Die Temperaturen schlagen immer noch mal nach oben aus, aber eins steht unwiderruflich fest: Der Sommer ist vorbei. Und was war das für ein unglaublicher Sommer in diesem Jahr! 1976 sang Peter Und es war Sommer, aber damit waren nicht unbedingt Temperaturen um die 40 Grad gemeint. Es ging um eine ganz andere Unglaublichkeit …
Könnte man so etwas heute noch texten? Wahrscheinlich nicht. Denn Schmalz, Unsinn und unfreiwillige Komik triefen in diesem Song aus fast jedem Vers: „Die Sonne brannte so, als hätte sie’s gewusst“, „Sie gab sich so, als sei ich überhaupt nicht da“, „Doch bleib bei mir, bis die Sonne rot wird, dann wirst du sehen“ … So klischeehaft das im 21. Jahrhundert klingt, so brisant war es zu seiner Zeit. Weil ein leicht melancholischer Mann erzählt, wie er mit 16 von einer erwachsenen Frau verführt wurde. Minderjährigen-Sex also, oha! Hin und her gerisssen zwischen Erinnerung und unmittelbarem Noch-einmal-Erleben spricht der „Held“ des Songs von sich selbst mal in der dritten, mal in der ersten Person. Und natürlich wird auch die nächtliche sexuelle Begegnung in blumigste Worte gefasst: „Wir gingen beide hinunter an den Strand / Und der Junge nahm schüchtern ihre Hand / Doch als ein Mann sah ich die Sonne aufgehn / Und es war Sommer.“
Der Altersunterschied zwischen Liebenden wurde in den Songs der Sechziger und Siebziger auffällig oft thematisiert. So ist Maffays Text inspiriert von Bobby Goldsboros deutlich coolerem US-Hit Summer (The First Time) aus dem Jahr 1973, auch wenn der Sprecher dort „schon“ 17 ist. Nur kannte den Song in Deutschland kaum jemand. Hierzulande hatte man eher noch die Beatles mit den suggestiven Zeilen „She was just seventeen / You know what I mean …“ aus ihrem 1963er Hit I Saw Her Standing There im Ohr. Oder Udo Jürgens, der 1965 geschmettert hatte: „17 Jahr, blondes Haar, so stand sie vor mir …“? Ohne Zweifel, auch in diesem Schlager geht es um die erotische Spannung zwischen zwei Menschen, von denen nur einer volljährig ist. Aber: Die amouröse Begegnung bleibt bei Udo Jürgens nur ein Traum: „Sie hat mich angelacht und war vorüber (…) und überall such ich sie.“ Das war für das gesettelte deutsche Publikum von damals offenbar gerade noch zu verkraften. In den 1960er Jahren hatte man tatsächlich noch 21 werden müssen, um die Volljährigkeit zu erreichen, da konnten Künstler maximal eine Fantasie besingen. 1975 war dann aber ein im Jahr zuvor verabschiedetes neues Gesetz in Kraft getreten, das den Eintritt der Volljährigkeit immerhin auf die Vollendung des 18. Lebensjahrs herabsetzte. Dalidas Er war gerade 18 Jahr, die 1974 erschienene deutsche Version ihres französischen Hits Il venait d’avor 18 ans, kriegte da mit dem Rückblick auf einen entsprechenden One-Night-Stand ganz wunderbar die Kurve. Doch 1976 eckte Maffay mit der Geschichte eines 16-Jährigen, der Sex mit einer erwachsenen Frau hatte, tatsächlich an. Hölle und Verdammnis – das war ganz klar verboten!
„Als Maffay diesen Titel in der ‚ZDF-Drehscheibe’ vorstellen wollte, wurde er abgeblockt“, fasst der Journalist Dirk Maxeiner die „schlimmste“ Konsequenz zusammen: „Die Zeilen ‚Ich war 16 und sie 31, und über Liebe wusste ich nicht viel, sie wusste alles und sie ließ mich spüren, ich war kein Kind mehr’ führten zu einem Verbot. Das ZDF: ‚Der Text ist eindeutig zweideutig und passt deshalb nicht in unsere Sendung.’“ Auch der eine oder andere Radiosender weigerte sich, den Song zu spielen. Trotzdem wurde Und es war Sommer samt dem gleichnamigen Album ein Riesenerfolg im deutsprachigen Raum. Es dauerte nicht lange, da trat Peter Maffay mit dem „kontroversen“ Lied doch auch im ZDF auf. Und wo? Natürlich in der „Hitparade“.
Vor rund drei Jahrzehnten provozierte die konservative britische Politikerin Maggie Thatcher eine bis dahin nie gekannte Flut an Protestsongs.
Großbritannien unter Margaret Thatcher „inspirierte“ viele Bands und Songwriter zu äußerst kritischen bis regelrecht zynischen Protestsongs. Und kaum eine Politikerpersönlichkeit der letzten 70 Jahre wurde so häufig so explizit zur Zielscheibe von Songtexten wie die britische Premierministerin. Die Politik während ihrer Amtszeit (1979–1990) war gekennzeichnet durch Privatisierung, Deregulierung und die Zerschlagung der Gewerkschaften, was – bei allen wirtschaftlichen Erfolgen – zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit, zu sozialen Härten, zu einer Vergrößerung der Kluft zwischen Arm und Reich führte. Der unsinnige Falkland-Krieg und Verordnungen, die die Diskriminierung von Homosexuellen zur Folge hatten, waren weitere Makel ihrer Regierungsarbeit. Eine zwiespältige Situation für Songwriter: einerseits die Erfahrung eines immer härter werdenden Existenzkampfes, andererseits jede Menge Inspiration für aufwühlende Songs. Dennoch hält Bruce Robert Howard alias Dr. Robert, einst Sänger der Blow Monkeys, nichts von der Idee einer Maggie Thatcher „als ‚Geburtshelferin’ einer blühenden britischen Gegenkultur während der Achtziger und frühen neunziger Jahre“, wie sie die „taz“ in einem Interview aus dem Jahr 2013 formuliert. „Nein“, wehrt Howard ab. „Sie war eine polarisierende Figur, die zur Gier und zum Egoismus ermunterte, und die das Leben von Menschen zerstörte. Die Kunst mag unter solchen Umständen florieren, aber das ist nichts, für das man dankbar sein sollte. Meiner Meinung nach hatte Thatcher einen zynischen Blick auf die menschliche Natur.“
Die Blow Monkeys waren in den 1980er Jahren nicht nur Teil der von Billy Bragg, Paul Weller und Jimmy Somerville angeführten Musikerinitiative „Red Wedge“ zur Unterstützung der Labour-Partei, sondern „widmeten“ der Tochter eines Kolonialwarenhändlers 1987 auch das Album She Was Only A Grocer’s Daughter. Darauf zu finden: der seinerzeit aus dem Radioprogramm der BBC verbannte Hit (Celebrate) The Day After You. Wo andere aber nur den „Tag danach“, das heißt das Amtsende der Premierministerin feierten, ging Morrissey noch weiter. Der ehemalige Frontmann der Smiths, der schon 1986 The Queen Is Dead propagiert hatte, imaginierte1988 auf seinem Soloalbum Viva Hate gleich die Hinrichtung der ungeliebten Margaret, nicht ohne ein antiaristokratisches Volksaufstand-Szenario wie das der Französischen Revolution zu beschwören. „The kind people have a wonderful dream / Margaret on the guillotine / Cause people like you make me feel so tired / When will you die?“ Natürlich wird nur ein Vorname genannt, aber die Anspielung ist mehr als deutlich. So deutlich, dass Morrissey von Scotland Yard verhört wurde, wie der Sänger 2013 in seiner Autobiografie offenbarte. Damals habe untersucht werden sollen, ob der Star eine reale Bedrohung für die berühmte Politikerin darstellte.
