„Echo“ oder: Wie man in den Wald hineinruft …

Über den widersprüchlichen Umgang mit fragwürdigen Entertainern und die seltsame Kluft zwischen Verkaufs- und Radiocharts

Ein Gedanke vorweg: Es ist noch nicht lange her, da engagierten findige Filmproduzenten für actiongeladene Reißer wie 4 Blocks und Nur Gott kann mich richten waschechte Gangsterrapper als Schauspieler und Soundtracklieferanten, um sich anschließend regelrecht ergriffen von der eigenen Genialität zu zeigen. Hochkarätig besetzte Fachjurys und das Feuilleton dankten es ihnen mit nicht minder begeisterter Resonanz – lobten neben der unglaublichen Authentizität der Produktionen auch das darstellerische oder das musikalische Potenzial der teilweise vorbestraften Akteure und überschütteten einige der Macher sogar mit Preisen. Gangster und Rapper wurden hier spektakulär inszeniert und auf dem roten Teppich gefeiert. Nun erhalten Kollegah und Farid Bang, zwei aus ähnlichem Holz wie die Straßenschauspieler und Filmsoundtracker geschnitzte Brachialrapper, trotz an Geschmacklosigkeit kaum zu überbietender Songverse den „Echo“-Medienpreis – und alle sind entrüstet. Die Entrüstung teile ich, aber wie passt das zur vorangegangenen Begeisterung der „Kritik“ über die genannten Film- und Fernsehproduktionen? Im Rahmen einer spannend inszenierten Fiktion lässt man sich diesen dämlichen Machokram offenbar gern gefallen, aber so in echt, aus den Boxen und von der Bühne, wirkt er dann doch irgendwie abstoßend, widerlich. Oder nicht?

Dissing: Brachialrhetorik zwischen derbem Spiel und ernsthafter Haltung

Kollegah und Farid Bang wurden beim „Echo“ gleichermaßen angefeindet und „geehrt“ für Songs wie 0815 mit künstlerisch wertvollen Zeilen wie „Und wegen mir sind sie beim Auftritt bewaffnet / Mein Körper definierter als von Auschwitzinsassen“ oder, gemünzt auf die feministisch wie antifaschistisch engagierte Rocksängerin Jennifer Weist, „Und Jennifer Rostock schwingt nach ’ner Schelle den Kochtopf / Bringt dann die Säcke zum Kompost und blowt den prächtigen Bosscock“. Schon Anfang 2018 hatte Farid Bang im gemeinsam mit Fler aufgenommenen Song AMG nach demselben Prinzip gerappt: „Aus dem Lamborghini zieh’ ich diese Carolin in den Jeep / Und die alte Bitch wird im Wald gefickt wie Aborigines / (…) / Fick Alice Schwarzer mit ’ner Horde schwarzer Alis.“ Schon klar, Gangster- und Battle-Rap lebt von phatten Egos, vom rhetorischen Wettstreit und der größtmöglichen verbalen Schmähung der Kontrahenten, was zu einer endlosen Spirale an sich steigernden Geschmacklosigkeiten führt, bis hin zu menschenfeindlichen Beschimpfungen und Vergewaltigungsfantasien. Die moralische Entrüstung der Öffentlichkeit und hip-hop-ferner Prominenter, die man nicht mag und eben schnell mal übelst mitgedisst hat, ist für die Rapper ein wünschenswerter Begleiteffekt.

Gerade im Hip-Hop sind die Grenzen zwischen rhetorischem Spiel und ernsthaftem Ausdruck einer persönlichen Haltung fließend: Über die Frage, ob Kollegah oder sein Kollege Haftbefehl tatsächlich judenfeindlich gesinnt seien, ob hinter sexistischer Rhetorik, Rape-Lines und „Schwuchtel“-Schmähungen tatsächlich tief empfundene Misogynie und Homophobie stehen, gehen die Meinungen regelmäßig auseinander – zu undurchsichtig-bauernschlau sind das lyrische Rollenspiel und die Öffentlichkeitsarbeit der führenden Genrevertreter. In der Szene lassen sich Gangsterrapper mit ihren überbordenden Song-Egos als die Härtesten, die Krassesten, ja, die Authentischsten feiern – der bestürzten Öffentlichkeit gegenüber aber erklärt man, nachdem man die ersten Entrüstungswellen genossen und gefeiert hat, dass doch alles bloß ein derber Spaß sei. Ein ergänzender feister Verweis auf die Freiheit der Kunst darf selten fehlen. Verteidiger besagter Gangsterrapper verharmlosen gern oder feiern deren Respektlosigkeit als Selbstbehauptungsstrategie – wenn gar nichts mehr hilft, bemühen sie das romantische Bild von rappenden Straßenreportern, die ihren harten Alltag und gesellschaftliche Befindlichkeiten widerspiegeln. Auch seien doch Subversion und Provokation schon immer Markenzeichen, wenn nicht Gütesigeel von Pop gewesen. Medien wie die „Frankfurter Rundschau“ dagegen beklagen den „strukturellen Antisemitismus und Sexismus im Gangsta-Rap“ und sehen im „einheimische Rap nur die Avantgarde einer neuen Rhetorik der Selbstbehauptung, die sich als Hass-Kommunikation in den sozialen Medien breitgemacht und längst auch im Deutschen Bundestag eine Bühne gefunden hat.“ Wo Pop in den Sixties bis Nineties meist gegen die Unterdrückung von Minderheiten und für eine freiere, gerechtere Gesellschaft provozierte, wird heute gegen genau diese Errungenschaften und gegen „political correctness“ polemisiert. Die eher links orientierte Rap-Gruppe Antilopen Gang vergleicht Kollegah sogar mit einem faschistischen Agitator.

