This song is (not) your song

Wie Lady Gaga beim „Super Bowl“ Donald Trump diskret den Marsch blies

Nur ganz selten haben Songs so wie Bob Dylans Hurricane unmittelbar Einfluss auf das politische Geschehen: Das 1975 eingespielte Stück thematisierte den Fall des wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilten schwarzen Ex-Boxers Rubin „Hurricane“ Carter. Minutiös deckten damals Dylans Lyrics die Schwachstellen der Anklage auf und untermauerten die These vom rassistisch motivierten Fehlurteil. Der Erfolg des Songs führte zu einer Neuaufnahme der Ermittlungen und – in dritter Instanz – zum Freispruch Carters. Respekt! In der Regel aber haben politische Songs natürlich nur eine indirekte Wirkung, ihre Kraft entfaltet sich eher auf der symbolischen Ebene: indem sie konkrete Haltungen formulieren, Stimmungen untermauern, den Soundtrack einer bestimmten Bewegung bilden. Und natürlich spielen dabei oftmals Andeutungen, Zuspitzungen und ein Augenzwinkern eine große Rolle.

Insofern gebührt Lady Gaga, der amerikanischen Pop-Ikone mit Superstarstatus, großes Lob. Denn beim „Super Bowl“, dem weltweit übertragenen Meisterschaftsfinale der US-American-Football-Profis, nutzte sie Anfang Februar 2017 die Halbzeitshow nicht nur für ein Medley ihrer eigenen Hits, sondern auch für ein musikalisch cleveres politisches Statement. In einer kurzen, aber prägnanten Anfangssequenz spannte sie einen Bogen von Irving Berlins patriotischer Hymne God Bless America (1918) zum sogenannten „Pledge of Allegiance“, dem Treuegelöbnis gegenüber Amerika, und platzierte dazwischen ein paar Verse aus Woody Guthries Folk-Klassiker This Land Is Your Land. Wer flüchtig hinhörte, konnte, selbst bei tiefstpatriotischer oder gar fremdenfeindlicher Gesinnung, nichts wirklich Irritierendes heraushören und die Show genießen. Doch wer genauer hinhörte, entdeckte interessante Zusammenhänge, die es in sich hatten. Wenn man so will, stand Berlins God Bless America für Trumps protektionistisches Credo „America first!“, während gerade die Schlussworte des „Pledge of Alliance“ – „one nation under God, indivisible, with liberty and justice for all” – eben jenen Donald Trump daran erinnerten, Freiheit und Gerechtigkeit gegenüber ALLEN Menschen walten zu lassen. Subtext: „Der von dir verhängte Einreisestopp für Muslime, Herr Präsident, ist gegen uramerikanische Werte.“

Das dazwischengeschaltete This Land Is Your Land von Woody Guthrie untermauert diese Lesart, weil es 1940 auch als bittere Replik auf Berlins God Bless America entstanden war. Einen Anstoß für den Song bildeten damals die inneramerikanischen Wirtschaftsflüchtlinge aus der von Dürre geplagten „Dust Bowl“, etwa aus Oklahoma, die an der amerikanischen Westküste alles andere als begeistert aufgenommen wurden. Diese ablehnende Haltung gegenüber Flüchtlingen zeigte Guthrie, einem ausdrücklich im linken politischen Spektrum angesiedelten Sänger, dass Amerika eben kein „land that’s free“, kein „land so fair“ war, wie Berlin es formuliert hatte. Interessant sind die verschiedenen Versionen, in denen das Lied existiert. So besteht, aus welchem Grund auch immer, die berühmte 1947 eingespielte Fassung nur aus drei Strophen. Und diese preisen ausschließlich die Schönheit Amerikas beziehungsweise seine positiven Seiten. Zum Beispiel: „This land is your land, this land is my land / From California to the New York island / From the red wood forest to the Gulf Stream waters / This land was made for you and me.“ Diese Fassung wurde zu so etwas wie einer inoffiziellen Nationalhymne.

Es gibt aber auch eine 1944 eingespielte Fassung, die weitere Strophen enthält – und in diesen Strophen formuliert Guthrie beißende Sozialkritik. Zum Beispiel geht es um Menschen, die hungernd vor dem Sozialamt stehen („I seen my people as they stood there hungry“), was die fassungslose Frage provoziert: „Is this land made for you and me?“ Ein so schönes, großes Land wie Amerika, so lässt sich interpretieren, sollte eigentlich frei von Ausgrenzung sein und jedem Menschen ein gutes Leben ermöglichen. Eine Schande, dass es hier Menschen gibt, die nichts zu essen haben. In einer weiteren Strophe kommt das Song-Ich auf seiner Reise durch Amerika an ein Schild mit der Aufschrift „Betreten verboten“. Es folgt der messerscharfe Schluss: Wer von der anderen Seite auf das Schild zuläuft, für den gibt es keine Beschränkungen – und das, so der Text, solle doch für alle gelten: „As I went walking I saw a sign there / And on the sign it said ‚No Trespassing’ / But on the other side it didn’t say nothing / That side was made for you and me.“ Diese Argumentation wird schließlich – Achtung! – mit dem Bild einer großen Mauer wiederholt: „There was a big high wall there that tried to stop me / The sign was painted, it said private property / But on the back side it didn’t say nothing / That side was made for you and me.“ Wer da gerade in der heutigen Zeit mal nicht an Trumps Pläne für eine Grenzmauer zu Mexiko denkt…

Natürlich konnte Lady Gaga This Land Is Your Land ausgerechnet beim Super Bowl nicht mit den sozialkritischen Strophen singen, es hätte das Event gesprengt. Aber der Kontext, in den sie das Lied im Rahmen ihrer Halbzeitpausen-Show einbettete, sprach Bände. Zwischen den Zeilen kamen Fragen auf: Kann ein Lied, das die Schönheit eines riesigen Landes besingt und obendrein betont, dass dieses riesige Land einfach allen Menschen gehöre, auch von allen Menschen gesungen werden? Die unausgesprochene Antwort: Wohl eher nicht. Denn wenn ein solches Lied von Anhängern der unterschwellig rassistisch und antisozial argumentierenden amerikanischen Tea-Party-Bewegung angestimmt wird oder den Soundtrack zu Veranstaltungen der ultrakonservativen National Organization for Marriages bildet, die gegen die gleichgeschlechtliche Ehe agitiert, dann ist das ein Widerspruch in sich. Zeilen wie „This land was made for you and me“ klingen dann angesichts der sie begleitenden Ausgrenzungsrhetorik einfach nur zynisch. Und sie passen auch überhaupt nicht zu einer menschenfeindlichen Haltung, wie ein Präsident Donald Trump sie 2017 an den Tag legt.

Es ist bezeichnend, dass der Song 2009 bei der Inaugurationsfeier des Demokraten Barack Obama im Vortrag durch Bruce Springsteen, Folk-Urgestein Pete Seeger und andere auch mit sozialkritischen Passagen erklingen durfte. In ultrareaktionären Kontexten werden diese Passagen in der Regel geflissentlich ignoriert. Lady Gaga ließ sie ebenfalls weg, brachte sie aber kurz nach der Inauguration Trumps indirekt ins Spiel und wies damit subtil auch auf die dramatische Spaltung der amerikanischen Gesellschaft hin. Anschließend stürzte sie sich theatralisch von der Tribüne. Pop at ist best!

