Musik nach Maß: Über die fieberhafte Suche nach dem perfekten Popsong und dem garantierten Hit

Was macht eigentlich einen perfekten Popsong aus? Und wie landet man einen todsicheren Hit? Diese beiden Fragen sind zwar nicht so alt wie die Menschheit, aber mindestens so alt wie die Musikindustrie. Und gerne werden sie munter miteinander vermischt. Frei nach dem Motto: Wenn ein Song ein Hit wird, dann muss er doch irgendwie perfekt sein. Entsprechend oberflächlich wirken Internetforen, die regelmäßig „Bester Popsong aller Zeiten“-Votings veranstalten. Natürlich geht es dabei nicht um echten Erkenntnisgewinn, sondern vor allem um Traffic auf dem Portal. Und so bieten die User-Antworten selten mehr als eine bunte Ansammlung von nicht weiter begründeten persönlichen Geschmacksäußerungen. Es bleibt ein netter Anlass zum Smalltalken, und wer Kontakte sucht, bekommt vielleicht einen Hinweis auf Mitmenschen, die musikalisch auf derselben Wellenlänge liegen.

Schon etwas ernster wird das Thema unter Musikjournalisten angegangen. Hier herrscht allerdings ein Misstrauen gegenüber Hitsongs vor: Denn was kommerziell enorm erfolgreich ist, kann doch nicht wirklich „gut“, geschweige denn ästhetisch vollkommen sein. Für die Mehrheit der Fachleute hat der perfekte Popsong weniger mit Chartstauglichkeit als mit emotionaler Wucht, mit kompositorischer Raffinesse oder einzigartigen Vortragsqualitäten zu tun. Die Analyse der Arbeit von Singer/Songwritern, von Rock- und Soul-Künstlern wird dann gern zur Suche nach dem Heiligen Song-Gral stilisiert. Damit unterstreichen Kritiker zum einen die Qualität der von ihnen gefeierten Künstler, zum anderen die Wichtigkeit ihres eigenen journalistischen Treibens. Dass natürlich auch hier der persönliche Geschmack zu den wichtigsten Motoren der Autorinnen und Autoren gehört, wird meistens elegant verschleiert.

Immerhin wird von der Fachwelt neben den Beatles so wunderbaren Institutionen wie Elvis Costello und Prefab Sprout die Fähigkeit bescheinigt, „ideale Lieder“ zu schreiben. Womit wir bei den Künstlern selbst wären. Irgendwo zwischen unmittelbarer Euphorie und zielstrebiger Rationalität, meist auch intuitiv nehmen sie den natürlichen Wettstreit um die besten musikalischen Ergebnisse an – immer getrieben von der Ambition, einen nicht nur ansprechenden und bewegenden, sondern auch in Aufbau und Arrangement rundum gelungenen Song zu fabrizieren. Einen schönen Beleg liefert das Interview, das die Zeitschrift „GALORE“ 2008 mit dem ABBA-Komponisten Björn Ulvaeus führte:

Mr. Ulvaeus, was wäre der in Ihren Ohren perfekte Popsong?
Björn Ulvaeus: (überlegt) „When You Walk In The Room“ von Jackie DeShannon ist jedenfalls nahe dran. Da stimmt nahezu alles, dabei war die Nummer ursprünglich nur eine B-Seite und wurde auch erst durch die deutlich schwächere Searchers-Version zum Hit.
Was fühlen Sie bei diesem Song?
Ganz ehrlich? Neid! Puren Neid! (lacht) Seit ich dieses Lied Anfang der Sechziger zum ersten Mal gehört habe, denke ich: Verdammter Mist, warum ist nicht mir das eingefallen? Es ist so unglaublich schwerelos und erhebend, dass nicht einmal „Mamma Mia“ oder „S.O.S.“ mitkommen.“
Ihnen selbst ist das perfekte Lied also noch nicht gelungen?
Wir waren ein paar Mal nahe dran, denke ich, aber ich würde das niemals behaupten. Obwohl: Ich saß vor einigen Jahren mal in einem New Yorker Restaurant, als plötzlich Pete Townshend an meinen Tisch trat und meinte: „Ich wollte Ihnen nur eben sagen: ‚S.O.S.’ ist der beste Popsong, der jemals geschrieben wurde.“

Ulvaeus und der von ihm erwähnte Pete Townshend, Kopf der mindestens ebenso „legendären“ britischen Rockband The Who, sind nur zwei von Tausenden von Songschreibern, die mit ihren Stücken richtig viel Geld verdient haben. Das ruft natürlich eine weitere Sparte von Akteuren auf den Plan – die Ratgeberfraktion. Die durchforstet die Hits vergangener Jahre und Jahrzehnte mit dem Ziel, so etwas wie charakteristische Strukturen, wenn nicht gar die Formel für den kommerziell erfolgreichen Song zu entdecken. Und wenn es schon nicht für den eigenen Nummer-eins-Hit reicht, versucht man eben wie Rikky Rooksby mit der How to Write Songs-Serie, seine Erleuchtungen in Buchform zu Geld zu machen.

Oder man lässt andere großzügig kostenlos davon profitieren – zum Beispiel über Internetplattformen wie „suite.io“ und „Taxi,com“. „Suite“ gibt in Yogesh Bakshis Beitrag „How to write a hit pop song“ Tipps zu Tempo, Beat oder Storyline und verrät in konspirativem Ton, dass die ideale Länge für ein Song-Intro exakt 13 Sekunden betrage.
Alle Achtung, auf diese Info haben Heerscharen erfolgloser Songschreiber natürlich schon Jahrzehnte gewartet!

