaft, die im Juli 2013 in Schweden ausgetragen wird, wirft bereits ein weiteres Highlight seine Schatten voraus. Einen etwas bemüht wirkenden Stadion-/Fansong mit prägnanten Zeilen wie „Macht das Ding rein“ gibt es schon für das Team von Bundestrainerin Sylvia Neid – jetzt bin ich gespannt, welchen Ohrwurm sich die deutschen Fernsehsender als Soundtrack für ihre Berichterstattung aussuchen werden. Zum letzten großen Frauenfußballturnier, der WM 2011 „im eigenen Land“, hatte man sich zwar ein starkes Lied herausgepickt, aber mit Blick auf das zu begleitende Sportereignis war das Ganze reichlich fragwürdig.

Bestimmt haben Frida Gold damals die Champagnerkorken knallen lassen, als sie erfuhren, dass das ZDF seine WM-„Bilder des Tages“ mit ihrem dynamischen Dancefloor-Kracher Wovon sollen wir träumen? unterlegen würde. Tatsächlich liefen an allen WM-Übertragungstagen zwischen 26. Juni und 17. Juli immer wieder Schnipsel aus dem Song, und natürlich war es vor allem der höchst eingängige, dramatische Refrain, den man brachte. Die Häufigkeit der Einspielungen und die Kombination mit spektakulären Fußballszenen machten Wovon sollen wir träumen? zur inoffiziellen Hymne des Turniers und Frida Gold, eine Newcomerband aus dem Ruhrgebiet, quasi über Nacht zu Stars.

Natürlich gönnt man dem ungewöhnlichen Quintett den Erfolg, der mit weiteren starken Stücken untermauert wurde. Aber war ihr Erfolgssong überhaupt kompatibel mit dem WM-Turnier? Passte er wirklich zur Erwartungshaltung von halb Fußballdeutschland, dass „unsere Mädels“ daheim den Titel holen würden? Klar, der erste Refainvers schien zu passen wie die Faust aufs Auge: „Wovon sollen wir träumen?“, fragte er fast schon rhetorisch, und jeder deutsche Fußballfan antwortete im Geiste: Natürlich von der WM-Trophäe! Aber das war’s dann auch schon mit eventuellen Bezügen zwischen Lied und Turnier, auch wenn sich die Band selbst in einem ZDF-Beitrag mühte, diese Bezüge zu bestätigen. Fakt ist: Der Einsatz im Rahmen der ZDF-„Bilder des Tages“ riss nicht nur den Refrain aus seinem Kontext, sondern stellte auch den gesamten Song in einen völlig anderen Kontext, mit dem zusammen er in zigtausend Hirnen abgespeichert wurde. Eine Songmisshandlung erster Güte.

Wovon handelt Wovon sollen wir träumen? Auf keinen Fall von Höhenflügen, sondern exakt vom Gegenteil – von Absturz und Hoffnungslosigkeit. Gleich die ersten Verse präsentieren ein Ich, das ausgiebig feiert und das Leben genießt, dabei aber seine Energie verschwendet. Tagsüber ist es müde und antriebslos, die Euphorie der Nacht weicht Traurigkeit, wahrscheinlich auch Schuldgefühlen: „Ich bin mitten drin / Und geb mich allem hin 
/ Aber schaut man hinter die Kulissen 
/ Dann fängt es immer so an / Ich schlafe immer zu lang / Krieg’s nicht hin und fühl mich deshalb beschissen.“ Wahlloser Konsum vorbei an den eigentlichen Bedürfnissen und die sinnentleerte Orientierung an Superlativen sprechen aus den nächsten Versen. Außerdem formuliert das Ich eine kitschige Sehnsucht nach dem Partner fürs Leben: „Ich erkenn mich nicht 
/ In den Schaufensterscheiben /
Entdecke nichts, was mir gefällt /
Ich brauch die schönsten Kleider 
/ Und die stärksten Männer /
Und eine Hand, die meine Hand für immer festhält.“

Der Refrain umreißt dann die existenzielle Trostlosigkeit, die das Ich empfindet. Es spricht nicht nur für sich selbst, sondern für eine ganze Gruppe von Menschen, womöglich für eine Generation. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie keine echten Träume, keine Visionen mehr hat und nichts, woran sie glaubt. Und: Diese Generation ist, wie sie ist – sie scheint sich auch nicht ändern zu können: „Wovon sollen wir träumen? /
So wie wir sind, so wie wir sind, so wie wir sind 
/ Woran können wir glauben? 
Wo führt das hin? Was kommt und bleibt? So wie wir sind…“ Diese Verse reichen eigentlich schon, um zu zeigen, wie sehr der ZDF-Einsatz dem eigentlichen Anliegen der Lyrics entgegenläuft. Machen wir trotzdem noch einen Sprung ins letzte Drittel des Songs. Auf die zweite Strophe, die die Grundgedanken fortführt, und einem weiteren Refrain folgt ein Zwischenteil, der die eingangs geäußerte Sehnsucht nach dem Partner fürs Leben als trügerisch entlarvt: „Wir lassen uns treiben durch die Clubs der Stadt / 
Durch fremde Hände, und wir werden nicht satt
/ Wir wachen dann auf bei immer anderen Geliebten /
Von denen wir dachten, dass wir sie nie verlassen.“ Das Ich ist offenbar nur zu kurzlebigen Affären fähig und betrügt sich damit immer wieder selbst. Und es kommt noch düsterer: Eine Atemlosigkeit, mit der auch Asthmaanfälle gemeint sein können, eine mangelnde Ernährung, in der sich auch Magersucht andeutet, dazu ein übertriebener Alkoholgenuss – das alles untermauert die letztliche Orientierungs- und Heimatlosigkeit des Ichs, die völlige Ausweglosigkeit seiner Situation: „Wir können nicht mehr atmen und vergessen zu essen /
Wir trinken zu viel, es bleibt ein Spiel ohne Ziel / Wann hört das auf?
Wann kommen wir hier raus? /
Wovon sollen wir träumen? 
Wo sind wir zu Haus? / Wo sind wir zu Haus? Wo sind wir zu Haus?“

Ich würde mal sagen, euphorische Songstatements, die man mühelos auf den Willen zu sportlichem Erfolg übertragen kann, hören sich anders an. Immerhin erwies sich der ZDF-Einspieler aus deutscher Sicht im Nachhinein als unfreiwillig visionär. Denn Birgit Prinz & Co schieden viel zu früh aus dem WM-Turnier aus, erreichten noch nicht einmal das Halbfinale. Sicher war dabei auch Pech im Spiel. Doch muss man ebenso festhalten, dass die Hoffnungsträgerinnen unter dem immensen Druck der öffentlichen Erwartungshaltung meist verkrampft aufgetreten waren und ihr eigentlich vorhandenes Potenzial nur selten hatten abrufen können. „Wovon sollen wir träumen, so wie wir sind?“ – mit dieser ernüchternden Einsicht in die eigenen Schwächen passte der Frida-Gold-Song nach dem deutschen WM-Aus deutlich besser. Er war jetzt so etwas wie ein trauriger Epilog. Und die nachträgliche Bestätigung dafür, dass Sportteams mit einer derart belastenden Songmisshandlung auf dem Buckel einfach keine Trophäen gewinnen können.

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