Ja gibt’s denn so was? Da erscheint mein neues Buch, und ich vergesse, frühzeitig auf „tedaboutsongs“ darauf hinzuweisen? Na ja, „vergessen“ trifft es nicht wirklich, eher „bin einfach nicht dazu gekommen“. Schließlich gehe ich noch einem Brotjob nach, der mich ausgerechnet in den ersten Wochen des Jahres 2023 immens gefordert hat. Und dann waren überraschenderweise schon weit vor Erscheinen des Buchs am 17. Februar diverse Medientermine zu absolvieren, sogar schon erste Lesungstermine zu vereinbaren. Unglaublich, welches Engagement mein Agent Günther Wildner wieder an den Tag legt, um deutschland- und österreichweit führende Printmedien und Rundfunksender zur Vorstellung des Buchs oder gar zu einem Interview mit dem Autor zu motivieren. Hinzu kommt die Medienarbeit des Reclam-Verlags, bei dem ich mich bestens aufgehoben fühle. Ja, das Ganze verlangt schon etwas Einsatz, aber es macht auch einen Riesenspaß.
Dass es so kommen würde, hätte ich mir vor zweieinhalb Jahren nicht mal ansatzweise ausgemalt. Eigentlich hatte ich nach „I Don’t Like Mondays“ (2017) und „Provokation!“ (2019) kaum das Gefühl, noch etwas Originelles im Musiksachbuchbereich beitragen zu können. Dann, im Herbst 2020, mitten in der Corona-Pandemie, entstand eher zufällig die vage Idee, mal nach seltsamen bis verunglückten Songzeilen in Songs aus dem deutschsprachigen Raum Ausschau zu halten. Ohne großen Aufwand, einfach so. Meinem Agenten gefiel die Idee, und das motivierte mich, dem Thema doch etwas engagierter auf den Grund zu gehen. Und so entwickelte, was zunächst als kleines Nebenbei-Rechercheprojekt für die nächsten zwei, drei Jahre angelegt war, plötzlich eine unerwartete Eigendynamik. Aus der Erinnerung kramte ich Songtexte hervor, die mir schon immer etwas merkwürdig vorgekommen waren – parallel dazu hörte und las ich mich durch die vergangenen 60 Jahre deutscher Popgeschichte. Von Pop bis Rock, von Schlager bis Chanson, von Soul und Dance bis Rap – wie schon bei den vorangegangenen Büchern war mir eine große musikalische Bandbreite wichtig. Und natürlich ging es nicht nur um deutschsprachige Texte, sondern auch um Texte auf Englisch, denn die Fremdsprachenfalle fördert hin und wieder feine Stilblüten zutage. Aus verhaltenem Interesse wurde Leidenschaft, und so hatte ich innerhalb weniger Wochen etliche Beispiele zusammen, die ich nur noch ordnen musste. Bereit im Herbst 2021 konnte ich eine erste Manuskriptfassung vorlegen.
Günther Wildner machte sich an die Arbeit und begann, das Buch anzubieten – zunächst mit der üblichen Reaktion: „Schöne Idee, passt aber nicht ins Verlagsprogramm.“ Überraschend dagegen war eine Absage mit dem Tenor: Viel zu nett geschrieben, man hätte gnadenloser auf die Künstler:innen draufhauen sollen. Mein Agent und ich waren uns jedoch einig: Das Buch darf gern ironisch und kritisch sein, aber ein gewisser Respekt gegenüber den Stars versteht sich von selbst. Dass dann im Frühjahr 2022 ausgerechnet der renommierte Reclam-Verlag Interesse zeigte, das Buch herauszubringen, machte uns besonders stolz. Vielleicht kam das ja auch nicht von ungefähr: „Mein Herz hat Sonnenbrand“ (der Titel zitiert einen alten Schlager von Bata Illic) beackert ein übergreifendes popmusikalisches Thema und setzt sich ebenso unterhaltsam wie kritisch mit Sprache auseinander – Reclam wiederum leistet seit jeher einen unschätzbaren Beitrag zur Pflege von Literatur und Sprache und verfügt außerdem über eine feine Musikbuchsparte: Das Verlagsprogramm enthält eine Menge spannender Titel von Klassik bis Pop. Im Lauf des Jahres 2022 wurde das Manuskript in die endgültige Form gebracht, wobei noch ganz aktuelle Songbeispiele während des Produktionsprozesses integriert werden konnten. Mein Riesendank geht in diesem Zusammenhang an das Reclam-Team, das das Manuskript einem überaus sorgfältigen Lektorat unterzog. Da ich selbst als Korrektor, Lektor, Faktenchecker arbeite, weiß ich, welchen Aufwand das bedeutet. Nach einem derart intensiven Bearbeitungsprozess sieht man der Veröffentlichung mit einem noch besseren Gefühl entgegen.
Nun ist nicht nur das Buch, sondern auch schon der eine oder andere Beitrag in den Medien erschienen. Highlights bisher: Die „Berliner Morgenpost“ hat ein ausführliches Interview veröffentlicht, auf SWR2 erschien ein dreieinhalbminütiger Radiobeitrag. Lieblingssatz daraus: „Es muss die Lust am Schmerz sein, die Behrendt dazu getrieben hat, an die 200 Songtexte zu analysieren.“ Prominent platziert ist das Buch auch in der März-Ausgabe des JOURNAL FRANKFURT. In helle Aufregung versetzte mich ein halbstündiger Live-Auftritt im MDR-Fernsehen bei „MDR um 4 – Gäste zum Kaffee“. Es war spannend zu sehen, wie die Sendung produziert wird, und gleichzeitig ein Teil davon zu sein. Mein Dank geht an das gesamte Produktionsteam und an Moderatorin Stephanie Müller-Spirra, die mich dank ihrer souveränen Art meine Nervosität schnell in den Griff bekommen ließ. Mindestens ebenso gefreut habe ich mich über einen ausführlichen Talk mit Dagmar Fulle für hr INFO. Daraus ist ein 25-minütiger Radiobeitrag entstanden, der einen hervorragenden Einblick gibt in das, worum es im Buch geht. Hier auf Beiträge zu verlinken, ist wohl wenig sinnvoll – vieles verschwindet auch rasch wieder aus den Mediatheken. Wer neugierig ist, googelt einfach ein bisschen und wird schnell fündig. Weitere Beiträge und Rezensionen dürften folgen – und nun stellt sich die banale, aber essenzielle Frage: Wie kommt das Buch an? Die Spannung steigt …
Mein Herz hat Sonnenbrand: Über schiefe bis irrwitzige Songtexte aus 60 Jahren deutscher Popmusik 240 S., Hardcover, 13,5 x 21,5 cm Reclam 2023, 20 Euro ISBN 978-3-15-011434-6
Neues von Jens Balzer: Das lesenswerte Musiksachbuch Schmalz und Rebellion kreist um den deutschen Pop und seine Sprache
Es ist bereits das fünfte Buch in sechs Jahren. Jens Balzer, Kulturjournalist für „ZEIT“, „Rolling Stone“ und „radioeins“, Dozent für Popkritik an der Berliner Universität der Künste und Co-Kurator des Popsalons am Deutschen Theater Berlin, zählt zu den produktivsten Autoren seiner Zunft. Nach Abhandlungen über das Phänomen „Pop“ an sich, über „Pop und Populismus“, über „das entfesselte Jahrzehnt“ der Seventies und „das pulsierende Jahrzehnt“ der Achtziger widmet sich Balzer nun dem „deutschen Pop und seiner Sprache“. Dass Schmalz und Rebellion, so der griffige Titel des ansprechend gestalteten Bandes, im Berliner Dudenverlag erscheint, wirkt stimmig.