In der „Songwriting“-Rubrik von „Taxi“ wiederum finden sich ungemein hilfreiche Kompositionsempfehlungen wie „The best way is to constantly and persistently study what hit songwriters do“ („Der beste Weg ist, immer wieder gründlich zu studieren, wie Hit-Songschreiber vorgehen“) sowie Links zu weiterführenden Beiträgen. Allein deren Titel beflügeln die Fantasie und versprechen nicht nur jede Menge Spaß, sondern lassen auch von unmittelbarem Superstartum träumen: „The 5-Minute Songwriting Class“, „A Good Melody Is Like Sex“, „Chorus Construction“, „Ten Tips for Building Stronger Songs“ oder „Teaching an Old Dog New Tricks“.

Und dann sind da noch die Hardcore-Wissenschaftler, die glauben, dass sich das Wesen der Musik zumindest im Ansatz softwaretechnisch bestimmen lässt. Die Rede ist von echten Forschertypen wie Frank Riedemann, der in dem Essayband Black Box Pop über „Computergestützte Analyse und Hit-Songwriting“ referiert. Euphorisch beschreibt er, wie er 57 Hits aus den deutschen Single-Jahrescharts der Jahre 2000 bis 2005 und diverse – Achtung! – „Non-Hits“ aus demselben Zeitraum auswählte und wie diese „auf Grundlage des Notentextes in ein computerlesbares Format kodiert und in die vom Autor entwickelte Analysesoftware Essencer eingegeben“ wurden. Entscheidend für die Untersuchungsergebnisse waren so exotische Variablen wie der „erste Einsatzzeitpunkt des ersten Chorus“, die „systemische Redundanz der Melodiephrasen im Chorus“, die „Vorkommenshäufigkeit von prominenten kompositorischen Strukturprinzipien“ wie „Melidents“, „Sequenzierung“ und „Intchanges“ oder die „Dichte syntaktisch-morphologischer Figuren im Songtext“. Von den Resultaten ist Riedemann regelrecht begeistert: „Ungeachtet der Tatsache, dass die vorgestellten Variablen nur einen kleinen Auszug aus der Vielzahl möglicher musik- und textimmanenter Gestaltungsmerkmale darstellen“, schreibt er, „lässt sich bereits hier mittels einer binär-logistischen Regression die Wahrscheinlichkeit der Zugehörigkeit der Songs zu den Kategorien Hit und Non-Hit in Abhängigkeit dieser Variablen als Einflussgrößen berechnen.“
Omagawd…

Allerdings, so Riedemann: „So beeindruckend dieses Ergebnis aufgrund der fehlerfreien Klassifizierung auf den ersten Blick zu sein scheint – es wird nicht der Komplexität musik- und textimmanenter Gestaltungsmerkmale von Hitsongs gerecht.“

Oha…

Zu einer ähnlichen Einschränkung gelangt auch der Bonner Musikprofessor Volker Kramarz, wenn er im Januar 2015 im Interview mit dem „Express“ bekennt: „Trotz aller Formeln ist ein Hit harte Arbeit, braucht gute Ideen, tolle Sänger, schöne Melodien – und ein bisschen Glück.“ Dennoch setzt auch Kramarz Computertechnologie ein, um seine Thesen zum Hiterfolg bestimmter Songs zu untermauern: nur eben nicht zur Auswertung der Musik, sondern zur Bestimmung des Hörerverhaltens. Klingt kompliziert, ist aber ganz simpel: Schon seit Jahren betreibt Kramarz Kompositionsanalysen und will in der Folge mehrere Hitformeln ermittelt haben. Von diesen „Pop-Formeln“ sei der sogenannte „Turnaround“, die Akkordfolge C-Dur/a-moll/F-Dur/G-Dur, die erfolgreichste. In seinem aktuellen Buch Warum Hits Hits werden: Erfolgsfaktoren der Popmusik beschreibt Kramarz nun, wie er freiwilligen Probanden im Magnetresonanz-Tomografen (MRT) Hits vorgespielt und ihre Hirnaktivität gemessen hat. Seine bahnbrechende Erkenntnis: „Dabei konnten wir ganz klar feststellen, dass Songs mit den Pop-Formeln bei jedem Menschen das Belohnungssystem im Gehirn aktivieren.“

Potztausend!

Aber ist das nun wirklich eine bahnbrechende Erkenntnis? Ist es nicht eher in etwa so, als würde man einem eingefleischten Frankfurter abwechselnd Grüne Soße und Reisnudeln zum Verzehr vorsetzen, um sogleich euphorisch festzustellen, dass er auf die Grüne Soße erst mal stärker reagiert? Dass er sich aber über Jahrzehnte hinweg bei der Riesenauswahl an Gerichten immer und immer wieder für die Grüne Soße entscheiden würde, wäre damit überhaupt nicht bewiesen. Oder, anders ausgedrückt: Wenn ein Song einer vertrauten Formel folgt, bedeutet das noch lange nicht, dass er ein Hit wird – man denke nur an die Millionen von Allerweltssongs, die es nicht eben in die Charts schaffen. Im Gegenteil: Ist es nicht oft gerade das Neue, Nichtvertraute, Überraschende, das Interesse weckt und einen Song in die weltweiten Hitparaden katapultiert?

