Kaum zu glauben: Die kanadische Band SAGA hatte ich in den letzten Jahrzehnten komplett vergessen. Und ich meine wirklich: komplett. Bis sie sich für einen Zwischenstopp in Bad Vilbel ankündigte. Nach mehreren überraschenden Hörsessions und einem feinen Konzert ist alles wieder da. Und das ist gut so.
Kennen Sie Jason Bourne? Das ist der Kino-Actionheld, der schwer verletzt und ohne Erinnerung aus dem Mittelmeer gefischt wird und seine Identität wiederentdecken muss. Unter anderem findet er heraus, dass er Teil eines Geheimprojekts der CIA war. Was das mit „tedaboutsongs“ zu tun hat? Nun, zumindest mit Blick auf die Musik habe ich mich zuletzt tatsächlich ein bisschen wie Jason Bourne gefühlt. Ich hatte es lange vergessen und musste neu entdecken: Ich war mal Fan von SAGA.
Es fing damit an, dass vor einiger Zeit Wind Him Up, SAGAs großer Hit von 1981, wieder verstärkt im Radio gespielt wurde. Hatte ich schon mal gehört, gefiel mir. Meine Frau sagte, sie fände SAGA gut, und als es hieß, die kanadische Band komme mal wieder zu Konzerten nach Deutschland, erkundigten wir uns nach Karten: paarunfünfzig Euro das Stück – bei den aktuellen Preisen ein echtes Schnäppchen. Uns war klar: So jung und so günstig kommen SAGA und wir nicht mehr zusammen. Also entschieden wir uns für einen Besuch des Konzerts in Bad Vilbel.
Ich fand kein einziges SAGA-Album in meinem Plattenregal, keinen einzigen SAGA-Song in meiner iTunes-Mediathek … und abgesehen von Wind Him Up, diesem vermeintlichen One-Hit-Wonder, nicht den Hauch einer Spur in meinem Gedächtnis. Schlimmer noch: Phasenweise verwechselte ich die Band sogar mit einer anderen Band aus Toronto, nämlich Rush. Und die waren bei aller Virtuosität immer etwas anstrengend gewesen. Dem SAGA-Konzert sah ich daher mit einer gewissen Neugier entgegen, der Bereitschaft, mich mal wieder überraschen zu lassen. Bis wir eines launigen Abends auf die schöne Idee kamen, uns via YouTube auf das Konzert in Bad Vilbel einzustimmen. Beim ersten Stück, das wir hörten, klingelte noch nichts. Doch dann fügten sich die Puzzlestücke immer rascher zusammen. Wie bei Jason Bourne kehrte Schritt für Schritt die Erinnerung zurück. Plötzlich konnte ich komplizierte Breaks auf der Tischplatte mitvollziehen, per Luftgitarre und imaginiertem Keyboard schwindelerregende Soli und Doppelsoli „mitspielen“, den einen oder anderen Refrain mitsingen. Es war erstaunlich: Ich kannte ziemlich viel von SAGA. Und ich mochte es.
Es dauerte dann noch ein paar Tage, bis ich in etwa zuordnen konnte, wann und in welchem persönlichen Umfeld ich mit SAGA in Berührung gekommen war. Wer damals all die Alben besessen hatte, weiß ich nicht mehr, aber offenbar hatten wir in besagter Clique das Zeug zusammen rauf und runter gehört, vermutlich habe ich sogar mal Audiocassetten mit Songs oder Alben von SAGA gehabt. Der Grund für meinen kleinen Amnesieschub? Unklar. Vielleicht liegt es am persönlichen Lebensweg, am Weltgeschehen und an dem, was an aufregender Musik bis heute dazugekommen ist. Da blendet man Details von früher irgendwann aus.
Die große Zeit von SAGA waren die späten Siebziger- bis frühen Neunzigerjahre. Es war die Zeit, in der die Popmusik immer neue Genres, Stile und Substile hervorbrachte, von Punk, Wave und Indierock, Gothic-Rock und Metal über Synthipop und Ambient/Electronica bis hin zu Techno, Trance und House, Drum and Bass, Nu Soul und Rap. SAGA atmeten den Geist von großen Siebziger-Rock- und Artrock-Bands wie Blue Öyster Cult, Wishbone Ash, Genesis, Gentle Giant oder Emerson, Lake & Palmer, kamen aber aufgeräumter, graziler und mit modernerem Sound, etwa Moog-Bass und Synthi-Drums, daher. Gleich mehrere Bandmitglieder, inklusive Frontmann Michael Sadler, waren tastenerprobt, bald gaben ihnen angesagte Topproduzenten wie Rupert Hine den letzten Schliff. Und gerade Michael Sadler hatte einen smarten New-Romantic-Posterboy-Appeal, man schaue sich im Netz kursierende Live-Auftritte aus den Achtzigern an. Wer also aufwendig produzierte Power-Acts wie Foreigner, Toto, Duran Duran oder die eleganten Waverocker The Fixx liebte und es hin und wieder etwas vertrackter, sinfonischer brauchte, wurde von SAGA bestens bedient. So sehr ich auf all die gitarrenorientierten und vollelektronischen Strömungen der damaligen Zeit abfuhr, ich hatte und habe immer auch ein Faible für diesen fein produzierten hochästhetischen Kunstbombast, der Staunen macht und gleichzeitig berührt.
Und jetzt habe ich auch noch die Songtexte von SAGA für mich entdeckt. Damals hatten die spektakulär verspielte Musik und das Fantasy-Artwork der Albumcovers einfach von ihnen abgelenkt. Doch neulich, bei entspannter Neubewertung, fiel mir auf, dass sich auch und gerade die größten SAGA-Hits nicht etwa mit Elfen, Schwertern oder Science-Fiction-Motiven auseinandersetzen, sondern mit sehr ernsten Themen wie Sucht und seelischen Krisen. Jener Protagonist etwa, der da wie aufgezogen durch besagten Hit Wind Him Up geistert, ist der Spiel- und Alkoholsucht erlegen: „Once he starts it’s hard to stop …“ Hinter Humble Stance mit seinen trügerischen Schunkel-Folk-Passagen mag man einen Aufruf zur Demut vermuten, tatsächlich aber geht es darum, dass wer sich klein macht im Leben und zu viel Demut, zu viel Angst zeigt, nicht weit kommen wird: „That humble stance and timid glance makes your world turn so slow / You know, you gotta know / There‘s no one going to help you.“ Wo das hymnische On the Loose im ersten Moment an losgelöstes Feiern und grenzenloses Selbstbewusstsein denken lässt, geraten in Wahrheit Menschen aus dem Gleichgewicht. Zitat: „I see the problem start / I watch the tension grow / I see you keeping it to yourself / And then instead of reaching conclusions / I see you reaching for something else.” Und dann der ernüchternde Refrain: „Noone could stop you now / Tonight you’re on the loose.“ Das etwas ruhigere Stück Time’s Up wiederum warnt davor, tagträumend Chancen zu vertun, und Tired Worldbeschwört eine düstere Endzeitstimmung herauf – nur weil die Menschheit unfähig war, die Welt zu retten. Sänger Michael Sadler litt lange Jahre unter Alkoholsucht, die Band erlebte viele Höhen und Tiefen. Wer weiß, wie viel davon in die Lyrics eingeflossen ist. Insofern sind die von hartgesottenen Indie- und Underground-Fans gern belächelten „Schöngeister“ SAGA mehr Rock ’n’ Roll als manche ihrer scheinbar „taffen“ Kollegen.
Zu den frühen Mitgliedern der Band gehören neben Sadler der Keyboarder Jim Gilmour und der Gitarrist Ian Crichton. Letzterer hatte sich vor der aktuellen Tour das Bein gebrochen. Prompt übernahm der 2018 eingestiegene Bassist Dusty Chesterfield, ein wahres Saiten-Wunderkind, die Gitarrenparts, und es wurde ein neuer Mitstreiter für die vier Saiten engagiert, sein Name ist allerdings nirgendwo im Netz zu finden. Sadler selbst hatte erst vor kurzem aufgrund einer Krebserkrankung operiert werden müssen. Ein Wunder also, dass SAGA diese Tour überhaupt durchziehen können – und ein Beispiel für Willen, Disziplin und Durchhaltevermögen, für Profitum und Flexibilität sowieso. Sadler, inzwischen ein hagerer Kahlkopf mit Rauschebart, ist am 5. Juli 70 geworden. In Bad Vilbel scherzte er zwischen den Songs mit dem deutlich jüngeren Dusty Chesterfield übers Altern. „Du musst lächeln und es ertragen“, gab er sinngemäß zu Protokoll. Die richtige Einstellung. Die Band hatte ihre ersten großen Erfolge in den Niederlanden und in Deutschland, nicht zuletzt hier war ihre Erfolgsgeschichte gestartet. Toll, dass Sadler dafür dem Publikum dankte, sogar mit Ausführungen auf Deutsch.
Und so gab es genügend Gründe, die Band bei ihrem Auftritt in Bad Vilbel zu feiern. Auch wenn Sadler nicht mehr jeden Gesangspart so kraftvoll beherrschte wie damals und der Sound hin und wieder etwas unausgeglichen wirkte, entwickelte das Quintett über zwei Stunden hinweg eine enorme Spielfreude. Die Hits und Bandklassiker, auf die man gehofft hatte, wurden gespielt. Jüngere Fans dürften sich über ein mehrminütiges Schlagzeugsolo von Mike Thorne gewundert haben, so etwas war im letzten Jahrtausend mal angesagt und Bestandteil jeder ordentlichen Rockshow. Die älteren Besucher wiederum, natürlich deutlich in der Überzahl, hatten Verständnis für den einen oder anderen ausufernden Instrumentalteil und unauffällige kleine Auszeiten Sadlers: So konnte sich der Frontmann schonen und bekam immer wieder Gelegenheit, Kraft zu schöpfen. Am Ende des regulären Sets wie nach der ersten Zugabe Wind Him Up gab es Standing Ovations, und die musste man den wackeren Kämpfern einfach gönnen. Wohl nicht ohne Grund lautet das Tourmotto „It Never Ends“.