Wer nun erwartet, dass sich der Autor in sprachwissenschaftlichen Betrachtungen und stilistischen oder grammatikalischen Detailanalysen ergeht, wird enttäuscht. Zum Glück. Balzer schreibt eher über Sprachfindung und den Umgang mit Sprache in Songs aus dem deutschsprachigen Raum seit 1946 – und das leicht verständlich, gut begründet, mit gelegentlicher feiner Ironie, die nie zynisch oder verletzend wirkt. Selbst Acts wie Sandra und Modern Talking, die gemeinhin gern belächelt werden, erfahren in diesem kritisch-historischen Abriss eine kurze, angemessene Beschreibung und Einordnung – die mehr als berechtigte Kritik an sexistischen, homophoben und antisemitischen Rap-Tracks erfolgt in klaren Worten, aber sachlich. Und weil Balzer es nicht nur versteht, überraschende Bezüge herzustellen, sondern auch bisher wenig erforschte Popnischen ausleuchtet und die eine oder andere obskure Songperle in den Ring wirft, ist sein neuester Streich selbst für Leute, die schon viel über Pop zu wissen glauben, unbedingt lesenswert.
Bruch mit der Vergangenheit
Schmalz und Rebellion entwirft ein einnehmendes Narrativ von Pop-Entwicklungslinien im deutschsprachigen Raum, die sich fast folgerichtig und stets in Reaktion aufeinander oder auf bestimmte gesellschaftliche Strömungen ergeben haben. So wendet sich die rebellische Jugend im Deutschland der frühen Sechziger dem mehr schlecht als recht verstandenen, aber ungemein coolen Englisch der Rock-’n’-Roll- und Beatmusik zu, um sich gegen die Sprache der Nazis, der schuldbeladenen Elterngeneration, des eskapistischen deutschen Nachkriegsschlagers abzugrenzen. Weil aber gesellschaftskritische Botschaften über den trotzigen Gestus hinausgehen und dann auch verstanden werden sollten, traten Ende der Sechziger politische Künstler wie Franz Josef Degenhardt, Hannes Wader, Ihre Kinder und Floh de Cologne auf den Plan – mit konsequent deutschen Texten. Die Brücke zurück zur Jugendmusik schlugen dann Ton Steine Scherben, die erste echte Rockgruppe mit engagierten deutschsprachigen Songs. Für die leichtgängigere Variante sorgte in diesem Kontext Udo Lindenberg mit seinen ungemein lässigen und gleichzeitig sprachschöpferisch-artifiziellen Texten über ebenso schräge wie einsame Charaktere. Ein Beispiel für die gelegentlich aufblitzende Balzer’sche Ironie: „Er (Lindenberg) stand auch für all jene Männer, die die sexuelle Revolution der Zeit vor allem als Chance ansahen, mit möglichst vielen Frauen ins Bett zu gehen.“
Kein Wunder, dass sich in den Siebzigern auch eine neue Frauenbewegung etablierte – mit musikalischen Vertreterinnen wie den Flying Lesbians, Schneewittchen und Östro 430, die eine Skepsis gegenüber der Mainstream-Gesellschaft und gegenüber gesellschaftsverändernden politischen Bewegungen hegten. Ganz klar, der Bruch mit deutscher Kulturgeschichte und Tradition lag in der Luft. Und den wollten, so Balzer weiter, die sogenannten Krautrocker noch verschärfen: indem sie Sprache nur noch als beliebig form- und auseinandernehmbares Material ansahen oder gleich ganz ohne Text, also instrumental musizierten. Ein ebenso folgerichtiger Ansatz wie der der Wiederaneignung unverfänglicher deutscher Traditionen, die Jahrhunderte vor dem Nationalsozialismus gewirkt hatten. Diesen zweiten Ansatz verfolgten in den Siebzigern die unterschiedlichsten Acts: Ougenweide, Novalis oder Hölderlin vertonten Minnelyrik, sangen auf Alt- und Mittelhochdeutsch; andere, etwa Achim Reichel, äußerten sich auf Plattdeutsch, zelebrierten Shanties und Seemannslieder. Im Rheinland begannen BAP, auf Kölsch zu rocken, in Österreich hatte Wolfgang Ambros mit Popsongs in Mundart Erfolg. Die Lieder der Friedensbewegung – Gefühliges von Bots, Juliane Werding & Co – kündeten von der Kriegsangst in dieser Zeit, und die in deutscher, in türkischer oder in gemischter Sprache gefassten Lieder türkischer „Gastarbeiter“, auf die Balzer – ein großes Verdienst dieses Buchs – ebenfalls verweist, formulierten neben Heimweh die Wut und die Enttäuschung über die in Deutschland erlebte Diskriminierung. In den Songs von Yüksel Özkasap, Metin Türköz oder Cem Karaca (Die Kanaken) lässt sich deutlich ein Vorgriff auf die gesellschaftskritischen Raps migrantischer Hip-Hop-Crews der neunziger Jahre erkennen, von Advanced Chemistry bis Fresh Familee.