Fragwürdige Songs verkaufen sich wie geschnitten Brot – und keiner merkt es

Aber nun zu zwei Entwicklungen der letzten Jahre, die diese Echo-Verleihung wieder eindrucksvoll ins Bewusstsein gebracht hat. Erstens: Unappetitlich bis fragwürdig kontroverse Songs verkaufen sich in Deutschland wie geschnitten Brot. Und zweitens: Ein großer Teil der Öffentlichkeit bekommt davon gar nichts mit – weil dieser große Teil der Öffentlichkeit am ehesten Radio hört und dort meistens ganz andere Musik gespielt wird. Noch einmal zum Mitschreiben: Kollegah und Farid Bang, Rap-Kollegen wie Haftbefehl und Bushido, aber auch Bands wie die Böhsen Onkelz und Frei.wild stehen immer wieder wegen sexistischer und homophober, rassistischer, antisemitischer oder nationalistischer Songelemente in der Kritik. Sie laufen so gut wie nie in Funk und Fernsehen – und sind trotzdem extrem erfolgreich. Der „Echo“-Musikpreis legt jedes Jahr ungewollt den Finger in diese Wunde: Denn er zeichnet nicht etwa herausragende künstlerische Leistungen aus, sondern die Künstler mit den höchsten Verkaufszahlen. Zwar sorgen Fachjurys in den einzelnen Kategorien noch für die eine oder andere Akzentverschiebung, aber nominiert wird nur, wer die meisten Einheiten eines Werkes abgesetzt hat. Und das sind eben immer wieder Acts wie die oben genannten. Fast jedes neue Album der führenden Gangsterrapper und ihrer männerbündlerisch-nationalistisch tönenden Rockkollegen erklimmt unbemerkt binnen kürzester Zeit die Spitze der Offiziellen Deutschen Charts. Die Offiziellen Deutschen Charts, das sind laut Website „die einzig repräsentativen und vom Bundesverband Musikindustrie e.V. lizenzierten Musik-Charts für Deutschland. Sie bilden das ab, was Deutschland hört, streamt, downloadet und kauft. Ermittelt werden sie von GfK Entertainment.“

Zugespitzt kann man sagen: Wir haben es mit zwei Parallelwelten zu tun. Auf der einen Seite die öffentlich ausgestrahlte Musik des gesellschaftlichen Mainstreams zwischen Schlager, Achtziger-, Klassikrock und Klassik-Radio, die den (Arbeits-)Alltag vieler Menschen durchdringt, dazu die eine oder andere geschmäcklerische Abend- oder Wochenendspezialsendung für fortgeschrittene „music lovers“ – und auf der anderen Seite der nicht minder erfolgreiche kontroverse Kram, den „die Kids“ und eingeschworene Szenen hören, wenn sie unter sich sind. Ich erinnere mich an Prä-Internetzeiten, in denen vieles von dem, was in den Verkaufscharts oben rangierte, auch „on air“ zu hören war und gerade deshalb gekauft wurde: Das Radio bot damals ein weitaus größeres Spektrum, es vermittelte zwischen Künstlern und Fans. Heute dagegen scheinen das Radio und die Airplay Charts eine eigene Welt zu repräsentieren, die mit dem, was „da draußen“ gekauft und privat gehört wird, nur noch in Teilen zu tun hat …

Formatradio-Charts vs. Verkaufscharts, Oldschool Media vs. Social Media

Dafür gibt es verschiedene Erklärungen. Eine liefert der Jugendschutz, der dafür sorgt, dass Umstrittenes gar nicht oder nur zu späten Sendezeiten ausgestrahlt werden darf. Einen umstrittenen Song beispielsweise von Bushido tagsüber zu spielen, kann also juristischen Ärger für den Sender bedeuten. Kein Wunder, dass sich die Programme auf Unproblematisches konzentrieren. Hinzu kommt, dass die meisten Radiosender heute ein ganz spezielles Profil entwickelt haben und ihr Programm dementprechend ausrichten – um eine größtmögliche Zielgruppe samt Marketingeffekt zu erreichen. Die Rede ist von Genresendern, vor allem aber vom Formatradio, das seit den 1980er Jahren mit dem Siegeszug der Privatsender immer größere Bedeutung gewonnen hat. Kennzeichen dieses Formatradios sind die Spezialisierung auf einzelne, meist angenehme, gängige Genres für verschiedene Alters- und Fangruppen, die Orientierung an potenziellen Werbekunden und eine begrenzte Zahl an „rotierenden“ Titeln. Kritiker sprechen abschätzig von „Dudelfunk“. Das schließt Sendungen zu den Offiziellen Deutschen Charts nicht aus, aber dann werden eben auch nur solche Titel aus den Offiziellen Deutschen Charts gespielt, die zum jeweiligen gefälligen „Format“ des Senders passen. Konkret: Ein Schlagersender greift sich aus den Verkaufscharts natürlich nur den neuen Hit von Helene Fischer heraus – und nicht den Nummer-eins-Disstrack von Kollegah. Die Folge: Wo das Radio früher Hits noch wirklich „machte“, spielt es sie heute nur noch. Das wirklich kontroverse Zeug aber hat längst andere Kanäle gefunden.

Welche Kanäle das sind, darüber herrscht unter Experten Einigkeit: das Internet und die sozialen Medien. Dort kommunizieren die Künstler intensiv mit ihren Fans. Und weil es immer schwieriger wird, Aufmerksamkeit zu erregen, dreht sich die „künstlerische“ Eskalationsspirale immer schneller. Facebook, Youtube, Instagram: Je extremer die Posts, desto erfolgreichler die Künstler, Grenzüberschreitung als Marketingstrategie. Wer am effektivsten provoziert und schockiert, vielleicht sogar auf dem Index der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien zu landen droht, setzt besonders viele Einheiten eines Songs oder Albums ab. Und wird dann beim „Echo“-Spektakel dafür ausgezeichnet. Weil vor ein paar Jahren hervorragende Verkaufszahlen plötzlich die fragwürdige Band Frei.wild in die „Echo“-Nominierungslisten spülte, wurde flugs ein Ethikrat gegründet, der über die Nominierung entscheiden sollte. Auch wegen Protesten anderer Musiker wurden Frei.wild damals wieder ausgeladen. 2018 nun ließen Kollegah und Farid Bang den „Echo“-Ethikrat erneut zusammenkommen – und wurden letztlich als unbedenklich zugelassen. Prompt gewannen sie in ihrer Kategorie den Preis. Bands wie die Toten Hosen und jüdische Verbände protestierten scharf.