Dass Frankreich eine Menge aufregender Popmusik zu bieten hat, haben wir schon immer geahnt. Nur gab es bisher für Fans kaum Mittel und Wege, sich diese Schätze grundlegend zu erschließen. Der Kulturjournalist André Boße hat nun Abhilfe geschaffen: Sein Buch Voyage, Voyage bietet in Kombination mit einer eigens angelegten Spotify-Playlist einen wunderbaren Überblick über „French Pop“ & Co.
Ein Mann streift suchend durch den Wald. Er trägt ein blaues Jackett, schaut zwischendurch auf sein Handy. Schnitt. Eine Frau streift suchend durch den Wald. Sie trägt einen braunen Herbstmantel, schaut traurig und etwas missmutig drein. Schnitt. Wieder der Mann. Schnitt. Und wieder die Frau. So geht das etliche Male hin und her. Der Wald ist mal durch saftiges Grün gekennzeichnet, mal wirken die Bäume abgestorben wie im Herbst oder Winter. Ein schwarzer Esel kommt ins Bild, später eine weiße Ziege. Die Tiere ziehen weiter. Irgendwann haben sich der Mann und die Frau niedergelassen. Nebel kommt auf und lässt erst die Frau, dann den Mann verschwinden. Okay? Am Ende sehen wir einen kleinen Scheiterhaufen im Wald, die Flammen lodern hoch. Plötzlich betritt der Mann die Szenerie, die Frau kommt dazu. Aber: Die beiden kommen sich nicht wirklich nah. Zwar sind sie endlich im Bild vereint, doch steht das Feuer zwischen ihnen. Dazu erzählt eine sanfte Gesangsstimme von einer großen Liebe, über die nie gesprochen wurde und die es nie gab. Die wunderschöne Melodie wird getragen von einem sehnsüchtigen Klavier- und Streicher-Arrangement, das Stück hält die Balance zwischen Leichtigkeit und Schwere. Wehmut pur.
Der 2017 erschienene Song Le Grand Amour und das dazugehörige Musikvideo spiegeln die Essenz der französischen Popmusik. Große Themen, die in eigenwilligen poetischen Bildern verhandelt werden, mit einer gewissen Portion Pathos, aber auch mit leiser Ironie. Musikalisch vertraut und doch mit einem Schuss Exzentrik. Dahinter offenbart sich eine existenzielle Einsamkeit: das Gefühl, dass wahres Glück und echte Erfüllung letztlich unerreichbar sind, der Mensch aber immer wieder verzweifelt danach suchen muss. Le Grand Amour, realisiert von Albin de la Simone, ist ein Stück Pop, wie es nicht in Großbritannien, nicht in den USA und auch nicht in Deutschland, sondern nur in Frankreich entstehen konnte. Dieselben Elemente prägen viele weitere Songs aus unserem Nachbarland, egal ob es sich um kraftvolle Chansons oder dräuenden Rock, um quirlige Dance- oder versponnene Elektronik-Stücke handelt.
Fälliger Rundumschlag
Zu meiner Einschätzung bin ich nach der Lektüre von Voyage, Voyage gelangt. Vor Erscheinen dieses Buchs war es kein leichtes Unterfangen, sich die französische Popmusik grundlegend zu erschließen. Schließlich gab und gibt es hierzulande kaum Institutionen, die sich auf Pop aus Frankreich spezialisiert haben – die einordnen und Empfehlungen geben, essenzielle Werke auch mal anspielen könnten. Mit Voyage, Voyage liegt nun endlich eine wunderbare Alternative vor. Das Buch stammt aus der Feder von André Boße, Autor für renommierte Medien wie „Musikexpress“, „MINT“, „Visions“, „ZEIT“ und das Interviewmagazin „Galore“. Boße hat den Bedarf erkannt und sein eigenes Frankreich-Faible in aufwendige Recherchen und erfüllende Listening-Sessions kanalisiert. Das so erworbene Wissen gibt er in lockerem Erzählton weiter. Es ist der längst überfällige Rundumschlag zum Thema französische Popmusik. Kombiniert mit einer eigens erstellten Spotify-Playlist, die das Gelesene sofort erkunden, überprüfen und vertiefen lässt, bietet Voyage, Voyage einen exzellenten Crashkurs. Dass man bald auf eigene Faust weitererkundet und dabei schließlich auch die oft sehr eigenwilligen Videos zu den Songs entdeckt, ist eine logische Folge.
Von daher ist es überhaupt kein Problem, dass der Autor, wie er einräumt, eine subjektive Auswahl an Interpreten und Songs getroffen hat und überhaupt keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Die wichtigsten Namen und Titel hat er dennoch drin, da darf man sicher sein. Und wenn man sich fragt, warum etwa ein Charles Aznavour oder ein Gilbert Becaud keine exponierte Erwähnung finden, dann tauchen sie auch schon in einer Randbemerkung auf. Wer einen bestimmten Act dann wirklich schmerzlich vermisst, hat ihn sich schnell selbst erschlossen. Kontext zur Einordnung liefert Voyage, Voyage genug.
Plattenladen in Buchform
Ganz bewusst verspricht der Untertitel des Buchs keine „Geschichte der französischen Popmusik“. Das hätte womöglich mehrere Bände er- und das interessierte Publikum überfordert. Nein, Boße unternimmt „Eine Reise durch die französische Popmusik“ und kommt dabei dem Prinzip des Plattenladens ziemlich nahe. Da gibt’s gleich zu Beginn, als Eyecatcher gewissermaßen, Fächer wie „Serge Gainsbourg“ und „Die Lieblinge der Deutschen“ – was sofort das Interesse weckt und die Leserschaft „abholt“, wie man in Mediensprech sagt. Vom Großmeister des französischen Popsongs und erst recht von Top-Acts wie France Gall, Francoise Hardy, Desireless und Vanessa Paradis, von Les Rita Mitsouko und Zaz hat schließlich fast jeder Musiclover hierzulande schon gehört. Mit dem Vertrauten im Ohr und angeregt durch Neugier weckende Infos, die man so noch nicht kannte, ist man bereit, sich den anschließenden Genre- und Schwerpunktfächern zuzuwenden: von den „Individualisten“ und den „Chanteurs“ über „Pop“, „Rock und Punk“ bis hin zur „Nouvelle Scène“, zu „Folk“, „Elektronik“, „Hip-Hop“ und „Rai“. Auch die sogenannten YéYé-Jahre, die französische Beat-Ära der Sixties, wird mit Beispielen erwähnt.
In diesen „Fächern“, das heißt Kapiteln, finden sich dann Unmengen von Bands, Interpretinnen und Interpreten, die mal mehr, mal weniger ausführlich abgehandelt werden. Tatsächlich lässt sich der größte Teil des Buchs als Ansammlung von Biografien beschreiben. Aber: Künstlerbios – ist das auf Dauer nicht langweilig? Keineswegs. Was diese Texte lesenswert macht, sind die flüssige Schreibe, viele spannende Anekdoten und natürlich die persönlichen Tipps und Einschätzungen, die der Autor zu bestimmten Alben und einzelnen Hits gibt. Häufig werden auch zentrale Textzeilen zitiert und übersetzt, was feine Eindrücke von den Songthemen und -motiven vermittelt. Gerade bei den Kurzbiografien erweist sich die Kombination mit der Spotify-Playlist als gelungen. Man möchte vielleicht auch nicht allzu viel über diesen oder jenen hierzulande wenig bekannten Act erfahren – doch der eine Song, der da so euphorisch gelobt wird, den möchte man gern mal hören. Ein, zwei Klicks, schon hat man ihn im Ohr.
Eigenartige Faszination
Die ausführlicheren, sich über mehrere Buchseiten erstreckenden Biografien haben dann durchaus auch den Charakter von Lesestücken. Hier erfährt man viel Skurilles und Lustiges über einzelne Stars, allerdings auch Verstörendes und Tragisches. Es geht um Sonderlinge und Exzentriker, Abstürze und Drogen, um grandios gescheiterte Liebesbeziehungen, um Klatsch und Tratsch. Ja, sogar von Totschlag ist zu lesen. Nach der Lektüre und etlichen kürzeren oder längeren Hörsessions hat man einen wunderbaren Überblick und ganz bestimmte Assoziationen zu französischer Popmusik, zum Beispiel: Leidenschaft; die große Geste; ein starkes soziales Bewusstsein gepaart mit einer gewissen Renitenz, einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber Normen und der Obrigkeit; Starr- und Eigensinn; auch ein nicht unterzukriegender Machismo; der Hang zu hemmungslosem Klamauk wie zu verschwurbelten philosophischen Theorien; Lebensfreude, die Kunst zu genießen, gleichzeitig Lust am Skandal, an der „amour fou“, am Derangierten; und nicht zuletzt eine große Melancholie … Einzelne dieser Elemente oder mehrere in Kombination charakterisieren viele französische Acts und Songs. Aus den unzähligen Beispielen im Buch sei nur ein prägnantes erwähnt: Le vent nous portera von Noir Désir. Es ist einer dieser relativ einfach gestrickten mittelschnellen Mollakkord-Hämmer „made in France“, die mit ihrer wehmütig-sehnsüchtigen Stimmung direkt auf die Tränendrüsen drücken. Das Lied, 2001 ein Indie-Hit in Frankreich, Italien und Belgien, wurde oft gecovert, auch von der Schweizerin Sophie Hunger. Vor allem das unheimliche Video, das eine Auszeichnung als Musikvideo des Jahres einheimste, übt eine eigenartige Faszination aus. Mit Bertrand Cantat, dem Sänger der Band Noir Désir, ist ein düsteres Kapitel in der Geschichte der französischen Popmusik verbunden.