Etliche weitere Songs aus der Zeit provozierten mit mehr oder minder klaren Verweisen: I’m in Love With Margret Thatcher von The Not Sensibles, Kick Out the Tories von den Newton Neurotics, Maggie, Maggie, Maggie (Out, Out, Out) von den Larks, Thatcherites von Billy Bragg oder Shipbuilding von Elvis Costello – ein Song, der zynisch um den Bau von Kriegsschiffen für den Falklandkrieg kreist, wobei möglichen neuen Arbeitsplätzen zukünftige Kriegstote gegenübergestellt werden. Mit Renaud Sechan stimmte 1986 sogar ein französischer Sänger ins Thatcher-Bashing ein. Sein Song Miss Maggie formulierte fiese Liebeserklärungen an die Frauen an sich, jeweils getoppt von einem Seitenhieb auf die verhasste britische Politikerin. Die immergleiche Rüpel-Argumentation: Frauen, und sind sie noch so minderbemittelt, können nie so dumm, so brutal, so kriegstreiberisch sein wie Männer – mit einer Ausnahme: Madame Thatcher …
Als „Madame Thatcher“ dann 2013 tatsächlich starb, verhalf das einem schon 2000 veröffentlichten Punksong der Band Hefner zur Heavy Rotation im Internet. The Day That Thatcher Dies lässt ein Song-Ich auf die 1980er Jahre und seine politische Sozialisierung durch die Labour-Partei zurückblicken. Den zukünftigen Tod der ehemaligen Premierministerin würde der Sprecher schon mal ausgiebig feiern, heißt es da trotzig, auch wenn es nicht korrekt sei: „We will laugh the day that Thatcher dies / Even though we know it’s not right / We will dance and sing all night.“ Das Stück zitiert gegen Ende noch ein fröhliches Kinderlied aus The Wizard of Oz, dem berühmten Film-Musical von 1939, nämlich Ding-Dong! The Witch Is Dead. Tralli, tralla, die Hex’ ist tot? Das schien vielen Thatcher-Kritikern nur allzu gut zu passen. Prompt erlebte Ding-Dong! selbst ein Revival, stieß dank Social-Media-Promotion sogar in die Spitzenregionen der britischen Charts vor – und wurde ebenfalls von der BBC boykottiert. Was aber niemanden wirklich juckte.
Über den widersprüchlichen Umgang mit fragwürdigen Entertainern und die seltsame Kluft zwischen Verkaufs- und Radiocharts
Ein Gedanke vorweg: Es ist noch nicht lange her, da engagierten findige Filmproduzenten für actiongeladene Reißer wie 4 Blocks und Nur Gott kann mich richten waschechte Gangsterrapper als Schauspieler und Soundtracklieferanten, um sich anschließend regelrecht ergriffen von der eigenen Genialität zu zeigen. Hochkarätig besetzte Fachjurys und das Feuilleton dankten es ihnen mit nicht minder begeisterter Resonanz – lobten neben der unglaublichen Authentizität der Produktionen auch das darstellerische oder das musikalische Potenzial der teilweise vorbestraften Akteure und überschütteten einige der Macher sogar mit Preisen. Gangster und Rapper wurden hier spektakulär inszeniert und auf dem roten Teppich gefeiert. Nun erhalten Kollegah und Farid Bang, zwei aus ähnlichem Holz wie die Straßenschauspieler und Filmsoundtracker geschnitzte Brachialrapper, trotz an Geschmacklosigkeit kaum zu überbietender Songverse den „Echo“-Medienpreis – und alle sind entrüstet. Die Entrüstung teile ich, aber wie passt das zur vorangegangenen Begeisterung der „Kritik“ über die genannten Film- und Fernsehproduktionen? Im Rahmen einer spannend inszenierten Fiktion lässt man sich diesen dämlichen Machokram offenbar gern gefallen, aber so in echt, aus den Boxen und von der Bühne, wirkt er dann doch irgendwie abstoßend, widerlich. Oder nicht?
Dissing: Brachialrhetorik zwischen derbem Spiel und ernsthafter Haltung
Kollegah und Farid Bang wurden beim „Echo“ gleichermaßen angefeindet und „geehrt“ für Songs wie 0815 mit künstlerisch wertvollen Zeilen wie „Und wegen mir sind sie beim Auftritt bewaffnet / Mein Körper definierter als von Auschwitzinsassen“ oder, gemünzt auf die feministisch wie antifaschistisch engagierte Rocksängerin Jennifer Weist, „Und Jennifer Rostock schwingt nach ’ner Schelle den Kochtopf / Bringt dann die Säcke zum Kompost und blowt den prächtigen Bosscock“. Schon Anfang 2018 hatte Farid Bang im gemeinsam mit Fler aufgenommenen Song AMG nach demselben Prinzip gerappt: „Aus dem Lamborghini zieh’ ich diese Carolin in den Jeep / Und die alte Bitch wird im Wald gefickt wie Aborigines / (…) / Fick Alice Schwarzer mit ’ner Horde schwarzer Alis.“ Schon klar, Gangster- und Battle-Rap lebt von phatten Egos, vom rhetorischen Wettstreit und der größtmöglichen verbalen Schmähung der Kontrahenten, was zu einer endlosen Spirale an sich steigernden Geschmacklosigkeiten führt, bis hin zu menschenfeindlichen Beschimpfungen und Vergewaltigungsfantasien. Die moralische Entrüstung der Öffentlichkeit und hip-hop-ferner Prominenter, die man nicht mag und eben schnell mal übelst mitgedisst hat, ist für die Rapper ein wünschenswerter Begleiteffekt.