Entfremdung und Transzendenz
Deutsche Künstler in den Siebzigern so Balzer, suchten „nach dem sprachlich Eigenen in einer fremd gewordenen Form“. Doch dann betraten Kraftwerk die Bühne, mit einer völlig neuen, rockfreien, vollelektronischen Roboter-Ästhetik und simplen, fragmentartigen deutschsprachigen Texten. Analyse Balzer: Mit Kraftwerk kehrt Deutsches als Fremdes zurück, indem es Klischees erfüllt, die andere Nationen von Deutschland haben: „sonderbar“, „kalt“, „futuristisch“.
In den Achtzigern sang Herbert Grönemeyer ein seltsam regionales Deutsch, das gleichzeitig vertraut und fremd klang. Parallel dazu zelebrierten Punk- und Avantgarde-Bands wie Fehlfarben, S.Y.P.H. und Einstürzende Neubauten einen niederschmetternden Nihilismus – als Reaktion auf den apokalyptischen Zustand der Welt, als Absage an Friedens- und Öko-Utopien. Ähnlich gelagert, aber durchsetzt mit bitterer Systemkritik gaben sich Punk- und Avantgarde-Bands in der DDR der Achtziger. Auch hier gebührt Balzer Dank für die Erinnerung an ein selten beleuchtetes Kapitel deutschsprachiger Popmusik – und für den Hinweis auf eine faszinierend sonderbare Band wie AG Geige, der wir gar eine „Ästhetik der Transzendenz“ für beide Deutschlands verdanken. Wie im Fall von Nina Hagen Ende der Siebziger kam auch mit AG Geige, Zitat, „die eindringlichste Stimme der Emanzipation und Rebellion im deutschsprachigen Pop nicht aus dem Westen, sondern aus der von Zensur und Unterdrückung geprägten DDR.“ Manches aus dieser Zeit, vor allem in Punk und Neuer Deutscher Welle, klang „wie eine Sprache, die man gerade erst erlernt hatte“. Oder „wie eine Sprache, die gar nicht zur Musik passte“. Der Autor grundsätzlich: „Alles musste fremd werden, um zu etwas Neuem zu finden.“ Das schafften dann vor allem DAF, die zu seltsamen elektronischen Beats auf assoziative, ambivalente Weise Sprache kaputt machten, um daraus eine neue Sprache der Romantik und der Liebe zu entwickeln. Ein für Balzer sehr gelungenes Songbeispiel: Der Räuber und der Prinz.
Dekonstruktion und so
Spannend ist Balzers Blick auf Cpt. Kirk &, auf Blumfeld und Die Sterne, auf die für griffige Slogan-Texte gefeierten Tocotronic und andere Bands der Hamburger Schule. Angesichts eines Nebeneinanders von schlagermäßig aufgeweichter Neuer Deutscher Welle, wieder englischsprachiger Italodisco, Untergangsangst, Vereinzelung, Rechtsrock und aufkeimenden Debatten über Heimat und Nationalismus klangen auch sie in den späten Achtzigern und frühen Neunzigern nach Dekonstruktion, nach Verunsicherung und Skepsis. Zum Ausdruck kommt in den neuartigen Rocksongs die „Fremdheit in der Gesellschaft“, es ist die Musik von „Menschen, denen die Sprache im Weg ist“, die „Deutsch als Fremdsprache empfinden“ und sich selbst im Weg stehen beim Ausdruck ihrer Gefühle. Eine verführerische Erklärung für die oft so seltsam anmutenden Songtexte dieser nordischen Schule des deutschsprachigen Pop.
Zu den Solitären, die aus Balzers Abhandlung herausragen, gehört neben Lindenberg, Grönemeyer oder Nina Hagen auch die erfolgreichste Band der Neunziger: Rammstein. Mit der Interpretation ihrer Kunst als Karikaturen und ironische Brechungen des Deutschseins liegt der Autor sicher richtig – seine Ansicht, dass dieser Kunst gleichzeitig eine Anschlussfähigkeit für den Rechtsrock innewohne, muss man nicht teilen, ist aber legitim und weit verbreitet. Erstaunlich, dass in Balzers Ausführungen zu dieser historischen Phase erwartbare explizite Fingerzeige auf „die Wende“ und „die Wiedervereinigung“, auf eine „Nachwendezeit“ oder die „Auflösung des Ostblocks“ fehlen: Mal klingen lediglich die letzten Jahre der alten Bundesrepublik an, mal veränderte Zeitstimmungen, auf die Künstlerinnen und Künstler unter anderem mit dem Aufgreifen poststrukturalistischer Einflüsse reagieren. Unmittelbare Gedanken zum historischen Einschnitt 1989/90 werden offenbar der mündigen Leserschaft überlassen.
Progression und Reaktion
Und dann sind wir auch schon beim Deutschrap des neuen Jahrtausends, der sich bald zwischen sprachverliebten Gute-Laune-Tracks im Stil der Fantastischen Vier, Antidiskriminierungs-Empowerment der Marken Advanced Chemistry und Fresh Familee sowie menschenverachtendem Battle- respektive Gangsta-Rap à la Bushido, Fler, Haftbefehl oder Kollegah bewegt. Überwiegend geht es um Menschen, die sich „fremd im eigenen Land“ fühlen und darauf unterschiedlich reagieren. Tatsächlich wird auch Popmusik in Deutschland nach der Jahrtausendwende immer diverser – vor allem im Hip-Hop sind so viele migrantische Stimmen zu hören wie nie zuvor. Und selbst dem unappetitlichen Gangsta-Rap gebührt das Verdienst, viele neue Begriffe in die deutsche Alltagssprache eingeführt zu haben. In Balzers Narrativ geht es stets um Fremdes und die Aneignung von Fremdem, also verweist er in diesem Zusammenhang auch auf deutsche Mittelschichtkids, die sich – analog zu den deutschen Sixties-Halbstarken und ihrer Hinwendung zum neuen, englischsprachigen Rock ’n’ Roll – die Posen der coolen Gangsta-Rapper aneignen: Statt „Wan, tuu, zrie, forr, läts go“ singen sie heute: „Chabos wissen, wer der Babo ist.“ Was zu weiteren Reaktionen führt: Wo es so viele diverse Stimmen gibt, muss als Gegenbewegung an den eskapistischen, exotisierenden Schlager der Fünfziger, an die Shanties, die Mundart- und Mittelalter-Trends der Siebziger angeknüpft werden. Erfolgreiche Acts wie In Extremo, Santiano und Schandmaul, aber auch Helene Fischer mit ihrem eklektizistischen Elektro-Schlager-Pop erfüllen, so die verlockende These, entsprechenden Bedürfnisse.