Und so lässt sich im Geiste mühelos eine Brücke schlagen – von der französischen Popmusik zum französischen Kino, das mit ähnlichen Eigenheiten aufwartet und ähnliche Reaktionen hervorruft. Ich denke an den buchstäblich bezaubernden magischen Realismus von Die Fabelhafte Welt der Amelie mit der hypnotischen Musik von Yann Tiersen. An Kopfschütteln verursachende Kultfilme wie Eric Rohmers Claires Knie, in dem nichts passiert, aber endlos über Liebe und Sex gequatscht wird. Ich denke an die wagemutigen Avantgarde-Streifen eines Jean-Luc Godard. An die faszinierend heikle Figurenkonstellation in Léon – Der Profi und die reizvollen Abgründe von Das Auge, an hoffnungslos überdrehte Agentenfilmparodien wie OSS 117 und Le Magnifique oder die reichlich oberflächlichen, aber extrem eleganten Überwältigungskino-Bockbuster eines Luc Besson. Vielleicht lässt hier die französische Comics- und Graphic-Novel-Tradition grüßen? Wie Besson außerdem seine weiblichen Hauptdarstellerinnen inszeniert, das hat etwas von Liebeserklärungen mit der Kamera – ein landestypisches Phänomen, das sich von FrancoisTruffaut bis Francois Ozon durchs französische Kino zieht und im Ausland schon mal für Belustigung, wenn nicht gar Augenrollen sorgt. Selbst für cineastische Zumutungen wie Das große Fressen, den Vergewaltigungsfilm Irreversibel und das Bodyhorror-Deama Titane gilt: Diese Filme lassen uns nicht kalt. Um den Gedanken abzuschließen: Französische Musiker wie Musikerinnen, so mein persönlicher Eindruck, stehen ihren Gegenparts hinter der Kamera an Verrücktheiten in nichts nach.
Schillerndes Puzzle
Da Boße keine Geschichtsschreibung betreibt, nicht chronologisch vorgeht, ergibt sich das Gesamtbild „Französische Popmusik“ für die Lesenden wie ein Puzzle – es setzt sich Stein für Stein zusammen. Übergreifende Betrachtungen und Zusammenfassungen spart sich der Autor, vielleicht weil er auf die Neugier und die Kombinationsfähigkeit seines Publikums vertraut. So offenbaren sich eher zwischen den Zeilen spezifisch französische historische Zusammenhänge – und lassen sich spezifische Merkmale französischer Popmusik herausfiltern. Zum Beispiel:
Französische Künstlerinnen und Künstler haben oftmals bewegte Biografien – Ausgrenzungserfahrungen und leidenschaftliches Durchbeißen gehören dazu.
Das Raue der Bretagne und die Anmut der Provence prägen Pop aus Frankreich ebenso wie die quirlige Betriebsamkeit der großen Städte und die Musik der Maghreb-Staaten, mit denen die „Grande Nation“, die tatsächlich nur Nichtfranzosen so nennen, auf schicksalhafte Weise geschichtlich verbunden ist.
Pop aus Frankreich setzt stark auf Poesie, zum Teil mit wilder Metaphorik.
Französische Künstlerinnen und Künstler bewegen sich mühelos zwischen unterschiedlichsten Genres: Jazz, Chanson und Rock, dazu seichte Unterhaltung, alles ist möglich. Selbst synthetischer Pop gehört beinahe selbstverständlich dazu.
Französische Popstars mögen Duette – fast jeder und jede hat schon mal mit jedem und jeder gesungen.
Immer wieder gab und gibt es spannende Kollaborationen mit britischen oder US-amerikanischen Stars – an dieser Stelle sei nur La Caravane von Brigitte Fontaine und Grace Jones erwähnt.
Die im angloamerikanischen Raum entwickelten Genres und Stile werden gern aufgegriffen, aber selten mit letzter Konsequenz und Hingabe gepflegt oder bedient – die „Vorbilder“ bekommen häufig einen „French Touch“ verpasst, werden gebrochen, auch mal persifliert.
Viele Stars aus Frankreich haben ein bemerkenswertes Output, das heißt eine beeindruckende Zahl an Alben und Songs veröffentlicht.
Darunter befinden sich erstaunlich viele Livealben.
Französische Popstars haben häufiger Liebesbeziehungen miteinander als Popstars in anderen Ländern, zumindest ist das der Eindruck, der bei der Lektüre des Buchs entsteht.
Trotz vieler Namen und Entwicklungen vermittelt das Buch das Bild einer relativ kompakten und harmonischen Musikszene. Bei aller Kritik und Innovationsfreude begegnet man sich größtenteils mit Respekt – Kollaborationen finden ganz selbstverständlich und auch über Generationen hinweg statt.
Serge Gainsbourg geistert durch das gesamte Buch. Schon erstaunlich, bei wie vielen Projekten er seine Hände im Spiel hatte – wie wichtig er für die französische Popmusik war und ist. Noch als Sample in einem Stück des Rappers MC Solaar hinterlässt er seine Spuren.
Pop aus Frankreich kann auch vulgär sein – bei aller Poesie nimmt man nur zu gern kein Blatt vor den Mund.
Immer wieder entpuppen sich Stars als anstrengende Exzentriker und Exzentrikerinnen, die gewaltig nerven. Und doch wird ihnen vieles verziehen. Die Franzosen lieben ihre Stars.
So entsteht nach und nach der Eindruck eines vielfältigen und doch recht geschlossenen französischen Pop-Universums. Gefühlt eine große Mehrheit der französischen Stars singt auf Französisch und wird dafür gefeiert und verehrt, manche Tonträger-Verkaufszahlen scheinen astronomisch. Französische Acts und ihre Fans, das ist möglicherweise eine noch viel engere Bindung als die zwischen deutschen Stars und ihrer Anhängerschaft. Vielleicht liegt es daran, dass Frankreich eins der Länder mit einer Radioquote ist: Ein hoher Prozentsatz der Songs, die im Nachbarland im Radio gespielt werden, muss aus französischer Produktion stammen beziehungsweise in französischer Sprache vorgetragen sein. Boße geht auf diese Thematik nicht weiter ein, aber das muss er auch nicht. Denn im Mittelpunkt stehen die entscheidenden Persönlichkeiten und Songs.
Der Text ist wichtiger als die Musik
Als Einstieg in sein Buch stellt Boße „Sieben Thesen“ zur französischen Popmusik vor – einige davon finde ich sehr erhellend. „Das Chanson entsteht aus Mangel an Volksmusik“ etwa erklärt, wie nach der Französischen Revolution Kultur zentralisiert und die Provinz kulturell ausgehungert wurde – ein Prozess, dem „das Volk“ mit der Entwicklung der bis heute einflussreichen und „typisch französischen“ Form des Chansons entgegenwirkte. Die These erinnert mich an Gedanken zum deutschen Schlager, den es in dieser Form ja ebenfalls nirgendwo anders auf der Welt gibt: Er sei, so Musikfachleute, als ausschließlich deutsche musikalische Spielart nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Die Argumentation: Während andere Länder eine durchgängige, homogene populärmusikalische Tradition aufweisen, mit Stars, die seit jeher mühelos zwischen Jazz, Pop, anspruchsvollem Lied und seichter Unterhaltungsmusik changieren, hatte der Nationalsozialismus diese Tradition in Deutschland brutal gekappt. So entstand ab den Fünfzigerjahren eine beinahe hermetisch abgeschlossene neue, künstliche Heile-Welt-Musik, die sich bis heute als eigenständiges Genre „Schlager“ hält.
Durch Boßes These „Der Text kommt vor der Musik, das Ich vor allen anderen“ ist mir endlich bewusst geworden, was mich bisher an französischer Musik gelegentlich irritiert hat: Es ist die Fixierung der Auteurs und Stars auf den Text. Sie führt dazu, dass die Stimme gern in den Vordergrund gemischt wird und die Singenden ihre umfangreichen Lyrics nicht nur eindringlich, sondern auch sehr präzise intonieren – denn sie wollen, dass man jedes poetische Bild, jede Befindlichkeitsäußerung bis ins letzte Detail erfasst. So erzeugt selbst das leiseste Raunen, Hauchen oder Flüstern eine Intensität, gar eine Intimität, die bei der Hörerschaft schon mal eine Abwehrreaktion provoziert, erst recht wenn es im Song um Seelen-Striptease und schwierige Beziehungen geht. Nach dem Motto: So genau wollte ich es gar nicht wissen.
Entsprechend verweist die These „Wenn alles geht, geht auch vieles schief“ auf das interessante Phänomen, dass ein toller Text nicht vor musikalischen Fehltritten schützt. In der Tat ertappe ich mich gelegentlich dabei, dass ein Song aus Frankreich, dem von Kennern ein großartiger Text bescheinigt wird, eher langweilig, bisweilen sogar musikalisch peinlich auf mich wirkt. Nicht wenige französische Songs haben ein, zwei fantastische rhythmische, melodische, harmonische Ideen, belassen es dann aber dabei. Es reichen die etablierte Formel, die man beim Hören nach spätestens eineinhalb Minuten erfasst hat, und die geschickt erzeugte Gesamtatmosphäre – dann wird eher wiederholt oder variiert. Besonders auffällig ist das bei den Gassenhauern von Elektronik-Dance-Acts wie Daft Punk und Stardust: spektakuläre Beats und Sounds, keine Frage, aber doch recht schnell ermüdend redundant. Was kompositorische Finesse, Vortragsstil, Arrangements und Soundtechnik betrifft, passiert in Popmusik angloamerikanischer und – ich lehne mich aus dem Fenster – auch deutscher Prägung meines Erachtens im Schnitt etwas mehr.
Mein „Lieblingsfranzose“
Das soll nicht falsch verstanden werden. Natürlich ist auch die französische Popmusik wunderbar vielfältig und kreativ – nicht umsonst habe ich mir parallel zur Lektüre von Voyage, Voyage eine eigene Playlist mit neuen Lieblingstiteln angelegt, unter anderem von Veronique Sanson und France Gall, Indochine, Eiffel, Barbara Carlotti und Superstar Benjamin Biolay. Dennoch bleibt die Fixierung auf den Text, die meines Erachtens hier und da auch zur Vernachlässigung der musikalischen Raffinesse oder zu Leerlauf führt, ein nicht ganz beiseitezuschiebender Aspekt. Auch insofern ist, und jetzt schlage ich den Bogen zurück zum Anfang dieser Rezension, musikalisch gesehen Albin de la Simone mein „Lieblingsfranzose“. Er hat, natürlich, den „French Touch“. Aber: Er singt ein wenig verhaltener als viele seiner Landsleute, seine Stimme scheint organischer eingebettet in die Musik, die zudem mit spannenden harmonischen Wechseln, mit fantasievollen Arrangements und einer Fülle an betörenden Melodien aufwartet. Ganz abgesehen von den klugen, charmanten Texten.