„Echo“: Fluch und Segen zugleich

Die „Echo“-Preisverleihung ist Fluch und Segen zugleich. Fluch, weil sie auf die eklatante Kluft zwischen Radiocharts und Verkaufscharts aufmerksam macht, künstlerisch Herausragendes schon von Struktur und Anlage her ignoriert und im schlimmsten Fall wirklich fragwürdige Musiker auszeichnet, beinahe auszeichnen muss. Segen, weil sie die erschreckende Beliebtheit grenzwertiger Songs in Deutschland offenbart und die dringend notwendige Diskussion darüber anstößt. Denn das bloße Sanktionieren und Ausgrenzen der betreffenden „Künstler“ bringt letztlich nichts, wie nicht nur „Spiegel Online“ feststellt. Dass der „Echo“-Ethikrat Kollegah und Farid Bang zuließ und sie in ihrem scheinheiligen Pochen auf künstlerische Freiheit bestätigte, ist in meinen Augen eine Fehlentscheidung, und das hat nichts mit Zensurwahn zu tun. Aber dass der Ethikrat überhaupt zusammenkam und die empörten Reaktionen auf die Preisverleihung die Rapper in die Defensive zwangen, hat mir gefallen. Genauer hinhören, engagiert diskutieren und fragwürdige Musiker mit ihren fragwürdigen Songinhalten öffentlich konfrontieren, das ist der Weg. Das öffnet vielleicht auch einigen „Konsumenten“ die Augen: Extremes Dissing im Hip-Hop mag einst innovativ, undergroundig, pure Lust am Skandal oder eine legitime Verarbeitung sozialer Benachteiligung gewesen sein – heute aber ist es oftmals nicht nur zum Selbstzweck verkommen, sondern spiegelt mitunter auch zynisch echte in der Gesellschaft vorhandene niedere Emotionen und Ressentimens wider. Solche Haltungen sind ebenso wie sektiererische Blut- und Boden-Romantik problematische Erscheinungen, die mit keinem Positivpreis der Welt belohnt werden können.

Was erschreckend viele Menschen in die Parlamente wählen, muss noch lange nicht politisch wertvoll sein

Das heißt: Ein Mindestmaß an Kriterien für künstlerische Qualität und ethische Korrektheit müsste der „Echo“ seinen Preisverleihungen schon zugrunde legen. Dumpfes Dissen und nationalistische Gesänge gehören eben nicht dazu, und sollten die Verkaufszahlen auch noch so hoch sein. Dass diese Verkaufszahlen so hoch sind, bleibt natürlich genauso ein Problem wie der Erfolg rechtspopulistischer politischer Parteien, die sich vor allem über Ausgrenzung und überkommene Männer- und Frauenbilder definieren. Auch hier gilt: Was erschreckend viele Menschen in die Parlamente wählen, muss noch lange nicht politisch wertvoll sein. Auf fatale Weise passen die umstrittenen Bands eben doch in diese turbulenten Zeiten mit ihrem konservativen Backlash, ihren Fake News, ihrer sozialen Kälte, ihren durchgeknallten Staatslenkern und „white collar crimes“, der gnadenlosen Interessenvertretung durch Super-Egos und der Unterdrückung, ja Verhöhnung von Schwächeren. Dafür sollten neue Lösungen gefunden werden, die nicht mit Zensur zu verwechseln sind. Nein, es geht um Aufklärung, um Diskussion, um mutige Konfrontation, um die klare Botschaft, dass unsere demokratische Gesellschaft bestimmte Dinge nicht duldet. Hier ein paar Lösungsvorschläge:

– Rügen statt indizieren: Klar, Straftatbestände müssen verfolgt und sanktioniert werden. Aber was nützen Verbote in der Grauzone zwischen Überschreitung von Geschmacksgrenzen und tatsächlicher „hate music“ – erst recht wenn alles im Internet frei verfügbar ist? Wären offizielle Rügen – vergleichbar den Rügen des Presserats – vielleicht ein Instrument für Organisationen wie die Bundesprüfstelle, die verschiedene Fallgruppen für Grenzverletzungen entwickelt hat? Möglicherweise in Zusammenarbeit mit dem Kulturrat, der eintritt für die Freiheit der Kunst, für gute Kulturpolitik, für Bildung, Werte, Integration?
– Mehr öffentliche Debatte: Der Echo-Ethikrat ist grundsätzlich ein guter Schritt. Wichtig sind auch kritische Veranstaltungen wie die Hip-Hop-Konferenz „Sex Money Respect“, die 2017 in Frankfurt am Main stattfand. Und wünschenswert wäre eine intensivierte Öffentlichkeitsarbeit der beteiligten Akteure. All das würde aufmerksam machen auf Problemlagen und signalisieren: Die Gesellschaft hört nicht weg!
– Wächterpreis der Musikpresse: Die Stiftung „Freiheit der Presse“ vergibt regelmäßig den Wächterpreis der Tagespresse an „couragierte Reporter“, die in „Wahrnehmung von staatsbürgerlichen Rechten“ Missstände aufdecken – unter den vielen Themen sind auch Fundamentalismus, Rassismus und Rechtsradikalismus. Was, wenn auch die Musikpresse häufiger als bisher nicht nur über die tollsten, coolsten, spektakulärsten Bands und Interpreten berichten würde, sondern auch über grenzwertige Künstler, antidemokratische Subkulturen, problematische kulturelle Strömungen? Ein Branchenpreis könnte motivierend wirken.