Dezenter theoretischer Überbau
Es klingt in dieser kleinen Zusammenfassung schon an: Balzer hat seinem überzeugenden Narrativ einen dezenten theoretischen Überbau gegeben. „Generell“, so postuliert er, „ist keine Popmusik, keine Kultur ohne das Spiel von Aneignungen, Neu- und Umdeutungen denkbar – also all dessen, was fremd und anders erscheint und deswegen reizvoll ist.“ Und so erweist sich seine Geschichte der deutschen Sprache im Pop tatsächlich als, Achtung: Plural, „eine Geschichte der Sprachen“ – sie handelt „von der Aneignung des anderen, von der Abwehr des Eigenen, von der Erneuerung des Eigenen durch die Auseinandersetzung mit dem Fremden und von der Wiederaneignung dessen, was zu einem gehört, aber fremd zu werden beginnt. Insofern ist es auch die Geschichte einer Gesellschaft und ihrer Kultur, die sich das andere in exotisierenden und oftmals rassistischen Projektionen zurechtlegt – und die erst langsam damit beginnt, durch den Schleier der Projektionen hindurchzublicken auf die Vielfalt und Vielstimmigkeit der realen Welt.“ Wenn es abschließend über gute Songs heißt: „Sie lassen die eigene Sprache fremd werden und weisen dadurch den Weg zu einem anderen Bild von sich selbst“, dann wird dem Leser beinahe warm ums Herz. Der Autor ist mit Leidenschaft bei der Sache, kennt seinen Stoff und weiß genau, was er da macht. Nur an einer Stelle im Buch zuckt man kurz zusammen, wenn von der „Kölner Punkband Böhse Onkelz“ die Rede ist. Richtig ist, dass die höchst umstrittenen Onkelz aus Frankfurt am Main kommen. Es ist eine kleine Unachtsamkeit, über die man gerade bei diesem Werk mit seinen kenntnisreich zusammengestellten Beispielen und Quellen gern hinwegliest.
Eine andere Geschichte der deutschsprachigen Musik
Vor vier Jahren erschien bereits ein Musiksachbuch mit dem Titel Es geht voran: Die Geschichte der deutschsprachigen Popmusik, verfasst von Manfred Prescher. Und es lohnt sich, kurz einen vergleichenden Blick auf beide Bücher zu werfen. Darüber, dass Pop im deutschsprachigen Raum nach dem Ende der Nazidiktatur erst eine eigene Sprache finden musste und dass die Suche über Versuche mit der englischen Sprache, mit Dialekten, politischen Texten und mittelalterlichen Traditionen lief, sind sich Prescher und Balzer einig. Doch wo für Balzer deutsche Popmusik auch in den Achtziger-, Neunziger- und Zweitausenderjahren noch von Aneignungs- und Entfremdungsprozessen gekennzeichnet ist, wirkt bei Prescher die Suche bereits um die Achtziger abgeschlossen. Natürlich eignet sich immer irgendjemand irgendetwas an, aber in Es geht voran wird deutlich weniger gefremdelt. Die vielfältige emanzipatorische Leistung der deutschsprachigen Popmusik eröffnet dem Autor die Möglichkeit, etliche weitere individuelle Acts und Traditionslinien zu würdigen, aus der BRD, der DDR und aus Österreich, von den Ärzten bis zu den Toten Hosen, von den Puhdys und der Stern-Combo Meißen bis zu Wanda und dem urkomischen Ersten Wiener Heimorgelorchester. Überhaupt kommen bei Prescher selbst Blödelbarden wie Insterburg & Co und Kreativrocker mit feinstem Sprachwitz zu ihrem Recht.
Auch in meiner persönlichen Wahrnehmung gab es in den Achtzigern deutlich mehr als Fehlfarben und Neubauten auf der einen und Fräulein Menke oder Spider Murphy Gang auf der anderen Seite. Die Band Ideal etwa war für mich eine Offenbarung. Beinahe aus dem nichts kam Sängerin und Texterin Annette Humpe mit einer neuen deutschen Szenesprache um die Ecke, die frisch und alltagsnah wirkte und gleichzeitig auf lyrische Kniffs und Tricks der großen Kabarettkünstler und Vokalensembles der 1920er und -30er Jahre zurückgriff. In Verbindung mit einer krachig-melodischen New-Wave-Musik schien mir bei Ideal, aber auch bei anderen jungen Bands dieser Zeit deutschsprachige Popmusik endlich auf Augenhöhe mit den energiegeladenen, sprachgewitzten Stars aus England und den USA zu rangieren – ohne dass Haltung, gesellschaftliches Engagement oder Ideen von Transzendenz darunter leiden mussten. Extrabreit, Andreas Dorau oder Huah!, auch die gut gelaunten Fanta 4 und Fettes Brot, Die Braut haut ins Auge, Wir sind Helden, Jennifer Rostock, Kraftklub, Maurice und die Familie Summen, Mia, Bilderbuch, Max Raabe oder Die höchste Eisenbahn, um nur einige unter sehr vielen zu nennen, haben bis heute diese Tradition einer durchaus anspruchsvollen, kritischen, aber im Ansatz hochenergetischen, positiv gestimmten deutschsprachigen Popmusik fortgesetzt.