Albin de la Simone, der gern neugierig über den French-Pop-Tellerrand hinausschaut und den eingangs erwähnten Song Le Grand Amour vielleicht auch mit einem kleinen Augenzwinkern auf den Weg bringt, habe ich schon vor ein paar Jahren für mich entdeckt. Nicht weil ich ein besonders toller Musikkenner wäre, sondern schlicht durch Zufall, via Facebook. Dass er in André Boßes Buch an exponierter Stelle auftaucht – als namentlicher Eintrag, als Mitwirkender bei diversen Produktionen von Kolleginnen und Kollegen sowie, neben anderen Stars, als kompetenter Gesprächspartner des Autors – freut mich sehr. Wie auch das gesamte Buch reichlich Anlass zur Freude bietet. Um es kurz zu machen: Wer sich wirklich ernsthaft für französische Popmusik interessiert, kommt, selbst wenn schon einiges an Vorkenntnissen besteht, an Voyge, Voyage nicht vorbei.
André Boße, Voyage, Voyage: Eine Reise durch die französische Popmusik. Reclam 2024. Klappenbroschur, Format: 13,5 × 21,5 cm, 352 S., 27 Abb. ISBN: 978-3-15-011468-1. 20 Euro
Joseph nennen sich drei singende Schwestern aus dem amerikanischen Bundesstaat Oregon. Vier Alben mit eigenwillig-zeitlosen Songs zwischen atmosphärischem Folk und angerocktem Powerpop haben sie veröffentlicht – das aktuelle trägt den Titel The Sun und handelt von Achtsamkeit, Widerstandskraft, Heilung.
„I thought I was the light switch you turned on / But I am the sun.“ Rummms! „Ich hatte mich immer für deinen Lichtschalter gehalten, doch jetzt weiß ich: Ich bin die Sonne.“ Das sind mal Verse, an denen man hängenbleibt. Spektakulär, sperrig und im besten Sinne inspirierend. Sie stammen von der amerikanischen Band Joseph und sind zu hören in The Sun, dem Titelsong des vierten Joseph-Albums, erschienen im Frühjahr 2023. In The Sun befreit sich jemand aus den Fesseln einer nur scheinbar gesunden Beziehung und beginnt zu strahlen. Das Song-Ich hatte seine ständig gedrückte Stimmung als „normal“ empfunden, sämtliche Fehler nur bei sich gesucht und nicht erkannt, dass es dem Gegenüber vor allem darum gegangen war, sich überlegen zu fühlen: „Well, you wanted me small / So you could feel like someone at all / And I played along / And normalized, telling myself I was wrong.“ Doch nun hat sich etwas verändert: Auf einmal ist es kein schlechtes Gefühl mehr, sich auch mal gut zu fühlen („Feeling good doesn’t feel bad anymore“), und dem unfairen Spiel wird ein Ende gesetzt: „I’m done playing a game that can’t be won.“ Das in den Schlüsselversen auftauchende Motiv des Lichtschalters irritiert, ist aber ganz bewusst gewählt: Es betont nicht nur den künstlichen Schein, den das Song-Ich lange Zeit als selbstverständlich empfunden hat, sondern auch das Instrumentalisiert-, das Benutztwerden. Das Song-Ich weiß jetzt: Es ist nicht irgendein Hebel, den das Gegenüber betätigt, um ein künstliches Strahlen zu erzeugen – es ist ein aus sich selbst heraus hell leuchtender Stern!
Natürlich darf man annehmen, dass es hier in erster Linie um eine Liebesbeziehung geht. Doch die Lyrics sind so allgemein gehalten, dass man die beschriebene Dynamik auch auf andere Beziehungen übertragen kann: die zwischen Kindern und Eltern, zwischen Vorgesetzten und Teammitgliedern oder, ganz allgemein, zwischen den Mitgliedern einer Gruppe. Und wer sich an euphorischen Selbstbehauptungsgassenhauern wie Gloria Gaynors I Will Survive, Chers Strong Enough oder I’m Still Standing von Elton John allmählich sattgehört hat, könnte im hymnisch-optimistischen Joseph-Song The Sun eine subtile Alternative entdecken.
Was den Song außer dem scharfzüngigen Text und der mitreißenden Melodie hörenswert macht, sind der gefühlvolle Vortrag und die ungewöhnlichen Menschen dahinter. Joseph ist ein Trio, das in den USA schon einen gewissen Bekanntheitsgrad hat, im Rest der Welt aber eher unter dem Radar fliegt. Es handelt sich um die Zwillingsschwestern Allison und Meegan Closner und ihre vier Jahre ältere Halbschwester Natalie Closner Schepman. Zusammen bringen sie einen kaum mit Worten zu beschreibenden Harmoniegesang auf die Bühne, den wohl nur ein derart unkonventionelles Schwesterngespann so hinbekommt. Damit ist nicht etwa eine klinische Perfektion, ein kunstvoll glattes, aber letztlich seelenloses Verschmelzen von Stimmen gemeint, sondern ein ganz besonderer Gesamtklang, den jede Sängerin durch individuelle Nuancen bereichert. Natalie Closner-Schepman ist nicht nur Vokalistin, sondern auch „die mit der Gitarre“ und in Interviews die Wortführerin. Einst hatte sie sich als Solo-Singer-Songwriterin versucht und schließlich, als es nur schleppend voranging, die nicht minder talentierten Meegan und Allison zur gemeinsamen Bandsache überredet. Der Name des Trios? Nun, Joseph ist eine Stadt in Oregon, dem Bundesstaat, aus dem die drei kommen, und Joseph hieß der geliebte Großvater – so einfach und bodenständig kann es manchmal sein. Seit rund einem Jahrzehnt beackern die gefühlvollen Schwestern das weite Feld zwischen atmosphärischem Folk und angerocktem Powerpop, integrieren dabei mühelos Elemente aus Country und Rock, jedoch ohne sich auf ein bestimmtes Genre festlegen zu lassen. Was sie machen, hat zeitlose Qualität. So reich an betörenden Melodien, ungewöhnlichen Harmonien und feinen Texten ist ihre Musik, so charismatisch ihr Vortrag, dass Joseph längst Superstars sein müssten. Doch das sind sie nicht. Vermutlich sind sie einfach … zu eigenwillig.
Das fängt schon bei der Art und Weise an, wie sie sich präsentieren. Meist treten sie gefühlt ungeschminkt, in allen möglichen und unmöglichen Freizeitklamotten auf. Und wenn sie sich doch mal „in Schale schmeißen“, dann sieht das eher altbacken, nach Omas Geburtstag oder Abiball aus als nach „echtem“ Popstar-Style. Ein bisschen Rock-Glamour blitzt zwar hier und da auf, doch im Großen und Ganzen wird man den Eindruck nicht los, dass diese Schwestern lediglich aus Spaß, vielleicht auch selbstironisch das eine oder andere Show-Register ziehen, um sich letztlich doch immer auf das Einzige zu fokussieren, was sie wirklich wollen: rausgehen und singen.
So kommt es, dass zwar einige „Official Videos“ zu den Songs des Trios existieren, diese aber nur selten aufwendig gestaltet wirken und, man darf es so sagen, auch nur selten wirklich faszinieren. Deutlich aufregender sind die unzähligen Live- bzw. Unplugged-Clips, die von Joseph im Internet kursieren: Da stehen die drei irgendwo in der Landschaft, in engen Studioräumen oder Gemeindesälen, in Shops oder Bibliotheken, performen ihre Songs in rauem Lo-Fi-Sound und wirken dabei bisweilen so in ihre Musik versunken, dass man selbst beim Zuschauen am PC die Luft anhält. Folgerichtig hat auch auf den teils üppig arrangierten, unbedingt hörenswerten Studioalben mit Bandbesetzung jeder Joseph-Song einen ordentlich komponierten Schluss, das heißt, es wird grundsätzlich nicht ausgeblendet: Joseph-Stücke sind in sich abgeschlossene Kompositionen für den Livevortrag – sie kommen in jeder Hinsicht auf den Punkt.
Ja, bei dieser Band kann ich schon ins Schwärmen geraten. Doch von all den geschilderten Ausnahmemerkmalen lässt sich mühelos der gedankliche Bogen zurück zu Songs wie The Sun schlagen. Denn so wie sich das Ich in diesem Song frei macht von negativen Einflüssen und aus sich heraus zu strahlen beginnt, so spiegelt sich auch im Werdegang und der Herangehensweise der Band der Wille, sich gegen Widerstände zu behaupten, vor allem bei sich selbst zu bleiben, Künstlichkeit, gar Selbstbetrug zu vermeiden, den eigenen künstlerischen Anspruch nicht zu verraten. Joseph sprechen in Interviews offen über Unsicherheiten, Selbstzweifel und Ängste, über eine Familiendynamik, die nicht immer nur harmonisch war, über Erfolge, schwierige Partnerschaften und Niederlagen – und über die persönliche Weiterentwicklung, bei der sie auch therapeutische Hilfe in Anspruch genommen haben.
Tatsächlich handelten schon einige frühere Songs von intensiver Beziehungsarbeit, von Selbstbehauptung und Empowerment. Das 2023er Album The Sun dokumentiert nun ein neues, ein Wiedererstrahlen der Band und dreht sich fast durchweg um „Moreness“, wie es die Protagonistinnen nennen: darum, zu erkennen, dass man „mehr“ ist, als man selbst von sich glaubt – und erst recht mehr als das, worauf einen die Gesellschaft, die persönliche Umgebung, die Partnerin oder der Partner reduzieren wollen. Die zehn Songs des Albums sind damit so etwas wie der Sound der Resilienz, mit ungewöhnlichen Versen wie den folgenden, sie stammen aus dem stetig an- und abschwellenden Song Waves Crash: „There’s no need to define / How I measure up next to anyone / Or how well I stayed in the lines / I’m a tall, tall tree reaching up in the breeze / All I have to do is breathe / I’m a limb of goodness in motion / (…) / You wouldn’t tell the flower it was made of sin / You know it’s good just for being / What if, what if I’m not made of sin? / What if, what if I’m lightning?“ Nein, es geht im Leben nicht darum, sich mit anderen zu vergleichen und sich anzupassen. Es geht darum, frei zu existieren – wie ein Baum oder eine Blume, als natürliches Wesen, ohne Schuldgefühle und mit guten Absichten. Holla, das lässt einmal mehr aufhorchen. Aber es ist eine entwaffnende Perspektive. Mit überraschender Schlussfrage: „Was, wenn ich der Blitz bin“?