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Woody Guthries This Land Is Your Land ist auch ein Thema in meinem Mitte März bei THEISS erschienenden Buch I Don’t Like Mondays – Die 66 größten Songmissverständnisse

 

Hauptsache berühmt

Aufreger des Jahres: Kanye Wests Famous-Coup featuring Taylor Swift und Donald Trump

 

Keine Frage, das Jahr 2016 wird als besonderes Jahr in die Musikgeschichte eingehen. Von David Bowie bis Prince, von George Martin bis Leonard Cohen – wohl in keinem anderen Jahr sind so viele Superstars gestorben. Gleichzeitig ist 2016 das Jahr, in dem mit Bob Dylan zum ersten Mal überhaupt ein Singer-Songwriter den Literaturnobelpreis erhalten hat. Aber 2016 kam auch eins der seltsamsten künstlerischen Statements der jüngeren Musikgeschichte heraus. Die Rede ist von Famous, einem Song und einem Video des amerikanischen Rappers Kanye West.

Es gibt mehrere Wege, sich dem Famous-Phänomen zu nähern. Zum Beispiel den über Taylor Swift, die in Song und Video prominent „platziert“ wird. Taylor Swift ist jenes ehemalige Country-Talent, das sich innerhalb weniger Jahre zum internationalen Superstar gemausert hat – heute ist sie in etwa so berühmt wie Lady Gaga und Madonna. Und sie hat so etwas wie ein Markenzeichen entwickelt: Sie geht nicht nur mit etlichen berühmten Musikern und Schauspielern aus, sie kokettiert damit auch in ihren Songs. So war es um 2014 fast schon so weit gekommen, dass Medien ihre zukünftigen Liebhaber ironisch zur Vorsicht mahnten – sonst würden sie womöglich in einem Song der Künstlerin landen. Frei nach dem Motto „Got a long list of ex lovers“ (Zitat aus dem Swift-Song Blank Space, 2014) listen Klatschportale und Musikmagazine mal 10, mal 15, mal 21 Swift-Songs auf, die von ganz konkreten Beziehungen und Affären handeln sollen, wenn auch gern versehen mit dem Hinweis, dass manches nur auf Spekulationen und Beobachtungen beruhe.

Es sind freilich Spekulationen und Beobachtungen, die Taylor Swift oftmals selbst befeuert hat: etwa indem sie zu bestimmten Zeitpunkten entprechende Songs veröffentlichte, gern auch unter Nennung von Vornamen in den Lyrics, oder indem sie Andeutungen und vieldeutige Songzeilen twitterte. Harry Styles von der Boygroup One Direction, Songwriter John Mayer, Schauspieler Jake Gyllenhaal und sein Kollege Taylor Lautner sind nur einige von vielen smarten Herren, die Swift auf die eine oder andere Weise in ihren Songs verwurstet haben soll.

Bei so viel direkter und indirekter Promi-Verarbeitung durch die Künstlerin blieb natürlich lange Zeit eine Frage offen: Wann dreht endlich jemand den Spieß mal um? Wann ist jemand so frei, seinerseits Taylor Swift in einem Song zu „droppen“? Womit wir zu den denkwürdigen Auftritten von Kanye West kommen. Der Rapper, der gemeinsam mit seiner Frau Kim Kardashian so etwas wie „Die Geissens“ des amerikanischen Hip-Hop verkörpert, sorgte 2016, wie schon angedeutet, mit einer rustikalen Swift-Anspielung in seinem Track Famous für einen handfesten Skandal. Um diesen strategischen „move“ zu verstehen, muss man aber noch einmal in die Vergangenheit zurückgehen. Denn er war der Gipfel einer medienwirksamen Fehde, die sich schon einige Jahre lang hingezogen hatte und die beiden Seiten – bei aller öffentlich zur Schau gestellten Wut, Enttäuschung und Angriffslust – „ruhmmäßig“ bestens bekommen war.

„I made that bitch famous“: Kanye Wests unerwartet kunstvoller Kommentar zu Taylor Swift und zum Thema Ruhm

Alles fing an mit den MTV Video Music Awards 2009. Damals hatte der Clip zu Taylor Swifts Song You Belong With Me die Auszeichnung als „Best Female Video“ erhalten, weshalb die überglückliche Künstlerin auf die Bühne gebeten wurde. Doch mitten in ihre Dankesrede platzte Kanye West, riss das Mikro an sich und tat dem überraschten Publikum kund, dass für ihn das ebenfalls nominierte Video zum Song Single Ladies von Beyoncé eins der besten Videos aller Zeiten sei. West wurde umgehend ausgebuht, doch das schadete ihm erstaunlicherweise überhaupt nicht. Im Gegenteil: Jetzt kannte man seinen Namen. Und dass sogar US-Präsident Barack Obama persönlich ihn einen „jackass“, einen „dummen Esel, nannte, dürfte er als Adelung von höchster Stelle empfunden haben.

In der Folge gab der Rüpelrapper den Reumütigen, entschuldigte sich auf den unterschiedlichsten Kanälen und ließ 2010 auch den Swift-Song Innocent über sich ergehen, aus dem Kritiker jede Menge Anspielungen auf den unrühmlichen Vorfall heraushörten. Und so schien die Sache Ende 2010 erledigt. Doch dann polterte West in einem Interview los, das Swift-Album Fearless sei aktuell zu Unrecht mit einem Grammy ausgezeichnet worden, und seine spektakuläre Einlage bei den MTV Music Awards 2009 hätte doch eine gewisse Berechtigung gehabt. Dabei ließ er nicht unerwähnt, dass exakt dieser Skandalauftritt Swift 100 Magazin-Titelbilder und Millionenverkäufe ihrer Alben beschert habe. Eigentlich, so die Botschaft zwischen den Zeilen, habe er, Kanye West, sie erst richtig berühmt gemacht.

Das war starker Tobak. Doch Taylor Swift blieb einmal mehr verhältnismäßig entspannt und hatte sogar die Größe, Kanye West bei den Video Music Awards im August 2015 den „Michael Jackson Video Vanguard Award“ zu überreichen – wobei man sich allmählich fragen durfte, warum die Konflikte der beiden Stars in schöner Regelmäßigkeit rund um irgendwelche publicityträchtigen Preisverleihungen entbrannten. Aber egal. Im Frühjahr 2016 jedenfalls stellte West sein neues Album Life of Pablo vor, und besonders der etwas wirre Track Famous hatte es in sich: Da beteuert eine von Superstar Rihanna „verkörperte“ Frau, dass sie ihren Kerl liebe, aber verstehen könne, dass er frei sein wolle, während ein von Kanye West impersonierter Sprecher nicht nur seinen Ruhm feiert, sondern all die Frauen, die er „hatte“. Die aber seien neidisch, weil sie nicht berühmt seien und nur irgendwelche erfolglosen Männer an ihrer Seite hätten. Hm, waren das die im Hip-Hop üblichen Prahlereien und Männer-/Frauen-Dialoge? Nur bedingt. Denn gleich am Anfang fallen die explosiven Verse: „For all my Southside niggas that know me best / I feel like me and Taylor might still have sex / Why? I made that bitch famous / Goddamn, I made that bitch famous.“ Zu Deutsch: „An all meine Southside-Leute, die mich am besten kennen / Ich hab das Gefühl, ich und Taylor könnten immer noch Sex haben / Warum? Ich habe die Schlampe berühmt gemacht / Gottverdammt, ich habe die Schlampe berühmt gemacht.“ Das knüpfte natürlich direkt an die alte Interview-Äußerung an, West habe Swift 100 Magazin-Titelbilder und Millionenverkäufe beschert.