Gerade im Hip-Hop sind die Grenzen zwischen rhetorischem Spiel und ernsthaftem Ausdruck einer persönlichen Haltung fließend: Über die Frage, ob Kollegah oder sein Kollege Haftbefehl tatsächlich judenfeindlich gesinnt seien, ob hinter sexistischer Rhetorik, Rape-Lines und „Schwuchtel“-Schmähungen tatsächlich tief empfundene Misogynie und Homophobie stehen, gehen die Meinungen regelmäßig auseinander – zu undurchsichtig-bauernschlau sind das lyrische Rollenspiel und die Öffentlichkeitsarbeit der führenden Genrevertreter. In der Szene lassen sich Gangsterrapper mit ihren überbordenden Song-Egos als die Härtesten, die Krassesten, ja, die Authentischsten feiern – der bestürzten Öffentlichkeit gegenüber aber erklärt man, nachdem man die ersten Entrüstungswellen genossen und gefeiert hat, dass doch alles bloß ein derber Spaß sei. Ein ergänzender feister Verweis auf die Freiheit der Kunst darf selten fehlen. Verteidiger besagter Gangsterrapper verharmlosen gern oder feiern deren Respektlosigkeit als Selbstbehauptungsstrategie – wenn gar nichts mehr hilft, bemühen sie das romantische Bild von rappenden Straßenreportern, die ihren harten Alltag und gesellschaftliche Befindlichkeiten widerspiegeln. Auch seien doch Subversion und Provokation schon immer Markenzeichen, wenn nicht Gütesigeel von Pop gewesen. Medien wie die „Frankfurter Rundschau“ dagegen beklagen den „strukturellen Antisemitismus und Sexismus im Gangsta-Rap“ und sehen im „einheimische Rap nur die Avantgarde einer neuen Rhetorik der Selbstbehauptung, die sich als Hass-Kommunikation in den sozialen Medien breitgemacht und längst auch im Deutschen Bundestag eine Bühne gefunden hat.“ Wo Pop in den Sixties bis Nineties meist gegen die Unterdrückung von Minderheiten und für eine freiere, gerechtere Gesellschaft provozierte, wird heute gegen genau diese Errungenschaften und gegen „political correctness“ polemisiert. Die eher links orientierte Rap-Gruppe Antilopen Gang vergleicht Kollegah sogar mit einem faschistischen Agitator.
Fragwürdige Songs verkaufen sich wie geschnitten Brot – und keiner merkt es
Aber nun zu zwei Entwicklungen der letzten Jahre, die diese Echo-Verleihung wieder eindrucksvoll ins Bewusstsein gebracht hat. Erstens: Unappetitlich bis fragwürdig kontroverse Songs verkaufen sich in Deutschland wie geschnitten Brot. Und zweitens: Ein großer Teil der Öffentlichkeit bekommt davon gar nichts mit – weil dieser große Teil der Öffentlichkeit am ehesten Radio hört und dort meistens ganz andere Musik gespielt wird. Noch einmal zum Mitschreiben: Kollegah und Farid Bang, Rap-Kollegen wie Haftbefehl und Bushido, aber auch Bands wie die Böhsen Onkelz und Frei.wild stehen immer wieder wegen sexistischer und homophober, rassistischer, antisemitischer oder nationalistischer Songelemente in der Kritik. Sie laufen so gut wie nie in Funk und Fernsehen – und sind trotzdem extrem erfolgreich. Der „Echo“-Musikpreis legt jedes Jahr ungewollt den Finger in diese Wunde: Denn er zeichnet nicht etwa herausragende künstlerische Leistungen aus, sondern die Künstler mit den höchsten Verkaufszahlen. Zwar sorgen Fachjurys in den einzelnen Kategorien noch für die eine oder andere Akzentverschiebung, aber nominiert wird nur, wer die meisten Einheiten eines Werkes abgesetzt hat. Und das sind eben immer wieder Acts wie die oben genannten. Fast jedes neue Album der führenden Gangsterrapper und ihrer männerbündlerisch-nationalistisch tönenden Rockkollegen erklimmt unbemerkt binnen kürzester Zeit die Spitze der Offiziellen Deutschen Charts. Die Offiziellen Deutschen Charts, das sind laut Website „die einzig repräsentativen und vom Bundesverband Musikindustrie e.V. lizenzierten Musik-Charts für Deutschland. Sie bilden das ab, was Deutschland hört, streamt, downloadet und kauft. Ermittelt werden sie von GfK Entertainment.“
Zugespitzt kann man sagen: Wir haben es mit zwei Parallelwelten zu tun. Auf der einen Seite die öffentlich ausgestrahlte Musik des gesellschaftlichen Mainstreams zwischen Schlager, Achtziger-, Klassikrock und Klassik-Radio, die den (Arbeits-)Alltag vieler Menschen durchdringt, dazu die eine oder andere geschmäcklerische Abend- oder Wochenendspezialsendung für fortgeschrittene „music lovers“ – und auf der anderen Seite der nicht minder erfolgreiche kontroverse Kram, den „die Kids“ und eingeschworene Szenen hören, wenn sie unter sich sind. Ich erinnere mich an Prä-Internetzeiten, in denen vieles von dem, was in den Verkaufscharts oben rangierte, auch „on air“ zu hören war und gerade deshalb gekauft wurde: Das Radio bot damals ein weitaus größeres Spektrum, es vermittelte zwischen Künstlern und Fans. Heute dagegen scheinen das Radio und die Airplay Charts eine eigene Welt zu repräsentieren, die mit dem, was „da draußen“ gekauft und privat gehört wird, nur noch in Teilen zu tun hat …
Formatradio-Charts vs. Verkaufscharts, Oldschool Media vs. Social Media
Dafür gibt es verschiedene Erklärungen. Eine liefert der Jugendschutz, der dafür sorgt, dass Umstrittenes gar nicht oder nur zu späten Sendezeiten ausgestrahlt werden darf. Einen umstrittenen Song beispielsweise von Bushido tagsüber zu spielen, kann also juristischen Ärger für den Sender bedeuten. Kein Wunder, dass sich die Programme auf Unproblematisches konzentrieren. Hinzu kommt, dass die meisten Radiosender heute ein ganz spezielles Profil entwickelt haben und ihr Programm dementprechend ausrichten – um eine größtmögliche Zielgruppe samt Marketingeffekt zu erreichen. Die Rede ist von Genresendern, vor allem aber vom Formatradio, das seit den 1980er Jahren mit dem Siegeszug der Privatsender immer größere Bedeutung gewonnen hat. Kennzeichen dieses Formatradios sind die Spezialisierung auf einzelne, meist angenehme, gängige Genres für verschiedene Alters- und Fangruppen, die Orientierung an potenziellen Werbekunden und eine begrenzte Zahl an „rotierenden“ Titeln. Kritiker sprechen abschätzig von „Dudelfunk“. Das schließt Sendungen zu den Offiziellen Deutschen Charts nicht aus, aber dann werden eben auch nur solche Titel aus den Offiziellen Deutschen Charts gespielt, die zum jeweiligen gefälligen „Format“ des Senders passen. Konkret: Ein Schlagersender greift sich aus den Verkaufscharts natürlich nur den neuen Hit von Helene Fischer heraus – und nicht den Nummer-eins-Disstrack von Kollegah. Die Folge: Wo das Radio früher Hits noch wirklich „machte“, spielt es sie heute nur noch. Das wirklich kontroverse Zeug aber hat längst andere Kanäle gefunden.