Kausalität und wildes Durcheinander
Wenn mir also etwas fehlt am neuen Buch von Jens Balzer, dann sind es solche Beispiele für ein überzeugendes Zu-sich-selbst-Finden von Pop-Künstlerinnen und Künstlern in der deutschen Sprache. Ebenso wie Acts vom Schlage eines Udo Jürgens oder einer Hildegard Knef, die mühelos eine Brücke zum Chanson, zum engagierten Liedermachertum und sogar zu Pop und Rock schlagen konnten. Balzer bleibt eng an den Impulsen, die von Suchenden und Entfremdeten, von Skeptikern, Vereinzelten und Verunsicherten, von Subversiven oder auch von Reaktionären ausgingen. Da bleibt eine leise Ahnung, dass es noch mehr und anderes an auch sprachlich relevantem Pop aus Deutschland gibt als das, was in Schmalz und Rebellion angeführt wird, noch weitere Geschichten oder Nebenstränge, auch Dynamiken wie Transformation und Innovation – und dass nicht alles einer strikten Kausalität folgt, sondern oftmals ein buntes, wildes Nebeneinander von auch zufällig auftretenden Phänomenen herrscht. Das schmälert nicht die Überzeugungskraft der von Balzer entworfenen Erzählung – schließlich lebt spannende Geschichtsschreibung von zugespitzten, verdichtenden Interpretationen der Vergangenheit. Was man selbst in all den Jahrzehnten eher halbbewusst und wenig reflektiert miterlebt hat, bringt Schmalz und Rebellion immer wieder analytisch scharf und erhellend auf den Punkt. Und wenn der Autor augenzwinkernd etwa fragt, warum um Himmels willen ein Schlager, der auf Hawaii spielt, mit Sprachfloskeln aus dem Spanischen hantiert oder wen Dieter Bohlen wohl mit seiner semantisch verwirrenden Cheri Lady adressieren wollte, dann kommt auch der Unterhaltungswert nicht zu kurz. Dass sich dieses Buch bei aller Informationsdichte und Tiefe sogar als Strandlektüre empfiehlt, ist als großes Kompliment zu verstehen.
Jens Balzer, Schmalz und Rebellion: Der deutsche Pop und seine Sprache. Dudenverlag Berlin, 2022. 224 Seiten, 20 Euro
33 Texte aus der Frankfurter Pop-Anthologie der FAZ sind jetzt als Buch erschienen. Titel: Drop It Like It’s Hot. Leseeindrücke
Das populärwissenschaftliche bis akademische Unter-die-Lupe-Nehmen von Songs erfreut sich großer Beliebtheit. Und gern erfolgt es in Serie. Das Spektrum reicht hier von der Hörfunk- und Fernsehinstitution Popsplits über Buchreihen wie The Story Behind … von Thomas Steinberg oder Berühmte Songzeilen und ihre Geschichte von Manfred Prescher/Günther Fischer bis hin zu großangelegten Anthologien im Internet. Das OnlineportalDeutsche Lieder. Bamberger Anthologie darf dabei als Nonplusultra für Songs aus dem deutschsprachigen Raum gelten: Unter der Regie von Martin Rehfeldt (Herausgeber) und Jan Hurta (Redaktion) erscheinen auf Deutsche Lieder seit Jahren ernsthafte Auseinandersetzungen mit gefeierten, aber auch mit umstrittenen deutschen Songs der unterschiedlichsten Genres – die Beiträge haben oftmals erhellenden Charakter. International und vor allem auf die popmusikalischen Genres ausgerichtet gibt sich dagegen die Frankfurter Pop-Anthologie der FAZ. Unter diesem Label – frei nach der 1974 von Marcel Reich-Ranicki begründeten Frankfurter (Literatur-)Anthologie – sind auf faz.net in einem Zeitraum von mehr als fünf Jahren an die 140 Beiträge erschienen, wobei der Ansatz weniger wissenschaftlich als spielerisch offen ist. Die Autorinnen und Autoren schreiben einfach über ihre Lieblingssongs – auf welche Aspekte sie dabei den Schwerpunkt legen, bleibt ganz ihnen überlassen. Auch der Bekanntheitsgrad eines Songs scheint keine große Rolle zu spielen: So findet selbst Obskures, längst Vergessenes oder nur einer Handvoll Nerds Bekanntes seinen Weg in die Sammlung.
Mit Drop It Like It’s Hotsind nun 33 Texte dieser Frankfurter Pop-Anthologie als Buch erschienen. Die Herausgeber des Bandes, die FAZ-Feuilleton-Redakteure Uwe Ebbinghaus und Jan Wiele, äußern sich nicht zu den Kriterien ihrer Textauswahl – diese scheint aber einen guten Querschnitt durch das bisher aufgelaufene Internetangebot zu bieten. So werden neben Welthits wie Bobby Brown (Frank Zappa) und Hallelujah (Leonard Cohen) Artrock-Perlen wie The Musical Box (Genesis), experimentelle Filmmusiken wie Container (Fiona Apple), französische Sixties-Nischenhits der Marke Les Élucubrations (Antoine) und verstörende Schlager wie Smog in Frankfurt (Michael Holm) besprochen – zu den Autorinnen und Autoren gehören Kolleginnen und Kollegen sowie der eine oder andere Gaststar, darunter Annette Humpe, einst Songwriterin und Sängerin der wunderbaren NDW-Band Ideal.