Von da an wurde es unübersichtlich. Nicht nur aus dem Swift-Lager kam der Vorwurf, diese Verse gingen dann doch etwas zu weit. Woraufhin West konterte, er hätte mit Swift im Vorfeld der Veröffentlichung gesprochen, und diese hätte sich erfreut darüber gezeigt, dass er sie in einem Song erwähnen wolle – sogar so erfreut, dass sie die Passage explizit genehmigt hätte. Was wiederum Swift zu der Einlassung bewog, sie habe lediglich die Zeile „I feel like me and Taylor might still have sex“ genehmigt – die beleidigende Fortführung „Why? I made that bitch famous“ habe West ihr vorenthalten. Bis Juni 2016 flogen Anschuldigungen und Rechtfertigungen hin und her, wobei Kanye West etwas heuchlerisch darauf hinwies, dass der Begriff „bitch“ im Hip-Hop doch durchaus ein positiv besetzter Begriff, also ein Kompliment sei. Und just als die Fehde langsam abzuflauen schien, ereigneten sich – na so was! – zwei weitere Eskalationsstufen: Erstens überraschte Wests treu sorgende Ehefrau Kim Kardashian, ihrerseits TV-Star, Modeunternehmerin und Dauerthema in der Klatschpresse, die Öffentlichkeit mit der Information, dass ein Mitschnitt des Gesprächs existierte, in dem Swift die umstrittenen Verse aus dem West-Song Famous genehmigt hatte – ein absoluter Affront, der zudem die heikle Frage aufwarf, ob das heimlich Mitschneiden eines Gesprächs überhaupt rechtens gewesen sei. Zweitens veröffentlichte Kanye West am 24. Juni 2016 mit dem Video zum Track Famous den seltsamsten Clip der jüngeren Musikgeschichte. Seltsamst deshalb, weil der von einem Sonnenuntergang und einem Sonnenaufgang umrahmte Hauptteil des 10:37 Minuten langen Streifens aus langsamen, immer wieder Details fokussierenden Kamerafahrten über eine Reihe nackter Menschen besteht, die mal mehr, mal weniger von Laken bedeckt nebeneinander auf einem gigantischen Bett schlafen.

Bildschirmfoto Kanye West, "Famous", vom Videoportal vevo

Bildschirmfoto Kanye West, „Famous“, vom Videoportal vevo

Was neben der provozierenden Ereignislosigkeit und der nicht gerade hochauflösenden Bildqualität an diesem Video irritiert: Bei den schlafenden Nackten handelt es sich nicht etwa um namenlose Models, sondern durchweg um amerikanische Prominente, um „famous people“ sozusagen, aus Politik, Unterhaltung und Kultur. So werden die Republikaner George W. Bush und Donald Trump, „Vogue“-Chefredakteurin Anna Wintour, die Popstars Rihanna und Chris Bown, Kim Kardashians rappender Exmann Ray J, Kanye Wests Exfreundin und Model Amber Rose, die ehemalige Goldmedaillengewinnerin im Zehnkampf und heutige Transsexuelle Caitlyn Jenner sowie Komiker Bill Cosby gezeigt. Mittendrin liegt Kanye West, flankiert von seiner Frau Kim Kardashian und, na wem wohl, Taylor Swift! Sie ist barbusig! Ihr Gesicht ist Kanye West zugewandt, der sich wiederum von ihr ab- und Kim Kardashian zuzuwenden scheint! Krrrrass! Was für ein spektakulärer Effekt – dem bald Erläuterungen und eine gewisse Erleichterung folgen sollten. Denn natürlich sind die im Clip gezeigten Promis nicht echt. Außer bei Kanye West, der am Ende des zentralen Teils den Kopf in die Kamera dreht und die Augen öffnet, und vielleicht noch seiner Gattin handelt es sich bei allen Personen um Wachsfiguren.

Es kam, wie es kommen musste: Heftige Wortgefechte erschütterten Fans und Medien. Bis die Fehde, man kannte inzwischen den Rhythmus aus Hochkochen- und Abkühlenlassen, irgendwann Ende 2016 einmal mehr im Sand verlief. Da stellt sich aus heutiger Sicht natürlich die Frage: Illegal mitgeschnittene Gespräche, Zurschaustellung von Nacktskulpturen – warum hat Taylor Swift ihren Widersacher Kanye West nie verklagt? Und warum haben sich auch die anderen im Famous-Video gezeigten Promis nicht gegen solch eine buchstäbliche „Bloßstellung“ gewehrt, allen voran der als aufbrausend und nachtragend berüchtigte Donald Trump? Ja, die eine oder andere der gezeigten Berühmtheiten soll „not amused“ gewesen sein, während George W. Bush von einem Sprecher verlauten ließ, er fühle sich schlecht getroffen, der echte Mr. Bush sei viel besser in Schuss als das schlaffe Wachsmodell in dem Video. Aber sonst? Die Antwort könnte lauten: Weil das Ganze letztlich ein großangelegtes Spiel zu sein scheint, bei dem jeder und jede am Ende gerne mitspielt. Genau das ist das Zwingende an diesem sonderbaren Video von Kanye West: Es zeigt einerseits, was Promis und VIPs über sich ergehen lassen müssen – wie sie in der Öffentlichkeit zur Schau gestellt und teilweise sogar entblößt werden; andererseits unterstreicht es, wie Promis und VIPs durch genau dieses Zur-Schau-gestellt-Werden und Sich-selbst-zur-Schau-Stellen profitieren: Es steigert ihren Ruhm ins Unermessliche. Selbst schuld, wer dagegen gerichtlich vorgeht. „Bitte überzieht mich mit Klagen“, soll West rund um die Videopräsentation ebenso selbstironisch wie siegessicher erklärt haben. Er wusste, dass ihm letztlich nichts passieren würde – und dass manch anderer Promi alles dafür gegeben hätte, um in diesem Video „auftreten“ zu dürfen.

Bildschirmfoto Andy Warhols "Sleep" vom Videoportal vimeo

Bildschirmfoto Andy Warhol, „Sleep“, vom Videoportal vimeo

Auch dass die dargestellten Promis nichts anderes als Wachsfiguren sind, gehört zur Aussage: Die Berühmtheiten erscheinen als formbare leere Hüllen, auf die wir, die nicht berühmten Menschen im Publikum, unsere Fantasien, unsere Hoffnungen, unsere Aggressionen projizieren. Die suboptimale Bildqualität unterstreicht den Schlüsselloch-Blick, den voyeuristischen Charakter des Streifens. Hinzu kommt, dass das Video künstlerische Vorlagen zitiert. Da ist zum einen der fast sechs Stunden lange Film Sleep von Andy Warhol aus dem Jahr 1963, der nichts anderes tut, als den Beat-Poeten John Giorno beim Schlafen zu zeigen: Es geht um den Prominenten als gewöhnlichen Menschen, um die Berühmtheit in einer Art Stand-by-Modus, um das Unterlaufen von Zuschauererwartungen, das intensive Wahrnehmen von Zeit und um die Entdeckung minimaler Variationen. Zum anderen bezieht sich das Video auf das 2008 entstandene Gemälde Sleep des Künstlers Vincent Desidorio, der dabei nach eigenen Aussagen an „schlummernde Götter“ gedacht haben will. Und so sind auch die „famous people“ im Video von Kanye West schlummernde Götter, die unter unserer Bewunderung zum Leben erwachen.