Welche Kanäle das sind, darüber herrscht unter Experten Einigkeit: das Internet und die sozialen Medien. Dort kommunizieren die Künstler intensiv mit ihren Fans. Und weil es immer schwieriger wird, Aufmerksamkeit zu erregen, dreht sich die „künstlerische“ Eskalationsspirale immer schneller. Facebook, Youtube, Instagram: Je extremer die Posts, desto erfolgreichler die Künstler, Grenzüberschreitung als Marketingstrategie. Wer am effektivsten provoziert und schockiert, vielleicht sogar auf dem Index der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien zu landen droht, setzt besonders viele Einheiten eines Songs oder Albums ab. Und wird dann beim „Echo“-Spektakel dafür ausgezeichnet. Weil vor ein paar Jahren hervorragende Verkaufszahlen plötzlich die fragwürdige Band Frei.wild in die „Echo“-Nominierungslisten spülte, wurde flugs ein Ethikrat gegründet, der über die Nominierung entscheiden sollte. Auch wegen Protesten anderer Musiker wurden Frei.wild damals wieder ausgeladen. 2018 nun ließen Kollegah und Farid Bang den „Echo“-Ethikrat erneut zusammenkommen – und wurden letztlich als unbedenklich zugelassen. Prompt gewannen sie in ihrer Kategorie den Preis. Bands wie die Toten Hosen und jüdische Verbände protestierten scharf.
„Echo“: Fluch und Segen zugleich
Die „Echo“-Preisverleihung ist Fluch und Segen zugleich. Fluch, weil sie auf die eklatante Kluft zwischen Radiocharts und Verkaufscharts aufmerksam macht, künstlerisch Herausragendes schon von Struktur und Anlage her ignoriert und im schlimmsten Fall wirklich fragwürdige Musiker auszeichnet, beinahe auszeichnen muss. Segen, weil sie die erschreckende Beliebtheit grenzwertiger Songs in Deutschland offenbart und die dringend notwendige Diskussion darüber anstößt. Denn das bloße Sanktionieren und Ausgrenzen der betreffenden „Künstler“ bringt letztlich nichts, wie nicht nur „Spiegel Online“ feststellt. Dass der „Echo“-Ethikrat Kollegah und Farid Bang zuließ und sie in ihrem scheinheiligen Pochen auf künstlerische Freiheit bestätigte, ist in meinen Augen eine Fehlentscheidung, und das hat nichts mit Zensurwahn zu tun. Aber dass der Ethikrat überhaupt zusammenkam und die empörten Reaktionen auf die Preisverleihung die Rapper in die Defensive zwangen, hat mir gefallen. Genauer hinhören, engagiert diskutieren und fragwürdige Musiker mit ihren fragwürdigen Songinhalten öffentlich konfrontieren, das ist der Weg. Das öffnet vielleicht auch einigen „Konsumenten“ die Augen: Extremes Dissing im Hip-Hop mag einst innovativ, undergroundig, pure Lust am Skandal oder eine legitime Verarbeitung sozialer Benachteiligung gewesen sein – heute aber ist es oftmals nicht nur zum Selbstzweck verkommen, sondern spiegelt mitunter auch zynisch echte in der Gesellschaft vorhandene niedere Emotionen und Ressentimens wider. Solche Haltungen sind ebenso wie sektiererische Blut- und Boden-Romantik problematische Erscheinungen, die mit keinem Positivpreis der Welt belohnt werden können.