Entscheidende weitere Faktoren für den Erfolg eines Songs – etwa Timbre, Sound oder Studioeffekte, das Image, die Performance und nicht zuletzt das Künstlermarketing – lässt der Musikprofessor gleich gänzlich außer Acht – aber Hauptsache, seine Darstellung mutet wissenschaftlich an. Schließlich haben Computermessungen etwas „Empirisches“!
Wir wissen nicht, was Frank Riedemann und Volker Kramarz beim Hören von Musik empfinden. Genauso wenig wissen wir, ob es unter Nutzung der „Essencer“-Software oder Anwendung von Pop-Formeln jemals irgendwem gelungen ist oder gelingen wird, die Charts zu stürmen. Zumal ausgerechnet diejenigen, die am lautesten behaupten, den Schlüssel zum großen Songerfolg zu haben, selber nichts an Songerfolgen vorzuweisen haben. Der Gedanke, Musik nicht nur messen und auswerten, sondern auch auf kommerzielle Durchschlagskraft hin durchdesignen zu können, engt nicht nur die musikalische Praxis, sondern auch das Publikum maßlos ein: Die musikalische Praxis ist zum einen kulturell geprägt, zum andereren entwickelt sie sich wie die Gesellschaft, wie die Technik ständig weiter. Und: Jede Hörerin, jeder Hörer reagiert auf Musik anders, abhängig von der individuellen Befindlichkeiten, den jeweiligen musikalischen Vorkenntnissen und Erfahrungen.

Mein Fazit: Musik ist ein eigenes Zeichensystem und in dieser Eigenschaft nicht wirklich greifbar, Musik ist ständig im Fluss. So wie Sprachcomputer weder einen fremdsprachlichen Text angemessen übersetzen (man lasse sich nur mal spaßeshalber im Internet einen fremdsprachlichen Lexikoneintrag ins Deutsche übertragen) noch adäquat auf die unterschiedlichsten Sprechsituationen reagieren können, so ist auch die Idee eines perfekten Popsongs oder eines garantierten Hits letztlich eine Illusion. Denn am Ende bleibt mit Blick auf die Musik, wie der Rockkritiker Richard Meltzer einmal formulierte, nur eine durch das Zusammengehen von Text, stimmlichem Ausdruck, kompositorischen Mitteln und Sound aktivierte „unknown tongue“, eine unbekannte Sprache.

Was Tüftler nicht dran hindert, Musik auch weiterhin computertechnisch zu untersuchen. Der neueste Schrei: Musikinformatiker von der Queen Mary University of London haben 17.094 Hits aus den Top 100 der USA mit Methoden der Evolutionsforschung untersucht. Mittels einer entsprechenden Software fanden sie heraus, dass es in den letzten knapp 60 Jahren lediglich drei Zeitpunkte gab, an denen sich die Zusammensetzung der Charts – und damit der Musikgeschmack – grundlegend veränderte: 1964, 1983 und 1991. Anders ausgedrückt: In den 1960er Jahren setzten Rock und Soul neue Akzente, in den 1980er Jahren New Wave und Elektronik, in den 1990er Jahren Hip-Hop.

Ja wow!

Evolutionstheorie und Computerprogramme – das wirkt schon wahnsinnig wissenschaftlich und ungewöhnlich. Aber mal ehrlich: Hätten die engagierten Forscher nicht einfach mal die Ohren aufsperren können? Hat es für ihre banale Erkenntnis wirklich eines kostspieligen Forschungsprojekts bedurft?

Der „This song“-Kniff

„My name is Luka…“, „And my name is Bobby Brown…“, „I love you…“ – in der Regel nehmen wir nicht für bare Münze, was uns die vielen Ichs im Songuniversum erzählen. Es sind fiktive Ichs, mal mehr, mal weniger nah an den Autoren, und sie entwickeln ihre ganz eigenen Geschichten und Gedanken. Der Song öffnet ein Fenster in eine abgeschlossene Welt, er ist wie eine Glaskugel, in die wir hineinschauen – wie eine Wundertüte, deren Inhalt sich über uns ergießt. Gelegentlich aber passiert etwas anderes: Plötzlich rückt der Song selbst in den Fokus, bevorzugt mit den Worten „this song“ – „dieser Song hier“. Und dann wird es spannend. Denn dann pocht der Song an seine Grenzen, versucht er spielerisch, sie zu überwinden. Das in den Lyrics Geschilderte rückt viel näher an den Interpreten heran. Der Text, die Musik scheinen nicht mehr eine eigenständige Fiktion hervorzurufen, sondern öffnen sich zur realen Welt, zumindest zum Show-Ich hin. Sie wirken plötzlich wie eine direkte Botschaft des Interpreten an ein bestimmtes Gegenüber. Dieses Gegenüber, dieses Du, wird aber nie konkret benannt. Und so ergibt sich eine eigenwillige Spannung – die zu übermütigen Spielchen motiviert.

In Don’t Believe A Word, einem alten Gassenhauer der irischen Band Thin Lizzy, beteuert der Sprecher, das angesprochene Du nicht zu lieben, dabei ist er total verliebt. Ein gängiges Motiv im Lovesong, man denke an I’m Not In Love von 10cc oder Ich lieb dich überhaupt nicht mehr von Udo Lindenberg. Doch dann heißt es bei Thin Lizzy: „Don’t believe me if I tell you / That I wrote this song for you / There just might be some other silly pretty girl / I’m singing to.“ Natürlich kann der junge Mann, den man sich beim Hören vorstellt, auch in der Songwelt ein Songschreiber sein. Sein Lied, das womöglich ein echtes, ein bekennendes Liebeslied wäre, würden wir dann aber nicht vernehmen, es bliebe nur kurz erwähnt. Viel näher liegt es doch, „this song“ direkt auf das Musikstück von Thin Lizzy zu beziehen, das man gerade hört. Und das scheint mir auch das zu sein, was bei den meisten Hörerinnen und Hörern unbewusst als Erstes passiert. Damit ist aber die speziell entwickelte Songwelt – die Illusion einer Gesprächssituation oder einer einsamen Monologsituation – durchbrochen. Der Song beschreibt nicht mehr einen fiktiven Jungen, der mit seinen Gefühlen hadert und einem Mädchen dumme Sachen sagt, sondern Musik und Text selbst werden zur direkten Botschaft des Thin-Lizzy-Sängers Phil Lynott an ein konkretes Gegenüber. Oder anders gesagt: Das Song-Ich scheint nicht mehr Teil der Songwelt zu sein, sondern identisch mit demjenigen, der „diesen Song“ zum Besten gibt. Auch wenn die Aussage – „Dieser Song, in dem ich dir sage, dass ich dich nicht liebe, ist nicht für dich“ – etwas verschwurbelt daherkäme. Auf jeden Fall rücken so die Lyrics deutlich in die Nähe des biografischen, zumindest des Show-Ichs.
Aber wer ist das Gegenüber?