Bildschirmfoto Vincent Desidorios "Sleep" auf www.nytimes.com

Bildschirmfoto Vincent Desidorio, „Sleep“, auf www.nytimes.com

Bei all diesen Schlafenden handelt es sich zudem um Prominente mit besonders großem Hang zur Selbstinszenierung, teilweise auch zum Skandal. Sie haben sich sozusagen selbst zu spektakulären medialen Gottheiten gemacht. Die beiden äußerst nachlässig mit der Wahrheit umgehenden Spitzenpolitiker Bush und Trump, von denen Letzterer auch als Immobilien-Tycoon, als TV-Star und nicht zuletzt als polternder Populist für Aufregung sorgte; der unbeherrschte Rapper Chris Rock, der seine damalige Freundin Rihanna geschlagen hatte; sein großspuriger Kollege Kanye West; die Transsexuelle Caitlynn Jenner; die im Bestseller Der Teufel trägt Prada verewigte streitbare Starmacherin Anna Wintour vom „Vogue“-Magazin; oder der in hohem Alter mit Missbrauchsvorwürfen und Sexskandalen konfrontierte Komiker Bill Cosby – fast jede der hier versammelten Persönlichkeiten ist auf irgendeine Weise schon für sich genommen berühmt-berüchtigt. Aber auch im Verbund betrachtet stehen diese Promis für publikumswirksame, den Bekanntheitsgrad steigernde Kontroversen: Ausgerechnet zwei erzkonservative weiße Vertreter des politischen Establishments finden sich in einem Bett mit schwarzen Showgrößen und Transsexuellen wieder; ausgerechnet die verfehdeten Stars Taylor Swift und Kanye West oder das nach häuslicher Gewalt auseinandergegangene Expaar Rihanna/Chris Brown werden unter demselben Laken wiedervereint; ausgerechnet Kim Kardashian, ihr Ex-Lover Ray J und ihr aktueller Lover Kanye West teilen dasselbe Lager – es ist eine extreme Konstellation, die jede Menge Zündstoff birgt. Aus solchem Stoff ist Ruhm gemacht.

Genauer betrachtet erweist sich das Famous-Video als intelligenter Kommentar zu den Mechanismen des Ruhms. Auf der Metaebene beleuchtet der Clip mit cleveren Anspielungen auf künstlerische Vorbilder, wie Medienstartum entstehen kann und was er für alle Beteiligte bedeutet, die Stars ebenso wie ihr Publikum. Dabei schwingt auch etwas von dem Warhol’schen Gedanken mit, dass ein jeder Mensch seine 15 Minuten Ruhm haben kann, wenn er nur genügend präsent ist oder massiv genug behauptet, ein Star zu sein. Kanye West steigert hier seinen Ruhm, indem er sich mit anderen Berühmtheiten umgibt. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem skandalgetriebenen Ruhm, auf den Mechanismen, mit denen man zum Aufmacher in den Boulevardmedien wird.

Famous ist ein feines kleines Stück Gegenwartskunst. Und betrachtet man Song und Video speziell mit Blick auf Taylor Swift, dann macht Kanye West nicht nur das mit der Künstlerin, was diese mit berühmten Verflossenen aus dem wirklichen Leben macht, sondern zieht auch die Schraube noch einmal kräftig an. Konkret: Er droppt ihren Namen in einem Song, denkt öffentlichkeitswirksam laut über eine sexuelle Begegnung nach – und legt sie obendrein noch nackt neben sich ins Bett. Am Ende schlägt Kanye West Taylor Swift mit ihren eigenen Waffen. Ein aggressiveres Namedropping als Marketingstrategie ist kaum vorstellbar. Mit irgendwelchen „autobiografischen“ Einblicken in Kanye Wests biografisches Ich hat das nicht im Mindesten zu tun.

Epilog: Trump, West und die Folgen

Bei diesen Bemerkungen könnte man es belassen – wenn nicht am 8. November 2016 Donald Trump völlig unerwartet zum Nachfolger von Barack Obama als Präsident der Vereinigten Staaten gewählt worden wäre. Mit Blick auf den Famous-Coup hatte diese Wahl zwei erstaunliche Konsequenzen: Erstens erwies sich das Video plötzlich als geradezu visionär – denn Trump, zur Entstehungszeit des Videos noch umstrittener Kandidat, hatte durch den Wahlsieg tatsächlich denselben Status wie einst sein „Bettnachbar“ George W. Bush erlangt; zum anderen offenbarte sich Kanye West als Bruder Trumps im Geiste. Im Rahmen seiner Konzerttour Mitte November 2016 wetterte er nämlich plötzlich live von der Bühne gegen seine berühmten Musikerkollegen Jay-Z und Beyoncé, die die demokratische Kandidatin Hillary Clinton unterstützt hatten, und feixte, er sei zwar nicht wählen gegangen, hätte aber für Trump gestimmt – auch wenn er die „Black Lives Matter“-Initiative und andere antirassistische Bewegungen wichtig finde. Begründung: Trumps Kampagne, ihr Ansatz, sei „absolut genial“ gewesen, und sie bringe Rassisten endlich dazu, ihr wahres Gesicht zu zeigen. Trotz des halbherzigen Nachsatzes ein echter Abtörner, denn die unverhohlene Bewunderung für den siegreichen Republikaner und die Ausfälle gegen Beyoncé & Co dominierten. Bei seiner Glorifizierung der Trump’schen Wahlkampfstrategie, die auf größtmögliche Provokation, auf Sexismus, Rassismus und Ausgrenzung, kurz: auf die zynische Missachtung demokratischer Grundwerte zielte, ließ sich West nicht aus dem Konzept bringen, auch nicht von empörten Buhrufen aus dem Publikum. Vielmehr toppte er den Skandal noch mit der schon früher mal gemachten Ankündigung, im Jahr 2020 selbst für das Amt des US-Präsidenten kandidieren zu wollen. Was dem respektlos-cleveren Famous-Schachzug dann endgültig den Glamour nahm. In der Rückschau offenbarten sich plötzlich sämtliche widersprüchlichen, verletzenden Äußerungen und Auftritte Wests als Adaption der Trump’schen Populismus-Strategie ins Musikgeschäft und in den Kunstbetrieb: Austeilen, schädigen, Unsinn verbreiten, Zurücknehmen, Nachlegen, Toppen, und das alles ohne Rücksicht auf Verluste. Hauptsache: Ruhm und Quoten, also größtmöglicher Erfolg. Letztlich ein zweifelhafter Spaß, der unter anderem die Frage aufwirft: Sozial engagiert sein, aber ausgerechnet bei dieser Wahl seine Stimme nicht abgeben und schlussendlich noch Trumps Rhetorik gutheißen – kann das wirklich zusammenpassen? Ein Widerspruch, den der Rapper möglicherweise selbst nicht aushalten konnte. Wenige Tage nach seinen Tiraden auf der Konzertbühne musste er die Tour aus gesundheitlichen Gründen abbrechen und kam in ein Krankenhaus. Zur Beobachtung. Nicht wenige wären erfreut gewesen, hätte man ihn für immer dabehalten.