Was erschreckend viele Menschen in die Parlamente wählen, muss noch lange nicht politisch wertvoll sein
Das heißt: Ein Mindestmaß an Kriterien für künstlerische Qualität und ethische Korrektheit müsste der „Echo“ seinen Preisverleihungen schon zugrunde legen. Dumpfes Dissen und nationalistische Gesänge gehören eben nicht dazu, und sollten die Verkaufszahlen auch noch so hoch sein. Dass diese Verkaufszahlen so hoch sind, bleibt natürlich genauso ein Problem wie der Erfolg rechtspopulistischer politischer Parteien, die sich vor allem über Ausgrenzung und überkommene Männer- und Frauenbilder definieren. Auch hier gilt: Was erschreckend viele Menschen in die Parlamente wählen, muss noch lange nicht politisch wertvoll sein. Auf fatale Weise passen die umstrittenen Bands eben doch in diese turbulenten Zeiten mit ihrem konservativen Backlash, ihren Fake News, ihrer sozialen Kälte, ihren durchgeknallten Staatslenkern und „white collar crimes“, der gnadenlosen Interessenvertretung durch Super-Egos und der Unterdrückung, ja Verhöhnung von Schwächeren. Dafür sollten neue Lösungen gefunden werden, die nicht mit Zensur zu verwechseln sind. Nein, es geht um Aufklärung, um Diskussion, um mutige Konfrontation, um die klare Botschaft, dass unsere demokratische Gesellschaft bestimmte Dinge nicht duldet. Hier ein paar Lösungsvorschläge:
– Rügen statt indizieren: Klar, Straftatbestände müssen verfolgt und sanktioniert werden. Aber was nützen Verbote in der Grauzone zwischen Überschreitung von Geschmacksgrenzen und tatsächlicher „hate music“ – erst recht wenn alles im Internet frei verfügbar ist? Wären offizielle Rügen – vergleichbar den Rügen des Presserats – vielleicht ein Instrument für Organisationen wie die Bundesprüfstelle, die verschiedene Fallgruppen für Grenzverletzungen entwickelt hat? Möglicherweise in Zusammenarbeit mit dem Kulturrat, der eintritt für die Freiheit der Kunst, für gute Kulturpolitik, für Bildung, Werte, Integration? – Mehr öffentliche Debatte: Der Echo-Ethikrat ist grundsätzlich ein guter Schritt. Wichtig sind auch kritische Veranstaltungen wie die Hip-Hop-Konferenz „Sex Money Respect“, die 2017 in Frankfurt am Main stattfand. Und wünschenswert wäre eine intensivierte Öffentlichkeitsarbeit der beteiligten Akteure. All das würde aufmerksam machen auf Problemlagen und signalisieren: Die Gesellschaft hört nicht weg! – Wächterpreis der Musikpresse: Die Stiftung „Freiheit der Presse“ vergibt regelmäßig den Wächterpreis der Tagespresse an „couragierte Reporter“, die in „Wahrnehmung von staatsbürgerlichen Rechten“ Missstände aufdecken – unter den vielen Themen sind auch Fundamentalismus, Rassismus und Rechtsradikalismus. Was, wenn auch die Musikpresse häufiger als bisher nicht nur über die tollsten, coolsten, spektakulärsten Bands und Interpreten berichten würde, sondern auch über grenzwertige Künstler, antidemokratische Subkulturen, problematische kulturelle Strömungen? Ein Branchenpreis könnte motivierend wirken.
– Ein durchlässigeres Formatradio: Gegen schlechten Hip-Hop hilft nur guter Hip-Hop, heißt es hin und wieder in Szenekreisen. Allgemeiner gesagt: Gegen schlechte, fragwürdige Musik hilft nur gute, engagierte Musik. Und die sollte auch im Radio wieder stärker vertreten sein, nicht nur auf kaum beachteten Sendeplatznischen. Zumal auch engagierter Songs nicht selten so etwas wie Hitpotenzial haben. Natürlich spielt auch das Formatradio gute Musik, ich höre selber gern und viel Formatradio. Aber es ist in der Regel das Gefällige und Geschmäcklerische. Was spricht dagegen, in vorsichtigen Dosen auch Conscious und Queer Rap, politischen Rock oder intelligente Dance-Musik, kurz: unterrepräsentierte Qualitätsmusik, ins Tages-Formatprogramm zu integrieren? – Negativpreise: Die Musikbranche überschlägt sich vor Positivauszeichnungen. Wo aber bleiben die – mahnenden oder augenzwinkernden – Negativpreise, wie man sie aus der Filmindustrie und anderen Branchen kennt? Nicht nur für die schlechteste Musikproduktion, sondern auch für den fragwürdigsten, den geschmacklosesten Song? – Dumpfe Songbotschaften konterkarieren: Schwule Mädchen von Fettes Brot, Hengstin von Jennifer Rostock, Rap-Parodien von Jan Böhmermann oder Carolin Kebekus – es gibt gute Rap-Songs, die hirnlose Hip-Hopper mit ihren eigenen Waffen schlagen. Ich wünsche mir mehr davon – und dass diese Produktionen auch im Radio laufen. – Mehr Dialog mit Internetanbietern und Providern: Sie sind es, die fragwürdige Songinhalte unkontrolliert zirkulieren lassen. Es wäre ein Dialog, in den sich Musikindustrie und Musikpresse mit eigenen Akzenten einschalten könnten. – Gesellschaft besser, gerechter machen: Es klang bereits an: Vielleicht kriegt ja jede Gesellschaft die Songs, die sie verdient. Daraus lässt sich die zuspitzende These ableiten: Bessere, gerechtere Gesellschaft – bessere Musik. Beziehungsweise: Bessere Gesellschaft – weniger „hate music“.
Sexuelle Übergriffe bis hin zu Vergewaltgungen sind das Reizthema der Stunde, kaum jemanden lässt es kalt. Die Täter nicht und erst recht nicht die überwiegend weiblichen Opfer. In immer größerer Zahl melden sie sich in den sozialen Medien zu Wort. Warum die Betroffenen erst nach Jahrzehnten an die Öffentlichkeit gehen? Weil sie damals irritiert waren, die Vorfälle nur schwer einzuordnen wussten. Weil sie irgendwo zum Stillhalten erzogen, die Männer- und Frauenrollen andere waren. Weil ihnen nur wenige Menschen geglaubt hätten – und weil selbst Frauen als Komplizen der Männer beschwichtigend abwiegelten.
Wie anders die Gesellschaft beispielsweise vor gut 50 Jahren getickt haben muss, lässt sich schwer formulieren, erst recht nicht in ein paar wenigen Zeilen. Aber ich bin der Meinung, dass beispielsweise Songs immer auch ihre Zeit widerspiegeln. Und kürzlich bin ich in ganz anderem Zusammenhang auf ein bizarres altes Skandalstück gestoßen, das ich mit Blick auf die aktuelle Debatte um sexuelle Belästigung hochinteressant finde: Laila, das umstrittene Ein-Hit-Wunder der holländischen Kapelle Regento Stars. Grundlage ist ein Tango-Lied von Joachim Dauber und Georg von Breda, das seinerseits auf Leila (mit „ei“) basiert, einem Stück von Adolf Dauber und Fritz Löhner-Beda, geschrieben 1928. Im Original will einer „heute Nacht“ seine Leila endlich wiederseh’n, ihre „schlanken braunen Glieder seh’n“. Und er bittet sie: „Für diese Nacht erwähle mich, küsse mich, quäle mich!“ – nicht mehr und nicht weniger. Das ganze Setting bleibt unbestimmt. In der Version von Joachim Dauber und Georg von Breda wird daraus ein liebeskranker Legionär, der eine weitere Nacht mit seiner Lieblingsprostituierten verbringen will: „In der magisch hellen Tropennacht / Vor dem Frauenhaus in Algiers / Hat ein dunkles Auge angelacht / Den armen bleichen Legionär / Und das Auge hat ihn toll gemacht / Vor dem Frauenhaus in Algiers / Und es klingt ein heißes Liebeslied / Sterbend, müd und weich.“ Es folgt der altbekannte Refrain: „Laila, heute Nacht will ich dich wiederseh’n / Laila, deine schlanken braunen Glieder seh’n …“ Was für eine triefende Seemanns- und Rotlichtromantik.