– Ein durchlässigeres Formatradio: Gegen schlechten Hip-Hop hilft nur guter Hip-Hop, heißt es hin und wieder in Szenekreisen. Allgemeiner gesagt: Gegen schlechte, fragwürdige Musik hilft nur gute, engagierte Musik. Und die sollte auch im Radio wieder stärker vertreten sein, nicht nur auf kaum beachteten Sendeplatznischen. Zumal auch engagierter Songs nicht selten so etwas wie Hitpotenzial haben. Natürlich spielt auch das Formatradio gute Musik, ich höre selber gern und viel Formatradio. Aber es ist in der Regel das Gefällige und Geschmäcklerische. Was spricht dagegen, in vorsichtigen Dosen auch Conscious und Queer Rap, politischen Rock oder intelligente Dance-Musik, kurz: unterrepräsentierte Qualitätsmusik, ins Tages-Formatprogramm zu integrieren?
– Negativpreise: Die Musikbranche überschlägt sich vor Positivauszeichnungen. Wo aber bleiben die – mahnenden oder augenzwinkernden – Negativpreise, wie man sie aus der Filmindustrie und anderen Branchen kennt? Nicht nur für die schlechteste Musikproduktion, sondern auch für den fragwürdigsten, den geschmacklosesten Song?
– Dumpfe Songbotschaften konterkarieren: Schwule Mädchen von Fettes Brot, Hengstin von Jennifer Rostock, Rap-Parodien von Jan Böhmermann oder Carolin Kebekus – es gibt gute Rap-Songs, die hirnlose Hip-Hopper mit ihren eigenen Waffen schlagen. Ich wünsche mir mehr davon – und dass diese Produktionen auch im Radio laufen.
– Mehr Dialog mit Internetanbietern und Providern: Sie sind es, die fragwürdige Songinhalte unkontrolliert zirkulieren lassen. Es wäre ein Dialog, in den sich Musikindustrie und Musikpresse mit eigenen Akzenten einschalten könnten.
– Gesellschaft besser, gerechter machen: Es klang bereits an: Vielleicht kriegt ja jede Gesellschaft die Songs, die sie verdient. Daraus lässt sich die zuspitzende These ableiten: Bessere, gerechtere Gesellschaft – bessere Musik. Beziehungsweise: Bessere Gesellschaft – weniger „hate music“.

julakim: comPARTIR // Review

Eine Frau. Sechs Saiten. Keine Schublade. julakim als furchtlose Anführerin eines Demonstrationszuges in Südamerika, mit leuchtenden Augen und wehender Fahne in der Hand, laut „Revolucion!“ rufend, mit rollendem R und scharfem Thie-Äitsch. julakim als sanftes Mädchen von Ipanema, vielleicht auch als Beach-Entertainerin an der West Coast der USA in den Siebzigern. julakim am Lagerfeuer auf der Alm, entspannt in die abendliche Bergwelt pfeifend. Und dann wieder als röhrende Monsterrockerin mit einer Prise Doobie Brothers im Getriebe. Es sind unterschiedlichste Assoziationen, die die tollkühne Darmstädter Songwriterin auf ihrer dritten CD comPARTIR weckt. Und was man da so assoziiert, unterstreicht: comPARTIR, der Abschluss einer geheimnisvollen Trilogie, ist julakims zugänglichstes Album bisher.

Allzu einfach macht es diese Ausnahmekünstlerin ihrem Publikum trotzdem nicht: Unerwartete Akkordfolgen, stimmliche Eskapaden, ganze Textkaskaden und rhythmische Wechsel verhindern nach wie vor, dass man sich ganz in einem Song verliert, gar selig wegdriftet. Keine Frage: Betörende Melodien zaubert julakim federleicht aus dem Ärmel; aber mindestens ebenso viel Spaß hat sie an Brüchen und Ausbrüchen, am Unterlaufen von Erwartungen. Nicht umsonst singt sie wieder in den unterschiedlichsten Sprachen: vom Teilen, vom Reisen, von Trennungen und Verletzungen, vom Segen der Gemeinschaft. Das alles wie gewohnt mit einem entwaffnenden Lächeln auf den Lippen und einem Selbstbewusstsein, das einem den Atem verschlägt.

Für ein Massenpublikum ist auch dieses Album kaum geeignet. Dafür sorgt nicht zuletzt der Bonustrack Die Konfektknackerinnen, eine gewöhnungsbedürftige (Anti-?)Psychedelic-Rock-Eskapade, live aufgenommen mit kompletter Band. Es gurgelt, zirpt und gniedelt, schief ist das neue schön, aber so what: Man ist da völlig schmerzfrei. Ein anderer Live-Bonustrack weiß dagegen positiv zu überraschen: Bei dieser Alternativversion des Titelstücks comPARTIR lässt sich julakim von dem Pianisten Norbert Paul begleiten und imitiert höchstpersönlich eine coole Jazztrompete. Hier, am Ende der CD, darf man als Zuhörer tatsächlich mal eine Zeit lang schwelgen, spürt eine ganz neue Intensität und bekommt eine Ahnung von den Facetten, die einige der tollen julakim-Songs zusätzlich entfalten könnten, würden sie mit einer dezenten Jazzband im Hintergrund eingespielt.

Nach wie vor bewundernswert ist, wie fröhlich und unbeirrt die Künstlerin ihren eigenen Weg weitergeht – nicht auf den großen Erfolg schielend, nur die persönliche künstlerische Vision im Blick. Dass man ihr nicht überallhin folgen kann, macht einen Teil des Reizes aus. julakim nimmt ein, verblüfft, gibt Rätsel auf und überrascht immer wieder mit verrückten bis durchgeknallten Ideen. So können Fans für 99 Euro ein signiertes Exemplar ihrer liebevoll selbst gefertigten „TriBox“ kaufen. Dazu heißt es auf der Website: „Das Sammlerstück für echte Aficionados der Trilogie enthält die drei CDs mit Booklet, ein Raumschiff zum Selberbauen aus bemalten und bedruckten Kartons in den Grundformen der Trilogie, um durch bLuzLand zu reisen.“ Ah ja … Gut, das Freigeist julakim auch uns die freie Wahl lässt – wir müssen nicht um jeden Preis die Koffer packen und losreisen. Wir können auch zu Hause bleiben und aus den „Liner Notes“ erfahren, was es mit der „Trilogie“ letztlich auf sich hat.