 

Alles andere als schön – aber unglaublich gut

Sieben Gründe, warum der Literaturnobelpreis für Bob Dylan gerechtfertigt ist

Advertising signs they con
You into thinking you’re the one
That can do what’s never been done
That can win what’s never been won
Meantime life outside goes on
All around you

Bob Dylan, It’s Alright, Ma (I’m Only Bleeding)

Sieben Schönheiten heißt ein Film der in Rom geborenen Regisseurin Lina Wertmüller aus dem Jahr 1976. Er erzählt von einem gestandenen italienischen Macho und Opportunisten, der misstrauisch die Jungfräulichkeit seiner sieben Schwestern bewacht, dann aber während des Zweiten Weltkriegs in deutsche Gefangenschaft gerät und schließlich im KZ landet. Aus purem Überlebenswillen tut er die abscheulichsten Dinge, unter anderem verführt er die grausame KZ-Wärterin und lässt sich zu ihrem Werkzeug machen. Der Film ist alles andere als schön, voll verstörender, entwürdigender Szenen, voll schmutziger Farben und drastischer Schnitte – ich muss sagen: Ich mag ihn nicht. Ich habe den Film seitdem nicht noch einmal gesehen, und ich will ihn auch nicht noch einmal sehen. Nein, Lina Wertmüller ist nicht mein Ding. Und doch muss ich gleichzeitig sagen: Sieben Schönheiten ist ein extrem guter, ein extrem wichtiger Film.

Ähnlich geht es mir mit Bob Dylan. Höre ich ihn singen, rollen sich mir die Fußnägel hoch. Bläst er in seine Mundharmonika, möchte ich schreiend aus dem Zimmer laufen. Etliche seiner Songs empfinde ich als anstrengend bis quälend. Nein, ich bin wirklich kein Bob-Dylan-Freund. Ich mag Bob Dylan einfach nicht. Und weiß gleichzeitig: Der Mann ist gut. Sogar sehr gut. Und eminent wichtig.

Insofern freue ich mich aufrichtig, dass ausgerechnet „Dylan“ – er gehört ja zu den Ikonen, deren Vornamen man im Gespräch eigentlich nicht mehr erwähnt – den Literaturnobelpreis 2016 erhalten hat. Und schüttele den Kopf über missgünstige Fachleute wie Trainspotting-Autor Irvine Welsh, der in den Medien mit den bescheuerten Worten zitiert wird: „Ich bin ein Dylan-Fan, aber dies ist ein schlecht durchdachter Nostalgiepreis, herausgerissen aus den ranzigen Prostatas seniler, sabbernder Hippies.“ Lieber Irvine Welsh: Man muss weder Dylan-Fan noch sabbernder Hippie mit ranziger Prostata sein, um diesen Preis als gerechtfertigt anzuerkennen. Und statt nun alle möglichen Dylan-Songs zu posten, irgendwelche suggestiv-bedeutungsschwangeren Songzeilen zu zitieren oder immer wieder allertiefste Anerkennung zu artikulieren, scheint es mir angebracht, wenigstens kurz ein paar Argumente für die außerordentliche literarische Qualität Bob Dylans zu skizzieren. Hier schon mal sieben Gründe, warum der Literaturnobelpreis gerechtfertigt ist – sieben Schönheiten im übertragenen Sinne:

  1. Bob Dylan gehört zu den wenigen Literaten, die mit einem Text unmittelbar in die Gesellschaft hineinwirkten.      

1975/76, als Lina Wertmüller Sieben Schönheiten drehte, war Dylan bereits ein gefeierter Star und machte mit seiner „Rolling Thunder Review“ Furore, der Tournee mit einer All-Star-Band, zu der auch Joan Baez, Roger McQuinn und Emmylou Harris gehörten. Teil des Programms war der 1975 eingespielte Dylan-Song Hurricane. Der thematisierte den Fall des wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilten schwarzen Ex-Boxers Rubin „Hurricane“ Carter. Minutiös deckten Dylans Lyrics die Schwachstellen der Anklage auf und untermauerten die These vom rassistisch motivierten Fehlurteil. Der Erfolg des Songs führte zu einer Neuaufnahme der Ermittlungen und – in dritter Instanz – zum Freispruch Carters. Welches literarische Werk kann solch eine Wirkung für sich beanspruchen?

  1. Bob Dylan ist ein kreativer Grenzgänger, der nicht nur Genregrenzen, sondern auch literarische Konventionen sprengt.

Was? Ein schnöder Songwriter bekommt den Literaturnobelpreis? Falsch! Dylan ist nicht nur Songwriter, sondern Literat durch und durch. Zusätzlich zu seinen Songs schreibt er Lyrik, die er nicht vertont (berühmt: seine 11 Outlined Epitaphs), aber auch Prosatexte. Damals verschrien, heute ein Szeneklassiker: Sein Prosaband Tarantula, in dem er mit Sprache musiziert und spannende Bezüge zur Tradition der Symbolisten herstellt. Mit selbst verfassten Stücken dieser Art erhob er zudem die Plattenhüllentexte, die sogenannten „liner notes“, zur literarischen Kunstform.

  1. Bob Dylans Lyrics haben Pop- und Rocksongs für literarische Komplexität geöffnet.

Witzig, clever, intelligent und anspruchsvoll waren Songtexte auch schon vor Bob Dylan. Doch mit seinen Songs wurden Lyrics Literatur. Langpoeme von epischem Ausmaß, ungewöhnliche Perspektiven und Darstellungsformen, grandiose Bilder, zentnerschwere Metaphern, Allegorie, Bewusstseinsstrom und dramatische Inszenierung – all das fand sich plötzlich auch im Rock- und Popkontext wieder. Mit Bob Dylan wurde Hippiemusik erwachsen.

  1. Eins von vielen prägenden Dylan’sches Stilmitteln: die Parade mythischer Figuren

Einstein, Nero, Kain und Abel, Ophelia, Romeo, Cinderella – Dylans Song Desolation Row lässt eine Fülle realer und fiktiver Personen und Figuren in einer apokalyptischen Szenerie vor dem geistigen Auge des Hörers vorüberziehen. Ähnlich verfährt der im selben Jahr erschienene Song Highway 61 Revisited. Don McLean griff die innovative Technik 1971 in seinem Song American Pie auf und landete damit einen Welthit. Und auch Bruce Springsteen (Spirit in the Night, 1973) versuchte sich hin und wieder an dieser lyrischen Form. Keiner aber beherrschte sie so verstörend wie der Meister selbst.

  1. Im Spiel mit Texten und Kontexten ist Bob Dylan unschlagbar.

Schon als Interpret traditioneller Folksongs verstand es Dylan, Außenseiterballaden politische Sprengkraft zu verleihen. Es kam darauf an, in welchem Kontext man sie vortrug. Zu Beginn seiner Karriere kanzelten Kritiker seine Songs als mit Musik untermalte Lesegedichte ab – heute feiern Laudatoren die Tatsache, dass Dylan-Texte ohne die Musik nicht denkbar seien. Dasselbe gilt für die stimmliche Interpretation. Bei Livekonzerten versetzt der Künstler immer wieder Fans in Verzückung wie in Rage, indem er seine von Studioaufnahmen bekannten „Hits“ in völlig andere musikalische Arrangements kleidet, sie völlig anders intoniert und so nicht nur mit Erwartungen bricht, sondern auch neue Bedeutungsebenen erschließt. Nicht selten verändert er dabei spontan auch einzelne Verse und Strophen – als Reaktion auf aktuelle Anlässe. Dass Texte in verschiedenen musikalischen und gesellschaftlichen Kontexten Anlass zu reizvollen Spielen bieten, versteht kaum jemand so gut wie Dylan. Er nutzt Möglichkeiten, die reine Printautoren nicht haben.