Der „Kessel Buntes“-Ansatz der Frankfurter Pop-Anthologie ist Fluch und Segen zugleich. Einerseits sorgt er für ein Leseerlebnis voller Überraschungen, da jeder Text anders an seinen Gegenstand herangeht. Er fördert unerwartete Erkenntnisse zutage und macht Lust, selbst abseitige Songs neu zu entdecken. Auf der anderen Seite muss man sich auf teils sehr subjektive Einschätzungen und wilde Spekulationen einlassen, gerade bei weniger bekannten Songs und Acts fühlt man sich ohne behutsame Moderation in medias res geworfen, mitunter bleibt man unzufrieden, im schlechtesten Fall ratlos zurück. So kämpft sich Rose-Maria Gropp zwar tapfer durch die verschiedenen Fassungen von Hallelujah, nennt unzählige biblische Bezüge und literarische Assoziationen, suggeriert sprachlich geschliffen ein tieferes Verständnis, lässt aber letztlich einen roten Faden ihrer Argumentation geschweige denn ein klares Statement zur Bedeutung, zum Clou oder eben zur Uninterpretierbarkeit des Cohen-Klassikers vermissen. Ähnlich anstrengend sind die Einlassungen von Kunstgeschichtler Stefan Trinks zum Nick-Cave-Song The Mercy Seat, da lediglich der Songinhalt und vor allem das dazugehörige Musikvideo minuziös nacherzählt werden, ohne dass Zitate aus den Original-Lyrics Halt geben. Das liest sich zwar leidenschaftlich-blumig, ist aber zu sehr Fanperspektive und zieht letztlich abstrakt, wie ein surrealer Clip am inneren Auge des wissbegierigen Popfans vorbei. Mercy Seat sei ein „Lied der Urängste, von (Gott-)Verlassenheit, Verzweiflung, Auflehnung, Resthoffnung auf Erlösung“, schreibt Trinks: „An Cave ist tatsächlich, wie oft geschrieben wurde, ein Priester verloren gegangen.“ Gibt’s ja nicht – aber hätte man das nicht auch in weniger als achteinhalb Buchseiten auf den Punkt bringen können? Wenn Uwe Ebbinghaus bei der Betrachtung des Songs Drop It Like It’s Hot (Snoop Dog feat. Pharell) aus augenzwinkernd unbedarfter Elternperspektive die „oft eindeutig nur gespielte Fluch- und Drohkulisse“ der „meist schwarzen Rapper“ betont und die lässig behauptete Ironieerkennungskompetenz vieler Jugendlicher feiert, läuft er zumindest Gefahr, die wirklich unappetitlichen Aspekte des Gangsta-Rap zu verharmlosen. Und wenn Hip-Autor Joachim Bessing (Tristesse Royale) im Text zu Michael Holm einen exklusiven Szenetalk einschließlich Namedroppings und nerviger Schwafel- und Schachtelsätze zelebriert, zieht’s einem schon mal die Schuhe aus. Kostprobe: „Thomas Meinecke, der damals leider nicht dabei war, obwohl er ja Hamburger ist, wohingegen ihn beinahe alle für einen Bayern halten aufgrund seines lebensfrohen Leibesumfangs, hat ja angesichts der Dichtkunst Albert Ostermeiers ganz richtig angemerkt, dass solche Poesie vor allem in der Kunst besteht, am rechten Ort in der Zeile die Return-Taste zu drücken. In dieser Hinsicht ist der Text von ‚Smog in Frankfurt’ Avantgarde.“ Selige SPEX-Zeiten lassen grüßen …
Gewagt, aber durchaus spannend lesen sich Beiträge, die ihrem Gegenstand mit Überidentifikation oder aber mit einer lässigen Ignoranz begegnen. So lässt Jan Wiele in seinen Ausführungen zu Diamonds and Rust von Joan Baez literaturwissenschaftliche Grundannahmen wie „Das lyrische Ich ist nicht gleichzusetzen mit dem Autor oder der Autorin“ ganz bewusst außer Acht und deutet den Song völlig schmerzfrei als autobiografisch motivierte Abrechnung der Folk-Ikone Joan Baez mit ihrem arschigen Ex-Lover Bob Dylan. Zwischen aufschlussreichen Informationen zur Musikszene der Siebzigerjahre zeigt sich Wiele dabei derart empathisch gegenüber der Songwriterin, dass man meinen könnte, er selbst sei auch schon mal so arschig behandelt worden oder gar ein bisschen in Joan Baez verliebt. FAZ-Mitherausgeber Jürgen Kaube bringt es fertig, fast einen ganzen Essay lang allgemein über das Wesen von Lyrik und Lyrics, das lyrische Ich und das lyrische Du zu philosophieren, sein eigentliches Thema aber, den Song Wrecking Ball von Miley Cyrus, nur in den allerletzten Zeilen kurz zu streifen – ein kleines Husarenstück, vielleicht. Und Annette Humpe, die eigentlich etwas über den Rolling-Stones-Klassiker Sympathy for the Devil schreiben soll, bekennt gleich am Anfang, dass sie eigentlich die Beatles für die Größten hielt und hält. Die Stones hätten durchaus etwas Faszinierendes und sogar Angsteinflößendes gehabt, gibt sie zu, „Die wollten Sex, das war mir zu viel“, aber auch Waiting for the Man von The Velvet Underground sei kein schlechter Song gewesen, was fast unmittelbar zu Blondie, Devo, Talking Heads oder Flying Lizards und schließlich zur Gründung von Humpes eigener Band Ideal führt. Huch? Der Text wirkt naiv und fast schon fahrlässig am Thema vorbei – gleichzeitig erzählt er, oszillierend zwischen Scharlatanerie und Genialität, wie die Autorin sich selbst fand und zur Künstlerin wurde. Hm, ja … so kann man’s auch machen. Ein weiterer origineller Beitrag kommt von Jens Buchholz: Rund um den Alphaville-Hit Forever Young schwadroniert er launig über popspezifisches „Smurfing“ – eine Fantasiesprache, die sich aus dem immer wieder scheiternden Entschlüsseln schwer verständlicher Songlyrics ergibt. Sein erheiterndes, die übrigen Buchbeiträge wohlwollend konterkarierendes Fazit: „Nicht Englisch ist die Muttersprache des Pop, sondern Smurfing.“
Und natürlich gibt es etliche Texte, die Langweilern wie dem Rezensenten genau das bieten, was sie von Anfang an erwartet haben: ordentliche Leserführung, relevante Hintergrundinfos und eine gut begründete Einschätzung zur Bedeutung des besprochenen Songs. So erklärt Oliver Jungen, Grammatikspezialist und Koautor eines Buchs über das Scheitern, eindrucksvoll die Wirkmacht des Songs Meat Is Murder und der Band, die ihn produziert hat, des kämpferischen britischen Außenseiter-Quartetts The Smiths. Elene Witzeck entschlüsselt einfühlsam die Naturmetaphorik im Bossa-Nova-Klassiker Aguas de Marco von Elis Regina und Tom Jobim. Die Lektorin und Literaturkritikerin Miryam Schellbach wiederum bringt uns das Werk der auch in der abendländischen Independent-Film- und -Musikszene geschätzten libanesischen Songwriterin Yasmine Hamdan näher, und Christina Dongowski macht verständlich, wie Kate Bush sich in ihrem ersten Hit Wuthering Heights einerseits auf Emily Brontës gleichnamigen Roman aus dem Jahr 1847 bezieht und andererseits den Grundstein für eine ganz eigene, einzigartige künstlerische Vision legt. Talk Talk, Adriano Celentano, Element of Crime, Peter Fox oder die Hothouse Flowers sind weitere Stars, die mit je einem ihrer Songs ins Schaufenster gestellt werden.