Achtsamkeit, Resilienz, Empowerment – es sind die Befindlichkeitsschlagworte unserer Zeit. Auch viele Popstars hantieren damit, vor allem weibliche. Doch was gerade von US-Stars als „female empowerment“ verkauft wird, wirkt nicht immer überzeugend: Da suggerieren manche, die dank unzähligen Chart-Hits im Luxus baden und unbegrenzte finanzielle Möglichkeiten haben, dass man gleichzeitig Superstar, erfolgreiche Pop-Unternehmerin, Sexsymbol und auch noch perfekte Mutter sein kann, während andere sich als besonders taff und selbstbestimmt inszenieren, dabei aber zu kaschieren versuchen, dass ihre derben Lyrics und von Beauty-Eingriffen gepushten Glamour-Erscheinungen ganze Industrien befeuern, erst recht die Erwartungen heterosexueller Männer bedienen. Das alles verkauft sich prima, produziert jedoch fragwürdige bis unerreichbare Idealbilder und vergrößert letztlich die Kluft zwischen Künstlerinnen und Fans.
Die Closner-Schwestern sind dagegen weder Models, noch versuchen sie krampfhaft, welche zu sein. Sie wirken ausschließlich auf ihr Songschaffen konzentriert, natürlich, nahbar, auch mal seltsam und verletzlich. Mit ihrem Publikum agieren sie auf der vielzitierten Augenhöhe. Dieser zurückgenommene, beinahe „stinknormale“ Ansatz und die letztlich zu komplexen Botschaften sind es wohl, die den internationalen Starruhm bisher verhindert haben, auch wenn mit Songs wie White Flag im Oktober 2016 schon mal Platz eins der Billboard-„Adult Alternative Airplay“-Charts erreicht wurde. „Burn the white flag“, heißt es dort mitreißend im Refrain: „Verbrenn’ die weiße Flagge!“ Und natürlich geht es darum, bloß nicht zu kapitulieren. Doch die Gegner sind nicht etwa persönliche oder politische Feinde, auch nicht irgendwelche finsteren Bösewichter, sondern skeptische Stimmen und Versagensängste, die einen davon abhalten, das zu tun, was man eigentlich vorhat.
Auch in Fighter, einer ähnlich griffigen Hymne aus dem Jahr 2019, verleihen Joseph einem gängigen Selbstbehauptungsmotiv ihren ganz eigenen Dreh. Entgegen allen Popkonventionen ist es hier nicht das Song-Ich, das sich als kompromisslose Survival-Kämpferin selbst feiert. Nein, die Sprecherin ringt längst um die Liebe, verlangt nun aber auch vom Gegenüber, sich nicht zurückzuziehen, sondern genauso engagiert für die Rettung der Beziehung zu kämpfen: „Don’t keep yourself from me (…) Don’t lie this time / I need a fighter / You’re my bright side / I want it brighter / Don’t leave me in the dark.“ Solche Verse knüpfen wiederum an Canyon an, einen unwiderstehlichen Powerpop-Song, in dem sich das Song-Ich anschickt, dem als Land, als Bergwerk und als Ozean charakterisierten Gegenüber endlich näherzukommen. Doch ist dieses Gegenüber derart verschlossen und im übertragenen Sinne so „weit weg“, dass schon ein paar Zentimeter Distanz wie ein unüberbrückbarer Canyon erscheinen: „Can’t get, I can’t get / Can’t get close enough to be close to you / Can’t get, I can’t get there / An inch is a canyon.“ Nie nah genug rankommen, um wirklich von Nähe sprechen zu können – das klingt nach emotionaler Fron.
Womit wir beim Stichwort Liebe sind. Ja, die Liebe ist auch bei Joseph ein wichtiges Thema – als zentrales Element in Familie und Partnerschaft, aber auch als treibende universelle Kraft. Doch vermeiden es die drei in der expliziten Auseinandersetzung mit dieser universellen Kraft, allzu naiv-kitschige Floskeln à la „All you need is love“ oder „Love is the answer“ in den Ring zu werfen. Im Gegenteil: Das Song-Ich von Love Is Flowing, ebenfalls vom aktuellen Album The Sun, ist realistisch – es spürt Schmerz, sieht Leid, aber fühlt sich machtlos, kann nicht helfen: „Something’s burning / But I can’t reach it / Phantom limb on fire / Someone’s hurting / But I can’t fix it / And I don’t know how to try.“ Selbst die umfassende Liebe, von deren Existenz und stetigem Fluss das Song-Ich immerhin überzeugt ist, lässt sich nicht wirklich spüren, geschweige denn in für alle Menschen gewinnbringende Bahnen lenken. Doch da ist die Sehnsucht nach einem Einstieg, und das zumindest macht Hoffnung: „Love is flowing, love is flowing, love is flowing, love is flowing / And I wanna get in it.“ Der perlende Rhythmus und die sanft wogende Gesangslinie unterstreichen diesen inspirierenden Fluss, von dem man sich wünscht, dass er irgendwann alle und alles durchdringen möge. Es sind bittersüße Verse. Sie wirken weder kokett noch prätentiös. Einfach angemessen.
Wir leben in turbulenten Zeiten. Die Pandemie, Kriege und politische Krisen haben die Welt verändert, deprimierende Nachrichten jeden Tag, Gewissheiten lösen sich auf. Und nicht selten hat man den Eindruck, dass sich Menschen im eigenen persönlichen Umfeld anders, unberechenbarer verhalten als zuvor. In solchen Zeiten spenden Bands wie Joseph mit Songs wie Fighter, Canyon, The Sun oder Love Is Flowing nicht nur Halt und Trost, sondern auch Energie und Zuversicht. Pop als Therapie – für die Künstlerinnen und fürs geneigte Publikum.
Es ist wie bei einer Musikproduktion: Manche Titel sind zwar spannend, passen aber nicht mehr aufs Album. Zum Glück gibt’s die Option „Bonusmaterial“ – und die hat auch Reclam bei den übrig gebliebenen Passagen meines neuen Musiksachbuchs „Mein Herz hat Sonnenbrand“ gezogen. Dazu gehört dieses kleine Kapitel über lustiges Namedropping und hemmungsloses Typecasting im Song: von Heino bis Bino, von Mary Roos bis Modern Talking
Namen sind Schall und Rauch? Und Typisierungen auch? Nicht im Popsong! Vor allem wenn es um V.I.P.s geht. Wer Prominente schon im Songtitel nennt, sichert sich – Buddy Holly (Weezer), Robert De Niro’s Waiting (Bananarama) – ein hohes Maß an Aufmerksamkeit, auch wenn die Berühmtheiten nur als Vergleichspunkte und eskapistische Fantasien herangezogen werden. Oder wirkt – man höre David Bowies Andy Warhol – an der Legendenbildung mit. Meistens jedoch werden in Songs Allerweltsnamen verwendet, und in der Regel bezeichnen sie fiktive Figuren. Nur gelegentlich verbergen sich dahinter reale Personen aus dem Umfeld der Songschreiberinnen und Songschreiber und somit auch vielleicht anrührende, „authentische“ Geschichten. Diana (Paul Anka), Rosanna (Toto) und Suzanne (Leonard Cohen) sind hier wohl die bekanntesten Beispiele.
Aber wer braucht schon Namen, wenn man Figuren auch poetisch umschreiben, interessanter machen, verklären kann? Und so werden Songs nicht nur von Celebrities und von „boys“ oder „girls next door“ bevölkert, sondern auch von den verrücktesten Archetypen: Mal haben sie sprechende Namen wie der aus ärmlichen Verhältnissen zum Gitarrengott aufsteigende Johnny B. Goode (Chuck Berry), mal stehen sie – wie Kelly Clarksons Miss Independent, Billy Joels Uptown Girl oder der Street Fighting Man der Rolling Stones – für eine bestimmte Haltung oder soziale Schicht. Der Piano Man (noch einmal Billy Joel) oder Elton Johns Rocket Man wiederum dienen als tröstliche Projektionsflächen: weil sie nächtliche Bargäste ein paar Lieder lang ihre Sorgen vergessen lassen – oder weil sie verloren im Weltall noch einsamer sind als mancher Mensch auf Erden. Hin und wieder, man denke an Bob DylansMr. Tambourine Man, umgibt diese Figuren auch etwas Zauberhaftes, gar Mystisches; oder eine faszinierende Aura des Verlorenen: Der 21st Century Schizoid Man (King Crimson) und der Nowhere Man (The Beatles), der Smalltown Boy (Bronski Beat) und der Iron Man (Black Sabbath) lassen grüßen. Stimmungskanonen wie der fahrende Rumhändler Poppa Joe (The Sweet) bleiben dagegen kleine Lichter.
Für Typisierungen in Songs gibt es keine Grenzen. Und so werden Figuren gern auch mit geografischen Bezeichnungen verknüpft, was ihr Schicksal stellvertretend für ganze Regionen, sogar ganze Nationen stehen lässt: Wollen Songschaffende so etwas wie Heimatliebe, Ehrerbietung, regionalen Zauber oder Exotik zum Ausdruck bringen, lassen sie Figuren als Mississippi Queen (Mountain) oderWitch Queen of New Orleans (Redbone), als California Man (The Move), Galway Girl (Ed Sheeran) oder auch als London Boy (Taylor Swift) durch ihre Songs streifen; oder üben – wie in der Präsentation eines American Girl (Tom Petty), gegebenenfalls einer American Woman (The Guess Who) – verhalten Sozialkritik. Das Ganze funktioniert auch mit einem selbstkritisch-verschwurbelten Blick in die Ferne, wie David Bowies berühmtes China Girl zeigt. Und dann gibt es da noch all die Ladies und Schwestern, in deren Namen sich besonders romantische, besonders schicksalhafte Begegnungen und Lebenssituationen, Sehnsüchte, Abhängigkeiten und Obsessionen spiegeln: die Lady in Black (Uriah Heep) und die Lady in Red (Chris de Burgh), die Midnight Lady (Chris Norman), die Lady Marmalade (Labelle), Sister Golden Hair (America), Sister Moonshine (Supertramp) oder Sister Morphine (The Rolling Stones).