  1. Dylan – integrer Künstler in einer globalisierten Medienwelt

Literaten heute sind mehr als nur Textlieferanten oder Stimmen ihrer Generation. Literaten heute sind auch Medienpersönlichkeiten, hin und her gerissen zwischen Selbstverwirklichung und den Ansprüchen Dritter, immer in Gefahr, vereinnahmt oder gestürzt zu werden. Bob Dylan gehört zu den wenigen Künstlern, die in diesem gefährlichen Spannungsfeld absolut integer, autark und letztlich ungreifbar geblieben sind. Von Anfang an hat er sich vor keinen Karren spannen lassen, stets noch rechtzeitig die nächste Wende vollzogen, sich immer wieder neu erfunden. Obwohl schon 75, gibt er immer noch wenig von sich preis – bleibt nach wie vor rätselhaft. Die reale Person hinter den Songs und Texten ist komplett abgeschirmt, Fragen nach Authentizität stellt man ihm nicht mehr. Sein Werk steht für sich. Dylan besitzt die volle Kontrolle über seine Medien-Persona, das intelligente Katz-und-Maus-Spiel mit Publikum und Kritik hat er als einer der Ersten seiner Ära zur künstlerischen Strategie erhoben. Todd Haynes hat diese Strategie in seinem Kinofilm I’m Not There auf wunderbare Weise reflektiert. Da wird Dylan gleich von mehreren Schauspielstars verkörpert, unter anderem von Cate Blanchett. So weit muss man es als Künstler erst mal bringen.

  1. Bob Dylan gehört zu den versiertesten Autoren unserer Zeit – mit generationenübergreifender, weltweiter Wirkung.

Verfasser hintergründiger Folk- und Bluessongs. Autor engagierter Protestsongs. Song-Auteur. Symbolist. Singer-Songwriter und Rocker. Christlicher Liedermacher. Postmodernist. Traditionalist. Seismograph gesellschaftlicher Stimmungen … Stillstand kann man vielen Künstlern vorwerfen, nicht aber Bob Dylan. Er hat einen erstaunlichen literarischen Weg hinter sich gebracht, eine immense Vielfalt poetischer Ausdrucksformen verinnerlicht und dabei immer wieder die Grundfragen der menschlichen Existenz behandelt. Dass er damit ein Millionenpublikum rund um den Globus erreicht und begeistert, hat er vielen anderen Topliteraten voraus. Noch immer ruft jedes neue Dylan-Album Heerscharen von Deutern auf den Plan. Zurzeit schaut die Welt einmal mehr besorgt auf die Vereinigten Staaten und zwei umstrittene, angeschlagene Präsidentschaftskandidaten, die sich in einem schmutzigen Wahlkampf gegenseitig zerfleischen. Gerade vor diesem Hintergrund wirkt Dylan als Botschafter eines anderen Amerikas: eines Amerikas, das Menschen- und Bürgerrechte respektiert, Demokratie lebt, andere Kulturen wertschätzt und sich weltpolitisch nicht wie die Axt im Walde geriert.

Es sind Schönheiten wie diese, die Bob Dylan schon vor Ewigkeiten haben zum Gegenstand des akademischen Diskurses werden lassen. In den 1970er Jahren hatte ich an der Uni das Glück, mich wissenschaftlich nicht nur mit Shakespeare und Goethe, sondern auch mit Pop- und Rocklyrik beschäftigen zu dürfen. Und ich verschweige nicht, dass ich Dylan dabei gern auch mal außen vor gelassen hätte. Doch man kam einfach nicht um ihn herum. Eine wissenschaftliche Arbeit über Songlyrik ohne Bob-Dylan-Kapitel? Wäre bei den Profs glatt durchgefallen! Die Fülle an Sekundärliteratur, die es heute zu Dylans Œvre gibt, dürfte so manchen ambitionierten Autor vor Neid erblassen lassen. Insofern läuft auch die Kritik, da habe irgendein Rocksänger völlig ungerechtfertigt die höchsten Weihen erfahren, absolut ins Leere. Im Gegenteil: Es wurde mal Zeit. Dylan hat sich schon im letzten Jahrtausend einen festen Platz im Kanon der amerikanischen Literatur erarbeitet. So wie auch Rock und Pop längst unseren Alltag durchdringen und bis in die sogenannte Hochkultur hineinwirken. Schön, dass dieses Phänomen 2016 gewürdigt wird. Und was könnte dafür passender sein als der Literaturnobelpreis?

 

 

 

 

Be-bop-a-hulapalu…: Ein Song von Andreas Gabalier sorgt für gemischte Gefühle

Schrecken und Erleichterung können so nah beieinanderliegen: In Frankfurt wollte ein Mann in den Tod springen, o weh. Doch dann rettete ihm ein Polizist das Leben – und zwar mit einem Lied. Fast wie „Last night a DJ saved my life“, nur in echt. Der Gesang des geistesgegenwärtigen Beamten lenkte den Selbstmordkandidaten ab, so dass weitere Einsatzkräfte sich nähern und den Mann vom Fenstersims ziehen konnten.

Uffz, gerade noch mal gutgegangen!

Doch was genau hat der clevere Polizist spontan gesungen? Zum Glück nicht Jump von Van Halen, das wäre sicher kontraproduktiv gewesen. Genauso wie Jump (For My Love) von den fabulösen Pointer Sisters oder Down Down, Deeper and Down von Status Quo. Nein, er stimmte Hulapalu an, den aktuellen Oktoberfest-Hit von „Volks-Rock-’n’-Roller“ Andreas Gabalier.

Der Song für sich genommen hat durchaus einen witzigen Dreh: Denn er zitiert die alten rock-’n’-roll-typischen lautmalerischen Ekstase-Codes und kommentiert sie gleichzeitig. In dem Song geht es um eine wilde Partynacht, in der sich zwei Menschen näherkommen. Und wenn sie IHM „Hulapalu“ ins Ohr haucht, dann klingen natürlich nicht nur Gene Vincents doppeldeutig schmachtende Seufzer aus „Be-bop-a-lula (She’s my baby … She’s the one that gives more, more, more“) aus dem Jahr 1956 an, sondern auch ferne, weichgespülte Echos wie Peter Maffays „Tabaluga“ und „Amaluna“, ein Programm des Fantasy-Artistik-Projekts Cirque du Soleil. Das Witzige: Statt die Wortschöpfung einfach nur in den Raum zu stellen und für sich stehen zu lassen, wird sie augenzwinkernd von Gabalier thematisiert: „Wos is denn Hulapalu, wos gehört denn dazu?“, fragt der Sprecher im Song, „Macht ma beim Hulapalu vielleicht die Augen zu?“ Oder: „Wos is denn Hulapalu, sog mir, wo kommt des her? Wie schreibt ma Hulapalu, wos is des bittesehr?“ Ähnliches mögen sich entsetzte Eltern der späten 1950er auch bei Gene Vincents verführerischem Hit gefragt haben. Gabalier greift die alte Frage auf, und seine heutige Antwort spricht das damals Unaussprechliche aus – sie trifft genau den Kern dessen, worum es schon zu Gene Vincents Zeiten ging: „I glaub nur, Hulapalu is net ganz jugendfrei…“

So weit, so hintersinnig. Auch die Musik dazu geht in Kopf und Beine: Helene-Fischer-, Atemlos-mäßig und auch etwas „Ballermann“-like. Keine schlechte Wahl des Polizisten also, möchte man meinen. Zumal Andreas Gabalier nicht nur seinen Vater, sondern auch seine Schwester durch Suizid verloren hat. Dass der Star jetzt indirekt einem Selbstmordkandidaten das Leben rettete – ein starker Trost gleich in mehrfacher Hinsicht.