Holla … Auf den ersten Blick dachte ich, Drop It Like It’s Hot sei ein leichtgängiger Band zum Wegschmökern, auch als feines Geschenk für Popfans im Freundeskreis bestens geeignet. Und ja: Das Buch lässt sich prima verschenken. Aber das mit dem Wegschmökern war wohl doch eher „wishful thinking“. Für eine entspannende Strandlektüre hat das Textmaterial letztlich zu viele Ecken und Kanten, auch ungeahnte Tiefen, in denen es sich zurechtzufinden gilt. Weshalb ich angefangen habe, Drop It Like It’s Hot gleich ein zweites Mal zu lesen …
Uwe Ebbinghaus & Jan Wiele (Hg.), Drop It Like It’s Hot. 33 (fast) perfekte Popsongs. Reclam 2022, 15 Euro
Schon 1954 schrieb Boris Vian das Antikriegslied Le déserteur. Heute wünscht man sich, es würde auch in Russland gehört
Der Vietnamkrieg der 1960er Jahre kam für die USA keineswegs aus dem Nichts. Einige seiner Ursachen liegen im Indochinakrieg, den Frankreich in den 1950er Jahren als Kolonialmacht in Vietnam gegen die vietnamesischen Kommunisten führte. Vietnam wurde von China unterstützt, Frankreich von Amerika, dessen Regierung sich in dieser Zeit massiv von der Sowjetunion, von China, von Sozialismus und Kommunismus bedroht sah. Höhepunkt dieser Paranoia war die „sogenannte McCarthy-Ära. Von 1950 bis 1954 wurden unter Senator Joseph McCarthy diverse Vertreter des Regierungsapparats und Kulturschaffende der kommunistischen Unterwanderung der USA bezichtigt, was zu einem Klima der Angst führte. Nach der Niederlage der Franzosen 1954 war es die Intervention der USA, die zur Teilung Vietnams in einen Nord- und einen Südstaat führte. Vor allem der schreckliche Vietnamkrieg im darauffolgenden Jahrzehnt hat in den Annalen der Weltgeschichte große Resonanz gefunden. Doch auch für Frankreich waren die Kriegszeiten damit nicht vorbei. Denn Algerien kämpfte ebenfalls um seine Unabhängigkeit – ein Konflikt, der sich zum Algerienkrieg (1954–1962) ausweitete und das Ende von Frankreich als Kolonialmacht einläutete.
Praktisch in die Zeit zwischen Indochina- und Algerienkrieg hinein schreibt 1954 der französische Schriftsteller Boris Vian das Lied Le déserteur. Der Titel sagt schon fast alles: Ein junger Mann erklärt, dass er trotz Einberufung nicht in den Algerienkrieg ziehen, sondern desertieren werde. Interessant ist die Form des Liedes: Die Musik schwankt trügerisch zwischen heiterem Chanson und marschmusikalischen Ansätzen, der Text ist gestaltet als Brief an den Staatspräsidenten, geschrieben von einem Wehrpflichtigen, der sich „vor Mittwochabend“ („avant mercredi soir“) zum Kriegsdienst melden soll: „Monsieur le Président / Je vous fais une lettre …“ Die Argumentation dieses Schreibens: Ich will Sie nicht in Wut versetzten, aber ich will einfach nicht irgendwelche armen Menschen töten. Ich habe meinen Vater sterben, meine Brüder gehen und meine Kinder weinen sehen. Als ich im Gefängnis war, habe ich meine Frau verloren. Ich werde desertieren und auf meinem Weg andere aufrufen, es mir gleichzutun. Falls Sie mich jagen, dann warnen Sie Ihre Gendarmen: Ich habe eine Waffe, und ich kann schießen. Gerade die letzten Verse rund um die Waffe empfanden auch Vian-Freunde als zu aufrührerisch, weshalb der Autor sie später in pazifistischem Sinne umdichtete. Der neue Tenor lautete: Und falls Sie mich jagen, dann warnen Sie Ihre Gendarmen: Ich habe keine Waffe, und sie dürfen schießen.
Als das Lied erschien, zeigtensich Politiker geschockt und forderten ein Verbot. Das führte zu einem berühmten Brief Vians an Paul Faber, Mitglied des Rates des Départements Seine. Obwohl das Lied mit seinem Rollen-Ich, das wie ein Modell-Ich für alle zukünftigen Deserteure wirkt, in der Interpretation verschiedener Sänger auf den Konzertbühnen des Landes grundsätzlich gut ankam, wurden Livedarbietungen regelmäßig von Nationalisten gestört. Wie das Internetportal „Graswurzel.net“ beschreibt, machte auch Pierre Poujades rechtspopulistische „Union zur Verteidigung der Kaufleute und Handwerker“ mit Mitgliedern wie dem jungen Jean-Marie Le Pen kräftig Stimmung. Die Folge: Le déserteur wurde bis zum Ende des Algerienkriegs nicht im Radio gespielt.
In den folgenden Jahrzehnten stand das Lied vor allem bei Wehrdienstverweigerern hoch im Kurs. Während der Sixties griff es die amerikanische Protestbewegung auf, die gegen den Vietnamkrieg auf die Straße ging. Interpretiert und auf Schallplatte veröffentlicht wurde der Song in den USA von Peter Paul & Mary, auch Joan Baez hat ihn gesungen. Ob Le déserteur für Dear Mr. President von Pink Pate gestanden hat, ist nicht bekannt. Aber der 2006 erschienene Song der amerikanischen Rocksängerin ist ebenfalls als kritischer offener Brief an den Präsidenten gestaltet, in diesem Fall George W. Bush, nur dass er neben der Kriegsthematik (vor dem Hintergrund des Irakkriegs) auch den fragwürdigen Umgang mit Obdachlosen, die restriktive Abtreibungspolitik und die Diskriminierung von Schwulen und Lesben anspricht.
An keinen Präsidenten der Welt wäre dieser Song momentan besser adressiert als an den russsischen Präsidenten Wladimir Putin.