Speziell in diesem Song könnte man die kleine, im Ansatz absurde Spielerei schnell auflösen, indem man „this song“ metaphorisch interpretiert – im Sinne von Liebesschwüren oder Liebesgedichten, von Liebesgesäusel, das das Song-Ich an eine Frau in der Songwelt richtet. Denn am Ende handelt es sich auch in Don’t Believe A Word um eine konventionelle, mit Klischees arbeitende Komposition. Im wesentlich eleganteren Stück Your Song von Elton John dagegen wird einem geliebten Du, das natürlich ohne Konturen bleibt, vom Song-Ich in poetischer Manier exakt „dieser Song“ gewidmet: „I know it’s not much but it’s the best I can do / My gift is my song and this one’s for you // And you can tell everybody this is your song / It may be quite simple but now that it’s done / I hope you don’t mind / I hope you don’t mind that I put down in words / How wonderful life is while you’re in the world.“ Auch hier gibt es ein Song-Ich, das sich in der Song-Illusion bewegt, und gleichzeitig ist man geneigt, die Lyrics direkt Elton John zuzuordnen. Besonders ausgeprägt kommt hier aber och die Dynamik zwischen Entertainer und Publikum, zwischen Show-Ich und Fans, ins Spiel. Denn gerade wenn Elton John dieses Lied live vor einer begeisterten Menge spielt, dann klingen etliche der Verse tatsächlich auch wie ein Dankeschön, das der Star mit einnehmender Bescheidenheitsgeste direkt an seine treuen Anhänger richtet.

Der „this song“-Kniff durchzieht die ganze Rockgeschichte, von den Beatles (It’s Only A Northern Song) über P.I.L. (This Is Not A Lovesong) bis hin zu Villagers (Becoming A Jackal), Olly Murs (This Song Is About You) und D.R.U.G.S. (If You Think This Song Is About You, It Probably Is). Die berühmte Blaupause für solche Stücke und gleichzeitig die spektakulärste „This song“-Spielerei der jüngeren Liedgeschichte ist natürlich You’re So Vain, 1972 veröffentlicht von der amerikanischen Singer-Songwriterin Carly Simon. Als besonders clever erweisen sich hier die Refrainverse „You’re so vain / You probably think this song is about you“ – „Du bist so eitel / Wahrscheinlich denkst du auch, dieser Song handele von dir“. Impliziert ist natürlich: „Dabei handelt er gar nicht von dir“, so dass nicht aufgelöst werden kann, an wen genau der Song sich richtet. Denn wenn sich jedermann nur fälschlicherweise mit dem Song identifizieren kann, dann wurde er eigentlich für niemand Konkreten oder – andersherum – für alle eitlen Männer dieser Welt geschrieben. Die Lyrics sind die Abrechnung des weiblichen Song-Ichs mit einem ehemaligen Liebhaber, der sich als eitler Fatzke erwies und nur in einer armselig-glamourösen Scheinwelt lebt. Obwohl der text keine Rückschlüsse auf konkrete Personen zulässt, versuchen Kritiker und Fans seit Jahrzehnten herauszufinden, um welchen Mann aus dem persönlichen Umfeld der Sängerin es sich bei dem Du wohl handeln könnte. Und Carly Simon hat die Diskussion zeitweilig selbst gern befeuert. Ich schätze, ein abschließendes Statement wird ausbleiben. Die Enttäuschung läge letztlich in der Erkenntnis der Fiktion.
Die „Extended Version“ dieses Beitrags wie immer auf Faust-Kultur.

„Animals“ von Maroon 5: Eine Frage des Blickwinkels

Songs und Videos haben keine in Stein gemeißelte einzige und endgültige Bedeutung – sie haben mehrere, manchmal unzählige Bedeutungen. Denn se bedeuten das, was jeder einzelne Hörer, jeder einzige Hörerin aus ihnen macht. Und sie ecken an, je nachdem, was man in ihnen zu hören und zu sehen glaubt. Animals, den aktuellen Hit von Maroon 5 zum Beispiel, kann man leicht als frauenfeindliches, sexistisches Pamphlet auffassen, vor allem angesichts von Textzeilen wie: Baby „I’m preying on you tonight / Hunt you down eat you alive … I cut you out entirely / But I get so high when I’m inside you.“ Das männliche Ich jagt anscheinend seine weibliche Beute wie ein Raubtier und verschlingt sie förmlich, das Ganze scheint sogar etwas von einer Vergewaltigung zu haben.