Julakim, comPARTIR, erhältlich über www.julakim.de

American Rocker mit Pop-Appeal: Zum Tod von Tom Petty

Für mich war Tom Petty immer ein guter Kompromiss: zwischen Bruce Springsteen (manchmal zu hymnisch, manchmal zu karg), Bob Dylan (gelegentlich zu intellektuell, zu nölig, zu rätselhaft), John Cougar Mellencamp (mitunter zu gewollt rock-’n’-rollig) und Bob Seger, der mir allzu karohemdig-vollbärtig und verschlossen erschien. Von allen aufrecht-erdigen US-Rockgrößen der 1970er/-80er Jahre versammelte Petty die massenkompatiblen Aspekte, und mit der blass-blonden Erscheinung samt kernigem Gitarrensound kam sogar noch ein bluesrockiger Schuss Johnny Winter dazu. Auch die Brücke zum globalen Charts-Pop vermochte Petty wunderbar zu schlagen: Immer wieder sang er feine Duette mit Stevie Nicks, was ihm zusätzliche Fans im Fleetwood-Mac- und Softrock-Universum bescherte – mit den Travelling Wilburys wiederum, jener Supergroup, die er zusammen mit George Harrison, Jeff Lynne, Bob Dylan und Roy Orbison auf den Weg brachte, trug er federleichten Countryrock in den weltweiten Mainstream. Petty-Songs wie Refugee und Breakdown, American Girl, Learning to Fly oder Don’t Come Around Here No More konnte ich auf privaten Cassetten-Compilations mühelos mit britischen Hardrock-Stücken von Thin Lizzy, gitarrenorientierten Wave-Krachern und sogar New-Romantic-Kram von Duran Duran oder Ultravox kombinieren, ohne allzu krasse Brüche zu verursachen. Es verwundert nicht, dass der Chef der Heartbreakers, jener Band, die ihn immer wieder begleitete, in jungen Jahren von einer Plattenfirma als „zu britisch“ abqualifiziert wurde und dass seine Karriere erst auf dem Umweg über England Fahrt aufnahm.

Tut man dem US-Rocker, der am 2. Oktober 2017 nach einem Herzinfarkt im Alter von nur 66 Jahren verstarb, mit dieser oberflächlichen Fan-Einschätzung unrecht? Ich hoffe nicht. Petty war eben ein Künstler, der gelegentlich über den Tellerrand hinausblickte und über weite Strecken einfach auch ein guter Handwerker war. Ab und zu passte er sich dem aktuell gängigen Studiosound an, bediente die Massen, ging ebenso interessante wie lukrative Kollaborationen ein. Und Rockfans wie ich, die einfach Spaß am Musikhören haben, wussten auch das immer wieder zu schätzen.

Trotz seiner Mainstream-Kompatibilität und eines gewissen Pop-Appeals haftete dem schlaksigen Songwriter aber stets etwas uramerikanisch Bodenständiges, ja Cowboystiefliges an, das man als europäischer Rockfan gern ins Mythische verklärt, doch nie ganz verstehen wird. Obwohl in Florida geboren, galt Tom Petty letztlich als waschechter Südstaatenrocker und Traditionalist. Zusammen mit dem hemdsärmelig-maskulinen „Boss“ Bruce Springsteen, der den Demokraten nahesteht und schon für Barack Obama sang, mit John Cougar Mellencamp und Bob Seger, auch mit John Fogerty von Creedence Clearwater Revival wird er gern dem sogenannten „Heartland Rock“ zugerechnet, einer erdigen Spielart des Rock, die die Befindlichkeit der weißen Unterschicht im amerikanischen Mittleren Westen und im sogenannten „bible belt“ widerspiegelt. „Authentisch“, „handgemacht“, „Stimme des kleinen Mannes“ – das sind Attribute, die gern mal in diesem Zusammenhang genannt werden, ehrfürchtig und gelegentlich leicht rückwärtsgewandt. Dass Petty dann 2008 auch zum Auftritt in der Halbzeitpause des „Super Bowl“ eingeladen wurde, war nur folgerichtig: Das Finale der American-Football-Profiliga ist das amerikanische Sportereignis, so etwas wie ein Nationalfeiertag, es vereint demokratisch wie republikanisch gesinnte Fans aller Schichten. Tom Petty brachte eben die verschiedensten Aspekte der komplizierten amerikanischen Seele zum Klingen.

Skandale, Exzesse, dreiste Rüpeleien? Sind von ihm nicht bekannt – wenn man mal von dem Handbruch absieht, den er sich in den 1980er Jahren zuzog, als er im Tonstudio aus Frust über nicht gelungene Aufnahmen gegen die Wand schlug. Eine schlimme Drogenphase in den 1990er Jahren und gelegentliche Depressionen hat Tom Petty erst spät öffentlich gemacht: Er sei alles andere als stolz darauf und habe niemandem als schlechtes Vorbild dienen wollen, sagte er in Interviews. Nur einen wirklich seltsamen Ausrutscher hat er sich geleistet. Damals, wieder in den 1980er Jahren, hantierte er öffentlich mit der Südstaaten-Flagge aus dem amerikanischen Bürgerkrieg – einem Symbol, das noch heute mit Sklaverei und Rassismus in Verbindung gebracht wird und jüngst in den grausamen Auseinandersetzungen von Charlottesville wieder eine Rolle spielte. Immerhin hat sich Petty seinerzeit auf der Bühne (unter Beifallsbekundungen, aber auch unter Buhrufen) und später im Fachblatt Rolling Stone nicht nur ausführlich, sondern auch glaubwürdig von der Flaggenaktion distanziert: Sie sei absolut „stupid“ gewesen, er habe eigentlich etwas anderes sagen wollen, aber nicht genügend nachgedacht. Darüber hinaus hat er schon immer auch auf Veranstaltungen linker Organisationen gespielt, textlich die Schattenseiten des „American Dream“ ausgeleuchtet und im Jahr 2000 dem Republikaner George W. Bush die Verwendung seines Hits I Won’t Back Down untersagt.

Nein, als Kumpel von Dylan und Clinton-Unterstützerin Stevie Nicks gehörte Tom Petty ganz sicher nicht in die Reihe umstrittener amerikanischer Rock-Epigonen wie Steven Tyler, Joe Perry (beide Aerosmith) und Kid Rock, die bekennende Republikaner sind, zum Teil auch unbelehrbare Waffennarren. Oder wie Ted Nugent, der einst als begnadeter Hardrocker weltweit Erfolge feierte, in den letzten Jahren aber vor allem als Ultrarechter mit übelsten Hasstiraden nicht nur gegen Obama und „Hillary“ unangenehm auffiel. Längst ist Rockmusik ein Spiegel der gesamten Gesellschaft, bildet alle Haltungen und Einstellungen ab, auch die erzkonservativen bis extrem rechten. Petty war da eher in der Mitte oder links davon angesiedelt, als Songwriter der alten Schule und Bewahrer der traditionellen Rock-’n’-Roll-Werte.