Der Haupttext ist ein Auszug aus meinem Buch „Provokation! Songs, die für Zündstoff sorg(t)en“ (WBG/THEISS 2019)
Luftgitarrengott von Herbert Hirschler: ein aberwitziger Musikroman mit volkstümlichem Wumms
Wer liest schon James Joyce, wenn die Sonne auf den Balkon oder den Strandkorb knallt? Urlaubslektüre muss leichtgängig und süffig sein, mit gelegentlichem Tiefgang. Und wenn das Lesepublikum auch noch staunen, sich obendrein mal aufregen kann, umso besser. Für Musikfans könnte Herbert Hirschler die perfekte Urlaubslektüre geschrieben haben. Der Österreicher, der mehrere Hundert Texte für Songs aus den Bereichen Schlager und Volksmusik auf dem Gewissen hat, darunter einige große Erfolge, erzählt in seinem Romandebüt Luftgitarrengott die haarsträubende Geschichte der hochmusikalischen Geschwister Bastian und Lisa Berger aus einem Städtchen mit dem lustigen Namen Singing: er ein begnadeter Songwriter und Hobbykellerproduzent mit Gespür für Riesenhits, aber introvertiert, etwas naiv und von Gewichtsproblemen gebeutelt – sie eine hyperattraktive Rampensau mit Wahnsinnsstimme, aber hochneurotisch, exzessiv und gnadenlos durchtrieben. Zunächst planen die beiden noch, als Duo berühmt zu werden, dann ergreift Lisa die erste sich bietende Topchance beim Schopf, gibt Bastians Songs als die ihren aus und steigt als Songwriterin Lucy Hill zum international gefeierten Superstar auf. Und nicht nur das: Wann immer sich für Bastian, der mit seinen Kumpels lediglich in einer Kneipenband rockt und wenigstens ein paar Songwriting-Tantiemen kassiert, die Möglichkeit ergibt, selbst zum Star zu werden, ist Lisa zur Stelle und macht all seine Hoffnungen zunichte. Den Rest erledigen dumme Zufälle.
Interessant ist der Aufbau des Romans: Zentrale Figur und Sympathieträger ist Bastian, erzählt wird sein gesamtes Leben, und zwar in Zehnjahresschritten – von vor(!) der Geburt bis zu seinem 90. Geburtstag, von 1980 bis 2070. Stets werden die Ereignisse der letzten Dekade aufgerollt, dann dürfen wir im Detail erleben, wie Bastians nächster runder Geburtstag ruiniert wird, meist von seiner durchgeknallten Schwester. Als bis zum Äußersten strapazierter „Running Gag“ zieht sich Weiße Rosen aus Athen durch die Geschichte – jener Erfolgsschlager von Nana Mouskouri, den Bastian und Lisa als Kinder regelmäßig für ihre Tante Finni singen müssen, der sie dann ein Leben lang verfolgt, aber für Bastian sehr, sehr spät noch eine große Rolle spielen soll. Atempausen gibt es in dieser Tour de Force keine. Im Grunde ist Luftgitarrengott eine flott und lässig dahingeworfene Aneinanderreihung von familiären und karrieretechnischen Katastrophen: Da landet Schokopudding im Aquarium, da gehen Kircheninnenräume in Flammen auf und platzen Studiotermine auf die tragischste Weise. Am Ende erscheint auch noch eine uneheliche Tochter Lisas, die Bastian weiteres Ungemach bereitet. Von schrecklichen Stagediving-Unfällen ganz zu schweigen.
Nein, Herbert Hirschler ist kein Mann der zarten, leisen Töne, auch nicht der tiefschürfenden Figuren- oder eleganten, auf Plausibilität bedachten Plotentwicklung. Bei ihm muss es krachen, Logik ist zweitrangig, die Charaktere haben etwas Holzschnittartiges, wirken wie in die Jetztzeit gebeamte Figuren der Commedia dell’arte. Sein auktorialer Erzähler bleibt nicht immer sachlich, schon gar nicht politisch korrekt – und so gibt’s auch mal Seitenhiebe gegen Veganer und Pflegekräfte aus der Ukraine. Mit Lust werden Musikbranchenklischees bedient, das vorherrschende Stilmittel ist die Übertreibung, und manchmal menschelt es arg an der Schwelle zum Kitsch. Lisa erlebt Aufstieg, Fall und Wiederaufstieg, Sex- und Drogenexzesse, vorübergehend landet sie in der Psychiatrie und wird sogar in einen halben Kriminalfall verwickelt. Bastian wiederum wird ob der vielen Misserfolge zum Alkoholiker, kann aber – unterstützt von seiner Frau Susi, einer wahren Lichtgestalt, und seiner Familie – die Sucht überwinden. Dass dieser talentierte Loser immer wieder mehr als vorhersehbar auf seine fiese Schwester hereinfällt und als trockener Alkoholiker sogar irgendwann aus Versehen eine ganze Flasche Whisky ex trinkt, weil er deren Inhalt für Apfelsaft hält, gehört zu den vielen Kapriolen der Story, die man auch mal schlucken muss.
Aber: Lässt man sich auf Hirschlers Holzhammerstil ein und begreift das Ganze als eine Art hippes Volkstheater, als derbe Musikposse, dann entwickelt der Roman nach und nach einen eigenartigen Sog. Und nicht selten erkennt man zwischen den Zeilen so etwas wie die Wahrheit. Es geht um die Absurdität unseres Daseins – und um die fragilen zwischenmenschlichen Bande, die am Ende doch alles zusammenhalten. So wie die Berger-Geschwister samt Kindern und Enkelkindern die Familientradition des ekstatischen Luftgitarrespielens perfektionieren, so treibt die Geschichte nach vielen Irrungen und Wirrungen plötzlich zielstrebig auf etwas Großes zu. Mit dem Effekt, dass man herrgottnochmal wissen will, wie das Ganze ausgeht. Und hier gelingt dem Autor auf den letzten 60 bis 80 Seiten ein geradezu herzzerreißendes Finale. In nicht wenigen Internet-Kundenrezensionen ist von ein paar Tränchen die Rede, die beim Lesen am Ende verdrückt wurden. Ein Effekt, den ich … ähm, räusper … bestätigen kann. Fazit: Luftgitarrengott ist ein sonderbarer Musikroman, der einen nicht kalt lässt – der unterhält, der rührt und hin und wieder enerviert. Ob’s ein Kultroman wird, muss die Zeit zeigen. Flotte Sonnenschirmlektüre ist er allemal.
Herbert Hirschler, Luftgitarrengott, 384 Seiten, Leykam 2021, 19 Euro (Taschenbuch)/14,90 Euro (Kindle)