Das alles sind, natürlich, Beispiele aus der angloamerikanischen Pop- und Rockmusik. Und wie handhaben es Songs aus dem deutschsprachigen Raum? Nicht ganz so facettenreich und gern ein bisschen arg bemüht. Das Spiel mit Namen von Prominenten ist in unseren Breitengraden eher schwach ausgeprägt – als einer der wenigen konnte Falco 1985 mit Wolfgang Amadeus Mozart global groß auftrumpfen. Ansonsten fallen einem vielleicht noch Marianne Rosenbergs Liebeserklärung an Mr. Paul McCartney (1970) und zwei eher fragwürdige Songs ein, die auf die eine oder andere Weise um Tennislegende Steffi Graf kreisen. Das war’s dann aber auch beinahe. Nur ganz selten verbergen sich hinter Allerweltsnamen auch herzzerreißende Geschichten aus dem wirklichen Leben – in Popsongs aus dem deutschen Sprachraum werden Namen wie Nina, Anita und Michaela, Anuschka, Jenny oder Josie von Songschreibern vor allem wegen ihres Wohlklangs und ihrer Singbarkeit gewählt, nicht weil sich dahinter autobiografische Verstrickungen verbergen, die verarbeitet werden müssen. Was dann auch zu besonders seltsamen Namenskonstruktionen wie in Michael Holms Nur ein Kuss, Maddalena (1970) führt – und immerhin zu charmant-gewagten Spielereien wie in Benjamin, einem 2012 erschienenen Song von Anna Depenbusch, in dem die störenden nächtlichen Beischlafgeräusche aus der Nachbarwohnung mit dem dahingejapsten Namen des Mannes verbunden sind: Ben-Ja!-Ja!…, oh, Ben-Ja!-Ja!… und so weiter und so fort. Eher Auswüchse des sorglosen Umgangs mit fiktiven Namen sind unangenehm klingende Typisierungen wie Heinos Die Schwarze Barbara (1975), die wahlweise an ein männermordendes Monster oder an eine als inakzeptabel empfundene ethnische Herkunft denken lässt, obwohl sie doch nur durch ihr schwarzes Haar und ihren purpurroten Mund heraussticht. Bei Gisela („Isch möschte nischt“) von Horst Schlämmer alias Hape Kerkeling (2007), beimPresslufthammer B-B-Bernhardvon Torfrock (1978) oder bei „Hannelörsche, ich beiß dir gleich ins Öhrsche“ aus dem Rodgau-Monotones-Song Hallo, ich bin Hermann (1985) steht dagegen vor allem der Klamaukfaktor im Vordergrund.
Was Archetypen in Kombination mit geografischen Bezeichnungen betrifft, imitiert man in unseren Breiten lieber die angloamerikanischen Vorbilder, als sich an lokale Gegebenheiten anzupassen: So besingt Mary Roos sehnsüchtig einen letztlich unerreichbaren Arizona Man (1970) und Michael Holm nicht weniger leidenschaftlich ein Arizona Girl (1971) – beides sind deutschsprachige Versionen eines englischsprachigen Hits des Südtirolers und späteren Starproduzenten Giorgio Moroder. Einen Saarland-Karl, ein Marienborn-Mädchen oder gar einen Meck-Pomm Macker aber sucht man in Hits aus Deutschland vergebens. Schon klar, ein Lied wie Boney M.’s Bahama Mama (1979) – über eine Mutter in der Karibik, die verzweifelt versucht, ihre sechs schönen Töchter unter die Haube zu bringen – lässt sich eben unbeschwerter dahinträllern als eine auf Konsensfähigkeit zielende Ode an einen strammen Typen aus dem Bayrischen Wald.
Mediterran angehauchte Romantik ist Trumpf in Popsongs aus dem deutschsprachigen Raum, vor allem im Schlager. Kein Wunder, dass dabei die Geliebte – wie in Pretty Madonna von Costa Cordalis (1979) – schon mal zur adretten Marienfigur stilisiert wird, der man – wie Bata Illic 1974 in Schwarze Madonna – noch einen zusätzlichen mystischen Anstrich verleihen kann. Aber es reicht ja auch schon, der Herzensdame einfach einen italienischen Begriff als Namen zu geben, um einen Hauch Exotik zu kreieren, und wenn es nur das italienische Wort für „Sonntag“ ist. So besingt Bernhard Brink 1999 eine schöne Frau namens Domenica, die im Begriff ist, das Song-Ich zu verlassen, was nicht nur für reichlich Herzschmerz sorgt, sondern auch für unschlagbare Verse wie diesen: Ich wart auf dich bei einer Flasche Rotwein / Ich rauch viel zu viel, obwohl ich gar nicht rauch. Aber halt, handelt es sich nicht um die Coverversion eines Songs von Zucchero? Schon, ja. Doch das Original heißt eben nicht „Domenica“, sondern Diamante. Ob dann Semino Rossis Lovesong Bella Romantica (2013) überhaupt noch eine Person, vorzugsweise die Geliebte, adressiert oder schon einen alles fortreißenden Glückstaumel sprachlich verdichtet, muss jede Hörerin, jeder Hörer für sich selbst entscheiden.
Auch das Gefühl der Zuversicht scheint sich für manche Songwriter:innen gleich noch intensiver vermitteln zu lassen, wenn man es mit etwas Italo-Flair anreichert. Das könnte der Grund für Drafi Deutschers Text zum auch von ihm komponierten Song Mama Leone gewesen sein, der 1978 erst mit Verzögerung und letztlich in der Interpretation des aus Palermo stammenden Sängers Bino zum Hit wurde. Die „Löwenmutter“ ist eine Engelsgestalt, die Hoffnung bringt und alles gut werden lässt. Ja, da ist schon einiges an Pathos im Spiel, aber sei’s drum. Albern wird es aber, wenn all die Mamas und Domenicas mehr schlecht als recht zusammengewürfelt werden, um der Beschreibung einer eher banalen Lebenserfahrung etwas mehr Esprit zu verleihen. So trägt die Mutter, die 1987 in einem Song von Andy Borg wehmütig ihrem erwachsen gewordenen und endlich in die Fremde ziehenden Sohn nachschaut, den grotesken Namen „Mutter Sonntag“, Mama Domenica. Der Text dazu wartet außerdem mit einer irritierenden Zeile auf: In deinem Herzen bleibt sein Platz immer frei, Mama Domenica. Die Frage muss erlaubt sein: Sollte der Platz des Sohnes im Herzen der Mutter nicht auch dauerhaft vom Sohn besetzt sein, statt ewig frei zu bleiben? Vielleicht ist das ja besonders spitzfindig. Oder einfach nur ein kleiner Lapsus? Bei Andy Borg weiß man nie … Mindestens ebenso banal wie eine ihren Sohn vermissende Mutter ist ein Vater, der achtgibt, dass sein Töchterchen und ihr Freund hinter verschlossenen Türen keinen amourösen Unfug treiben. Wie hölzern würde es klingen, ginge es um einen Jungen namens Martin, ein Mädchen namens Petra und ihren Vater Manfred! Und wie interessant, ja richtig temperamentvoll klingt es, wenn es um einen Chico, seine Freundin Rosita und deren Papa Don Pedro geht! Mit Don Pedro unterstrich Costa Cordalis 1977, dass sich südländisches Flair auch dann intensiv entfaltet, wenn es griechisch-spanisch geprägt ist.
Typisch deutsch und eher negativ konnotiert ist die Figur des Kowalski, die mal im Singular und mal im Plural, etwa in Gestalt von „Stammtischkowalskis“, durch den einen oder anderen schrägen Song von PUR streift. Eindeutig angloamerikanisch geprägt sind schließlich die Vorbilder, die Dieter Bohlen für sein Bandprojekt Modern Talking aufmarschieren ließ, und das in beachtlicher Zahl. Sein Brother Louie, der doch bitte die Frau gehen lassen soll, die das schmachtende Song-Ich liebt, hält sich 1986 noch einigermaßen an lyrische Konventionen. Doch bei anderen seiner Kreationen lässt es Bohlen ordentlich krachen – und knirschen. Da gibt es – ebenfalls 1986 – eine Asiatin namens Lady Lai, die eigentlich „Lady Lei“ gesungen werden müsste, aber wie die Dylan’sche „Lady Lay“ komplett englisch adressiert und mit tiefsinnigen Versen wie den folgenden beschworen wird: Stay, I love your Chinese eyes / Please, stay / ’Cause you’re a big surprise. Da verliebt sich ein Einsamer am Laptop in eine Dame aus dem Internet, vermutlich aus einem Computerspiel, doch statt von einer „Virtual Mama“ oder vielleicht einem „Game Girl“ schwärmt er in kompletter Gefühls- und Begriffsverwirrung von einer Mrs. Robota (2002). Charakterisiert wird die Unerreichbare ebenso folgerichtig wie sinnfrei mit den Worten: You’re high and low and just between, was kaum noch zu toppende Erregungszustände hervorruft: But more and more I like you more than just before … Ähnlich aufwühlend, aber auch aus allen möglichen anderen Songs zusammengeklaubt sind die Gefühle, die der Liebende 1999 im Song Taxi Girl für eine sexy Taxi Lady äußert: I’m tossing and turning / ’Cause my heart is burning / Tell me your heart will go on / And if you will be clever / It’s always and ever / I’ll die for you. Was es schließlich genau mit der Taxi-Metaphorik auf sich hat oder wer hier wen auf welche Weise durch die Gegend respektive durch sonderbare Gefühlswelten kutschiert, scheint der Sprecher selbst nicht zu wissen, sonst würde er im Refrain kaum jauchzen: Be my taxi taxi girl / In my secret taxi world / Be my taxi taxi girl / It’s a strange and secret world. Bleibt noch die ominöse Dame mit dem verbalromantischen Doppelwumms – jene Cheri Cheri Lady, die 1985 mit ähnlich deliriös collagierten Liebesbekundungen wie den eben zitierten bedacht wurde und schon durch ihrem Namen für Stirnrunzeln sorgte. „Cheri“ mit Betonung auf dem I ist eigentlich das französische Wort für „Liebling“, doch die Aussprache bei Modern Talking klingt eher wie ein Mix aus den englischen Wörtern „cherry“ („Kirsche“), „cherish“ („wertschätzen“) und „sharing“ („teilen“). Was letztlich auch den sprachsensibleren Gemütern in der Hörerschaft ein fatalistisches Gefühl von Goin’ through a motion verschafft …
In puncto Namedropping zeigen sich nur wenige deutschsprachige Songwriter:innen so kreativ wie Udo Lindenberg, der mit Rudi Ratlos und Johnny Controletti(1974) oder Wotan Wahnwitz(1975) gleich eine ganze Riege von Figuren mit sprechenden Namen in seinem Oeuvre aufmarschieren ließ. Oder wie Reinhard Mey: Der benutzt hin und wieder Pseudonyme, zu denen auch ein gewisser Alfons Yondrascheck gehört. Und dieser Alfons Yondrascheck geistert dann und wann durch die Songs von Reinhard Mey. In Ankomme Freitag, den 13. aus dem Jahr 1969 etwa erhält das Song-Ich ein Telegramm, in dem eine ominöse Christine einen Blitzbesuch ankündigt, und wird dadurch in helle Aufregung versetzt. Inmitten der sich anschließenden kopflosen Wohnungsaufräumaktion klingelt das Telefon und jemand möchte Alfons Yondrascheck sprechen – doch der Anrufer hat sich offenbar verwählt: „Noch sechseinhalb Stunden, jetzt ist es halb acht. / Vor allen Dingen ruhig Blut, mit System und mit Bedacht. / (…) / Das Telefon klingelt: Nein, ich schwöre: falsch verbunden, / ich bin ganz bestimmt nicht Alfons Yondrascheck – noch viereinhalb Stunden.“ Es ist schon ziemlich hintersinnig, sich selbst im eigenen Song anrufen zu lassen und dann zu behaupten, man hätte nichts mit dem Herrn zu tun …
Das komplette Bonusmaterial gibt’s bei Reclam unter diesem Link. Die Kapitel: Mehr Unrundes von Caterina Valente, Tomte, Kool Savas und anderen / Lustiges Namedropping und hemmungsloses Typecasting im Song: von Heino bis Bino, von Mary Roos bis Modern Talking / Kosmisches und anderes Geschwurbel mit Witthüser & Westrupp, Eloy, Can & Co / Mini-Lyrics oder: Arg Kurzes von Silver Convention, Boney M., Kraftwerk und Scooter.