Hört man allerdings den Text als Ganzes, dann löst sich dieser schlimme Eindruck auf, dann bedeutet der Song etwas anderes: „But we get along when I’m inside you / You’re like a drug that’s killing me“, heißt es an anderer Stelle und: „But you can’t stay away from me / I can still hear you making that sound / Taking me down rolling on the ground / You can pretend that it was me / But no, oh…“ In meinen Ohren geht es da wohl eher um eine Art Hassliebe – um zwei durchaus auch leidende Menschen, die nicht voneinander loskommen und sich vor allem sexuell immer wieder voneinander angezogen fühlen. Eine animalische Leidenschaft verbindet sie, und der Sex geschieht einvernehmlich, wie Juristen sagen würden.

Nun liebt es Maroon-5-Sänger Adam Levine, auf solchen erotischen Sprachbildern herumzureiten, und er tut das immer wieder reichlich selbstverliebt. Das kann nerven. Aber etwas Frauenverachtendes ist für mich in den Lyrics zu Animals nicht zu erkennen. Dieser Vorwurf wird aber vor allem dem Video zu dem Song gemacht. Da spielt Levine einen Metzger, der als Stalker eine Kundin verfolgt. Die (verkörpert von Levines Ehefrau Behati Prinsloo) bekommt nichts davon mit, auch dann nicht, als der Stalker nachts in ihre Wohnung eindringt und sie beim Schlafen fotografiert. In einer anderen Szene versucht der Stalker, das Objekt seiner Begierde in einem Club anzusprechen, wird aber entnervt zurückgewiesen. Und das Video zieht die Drastikschraube noch um einiges an: Da schmiegt sich Levine mit nacktem Oberkörper an aufgehängte gehäutete Tierleiber, da hat er als Stalker Sex mit der Frau, die er begehrt, und beide werden mit Blut übergossen.

Für das Rape, Abuse & Incest National Network ist der Fall klar: „Das ist eine gefährliche Darstellung einer Stalker-Fantasie – und niemand sollte den kriminellen Akt des Stalkings mit Romantik verwechseln“, wird die amerikanische Frauenrechtsgruppe auf SPIEGEL Online zitiert. Andere US-Bürgerrechtler lenken den Blick weg von der Fiktion und auf das Darstellerpaar selbst: Levine behandele seine Gattin wie ein Stück Fleisch, so lautet der Vorwurf. Und der britische „Guardian“ ist sich laut SPIEGEL Online sicher, „das Video beleidige jede Frau. … Es sei nichts alternativ daran, zu zeigen, wie Frauen gestalkt, vergewaltigt oder getötet werden.“

Mein Blickwinkel ist wiederum ein anderer. Was wird gezeigt, und wie wird es gezeigt?, frage ich mich und komme zu dem Schluss: Es wird ein ziemlich krankhaftes Verhalten gezeigt, und dieses Verhalten wird nicht entweder beschönigt oder glorifiziert, sondern auch als krankhaft, erbärmlich dargestellt. Die Szenen mit den Tierleibern sind alles andere als anregend, und nicht nur der irre Blick des Stalkers, sondern auch die Abfuhr, die er sich im Club holt, lassen ihn als ziemlich gestörten Mann erscheinen. Das Animalische, das die Textzeilen thematisieren, hat hier etwas zutiefst Neurotisches.

Die Abfuhrszene ist noch aus einem anderen Grund bezeichnend: Das Video zeigt, wie die Frau deutlich Nein sagt. Und die gemeinsamen Sexszenen spielen sich eindeutig in der Fantasie des Stalkers ab. Mitnichten wird hier der Akt des Stalkings mit Romantik verwechselt – die Figur der gestalkten Frau behält in meinen Augen ihre Würde. Allein dass die Themen Stalking und Gewalt gegen Frauen thematisiert werden, scheint besagten Frauen- und Bürgerrechtsgruppen schon Anlass zur Kritik zu geben, ein differenzierter Blick fehlt. Dann müsste man noch einiges mehr verbieten.

Reichlich bizarr wirkt der Vorwurf einiger Verschwörungstheoretiker, auf den das Portal Breathecast.com hinweist: Diese „Theoretiker“, so Breathecast.com, meinen, in den blutigen Szenen irgendwelche satanischen Rituale sowie in Adam Levine einen versteckt agierenden Satanisten zu erkennen. Auch so kann man Animals also sehen. Einen völlig überraschenden anderen Blickwinkel aber steuert schließlich ausgerechnet die Tierschutzorganisation PETA bei: Die nimmt Maroon 5 sogar richtiggehend in Schutz und zeigt sich laut Promiflash.com „sehr angetan davon, wie überzeugend der Sänger einen Fleischer darstellt und damit die Grausamkeit des Schlachtens von Tieren verdeutlicht.“ O-Ton PETA: „Wenn überhaupt, geht das Video nicht weit genug. Wir sind alle Tiere, aber jeder, der sich über die blutigen Video-Szenen aufregt, sollte lieber auch im wahren Leben blutige Gewalt vermeiden, indem er ein überzeugter Veganer wird.“

Wir sehen: Auf den Blickwinkel kommt es an. Und die Blickwinkel auf Animals sind vielfältig. Da kommt vielleicht noch einiges auf uns zu…

Große Ich-Show eines Show-Ichs: Robin Thicke und „Paula“

Wer zum Teufel ist Paula? Die 2000 an einer Überdosis Heroin gestorbene britische TV-Moderatorin Paula Yates? Die amerikanische Hit-Songschreiberin und Choreographin Paula Abdul? Oder die deutsche Sex-Talkerin und -Kolumnistin Paula Lambert? Fakt ist: Paula heißen viele interessante Frauen. Nur will uns der im letzten Jahr mit dem Monsterhit Blurred Lines berühmt gewordene US-Crooner Robin Thicke weismachen, mit Paula sei unmissverständlich seine Noch-Ehefrau Paula Patton gemeint, die sich Anfang dieses Jahres von ihm trennte.