Den „letzten Botschafter der analogen Welt“ nennt ihn die „Welt“ ein wenig pathetisch, „Der letzte Dinosaurier war ein Herzensbrecher“, titelt nicht minder archäologisierend die „F.A.Z.“ – so als würde heute niemand mehr Gitarre spielen, als wären alle anderen Saurier schon tot und auf Heartbreakers-Aufnahmen keine elektronischen Sounds zu hören. Geschenkt. Tatsächlich ließ es Tom Petty auf seinen Alben Mojo (2010) und Hypnotic Eye (2014) fernab vom Charts-Getümmel noch einmal richtig krachen, spann auf beeindruckende Weise den Bogen zurück zum Countryrock, zum Blues und zu atmosphärischen Heartbreakers-Klassikern à la Mary Jane’s Last Dance. Satte Rockmonumente nach Hausmacher Art – musikalische Rettungsringe und Kraftfutter für alternde Rockfans, die sich von den politischen Turbulenzen, den wirtschaftlichen Unsicherheiten und nicht zuletzt den nervösen digitalen Beats des 21. Jahrhunderts allmählich überfordert fühlen. Zu Recht hofften Kritiker noch auf ein, zwei fantastische Alterswerke von Tom Petty. Dazu wird es nun leider nicht mehr kommen.

Alles andere als schön – aber unglaublich gut

Sieben Gründe, warum der Literaturnobelpreis für Bob Dylan gerechtfertigt ist

Advertising signs they con
You into thinking you’re the one
That can do what’s never been done
That can win what’s never been won
Meantime life outside goes on
All around you

Bob Dylan, It’s Alright, Ma (I’m Only Bleeding)

Sieben Schönheiten heißt ein Film der in Rom geborenen Regisseurin Lina Wertmüller aus dem Jahr 1976. Er erzählt von einem gestandenen italienischen Macho und Opportunisten, der misstrauisch die Jungfräulichkeit seiner sieben Schwestern bewacht, dann aber während des Zweiten Weltkriegs in deutsche Gefangenschaft gerät und schließlich im KZ landet. Aus purem Überlebenswillen tut er die abscheulichsten Dinge, unter anderem verführt er die grausame KZ-Wärterin und lässt sich zu ihrem Werkzeug machen. Der Film ist alles andere als schön, voll verstörender, entwürdigender Szenen, voll schmutziger Farben und drastischer Schnitte – ich muss sagen: Ich mag ihn nicht. Ich habe den Film seitdem nicht noch einmal gesehen, und ich will ihn auch nicht noch einmal sehen. Nein, Lina Wertmüller ist nicht mein Ding. Und doch muss ich gleichzeitig sagen: Sieben Schönheiten ist ein extrem guter, ein extrem wichtiger Film.

Ähnlich geht es mir mit Bob Dylan. Höre ich ihn singen, rollen sich mir die Fußnägel hoch. Bläst er in seine Mundharmonika, möchte ich schreiend aus dem Zimmer laufen. Etliche seiner Songs empfinde ich als anstrengend bis quälend. Nein, ich bin wirklich kein Bob-Dylan-Freund. Ich mag Bob Dylan einfach nicht. Und weiß gleichzeitig: Der Mann ist gut. Sogar sehr gut. Und eminent wichtig.

Insofern freue ich mich aufrichtig, dass ausgerechnet „Dylan“ – er gehört ja zu den Ikonen, deren Vornamen man im Gespräch eigentlich nicht mehr erwähnt – den Literaturnobelpreis 2016 erhalten hat. Und schüttele den Kopf über missgünstige Fachleute wie Trainspotting-Autor Irvine Welsh, der in den Medien mit den bescheuerten Worten zitiert wird: „Ich bin ein Dylan-Fan, aber dies ist ein schlecht durchdachter Nostalgiepreis, herausgerissen aus den ranzigen Prostatas seniler, sabbernder Hippies.“ Lieber Irvine Welsh: Man muss weder Dylan-Fan noch sabbernder Hippie mit ranziger Prostata sein, um diesen Preis als gerechtfertigt anzuerkennen. Und statt nun alle möglichen Dylan-Songs zu posten, irgendwelche suggestiv-bedeutungsschwangeren Songzeilen zu zitieren oder immer wieder allertiefste Anerkennung zu artikulieren, scheint es mir angebracht, wenigstens kurz ein paar Argumente für die außerordentliche literarische Qualität Bob Dylans zu skizzieren. Hier schon mal sieben Gründe, warum der Literaturnobelpreis gerechtfertigt ist – sieben Schönheiten im übertragenen Sinne:

https://vimeo.com/97255051

  1. Bob Dylan gehört zu den wenigen Literaten, die mit einem Text unmittelbar in die Gesellschaft hineinwirkten.      

1975/76, als Lina Wertmüller Sieben Schönheiten drehte, war Dylan bereits ein gefeierter Star und machte mit seiner „Rolling Thunder Review“ Furore, der Tournee mit einer All-Star-Band, zu der auch Joan Baez, Roger McQuinn und Emmylou Harris gehörten. Teil des Programms war der 1975 eingespielte Dylan-Song Hurricane. Der thematisierte den Fall des wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilten schwarzen Ex-Boxers Rubin „Hurricane“ Carter. Minutiös deckten Dylans Lyrics die Schwachstellen der Anklage auf und untermauerten die These vom rassistisch motivierten Fehlurteil. Der Erfolg des Songs führte zu einer Neuaufnahme der Ermittlungen und – in dritter Instanz – zum Freispruch Carters. Welches literarische Werk kann solch eine Wirkung für sich beanspruchen?