bildschirmfoto-2016-09-28-um-00-10-45Und doch hat die schöne Geschichte einen faden Beigeschmack. Denn Andreas Gabalier ist trotz unzähliger Fans und gefeierter Auftritte in der TV-Show „Sing meinen Song“ nicht unumstritten. Was an der Verbindung aus altem Rock ’n’ Roll amerikanischer Prägung, zeitgemäßem Schlager und Volksmusik innovativ sein könnte, unterwandert der Künstler selbst durch seltsame Texte über Heimat und Männer-Kameradschaft, über „eiserne Kreuze“ und über die Allianz zwischen Deutschen, Italienern und Japanern (der Zweite Weltkrieg lässt ganz, ganz leise grüßen) – sowie durch Plattencover, denen von Kritikern schon mal eine Leni-Riefenstahl-Ästhetik unterstellt wurde. Würden so etwas die Wildecker Herzbuben machen? Eine ewiggestrige und letztlich harmlose Volksmusik, die die Natur und die Liebe besingt, ist das eine – moderne Crossover-Musik, in die sich unangenehme Ambivalenzen und Anspielungen mischen, das andere. Mit der Aufmüpfigkeit des Rock ’n‘ Roll hat Letztere auch nicht unbedingt zu tun.

Natürlich, anders als etwa Frei.Wild tritt Andreas Gabalier nicht offen kontrovers in Erscheinung, sondern feiert seine Themen und sorgt so für positive Stimmung. Doch mit der vermeintlichen Belanglosigkeit, im Sog der Gute-Laune-Musik könnte unterschwellig auch reaktionäres Gedankengut transportiert werden. „Weil es nichts gibt, gegen das angegangen würde, keine offensichtliche Hetze, sondern ‚nur’ pseudonaives Bejubeln von Berg-Alm-Wiesen-Buabn-Dirndl-Seligkeit“, resümierte die „taz“ schon im Juli 2014, „wurde Gabaliers ernst gemeinte Blut-und-Boden-Terminologie bisher geflissentlich übersehen.“

Warum nun ausgerechnet ein Polizist spontan einen Gabalier-Song aus dem Zauberkasten holt, möchte ich hier nicht weiter hinterfragen – es wäre arg spekulativ und würde sicher auch dem beherzten Retter unrecht tun, der hier immerhin dazu beigetragen hat, einen Menschen vom Suizid abzuhalten. Aber dass ausgerechnet in Zeiten von AfD und Pegida auch Künstler wie Frei.Wild oder Andreas Gabalier zu Stars werden und dass Letzterer vom nicht ganz verschwörungstheoriefreien Xavier Naidoo in dessen Show „Sing meinen Song“ eingeladen wurde, gibt hin und wieder zu denken.

 

Spiel mir das Lied von der beleidigten Leberwurst

Noch mehr Senf zum Thema Böhmermann

„Wer spricht im Song?“, so lautet die Frage hinter vielen Einträgen in diesem Blog. Aus gegebenem Anlass möchte ich sie hier einmal abwandeln in: „Wer spricht in Böhmermanns Erdogan-Satire?“ Wer sich mit Kunst, mit Literatur, mit Medien beschäftigt, kann diese Frage verhältnismäßig leicht beantworten: Es ist nicht die Privatperson Jan Böhmermann. Es ist der „Entertainer Jan Böhmermann“, der „Satiriker Jan Böhmermann“, die Medienpersona Jan Böhmermann. „Böhmermann“ ist der Showmaster, der Performer, der sich eine Bühne zur Unterhaltung und zur Zuspitzung aktueller Themen geschaffen hat und der in dieser Rolle von einem großen Publikum akzeptiert wird.

Dieser Showman greift die weltweit belächelte Kritik des türkischen Präsidenten Recep Erdogan an dem satirischen „Extra 3“-Song Erdowie, Erdowo, Erdogan auf und kündigt dem Staatsmann eine kleine Lektion an: Er wolle Erdogan den Unterschied zwischen erlaubter Kunst und Satire auf der einen und verbotener tatsächlicher Beleidigung auf der anderen Seite erklären. Zu diesem Zweck trägt er ein „Schmähgedicht“ vor, das aus unpersönlicher Sprecherperspektive, also ohne „Ich-Bezug“, die absurdesten, niveaulosesten Behauptungen über den türkischen Präsidenten aneinanderreiht. Damit nimmt die Medienpersona Jan Böhmermann weitere Abgrenzungen zur Privatperson Jan Böhmermann vor. Was in diesem „Schmähgedicht“ konkret gesagt wird, ist eigentlich unerheblich. Denn es ist überdeutlich vom „biografischen Ich“ Jan Böhmermanns abgekoppelt und fast schon penetrant als rechtlich nicht zulässig gekennzeichnet. Die Absicht: Recep Erdogan zu demonstrieren, wann eine Beschwerde seinerseits wirklich gerechtfertigt wäre. Es geht also lediglich um ein simples „Was wäre, wenn?“, und schon von daher ist es absurd, dass die Bundesregierung das von Erdogan geforderte Strafverfahren gegen den Entertainer zulässt.

Aber wenn es nun schon zu einem Verfahren kommt, plädiere ich dafür, in die Beurteilung auch solche ästhetischen Gesichtspunkte einzubeziehen und notfalls Kunst-, Medien- oder Literaturwissenschaftler zu konsultieren. Denn schon öfter hat die Justiz in ähnlich gelagerten Fällen Fehlurteile gefällt, die im Nachhinein glücklicherweise korrigiert wurden. Man denke nur an mehrere Verfahren, in denen Faschismuskritiker, die durchgestrichene, zertrümmerte oder in den Papierkorb geworfene Hakenkreuz-Symbole verbreiteten, ausgerechnet wegen des Zeigens von „Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen“ belangt wurden. In den Revisionen wurde dann dankenswerterweise unter anderem darauf hingewiesen, dass die vermeintlichen Täter eindeutig Antifaschisten seien und dass es sich eigentlich um ein unterstützenswertes bürgerschaftliches Engagement gegen Neonazis handele.

Ähnlich lässt sich letztlich im Fall Böhmermann argumentieren: Die Privatperson Böhmermann ist bisher nicht als politischer Aktivist in Erscheinung getreten und schon gar nicht als Türkeihasser. Im Gegenteil: Die betreffende Satire trägt zur Offenlegung autokratischer, wenn nicht gar diktatorischer Strukturen und zur Verteidigung demokratischer Werte wie Kunst- und Meinungsfreiheit bei, wenn auch mit den allerdrastischsten Mitteln. Insofern kann das Verfahren gegen Böhmermann eigentlich nur mit einem Freispruch enden. Zu hoffen bleibt, was einige positiv denkende Medien bereits als diplomatischen Coup der Kanzlerin feiern: dass gerade die Verteidigung demokratischer Werte gegenüber Erdogan die eigentliche Agenda hinter der Zulassung eines Strafverfahrens ist – dass solchen Attacken auf Meinungs- und Kunsfreiheit, wie sie der türkische Präsident hier fährt, ein für allemal juristisch der Boden entzogen wird; dass Erdogan letztlich mit den eigenen Waffen geschlagen wird, indem der von ihm geforderte Prozess seinen Strafantrag als unbegründet zu den Akten legt.