Paula ist der Titel von Thickes neuem Album. Es enthält eine Flut von Selbstkasteiungen und Selbstbezichtigungen, von Entschuldigungen und Beschwörungen gegenüber einem nicht näher gekennzeichneten Du, das unbedingt zurückgewonnen werden soll. Und selten zuvor hat ein Künstler in der Öffentlichkeit so explizit, so aufdringlich und so exzessiv darauf bestanden, dass nur eine bestimmte Person mit dem Du in den Songtexten gemeint sei. Bei Konzerten in den letzten Monaten wurde Thicke nicht müde zu erzählen, wie sehr er unter der Trennung leide, und während seines Auftritts im Rahmen der „BET Awards“ widmete er den Song Forever Love ausdrücklich seiner Frau Paula Patton. Um auch die letzten Zweifler zu überzeugen, wurde gegen Ende der Darbietung sogar noch ein Bild des Paares mit der Überschrift „Paula“ auf eine Leinwand projiziert.

So weit, so eindeutig? Nur bedingt. Denn in sämtlichen Titeln und Lyrics des Albums werden keine konkreten Namen genannt. Und statt eindeutiger „historisch“ festmachbarer Eckdaten werden pausenlos Lovesong-Platitüden, vage Erzählungen und mal mehr, mal weniger fantasielose Bilder aneinandergereiht, die sich auf der Öffentlichkeit bekannt gewordene Begebenheiten aus Thickes Leben beziehen KÖNNEN, aber nicht MÜSSEN. Forever Love, Still Madly Crazy, Get her Back, Love Can Grow Back – heißen so oder ähnlich nicht auch Millionen anderer Hits? Natürlich wäre es unsinnig zu behaupten, dass ein Song niemals mit dem realen Leben und den persönlichen Gefühlen eines Künstlers oder einer Künstlerin zu tun haben kann. Zweifellos inspirieren einschneidende Erfahrungen auch Songwriter zu bewegenden Werken. Aber für gewöhnlich verändern sie in den Lyrics einzelne Details, verschleiern Bezüge, abstrahieren und spitzen den Song auf einen bestimmten Gedanken zu.

Bei Thicke sind es nicht nur die vielen textlichen Klischees, die Zweifel an der „Authentizität“ seiner Songs angebracht erscheinen lassen, sondern gerade die peinlich-obsessiv anmutenden Bemühungen des Sängers, dem Publikum zu erklären, wer mit dem Du in seinen Lyrics gemeint sei. In der Musik nur anzudeuten und die Phrasenmaschine zu füttern, nach außen aber einen unmissverständlichen Bezug herzustellen – das passt für mich nicht recht zusammen. Es riecht vielmehr nach einer Ich-Show, bei der sich das Show-Ich ziemlich weit aus dem Fenster lehnt.

Im Video zur Single Get Her Back sieht man den Künstler als buchstäblich geprügelten Helden mit blutiger Nase, immer wieder eingeblendet wird eine junge Frau, die Paula Patton ein bisschen ähnlich sieht. Aber: Es ist nicht Paula Patton, womit auch das in den Songlyrics angesprochene Du an Kontur verliert. Hinzu kommt, dass die Videopartnerin in Get Her Back vor allem das ist, was Frauen in so gut wie allen Robin-Thicke-Videos sind: attraktive Hingucker, die den Sänger als begehrenswerten Mann erscheinen lassen und zur Schaffung einer schwülen Softsex-Atmosphäre beitragen. Gerade das Schenkelklopfer-Video zu Blurred Lines mit seiner genüsslichen Zurschaustellung nackter Models hat in dieser Hinsicht ja neue Maßstäbe gesetzt – und schreit damit geradezu nach einer Parodie.

Bezeichnend vor diesem Hintergrund erscheint mir die Art und Weise, wie Herr Thicke seine Ehefrau in früheren Videos eingesetzt hat. Tatsächlich ist Paula Patton mehrmals in der weiblichen „Hauptrolle“ zu sehen, in Lost Without U oder in Love After War. Und in beiden Kurzfilmen tut sie nicht mehr und nicht weniger als das, was die namenlosen Frauen in den anderen Videos ihres Mannes tun: in Reizwäsche posieren, schmusen und auch sonst vollen Körpereinsatz leisten, um Erotik zu beschwören. Alles folgt in erster Linie einer „Sex sells“-Strategie: Hier nach irgendwelchen autobiografischen Bezügen zu suchen, wäre einfach lächerlich. Während Patton in Lost Without U keine namentliche Nennung erfährt, wird sie in Love After War explizit eingeführt, allerdings auf höchst überraschende Weise. Da gibt es nämlich ein bedeutungsschwangeres Intro, bestehend aus einem unbestimmten Klangteppich und einem französisch gesprochenen Text, dessen englische Übersezung am unteren Bildrand eingeblendet wird: „This is a very serious film starring the American pop-star Robin Thicke and the stunning young starlet Paula Patton, written and directed by Hype Williams. Albert Einstein once said: ‚Imagination is much more important than knowledge.‘ Imagine with us now, what it’s like to make Love After War.“ Es geht um Fantasie, die wichtiger ist als Wissen. Es geht um einen Film. Es geht um Rollen, die jemand spielt – ganz vage angedeutet wird ein streitendes und sich wieder versöhnendes Paar. In die männliche Rolle schlüpft „der amerikanische Popstar Robin Thicke“, und die weibliche Rolle bekleidet nicht etwa Robin Thickes Ehefrau, sondern das „atemberaubende Starlet“ Paula Patton.