Aber: Schlimmer geht immer. Denn 1960 treten also die Regento Stars auf den Plan. Sie nehmen den Song in Amsterdam als Debüt-Single für das kleine Label Tivoli auf und landen in der Heimat einen Überraschungshit. Vertreter der Firma Philips stoßen erstmals im Raum Aachen auf die Platte, „wo Grenzjäger das ‚Laila’-Lied als attraktives Souvenir einer Hollandfahrt in die Bundesrepublik einschmuggelten“, wie es in Medienberichten heißt. Philips übernimmt Laila ins deutsche Programm und manövriert sich damit in einen Skandal. Denn als wären die bekannten Lyrics nicht schon bescheuert genug, wird in einer gesprochenen Passage auch noch ein fremder Liedtext verwurstet, nämlich der zum „Romantischen Tango“ Stellen sie sich vor, ich bin ein wilder Räuber. Autor: Peter Igelhoff. Der Fairness halber muss man konstatieren: Auch Igelhoffs Lyrics sind schon nicht ohne. Aber sie werden ironisch-süffisant, fast schon satirisch präsentiert. Da trifft ein Mann auf weiter Flur, in der Natur, eine Frau, die nur vielleicht wie er auf der Suche nach Abenteuern ist. Seine Ansprache im Refrain ist, vorsichtig gesagt, offensiv: „Stellen Sie sich vor, ich bin ein wilder Räuber“, heißt es da, „Und Sie gehen nachts allein im Wald! / Stellen Sie sich vor, ich raub’ auch schöne Weiber / Wird es Ihnen da nicht heiß und kalt? / Stellen Sie sich vor, ich ruf’ jetzt: ‚Hände hoch!’, / Und ich küss’ Sie tausendmal und mehr!“ Au weia. Natürlich will der Sprecher sein Publikum mit dieser fiktiven Geschichte belustigen und auf etwas Bestimmtes hinaus – auf einen augenzwinkernden Kommentar zu den Männern seiner Zeit: „Hätten Sie nicht gern, wenn die Herrn / Doch ein wenig wilder wär’n? / Ein kleiner Schuss von Räuberblut / Denk’ ich, tät’ jeder Dame gut!“ Aus heutiger Sicht aber irritiert, wie spaßig-nett hier ein sexueller Übergriff verkauft wird.
Und dann langen die Regento Stars hin. In ihrer Laila-Version greift Sänger Bruno Majcherek Igelhoffs Text auf und kommt schnell zur Sache. Gleich nach dem ersten Refrain gibt er den radebrechenden Conferencier, beginnt mit der wilden Räubermär – und gibt ihr schon nach wenigen Zeilen einen seltsamen neuen Dreh, ganz und gar nicht süffisant, sondern bestens gelaunt, in Herrenwitz-Manier: „Stellen Sie sich vor, meine Damen und Herren, ich wär einen wilden Räuber. Stellen Sie sich vor, Sie liefen ganz allein rum im Wald, ich tät rufen von ‚Hände hoch, oder ich schieße sie!’ Wäre das nicht wunderbar? Fühlen Sie jetzt, meine Herren, dass die Damen vollkommen willenlos sind geworden, denn bei der zweiten Strophe hat sich schon eine ganze Menge junge Damen in dem Sekt- und Schnapstrinken verschluckt …“ Und dann geht’s weiter mit dem Legionär, der einmal mehr heißblütig fleht: „Küsse mich, quäle mich!“ Es ist eine krude Collage aus Anzüglichkeiten: Angriffe auf einsame Frauen oder Paare im Wald; vor allem Frauen, die den sexuellen Übergriff am Ende auch noch prickelnd finden; Legionäre, die sich nach Sex mit einer Prostituierten sehnen; und – last but not least – ein unappetitlich vielsagender Hinweis an die Herren im Publikum: Die berauschten Damen an ihrer Seite seien inzwischen willenlos geworden. Was soll denn das bedeuten? „Nehmt euch, was ihr kriegen könnt“, oder was?
Wer genau hier spricht, bleibt unklar. Denn offenbar wurden gleich mehrere Ichs zusammengeworfen, eine einheitliche Stimme ist nicht zu vernehmen. UfaTon-Verlagsleiter Rudolf Förster sagte damals: „Weder der Text noch die Musik, noch das Arrangement, noch die Aufnahme, noch die Interpretation sind richtig. An dieser Platte stimmt nichts, außer, daß sie rund ist und schwarz.“ Und doch sind die Lyrics, vorsichtig gesagt, befremdlich. Ja, Laila von den Regento Stars eckte auf jeden Fall wegen seiner sexuellen Anspielungen an. Interessant aber ist die damalige Bewertung, die sich vor allem an der mutmaßlichen Freizügigkeit der Schilderungen und an der unziemlichen Beziehung der Protagonisten rieb. „Besonders die Springer-Presse schäumte, und auch die Moralwächter aus Kirche und Gesellschaft waren bereits hochrot angelaufen: Wie kann man die Liebe zu einer Hure besingen?“, fasst Gerhard Roese 2009 in seinem „Blog.wortwechsler.de“ zusammen. „Zumal in ‚primitiver, anstößiger Weise’, wie die BILD-Zeitung ihrer Bauarbeiterklientel ins Ohr blies.“ Im Essayband Musik & Zensur heißt es in Anspielung auf das vermeintlich Sinnenfrohe des Liedes: „Ein Schlager der 50er wurde zum Gassenhauer, gerade weil er im Namen der wirtschaftswunderlichen Prüderie und Lustfeindlichkeit zensiert wurde.“ Angeblich sei „das Blut der Saubermänner und -frauen zu arg in Wallung“ geraten, spekuliert der Text weiter und: „Die Entrüstung der Presse- und Rundfunkkritiker schlug solche Wogen, dass die Philips in einer Presse-Verlautbarung mit der Begründung, es handele sich bei Laila um einen ‚Scherzartikel’, von ihrem Produkt abrücken musste.“
Die Folgen lagen auf der Hand: Deutsche Rundfunksender weigerten sich, die Platte zu spielen, und zeitweise war das Lied hierzulande verboten, vom Streit um Tantieme-Ansprüche verschiedener Urheber ganz zu schweigen. Was aus heutiger Sicht aber immer noch verblüfft, ist die Tatsache, dass sich seinerzeit nur wenige Kritiker an der offensiven sexuellen Belästigung störten, die im Text zelebriert wird – an der Beschwörung willenloser junger Frauen, die offenbar nur auf Überfälle warteten, um sich hemmungslos hinzugeben. Der Song sagt viel über das gesellschaftliche Klima um 1960 – über schlimme Frauenbilder und Prüderie, über Doppelmoral und Verharmlosung. Zu verklemmten Wirtschaftswunderzeiten mögen sich schmierige Möchtegern-Charmeure jovial gegenseitig auf die Schultern geklopft und etliche Damen verschämt Beifall geklatscht haben. Heute aber stünde so ein Unsinn als sexistisches Machwerk am Pranger, erst recht in den sozialen Medien. Zum Beispiel unter dem Hashtag #aufschrei oder #metoo.