Und nun zum inoffiziellen Teil – in Form von fünf kurzen Thesen:

1) Alles pillepalle
Schlimm genug, dass dieses gleich mehrfach gebrochene „Schmähgedicht“ so ernst genommen wird. Denn kein vernünftiger Erwachsener würde solche Dinge ernsthaft einem Staatsoberhaupt gegenüber äußern – es handelt sich doch schlicht um allergröbsten Nonsense. Erdogan wirkt in seiner Reaktion auf mich wie Zinedine Zidane, der sich im Fußball-WM-Finale 2006 von Marco Materazzi durch blödsinnig-unflätige Äußerungen über seine Schwester zu einer noch blödsinnigeren Kopfnuss hinreißen ließ. Dieses Macho-Ehren-Gehabe nervt und ist extrem gefährlich, erst recht wenn es politisches Handeln regiert.

2) Der eigentliche Aggressor ist Erdogan
Im Grunde ist für mich Erdogan der Agressor – dazu noch einer, der sich wenig geschickt als Opfer zu inszenieren versucht. Er tritt Menschenrechte und demokratische Werte mit Füßen, provoziert damit Widerspruch und geht dann brutal gegen seine Kritiker vor. Darin ähnelt er Donald Trump, der mit unfassbar menschenfeindlichen Parolen Wahlkampf betreibt und anschließend erschütterte Protestler als Feinde Amerikas hinstellt. Wenn er Gegner bei Wahlkampfveranstaltungen vom Sicherheitspersonal entfernen lässt, bedauert er am Mikrofon noch, dass er leider gezwungen sei, sich politisch korrekt zu verhalten: Wenn er dürfte, wie er wollte, würde er mit seinen Gegnern ganz anders umspringen. Das erledigen dann Fans im Publikum, die unvermittelt Protestler mit den Fäusten niederschlagen, offenbar ohne dafür belangt zu werden. Zu begutachten in diversen erschreckenden Youtube-Videos.

3) Die Bundeskanzlerin hat einen schweren Fehler gemacht
Der Versuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel, den türkische Präsidenten zu beruhigen, mag im Ansatz nachvollziehbar gewesen sein, ging aber gewaltig daneben. Denn statt Verständnis für den Unmut des Kollegen zu äußern und ihn gleichzeitig entschieden auf die nicht verhandelbare Meinungs- und Kunstfreiheit hinzuweisen, hat sie Böhmermanns Beitrag als „bewusst verletzend“ bezeichnet und damit bereits vorverurteilt. Man kann durchaus Vermutungen darüber anstellen, ob Böhmermann bewusst verletzen wollte – als klaren Tatbestand nachweisen kann man es nicht. Merkels Äußerung war eben nicht die harmlose Wahrnehmung des Rechts, auch als Kanzlerin etwas persönlich nicht gut finden zu dürfen, sondern ein offizielles Statement von verheerender politischer Tragweite. Kein Wunder, dass sich Erdogan in seiner verqueren Weltsicht bestätigt sah und Strafantrag stellte. Eine völlig unnötige Zwickmühle, in die die Bundeskanzlerin den Künstler, sich selbst, die Koalition, die Demokratie gebracht hat.

4) Den Beitrag hätte sich Böhmermann sparen sollen
Genauso unnötig war in meinen Augen allerdings Böhmermanns Beitrag selbst. Erstens scheint er mir von der persönlichen Eitelkeit eines Entertainers getrieben, der auf den Erfolgszug des „Extra 3“-Songs aufspringen und das Ganze noch toppen wollte: nicht sehr rühmlich, ein künstlerischer „Move“ mit unangnehmem Beigeschmack. Und zweitens finde ich den Beitrag weder genial noch innovativ, sondern vor allem pubertär. Ähnliches gab es vorher schon in den USA, wie verschiedene Medien aufzeigen, und Statements der Marke „Ich darf ja nicht sagen, dass Sie ein Arschloch sind“ hat man so oder etwas abgeschwächter auch schon von mutigen Pennälern an der einen oder anderen Schule gehört. Böhmermanns simple Strategie erinnert mich außerdem an alte Titelbilder von Satirezeitschriften wie „MAD“ und „TITANIC“, die in großen Lettern ungeheuer provokante Behauptungen aufstellten, nur um in kleinster Typo andere Satzteile dazwischen zu platzieren, so dass sich – als Ganzes gelesen – ein völlig harmloser Zusammenhang ergab. Das Prinzip: Man formuliert eine vordergründige Beleidigung und nimmt sie im selben Atemzug zurück. Wenig originell.

5) Es gibt dennoch ästhetische Grenzen
Die hier vertretene These, dass mit der Trennung zwischen der Privatperson des Autors, seiner Medienpersona und dem Sprecher eines literarischen Textes schon einiges, auch Drastisches, als rechtlich akzeptabel gedeckt ist, heißt nicht, dass beispielsweise auch jeder rechtsradikale Song als rechtlich akzeptabel zu gelten habe. Denn es kommt darauf an, wie die Privatperson im Alltag agiert und wie die Relation zwischen biografischem Ich, Medienpersona und Text gestaltet ist. So ist es völlig in Ordnung, wenn der gefeierte Songwriter Nick Cave in seinen Murder Ballads das Thema Mord auslotet, aber durch die Etablierung unterschiedlichster Perspektiven und Rollen sowie durch balladenhafte Elemente genügend Distanz zu seinem biografischen Ich herstellt, das bekanntlich nichts mit Gewaltexzessen am Hut hat; oder wenn der Kabarettist Georg Schramm seine Bühnenrollen – zum Beispiel den Rentner Dombrowski mit schwarzem Lederhandschuh oder den gestrengen Oberstleutnant Sanftleben – klar herausarbeitet und sie anschließend politisch Unkorrektes sagen lässt. Weil das Publikum den Künstler als grundsätzlich liberal und demokratisch eingestellten Menschen kennt, erkennt es in der Regel auch das Spiel und kann mehr oder weniger entspannt über die unfassbar reaktionären Ansichten dieser Kunstfiguren lachen.

Grenzwertig ist ein Rapper Bushido, der in einem geschmacklosen Song „blonde Opfer so wie Oli Pocher verkloppt“, der „will, dass Serkan Tören jetzt ins Gras beißt“ oder „auf Claudia Roth schießt“: Unsäglich, aber schwer zu belangen, da hier das im Rap übliche „künstlerische“ Prinzip des drastischen Dissens bemüht wird. Die Übertragung dieses Prinzips von Rapkonkurrenten auf Unterhaltungskünstler und angesehen Politiker ist meines Erachtens lächerlich, misslungen und komplett „falscher Code“ – doch um einen konkreten Aufruf zu schlimmen Straftaten bis hin zum Mord handelt es sich nicht.

Ganz anders dagegen verhält es sich bei Rechtsrockbands: Denn hier herrschen weder Ambivalenz noch Inszenierung: Stattdessen besteht eine größtmögliche Nähe zwischen Privatperson, Medienpersona und Sprecher im Song: Wer im Alltag Kundgebungen von Rechtsradikalen besucht und entsprechende Parolen grölt, wer dazu privat und öffentlich die entsprechenden Klamotten und Symbole trägt, kurz: wer die faschistische Ideologie 24 Stunden am Tag lebt, der meint auch das, was er in rassistischen und antisemitischen Songs auf der Bühne von sich gibt, bitter ernst. Hier greift meines Erachtens eindeutig der Straftatbestand der Volksverhetzung.