Eine große, tragische Liebesgeschichte, die zur Abwechslung mal im Rock-’n’-Roll-Milieu spielt? Oder ein cooles Rock-’n’-Roll-Epos, das Elemente einer tragischen Liebesgeschichte integriert? Daisy Jones & The Six, der Erfolgsroman von Taylor Jenkins Reid, funktioniert auf beiden Ebenen, peppt das Ganze mit einem ordentlichen Schuss Siebzigerjahre-Nostalgie auf und befeuert nebenbei die ewige These, dass große Kunst vor allem aus Schmerz und Leiden geboren wird. Die Verfilmung der glamourösen Rockstarfiktion als Amazon-Prime-Serie nimmt zwar einige dramaturgische Änderungen vor, setzt die Vorlage aber mehr als kongenial um – und beschert der Welt das reale Musikalbum einer Gruppe, die es gar nicht gibt.
Ende der Siebzigerjahre: Daisy Jones & The Six haben es geschafft – sie sind weltweit gefeierte Rockstars. Doch just auf dem Höhepunkt ihrer Karriere bricht die Band auseinander. Die Fans sind fassungslos. Wie konnte es so weit kommen? Viele Jahre später werden die Bandmitglieder, die nichts mehr miteinander zu tun haben, sowie wichtige Personen aus ihrem Umfeld für eine Dokumentation getrennt voneinander interviewt. Aus all den kleinen Einwürfen, Anekdoten und teils widersprüchlichen Einschätzungen werden opulente Rückblenden – entfalten sich Aufstieg und Fall einer schillernden Band bis hin zu den wahren Gründen für ihre Auflösung. Erst zum Schluss offenbart sich, wer die erhellenden Interviews führt. Es ist eine herzerwärmende Pointe, die eine überraschende neue Perspektive eröffnet.
Von der Romanfiktion zum Serienhit zum Chartserfolg
Jahrzehntelang waren Spielfilme die Königsdisziplin, wenn es um das Erzählen von Geschichten für die Kinoleinwand und Bildschirme aller Art ging. Entgegen allen Behauptungen über die Schnelllebigkeit unserer Zeit und das kontinuierliche Sinken von Aufmerksamkeitsspannen ist jedoch seit geraumer Zeit das üppige Serienformat auf dem Vormarsch. Es eröffnet die Möglichkeit, eine Geschichte plausibel und in mehreren Strängen zu entfalten, Charakteren Tiefe zu verleihen und die positiven wie negativen Dynamiken zwischen den Protagonistinnen und Protagonisten in sämtlichen Facetten auszuloten. Kaum zu glauben, aber die Fans bleiben dran, selbst über sechs bis zehn Folgen und gleich noch über mehrere Staffeln hinweg – wenn sie denn gut gemacht sind. Das gilt auch für Pop-Biopics und -Fiktionen. Schon verschiedenste 90– bis 120-Minuten-Werke krankten bei allem Unterhaltungswert daran, dass sich das Drehbuch auf wenige zentrale Motive beschränken musste und eine Band, die eben noch reichlich amateurhaft in einem heruntergekommenen Provinzclub zu sehen war, im nächsten Moment von einem großen Festivalpublikum gefeiert wurde, um schon in der übernächsten Einstellung die finalen Zersetzungserscheinungen zu zeigen.
Die Macher der Amazon-Prime-Serie Daisy Jones & The Six haben nicht nur die Vorteile des Serienformats optimal genutzt, sondern auch das Vermarktungspotenzial der Vorlage, des gleichnamigen Erfolgsromans von Taylor Jenkins Reid, konsequent ausgeschöpft. Durch geschickte dramaturgische Eingriffe, eine zündende Besetzung und eine stilvolle Inszenierung haben sie ein mitreißendes Stück Heimkino geschaffen, in das man knapp zehn Stunden lang eintauchen kann; und statt eines konventionellen Soundtrack-Albums, zu dem verschiedene Interpreten die Songs beisteuern, haben sie das fiktive Daisy-Jones-&-The-Six-Album Aurora tatsächlich zum Leben erweckt. Mit dem Ergebnis, dass sich die erfundene Truppe mit ihren Songs wie ein realer Rock-Act in den internationalen Charts tummelt.
Fleetwood Mac (und andere) lassen grüßen
Aus den Rückblenden kristallisieren sich zunächst zwei Erzählstränge heraus. Da sind die Dunne Brothers, eine Band um den gern mal autoritär auftretenden Frontmann Billy Dunne, die irgendwo in Pennsylvania versucht, Fuß zu fassen, größtenteils mit Coverversionen. Und da ist Daisy Jones in Los Angeles, eine unangepasste junge Frau, die sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält, insgeheim aber von einer Karriere als Singer-Songwriterin träumt. Bewegung kommt in die Geschichte, als der renommierte, aber nicht mehr ganz so erfolgreiche Musikproduzent Teddy Price auf Daisy aufmerksam wird und sie unter seine Fittiche nimmt. Währenddessen durchlaufen die Dunne Brothers mehrere Transformationen und begrüßen schließlich die Keyboarderin Karen Sirko als neues Mitglied. Die Band benennt sich um in The Six, schreibt vermehrt eigene Songs und zieht irgendwann nach L.A., um dort den nächsten Karriereschritt zu machen. Eher durch Zufall lernt das schräge Kollektiv, das sich mehr und mehr zusammenrauft, Teddy Price kennen. Und nicht nur das: Es gelingt den Six auch, den einflussreichen Studiomagier von ihren Songs zu überzeugen. Aber etwas fehlt ihnen, so empfindet es der Produzent – womöglich noch etwas textlicher Input, dazu eine starke Frauenstimme. Und weil auch Daisy Jones etwas fehlt, nämlich eine Band, die ihre lyrischen und musikalischen Ideen in künstlerisch noch wertvollere Bahnen lenkt, bringt Teddy Price kurzerhand beide Fraktionen zusammen. Mit der Vorgabe, gemeinsam neue Songs zu schreiben. Ein genialer Move, der eine beispiellose Erfolgsstory in Gang setzt – aber auch ein heilloses emotionales Chaos.
Wer die Dynamiken innerhalb von Rockbands kennt, wird das eine oder andere Déjà-vu erleben – es gibt etliche gut beobachtete Details und Band-Anekdötchen zum Schmunzeln. Wer eine Vorstellung hat vom Musikbusiness damals und heute, dürfte über mächtige, selbstgefällige Konzern-Plattenbosse in Anzügen, über gewiefte Produzenten- und schrille Managertypen den Kopf schütteln. Wer die Seventies noch mitbekommen hat, wird mit Sicherheit von nostalgischen Gefühlen überkommen, so treffend sind Mode und Lifestyle eingefangen – auch wenn man nicht jede Sex- und Drogeneskapade selbst erlebt haben muss. Wer Fleetwood Mac und ihre Musik zu Rumours-Zeiten mag, wird große Ohren und Augen machen, sind doch Sound, Erscheinungsbild und das eine oder andere biografische Detail zu Daisy Jones & The Six von der legendären britisch-amerikanischen Band inspiriert. Und auch wer einfach nur überlebensgroße Lovestorys mit euphorischen Ups und tragischen Downs liebt, wird bestens bedient.
Billy Dunne und Daisy Jones sind zwei außergewöhnliche, nicht uneingeschränkt liebenswerte Charaktere – geschundene Seelen, die sich gegenseitig, aber auch dem gemeinsamen Umfeld einiges an Unzumutbarkeiten zumuten. Zwischen den beiden kracht es immer wieder gewaltig, aber kaum jemandem bleibt verborgen, dass es auch mächtig knistert. Billy hat eine kleine Tochter mit seiner Frau Camila. Die begreift die Bandgemeinschaft als verschworene Familie und wirkt wie eine Übermutter ausgleichend, wo immer es nötig wird. Doch auch sie muss damit klarkommen, dass Billy zeitweise dem destruktiven Rock-’n’-Roll-Lifestyle erliegt, dem Alkohol verfällt und nach einer Entziehungskur lange braucht, um in seine Vaterrolle hineinzuwachsen. Die Vibes, die sie später spürt, wenn sie ihren Mann und Daisy Jones zusammen performen sieht, dürfen ihr erst recht nicht gefallen. Und auch sie leistet sich Ausrutscher. Daneben gibt es stille Glücksmomente und rauschhafte Erfolge, eine lange geheim gehaltene Affäre innerhalb der Band, Mitmusiker, die unter mangelnder Wertschätzung leiden, Frust und Abstürze, bis hin zu einer vorübergehenden Auszeit Daisys in Griechenland. Und dann ist da noch – wir kennen das Motiv aus Almost Famous – der Journalist eines einflussreichen Rockmagazins, der die rasant aufstrebenden Stars auf Tour begleitet, um eine große Story zu schreiben. Die Tratschgeschichten und Geheimnisse, die er den aufgewühlten Bandmitgliedern unabhängig voneinander entlockt, sorgen für zusätzlichen Zündstoff im Gefüge. Nur der Drummer – in seiner naiven Unbekümmertheit erinnert er an den notorisch unterschätzten Beatle Ringo Starr – bleibt völlig unbeschadet: Er lernt tatsächlich eine attraktive Hollywoodschauspielerin kennen, gründet mit ihr eine Familie und lebt, so darf man vermuten, glücklich bis ans Ende seiner Tage. Welch ein wunderbares Popklischee – eine Figur, die für regelmäßigen „comic relief“ sorgt und die dramatische Erzählung mit einem Schuss Selbstironie würzt.