https://vimeo.com/225693795
Nachklapp: Ein Jahrzehnt später traten die sexuelle Revolution, Rock- und Gegenkultur ihren Siegeszug an. Gerade im Hard- und Heavy-Rock aber wurden aus der bombastischen Auswalzung klassischer Blues-Muster nicht etwa Befreiungshymnem, sondern häufig schwülstige Gitarrenepen, in denen Macho-Gepose und merkwürdige Texte über Frauen und Sex Standard waren. So singen Manowar in Pleasure Slave, einem wahllos herausgegriffenen Song aus den Achtzigerjahren: „She is waiting to kiss my hand / But she will wait for my command / My chains and collar brought her to her knees / She now is free to please / Woman, be my slave / That’s your reason to live / Woman, be my slave / The greatest gift I can give.“ Klar, alles nur Spaß und Dumme-Jungs-Spielchen, kleine bizarre Rollen-Experimente, wie die Band in Interviews gern betonte. Als bloßen Jungs-Spaß hat ja auch Donald Trump seinen „Grab em by the pussy“-Spruch abgetan. Aber was wir Trump nicht glauben, brauchen wir auch Manowar nicht glauben. Liefert Pleasure Slave nicht vielleicht doch einen Einblick in die Psyche der Musiker? In jedem Fall ist auch dieser Song Ausdruck einer bestimmten Szene mit einer bestimmten Haltung und vielleicht sogar Spiegel seiner Zeit. Wie man solche blödsinnigen Lyrics ohne Satire-Anspruch schreiben und vortragen kann, habe ich nie verstanden – ebensowenig wie die Tatsache, dass selbst ein Teil des weiblichen Publikums schier verrückt nach solchen Songs und Musikern ist.
Große Freude: Mein Buch I Don’t Like Mondays– Die 66 größten Songmissverständnisse findet dank des unermüdlichen Einsatzes meines Agenten und Promoters Günther Wildner reges Interesse. Ein Kapitel darin heißt „Frauenfeindlichkeit geht anders“ und beschäftigt sich unter anderem mit dem Beatles-Song Run for Your Life. Der Sprecher des Songs, ein unberechenbarer, eifersüchtiger Mann, droht seiner Partnerin, sie aufzuspüren und umzubringen, sollte er sie je mit einem anderen Kerl erwischen: „Well, I’d rather see you dead, little girl / Than to be with another man.“ Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass der Liebesrasende seiner Angebeteten da drastische Worte an den Kopf wirft. Weshalb der Song, erschienen 1965, vor allem von feministischen Kreisen als misogyn, als frauenfeindlich, gebrandmarkt wurde.
Dass ich das in der Tat für ein Songmissverständnis halte, habe ich in meinem Buch mit folgenden Argumenten untermauert. Erstens: Es ist ein Lovesong, ein Genresong, der wie viele andere Lovesongs um das Thema Eifersucht kreist und daher auch negative Gefühle wie Wut und Rachegedanken zum Ausdruck bringt. Zweitens: Es spricht eine Art Rollen-Ich, wie man es auch in vielen Songs von Frauen über untreue Männer oder über Nebenbuhlerinnen findet. Man denke nur an Kelis, die die Sprecherin ihres Songs I Hate You Right Now dem Lover androhen lässt, seinen Truck in die Luft zu sprengen, oder auch an Norah Jones, die in Miriam einer Konkurrentin an den Kopf wirft: „I’m gonna smile when I take your life.“ Niemand käme auf die Idee, diesen Songs Männerhass zu unterstellen. Drittens: Die Beatles spiegeln in ihren Songs die unterschiedlichsten menschlichen Gefühle wider, weshalb es in ihrem Repertoire auch die zärtlichsten Liebeslieder, ja wahre Hymnen auf Frauen gibt. Und viertens muss man den Song im Gesamtkontxet des Phänomens „The Beatles“ sehen: Zu keinem Zeitpunkt ihrer Karriere sind John, Paul, George & Ringo als misogyne Dumpfbacken aufgefallen. Im Gegenteil: Sie stehen noch heute für Kreativität, Fantasie, für Love & Peace und andere eher angenehme Dinge im Leben.