  1. Bob Dylan ist ein kreativer Grenzgänger, der nicht nur Genregrenzen, sondern auch literarische Konventionen sprengt.

Was? Ein schnöder Songwriter bekommt den Literaturnobelpreis? Falsch! Dylan ist nicht nur Songwriter, sondern Literat durch und durch. Zusätzlich zu seinen Songs schreibt er Lyrik, die er nicht vertont (berühmt: seine 11 Outlined Epitaphs), aber auch Prosatexte. Damals verschrien, heute ein Szeneklassiker: Sein Prosaband Tarantula, in dem er mit Sprache musiziert und spannende Bezüge zur Tradition der Symbolisten herstellt. Mit selbst verfassten Stücken dieser Art erhob er zudem die Plattenhüllentexte, die sogenannten „liner notes“, zur literarischen Kunstform.

  1. Bob Dylans Lyrics haben Pop- und Rocksongs für literarische Komplexität geöffnet.

Witzig, clever, intelligent und anspruchsvoll waren Songtexte auch schon vor Bob Dylan. Doch mit seinen Songs wurden Lyrics Literatur. Langpoeme von epischem Ausmaß, ungewöhnliche Perspektiven und Darstellungsformen, grandiose Bilder, zentnerschwere Metaphern, Allegorie, Bewusstseinsstrom und dramatische Inszenierung – all das fand sich plötzlich auch im Rock- und Popkontext wieder. Mit Bob Dylan wurde Hippiemusik erwachsen.

  1. Eins von vielen prägenden Dylan’sches Stilmitteln: die Parade mythischer Figuren

Einstein, Nero, Kain und Abel, Ophelia, Romeo, Cinderella – Dylans Song Desolation Row lässt eine Fülle realer und fiktiver Personen und Figuren in einer apokalyptischen Szenerie vor dem geistigen Auge des Hörers vorüberziehen. Ähnlich verfährt der im selben Jahr erschienene Song Highway 61 Revisited. Don McLean griff die innovative Technik 1971 in seinem Song American Pie auf und landete damit einen Welthit. Und auch Bruce Springsteen (Spirit in the Night, 1973) versuchte sich hin und wieder an dieser lyrischen Form. Keiner aber beherrschte sie so verstörend wie der Meister selbst.

  1. Im Spiel mit Texten und Kontexten ist Bob Dylan unschlagbar.

Schon als Interpret traditioneller Folksongs verstand es Dylan, Außenseiterballaden politische Sprengkraft zu verleihen. Es kam darauf an, in welchem Kontext man sie vortrug. Zu Beginn seiner Karriere kanzelten Kritiker seine Songs als mit Musik untermalte Lesegedichte ab – heute feiern Laudatoren die Tatsache, dass Dylan-Texte ohne die Musik nicht denkbar seien. Dasselbe gilt für die stimmliche Interpretation. Bei Livekonzerten versetzt der Künstler immer wieder Fans in Verzückung wie in Rage, indem er seine von Studioaufnahmen bekannten „Hits“ in völlig andere musikalische Arrangements kleidet, sie völlig anders intoniert und so nicht nur mit Erwartungen bricht, sondern auch neue Bedeutungsebenen erschließt. Nicht selten verändert er dabei spontan auch einzelne Verse und Strophen – als Reaktion auf aktuelle Anlässe. Dass Texte in verschiedenen musikalischen und gesellschaftlichen Kontexten Anlass zu reizvollen Spielen bieten, versteht kaum jemand so gut wie Dylan. Er nutzt Möglichkeiten, die reine Printautoren nicht haben.

  1. Dylan – integrer Künstler in einer globalisierten Medienwelt

Literaten heute sind mehr als nur Textlieferanten oder Stimmen ihrer Generation. Literaten heute sind auch Medienpersönlichkeiten, hin und her gerissen zwischen Selbstverwirklichung und den Ansprüchen Dritter, immer in Gefahr, vereinnahmt oder gestürzt zu werden. Bob Dylan gehört zu den wenigen Künstlern, die in diesem gefährlichen Spannungsfeld absolut integer, autark und letztlich ungreifbar geblieben sind. Von Anfang an hat er sich vor keinen Karren spannen lassen, stets noch rechtzeitig die nächste Wende vollzogen, sich immer wieder neu erfunden. Obwohl schon 75, gibt er immer noch wenig von sich preis – bleibt nach wie vor rätselhaft. Die reale Person hinter den Songs und Texten ist komplett abgeschirmt, Fragen nach Authentizität stellt man ihm nicht mehr. Sein Werk steht für sich. Dylan besitzt die volle Kontrolle über seine Medien-Persona, das intelligente Katz-und-Maus-Spiel mit Publikum und Kritik hat er als einer der Ersten seiner Ära zur künstlerischen Strategie erhoben. Todd Haynes hat diese Strategie in seinem Kinofilm I’m Not There auf wunderbare Weise reflektiert. Da wird Dylan gleich von mehreren Schauspielstars verkörpert, unter anderem von Cate Blanchett. So weit muss man es als Künstler erst mal bringen.

  1. Bob Dylan gehört zu den versiertesten Autoren unserer Zeit – mit generationenübergreifender, weltweiter Wirkung.

Verfasser hintergründiger Folk- und Bluessongs. Autor engagierter Protestsongs. Song-Auteur. Symbolist. Singer-Songwriter und Rocker. Christlicher Liedermacher. Postmodernist. Traditionalist. Seismograph gesellschaftlicher Stimmungen … Stillstand kann man vielen Künstlern vorwerfen, nicht aber Bob Dylan. Er hat einen erstaunlichen literarischen Weg hinter sich gebracht, eine immense Vielfalt poetischer Ausdrucksformen verinnerlicht und dabei immer wieder die Grundfragen der menschlichen Existenz behandelt. Dass er damit ein Millionenpublikum rund um den Globus erreicht und begeistert, hat er vielen anderen Topliteraten voraus. Noch immer ruft jedes neue Dylan-Album Heerscharen von Deutern auf den Plan. Zurzeit schaut die Welt einmal mehr besorgt auf die Vereinigten Staaten und zwei umstrittene, angeschlagene Präsidentschaftskandidaten, die sich in einem schmutzigen Wahlkampf gegenseitig zerfleischen. Gerade vor diesem Hintergrund wirkt Dylan als Botschafter eines anderen Amerikas: eines Amerikas, das Menschen- und Bürgerrechte respektiert, Demokratie lebt, andere Kulturen wertschätzt und sich weltpolitisch nicht wie die Axt im Walde geriert.