Oha: Die tun ja gar nichts, die wollen nur spielen. Also Alles Fiktion. Und die Gattin bloß ein hübsches Starlet. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Und so stellt sich natürlich die Frage: Wenn es schon in Zeiten, als die private Beziehung noch intakt zu sein schien, in Songs und Videos nur ums Posieren ging, warum sollen wir Robin Thicke dann heute abkaufen, dass er uns mit seinem neuen Album Paula wirklich etwas über sich und seine Gefühle mitteilen will? Thicke ist ein Showman, auch gar kein schlechter wohlgemerkt! Und so vermuten nicht wenige Kritiker hinter den peinlichen Auftritten des Stars einen längst etwas aus dem Ruder gelaufenen PR-Gag zur Paula-Promotion. In diesem Sinne möchte ich meinen Blogpost mit der Schlusspassage aus Anna Kempers wunderbarem Robin-Thicke-Beitrag in der „ZEIT“-Kolumne „Gesellschaftskritik“ vom 1. Juli 2014 beschließen:

„Am Ende wirkt Thickes öffentliches Zukreuzekriechen wie eine inszenierte Marketingkampagne: Die Werbung um seine Frau als Werbung für das Album. Sie glauben, es ist alles noch viel schlimmer? Thicke und seine Frau sind gar nicht getrennt, sondern es ist alles eine große, schmierige Kampagne, um beide berühmter zu machen? Dass Paula Patton ihn bald erhören wird und beide dann ihre Geschichte in Hollywood verfilmen lassen, mit sich selbst in den Hauptrollen? Sie sind so zynisch, wie es die ‚Gesellschaftskritik‘ nie sein könnte. Aber wir haben das Gefühl, wir könnten vielleicht noch einiges von Ihnen lernen.“

Mehr zu der Frage, was dahintersteckt, wenn ein neues Album als „das bisher persönlichste Album“ des Künstlers oder der Künstlerin promotet wird, in meinem neuen Beitrag auf Faust Kultur: http://faustkultur.de/1840-0-Behrendt-What-Have-They-Done-To-My-Song-XIII.html#.U7Q7x6jO47B

Detroit im Song: Soul-Mekka, Motor City, Geisterstadt

„Geisterstädte sind das Ergebnis von Flucht- oder Wanderungsbewegungen und damit Zeugnisse für verschiedenste Ereignisse oder Entwicklungen“, heißt es im Ankündigungstext einer Reihe von Reportagen, die diese und kommende Woche auf arte laufen und anschließend noch eine Zeit lang in der Mediathek abgerufen werden können. Neben Riesi in Sizilien, wo der Mangel an Arbeitsplätzen und kriminelle Machenschaften viele Menschen zur Flucht in den Norden getrieben haben, Städten in der Türkei und in China ist auch Detroit im amerikanischen Bundesstaat Michigan Thema (9. und 16. Mai).

http://programm.ard.de/TV/Programm/Suche/?sendung=2872411979327351

Detroit, Rufnahme „Motor City“, war jahrzehntelang die amerikanische Autometropole und zog in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zahlreiche Arbeitssuchende, darunter viele Schwarze, an. Zwar erlebte die Stadt einen wirtschaftlichen Boom, doch war sie auch gleichzeitig immer wieder Schauplatz blutiger Auseinandersetzungen zwischen der schwarzen und der weißen Bevölkerung. Heute leidet Detroit aufgrund fehlender Arbeitsplätze, der allgemeinen Wirtschaftskrise und einer rigiden Sparpolitik an drastischem Bevölkerungsschwund und einer hohen Kriminalitätsrate, 2013 musste die Stadt Konkurs anmelden.

Kein Wunder, dass Detroit – durch das berühmte Motown-Label auch eine bedeutende Musikstadt – immer wieder in Songs thematisiert wird. Erst 2011 erschien A Long Time von Mayer Hawthorne, ein mitreißendes Stück im Motown-Sound, das von der Hoffnung auf die Rückkehr zu ruhmreichen Zeiten erzählt, aber auch von der Erkenntnis, dass es bis dahin ein langer Weg sein wird. In der ersten Strophe wird ein Mann namens Henry eingeführt, und unschwer kann man dahinter den Autobauer Henry Ford erkennen. Ford sorgte für den wirtschaftlichen Boom der Stadt, der mit dem krassen Bild der Atombombe verknüpft wird: „Welcome to the Motor Town / Boomin’ like an atom bomb“. Atombombe? Warum das? Wahrscheinlich weil mit dem Aufschwung eine explosive soziale Gemengelage zwischen Schwarz und Weiß entstand – und weil es 1966 in einem Forschungsreaktor bei Detroit zu einer partiellen Kernschmelze kam: ein Unfall, bei dem wie durch ein Wunder kein größerer Schaden entstand. In der zweiten Strophe des Songs geht es um einen Mann namens Berry, und natürlich ist Berry Gordy gemeint, der Gründer eben jenes Motown-Labels, das von Smokey Robinson und den Supremes über die Four Tops und die Temptations bis hin zu den Jackson Five, Stevie Wonder oder Lionel Richie etliche amerikanische Soulgrößen herausbrachte. Mit der wunderbaren Konsequenz: „Oh, people all around the world / Tuning in their radios“.