Pop lebt von Momentaufnahmen und Schlaglichtern, von Anspielungen und Zitaten – so borgte sich John Lennon den Vers „I’d rather see you dead, little girl“ aus dem Elvis-Song Baby Let’s Play House und drehte die emotionale Schraube noch etwas weiter. Mit demselben Ansatz drehten Frauen wie Nancy Sinatra in ihrer Coverversion von Run for Your Life den Geschlechterspieß einfach um. So dass plötzlich eine eifersüchtige Liebende einen jungen Mann bedrohte: „I’d rather see you dead, little boy …“
Überraschenderweise wiederholt sich die Geschichte nun mit Dein Lied, einem neuen Song der Chemnitzer Band Kraftklub. Es ist eine langsame, getragene Bombastballade, die einen Verlassenen über das Ende einer Beziehung sinnieren lässt. Gefasst und reif klingt dieser gebeutelte Mann in den Strophen, sagt, es sei nun mal so, die Erde drehe sich weiter – und ganz nebenbei erfährt man, dass die Geliebte nun mit seinem besten Freund zusammen ist. Au Backe. Unvermittelt folgt eine ganz konkrete Erinnerung: „Du hast doch ständig gesagt: ,Schreib mir mal ein Lied! / Einfach so, um mir zu zeigen, wie sehr du mich liebst.’“ Bei der anschließenden Ankündigung beschleicht einen eine Ahnung: „Na, dann dreh mal die Anlage auf, geh raus auf den Balkon / Breit die Arme aus und sing zu deinem Song: …“ Tja, und was dann im Refrain folgt, hat in der Szene schon für Aufregung gesorgt. Es sind die Zeilen „Du verdammte Hure, das ist dein Lied / Dein Lied ganz allein.“ Ziemlich starker Tobak, der in der zweiten Strophe und dem zweiten Refrain noch einmal durchgespielt wird und der Band den Vorwurf der Frauenfeindlichkeit eingehandelt hat. Zumal der Begriff „Hure“ gern in Proll- und Gangsterrap-Kreisen und dort gern auch aufrichtig verächtlich gebraucht wird.
Ganz klar: Ich respektiere die Kritik und solche Empfindungen, denn es ist eine provokante Gratwanderung, die Kraftklub da vollziehen. Aber auch hier nehme ich die Band in Schutz, und zwar mit fast denselben Argumenten wie bei den Beatles. Kraftklub sind bisher überhaupt nicht durch misogyne oder anderweitig arschlochhafte Anwandlungen aufgefallen. Im Gegenteil: Sie stehen für einen frischen, energiegeladenen Rap-Rock, der ungemein sprachgewandt und schlagfertig die unterschiedlichsten menschlichen Gefühle beschreibt, Szeneklischees und Musikerkollegen auf die Schippe nimmt, Dumpfbackenmentalität entlarvt, sogar das Leben als erfolgreiche Band hinterfragt und bei alldem nicht mit Selbstironie geizt. Dein Lied macht fast schon altersweise deutlich, dass hinter allen Versuchen, eine Trennung würdevoll und erwachsen über die Bühne zu bringen, doch meist ein maßloses Verletztsein und eine ungeheure Wut stehen. Die Beschimpfung der Verflossenen als „Hure“ bildet als Zitat aus dem Ganster-Rap den größtmöglichen Kontrast zu hypersensiblen, fast allzu versöhnlichen Strophenversen wie: „Wichtig ist, gut auseinanderzugeh’n / Du hast einfach immer recht / Und wichtig ist auch, beide Seiten zu seh’n / War ja auch nicht alles schlecht / Da muss keiner leiden, nur weil wir uns streiten / Das lässt sich ja vermeiden / Keiner der Freunde muss sich entscheiden / Zwischen uns beiden / Wir sind nicht mehr dreizehn.“ Es sind unterschiedliche sprachliche Codes und Gefühlslagen, die hier ganz bewusst aufeinander losgelassen werden. So wie die balladenhaften Strophen mit einem fast schon opernhaften Megaschlager-Refrain samt Großorchester kollidieren. Wenn hier Trennungsschmerz als gaaaaaanz, gaaaaaanz großes Kino mit seltsamen Brüchen inszeniert wird, kann man bei dem eher dämlich herausgeschmetterten „Du Hure“ auch durchaus ins Schmunzeln kommen. Auf solche irritierenden Wirkungen zielt das Lied.
Das Video zu Dein Lied, in dem hinter der Band und dem Orchester genüsslich das Markenzeichen von Kraftklub, ein großes K, abgefackelt wird, wurde ebenfalls kritisiert, wegen angeblicher Nazifarbsymbolik. Auch das ist in meinen Augen völliger Unsinn. Es dominieren Rot/Schwarz (vergleiche Bühnenoutfits von Kraftwerk) und das Blau des gigantischen Buchstabens K, und ich kenne kaum eine Band, die mal eben so die Zerstörung ihres eigenen Logos zelebrieren würde. Ist das nicht vielmehr wieder Selbstironie? Kraftklub malen hier übertrieben Schwarz-Weiß, und sie tun es ganz bewusst. Der falschen Idealisierung (der Geliebten/der Band), der selbstverleugnenden Gefühlsduselei keine Chance! Und kann eine Gruppe, die in einem anderen neuen Song, nämlich Fenster, rechten Wutbürgern selbstbewusst rät: „Spring aus dem Fenster für mich / Du kannst was erreichen“, wirklich primitiv misogyn und gemein sein? „SPIEGEL Online“ lobt denn auch das neue Kraftklub-Album Keine Nacht für niemand als Befreiung von Indie-Zwängen, als „libertäres Aufbäumen, ein Feiern von Exzess und Ausgelassenheit, gegen den Drang zu Selbstoptimierung, den Zwang zur Fitness, die Ächtung von Rauchern“. Frontmann Felix Brummer wird mit den Worten zitiert: „Wir denken uns Geschichten aus. Und wenn wir die Perspektive des gebrochenen Ex-Freundes faszinierend finden, dann finden wir die halt faszinierend. Na klar ist das politisch unkorrekt, aber es ist nachvollziehbar, stark und spannend. Finden wir.“ Weshalb es die Band mit Sicherheit auch großartig fände, wenn eine Frauencombo auf den Plan treten würde, um Dein Lied ganz im Stile Nancy Sinatras einer gendertechnischen Bearbeitung zu unterziehen.
„Feindliche Übernahme“ heißt ein weiteres Kapitel in meinem Buch über Songmissverständnisse. Darin geht es auch um den Ärzte-Song Männer sind Schweine. Das Stück, das unter anderem schwanzgesteuerte Aufreißer-Prolls kritisiert, wurde den Künstlern regelrecht weggenommen und mutierte zum Macho-Mitgrölhit am Ballermann. Nicht auszudenken, wenn ganze Cliquen angetrunkener Prolls auf Parties, auf der Wiesn oder bei Konzerten nun auch euphorisiert den Kraftklub-Refrain „Du Hure, das ist dein Lied“ durch die Gegend brüllen. Mit diesem unangenehmen Effekt muss die Band zumindest rechnen. Es sei denn, sie erwartet einen selbstentlarvenden Effekt – oder hat schon längst eine andere Strategie, wie sie eine solche feindliche Übernahme verhindert.
Aktuelle Buchveröffentlichung: I Don’t Like Mondays – Die 66 größten Songmissverständnisse,
224 Seiten, THEISS,
19,90 Euro