Die weibliche Perspektive
Wo von Männern geschriebene Rockdramen gern den Rock-’n’-Roll-Lifestyle ins Zentrum rücken und ihre Protagonisten als zerrissene, aber letztlich geniale Lonesome-Hero-Typen aufs Podest heben, legt Daisy Jones & The Six bewusst andere Schwerpunkte: zum Beispiel auf die problematischen Auswirkungen, die dieser Rock-’n’-Roll-Lifestyle und das Ringen zweier Alphatiere auf die Charaktere und ihr Umfeld haben. Die Hauptfiguren sind differenziert gezeichnet, mit großen Stärken, aber auch mit eklatanten Schwächen. Daisy, Camila und Keyboarderin Karen sind gleich drei selbstbewusste Frauen. Einerseits behaupten sie sich in der männerdominierten Rockwelt, andererseits haben sie unter den Bedingungen und Haltungen der damaligen Zeit noch einmal besonders zu leiden. So sind es eben die Frauen, die das Problem einer ungewollten Schwangerschaft und die möglichen Folgen für die angestrebte Karriere für sich selbst regeln müssen. Es ist schmerzhaft, aber gut, dass auch gezeigt wird, wie der einst so coole Frontmann Billy Dunne zunächst nicht in der Lage ist, sein Töchterchen in den Arm zu nehmen und zu seiner Vaterschaft zu stehen. Obwohl Daisy Jones ganz neue Saiten in ihm zum Klingen bringt, bleibt er immer auch seiner Frau Camila in Liebe verbunden. Es ist kompliziert. Und hier spürt man deutlich die Handschrift der Autorin – wie auch der Produzentin Reese Witherspoon, die schon als June Carter im Johnny-Cash-Biopic Walk the Line starke weibliche Akzente setzte.
Brillante Besetzung
Mindestens ebenso stark ist der schauspielerische Eindruck, den nun Kiley Reough als Daisy Jones hinterlässt. Die Enkelin von Elvis Presley beeindruckt durch eine intensive Mimik, Gestik und Körpersprache und dürfte mit dieser energiegeladenen Rolle nach diversen Kino- und Serienauftritten den endgültigen Durchbruch geschafft haben. Allein wegen ihrer Präsenz lohnt sich das Streamen. Doch auch die übrigen Mitwirkenden überzeugen, allen voran Tribute von Panem-Beau Sam Claflin als vielfach ge- und überforderter Frontmann Billy Dunne. Aus den Stars, die die Band verkörpern, ragt Suki Waterhouse als zielstrebig-kompromisslose Keyboarderin Karen Sirko heraus, daneben glänzen Tom Wright als clever-sensibler Produzent Teddy Price und Timothy Olyphant (er spielte einst den etwas hüftsteifen Sheriff in der famosen Westernserie Deadwood oder den glatzköpfigen Killer Hitman) als durchgeknallter, aber letztlich professioneller, angemessen empathischer Tourmanager Rod Reyes.
Die Besetzung der beiden Hauptfiguren erweist sich auch mit Blick auf die Musik als Glücksgriff. Beide Stars können tatsächlich singen, wobei Sam Claflin die etwas unauffälligere, gelegentlich in Richtung Tom Petty tendierende Stimme hat und Riley Keoughs Vortrag scheinbar mühelos die Fleetwood-Mac-Diva Stevie Nicks, Kate Pierson von den B 52’s und die eine oder andere Country-Ikone zitiert. Überraschend stark und rund klingt es, wenn Claflin und Keough zweistimmig singen und die Songs des fiktiven Albums Aurora lebendig werden lassen. Im Buch hatte Autorin Taylor Jenkins Reid ein paar eigene Lyrics zu den Songs der Band verfasst – es seien aber keine brauchbaren Texte gewesen, räumt sie unumwunden ein, sondern eher Verse, die die Figuren charakterisieren sollten. Mit Reids Einverständnis holten die Serienverantwortlichen dann echte Songwriting-Koryphäen ins Boot, darunter Phoebe Bridgers, Marcus Mumford und sogar Superstar Jackson Browne. Die Fachleute hatten einigermaßen freie Hand und lieferten die Musik samt neuen Lyrics zu den von Claflin und Keough gesungenen Stücken.
Ganz offensichtlich spitzen die neuen Songversionen emotional zu und bringen vor allem die inneren Konflikte der Figuren, die zwischenmenschlichen Reibungen auf den Punkt. Verdichtung, Dramatisierung und Aktualisierung – ähnliche Effekte erzeugen auch die dramaturgischen Änderungen an der literarischen Vorlage: So haben Camila und Billy im Buch gleich mehrere Kinder, in der Serie ist es nur eine Tochter. Camila hat im Roman keine Affäre, in der Serie schon. Und während Daisy in der Vorlage nur Daisy heißt, darf sie Billy gegenüber in der Verfilmung offenbaren, dass sie eigentlich Margaret heißt – ein Moment, der erstmals eine besondere Nähe zwischen beiden Charakteren herstellt. Dass Keyboarderin Karen in der Adaption nicht mehr Amerikanerin, sondern Britin ist, nennt Showrunner Scott Neustadter eine explizite Hommage an die kürzlich verstorbene Fleetwood-Mac-Keyboarderin Christine McVie. Daisys Freundin Simone wiederum, Soulsängerin und aufstrebender Discostar, bekommt in der filmischen Umsetzung eine nach verschiedenen Höhen und Tiefen glückliche lesbische Beziehung angedichtet, als Reverenz an die queere Bewegung. Und als Daisy eine Überdosis erleidet, wird sie, anders als im Roman, von Billy gerettet, von wem auch sonst!
Geniales Pastiche oder: Kunst kommt von Einfühlen
Fast noch intensiver als die Vorlage suggeriert die Serienadaption, dass große Kunst vor allem aus Reibung, aus Schmerz und Leiden entsteht. Zu den besten Momenten der Serie gehören die Szenen, in denen Daisy und Billy gemeinsam komponieren und texten. Sie beharken sich, kritisieren immer wieder die Texte des Gegenübers und zwingen sich gegenseitig zur Nabelschau. Dabei stellen die scheinbar grundverschiedenen Charaktere fest, dass sie in ihrem Schmerz, in ihren unerfüllten Sehnsüchten mehr gemeinsam haben, als ihnen lieb ist. Und schon texten sie bittersüße Verse wie: „If you’re gonna let me down, let me down easy“, „I’m an echo in your shadow / I’m in too deep“ oder „We can make a good thing bad“. „Viel Leid, mehr hervorragende Songs“ – so lautet das Prinzip, und das ist natürlich schon in losen Orientierungspunkten wie der Bandgeschichte von Fleetwood Mac angelegt. Die Gruppe war berühmt für vertrackte Beziehungen und komplizierte zwischenmenschliche Dynamiken, die die Treiber hinter einigen ihrer besten Songs gewesen sein sollen.
Der „Große Kunst aus großem Schmerz“-Gedanke wird auch heute noch immer wieder gern vorgebracht und standardmäßig untermauert durch Verweise auf Vincent Van Gogh und Edvard Munch, Joseph Beuys und Hermann Nitsch. Hinzu kommen Thesen wie: Positive Gefühle muss man nur genießen, negative Gefühle muss man verarbeiten – weshalb letztere mehr und interessanteres Material für künstlerisches Schaffen liefern. Das alles mag für diverse Kreative und ihre Werke gelten, verallgemeinern aber lässt es sich nicht. Es wäre auch etwas unfair gegenüber Happy, Walking On Sunshine, Girls Just Want to Have Fun, Don’t Worry – Be Happy und anderen Evergreens der Glückseligkeit. Sie scheinen nicht mal im Ansatz aus großem Schmerz geboren und besitzen dennoch einen unbestreitbaren künstlerischen Wert, zumindest für den Autor dieser Zeilen. Zu guter Letzt kann man den Daisy Jones-Roman selbst und – mehr noch – die Serienadaption als Belege weiterer Antriebsquellen für große Kunst nennen. Autorin Taylor Jenkins Reid verfügt ganz einfach über ein unglaubliches Können, das hatte sie in ihren zuvor erschienenen Romanen bewiesen. Dann kam ihr die nächste Idee, doch in der Folge musste sie erst einmal gründlich recherchieren – zu Musik und Songwriting, zu den Biografien berühmter Bands und ganz allgemein zu den Siebzigern. Die Lust am Fabulieren und am Feilen, aber auch viel Geduld führten schließlich zu einer mitreißenden Geschichte über die Kraft der Liebe und die Kraft der Musik. Die Macher hinter der Serienadaption und dem Musik gewordenen fiktiven Album Aurora wiederum agierten im Rahmen einer großangelegten Ensemble-Produktion noch etwas mehr auf der Metaebene. Mit viel Hirn und Händchen manipulierten und ergänzten sie die literarische Vorlage, setzten eine professionelle Filmproduktionsmaschinerie in Gang, gaben gleichzeitig passende Songs in Auftrag. Das Ergebnis ist ein geniales Pastiche rund um ein paar Siebzigerjahre-Rockstars, die große Kunst aus großem Leiden schaffen. Davon, dass die Serienverantwortlichen und ihre Dienstleistenden selbst kongenial gelitten hätten, ist eher nicht auszugehen.