Henry und Berry, so der Refrain, waren die geschichtlichen Höhepunkte, das Ultimative, „the end of the story“, danach jedoch ging alles den Bach runter. Und doch wird auch die Entschlossenheit formuliert, etwas für den langwierigen Wiederaufstieg dieser Geisterstadt zu tun. „Then everything went wrong / And we’ll return it to ist former glory / But it just takes so long … It’s gonna take a long time / It’s gonna take it but we’ll make it one day.“

Explizit um den Reaktorunfall von 1966 geht es in We Almost Lost Detroit von Rap- und Soulpionier Gil Scott-Heron. Der klare, kaum poetisch verdichtete Text führt dem Hörer immer wieder die schreckliche Vorstellung vor Augen, dass damals beinahe eine ganze Stadt zerstört worden wäre. Atomkraft, singt Scott-Heron, ist eigentlich ein vom Wahnsinn getriebenes Konzept, bei dem es letztlich nur um Geld geht. Die Sicherheit der Menschen bleibt zweitranging: „That when it comes to people’s safety / Money wins out every time / And we almost lost Detroit this time, this time. / How would we ever get over / Over losing our minds? / You see, we almost lost Detroit / That time.“ Freunden der Coverversion sei die wesentlich lautere, aber nicht minder beeindruckende Interpretation des Stücks durch Dale Earnhadt Jr. Jr. empfohlen.

Eine besonders aufregende Phase erlebte Detroit in den 1960er Jahren, als es im Zuge der Rassendiskriminierung immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Schwarzen und Weißen kam – Letztere unterstützt von großen Teilen der Polizei.

Die Kämpfe gipfelten 1967 in den „12.-Straße-Unruhen“ („12th Street Riot“). Anlass war eine Polizeirazzia in einer Bar an der Ecke Clairmont Street, die anschließenden Straßenschlachten dauerten fünf Tage und forderten – auch weil Armee eingesetzt wurde – über 40 Todesopfer. Etliche Hundert Häuser wurden verwüstet. In The Motor City Is Burning, der nervösen Aufarbeitung der Ereignisse durch den Bluesmusiker John Lee Hooker, blickt noch im selben Jahr ein fassungsloses Ich auf die brennenden Straßen. Erinnerungen an den Vietnamkrieg drängen sich auf, man spürt die Angst des Sprechers, seine Heimatstadt könne komplett zugrundegehen. Weder weiß das Ich, was es gegen die Zerstörung tun kann, noch versteht es die Zusammenhänge, die zu den Unruhen geführt haben. Wie heftig die Wut der Bewohner des Viertels ist, zeigt das Bild der Heckenschützen, die die Feuerwehr am Löschen der Flammen hindern. Hier die ersten beiden Strophen: „Oh, the motor city’s burnin’, it ain’t no thing in the world that I can do / Don’t ya know, don’t ya know the big D is burnin’,ain’t no thing in the world that Johnny can do / My home town burnin’ down to the ground, worser than Vietnam. // Well, it started on 12th and Clairmont this mornin’, I just don’t know what it’s all about / Well, it started on 12th and Clairmont this mornin’ I don’t know what it’s all about / The fire wagon kept comin’, the snipers just wouldn’t let ’em put it out.“

Die 1960er Jahre waren aber auch die große Zeit der amerikanischen Gegenkultur, der Friedens- und der Protestbewegung, zum Teil vorgetragen mit revolutionärem Impetus. Und nicht wenige weiße Rockmusiker lieferten den Soundtrack dazu. Wie die in Detroit ansässige Band MC 5 (für „Motor City Five“), die sich nicht durch einen rauen Sound, sondern auch durch provokante Parolen auszeichnete und für viele Kritiker schon auf die Punkbewegung 10 Jahre später vorauswies. Ihre internationale Karriere starten MC 5 im Jahr 1969 höchst ungewöhnlich, nämlich gleich mit einer Live-LP, die auch eine Coverversion von John Lee Hookers The Motor City Is Burning enthält. Hier drosseln die Musiker das Tempo des Originals und verleihen dem Stück etwas Düster-Bedrohliches, etwas Dampfwalzenhaftes. Der Text wird an wenigen Stellen markant verändert, wodurch er seinen fassungslosen, resignativen Charakter verliert: Nicht der Sprecher des Songs hat keinen Schimmer, was er tun soll, sondern die Gegenseite, die weiße Gesellschaft („they“, „white society“) muss tatenlos zusehen, wie die Schwarzen für ihre Rechte kämpfen. In der zweiten Strophe wird das ungläubige Nicht-Verstehen des ursprünglichen Song-Ichs durch einen hasserfüllten Hinweis auf die anrückende Polizei ersetzt – die Rede ist von umherspringenden und -schreienden „pig cops“ („Bullenschweinen“). Und aus den anonymen Heckenschützen, die die Feuerwehr am Löschen der Flammen hindern, werden explizit Heckenschützen der radikalen Bürgerrechtsbewegung „Black Panthers“, mit denen sich die Band letztendlich solidarisiert. Hier die beiden ersten Strophen der Coverversion von MC 5: „Ya know, the motor city is burning, babe, there ain’t a thing in the world they can do / Ya know, the Motor City is burning, people, there ain’t a thing that white society can do / Ma home town burning down to the ground, worser than Vietnam. // Let me tell you how it started now: It started on 12th Clairmount that morning, it made the… the pig cops all jump and shout / I said, it started on 12th Clairmount that morning, it made pigs in the street go freak out / The fire wagons kept comin’, baby, but the Black Panther snipers wouldn’t let them put it out.“ Sprach aus dem Original ein verunsicherter Schwarzer, ein um seine Zukunft bangender „kleiner Mann von der Straße“, äußert sich bei MC 5 ein selbstbewusstes Song-Ich, das dem unterdrückerischen weißen Establishment den Kampf ansagt. Auch andere amerikanische Städte sind mit ihren Problemen in Songs thematisiert worden, etwa der einst dahinsiechende Seehafen Baltimore (Randy Newman) oder die Spielerstadt Atlantic City (Bruce Springsteen). Aber das sind wieder ganz andere Geschichten.