Es sind Schönheiten wie diese, die Bob Dylan schon vor Ewigkeiten haben zum Gegenstand des akademischen Diskurses werden lassen. In den 1970er Jahren hatte ich an der Uni das Glück, mich wissenschaftlich nicht nur mit Shakespeare und Goethe, sondern auch mit Pop- und Rocklyrik beschäftigen zu dürfen. Und ich verschweige nicht, dass ich Dylan dabei gern auch mal außen vor gelassen hätte. Doch man kam einfach nicht um ihn herum. Eine wissenschaftliche Arbeit über Songlyrik ohne Bob-Dylan-Kapitel? Wäre bei den Profs glatt durchgefallen! Die Fülle an Sekundärliteratur, die es heute zu Dylans Œvre gibt, dürfte so manchen ambitionierten Autor vor Neid erblassen lassen. Insofern läuft auch die Kritik, da habe irgendein Rocksänger völlig ungerechtfertigt die höchsten Weihen erfahren, absolut ins Leere. Im Gegenteil: Es wurde mal Zeit. Dylan hat sich schon im letzten Jahrtausend einen festen Platz im Kanon der amerikanischen Literatur erarbeitet. So wie auch Rock und Pop längst unseren Alltag durchdringen und bis in die sogenannte Hochkultur hineinwirken. Schön, dass dieses Phänomen 2016 gewürdigt wird. Und was könnte dafür passender sein als der Literaturnobelpreis?

 

 

 

 

B-Seiten-Perle aus den Sechzigern: Gilbert Bécaud, „L’Orange“

Zu den schönsten Alltagserlebnissen gehört es, einen Song zu entdecken und zu erschließen – egal, ob es sich um einen simplen Hit aus dem Frühstücksradio oder um ein komplexes Stück Musik handelt. Da ist das Aufhorchen beim oft zufälligen ersten Hören; das Nachforschen, um welches Stück von wem es sich handelt; das Einholen von Informationen über die Künstler; das tagelange Immer-Wieder-Hören und Vor-sich-hin-Summen; und schließlich die Ablage im imaginären Archiv der Lieblingslieder, das langsam, aber stetig wächst und aus dem man den Song noch in Jahren und Jahrzehnten ab und zu hervorkramen wird.

Ein schwererer Krankheitsfall in der Familie. Man hilft ein wenig, bringt die Wohnung in Ordnung. Und stößt auf einen kleinen Stapel alter Schallplatten. Der Gedanke: Wäre es nicht schön, der Kranken, einer älteren Dame, ihre Lieblingslieder digital zur Verfügung zu stellen, zum Beispiel auf einem iPod? Also werden USB-Plattenspieler und PC angeworfen, um das alte Zeugs in MP3-Pakete umzuwandeln. Schon toll, was sich da alles findet: Single-Platten mit je vier Stücken von Jazzern wie Miles Davis und Gerry Mulligan, seichter Schlagerkram und jede Menge französischer Chansons. Die alte Dame ist sehr frankophil, und so stößt man unweigerlich auf Gilbert Bécauds Mittsechzigerhit Nathalie! Ja, das kennt man auch aus dem eigenen Elternhaus, „Monsieur 100.000 Volt“ war zu dieser Zeit in ganz Europa beliebt.

Aber was ist das da für ein schräger Song auf der B-Seite? Heißt L’Orange, swingt ungemein, Hit the Road Jack lässt grüßen, setzt sich mit zwei, drei wenigen Akkorden sofort im Gedächtnis fest, hat aber auch etwas merkwürdig Hysterisches, unterschwellig Bedrohliches. Schon der Titel ist sehr ungewöhnlich: Geht es um die Farbe Orange oder um eine Apfelsine? Also aktiviert man die rudimentärsten Französischkenntnisse und durchforstet, während der Song immer wieder läuft, das Internet – auf der Suche nach den Lyrics und einer Übersetzung. Auf Deutsch findet sich erst mal nichts, aber auf Dänisch gibt’s die Textzeilen nachzulesen. So bekommt man eine erste Vorstellung. Da soll einer auf dem Markt eine Apfelsine gestohlen haben. Er wird von einer Menge massivst beschuldigt, doch er beteuert, dass er es nicht getan habe. Er komme von weit her, aus der schönen Natur, und habe mit Orangen nichts am Hut. Doch die Menge, hörbar gemacht durch den fordernden Chor und schrille Frauenstimmen, lässt nicht locker. Auf Yotube findet sich ein Video, in dem Monsieur Bécaud nur allein zu sehen ist. Aber er fühlt sich verfolgt und bedroht, am Ende bricht er vor Angst zusammen.

Dann eine weitere Entdeckung, die den ersten Eindruck bestätigt. Dietmar Schönherr, Deutschlands anspruchsvollster und politischster Showmaster der Sechziger- und Siebzigerjahre, hat den Song auf Deutsch gecovert. Titel: Der Orangendieb. Gesanglich eher weniger intensiv, inhaltlich umso mehr. Ein echter Exot im deutschen Schlagerkontext. Es scheint um Ausgrenzung und Gruppendruck, letztlich um Gewalt gegen Andersaussehende zu gehen. Ein Fremder, der in die Stadt kommt, wird beschuldigt einen Diebstahl begangen zu haben. Er beteuert seine Unschuld, aber niemand glaubt ihm. Wird ihn die Menge lynchen? Der Youtube-User, der den Song eingestellt hat, packt am Ende das Bild eines Galgens dazu. Als Hörer ist man auf der Seite des Verfolgten. Ein irritierender Song, der es derart in sich hat, dass er sogar in einer Internetliste von Antikriegsliedern auftaucht. Und der Monsieur 100.000 Volt für mich in neuem Licht erscheinen lässt. Der Schnulzensänger, für den ich ihn als Jugendlicher hielt, hatte ganz offensichtlich mehr drauf – zu bewundern auch in einer mitreißenden Liveaufnahme des Songs.

Seltsam, dass ich L’Orange ausgerechnet in einer Zeit entdecke, in der die kleingeistigen AfD’s Pegidas und Donald Trumps dieser Welt mit miesesten Sprüchen gegen schutzsuchende Flüchtlinge und Asylbewerber, gegen alles Fremde, wettern.