Gedanken zum Kraftwerk-Konzert in der Jahrhunderthalle, 1.12.2015
Ich bin mir sicher: Würden Kraftwerk mal wieder ein Album mit neuen Stücken veröffentlichen, es stünde binnen weniger Tage in vielen Charts der Welt auf Platz eins. Aber Ralf Hütter & Co denken gar nicht daran, uns mit neuer Musik zu überraschen. Vielmehr zelebrieren sie ihre berühmten Werke, die längst zu museumsreifen Klassikern des modernen audio-visuellen Designs geworden sind, in immer neuen Verpackungen. Und so geht man zum Kraftwerk-Konzert wie in eine Botticelli-Ausstellung, auf eine Finissage oder zu einem Christo-Event: Man weiß in etwa, was einen erwartet, und freut sich auf die im wahrsten Wortsinn gut abgehangenen Ausstellungsstücke – aber spannend ist die Art und Weise der Präsentation.
Was die aktuelle Tour der Düsseldorfer Elektronikpioniere so aufregend macht, ist das schicke 3-D-Konzept, das dem Ausstellungs- und Konzertevent den zusätzlichen Charakter einer Kinovorführung verleiht. Am Eingang bekommt man 3-D-Brillen aus Pappe, durch die man die riesigen Bewegtbildprojektionen im Rücken der Künstler ungemein plastisch und räumlich erlebt. Da schweben nicht nur Raumschiffe und Satelliten, sondern auch Zahlen, Musiknoten, Buchstaben und Schrifttafeln durch den Saal, und manchmal meint man, förmlich in die virtuellen Szenerien einzutauchen.
Das alles passt zum Anti-Rockstar-Konzept, das die vier Kraftwerker unbeirrt umsetzen, indem sie die vollen zweieinhalb Performance-Stunden (inklusive Zugaben) stoisch konzentriert hinter ihren Konsolen stehen und das auf den Weg bringen, was die Besucher verlangen: geschmackvoll designte Sounds und auf den Punkt reduzierte Melodien, die seltsam berühren – getragen von treibenden Bassequenzen und Magengruben-Beats, eingebettet in ebenso kühle wie farbenfrohe Visuals, die zu keinem Zeitpunkt kitschig oder gar peinlich anmuten und die man sich nur so und keinen Deut anders vorstellen kann. Kraftwerk ist Kunst gewordene Konsequenz, ästhetische Selbstbeherrschung auf höchstem Niveau. Das leicht im Takt wippende Bein des zweiten Musikers von rechts kann da fast schon den Gesamteindruck stören.
Alle vier Kraftwerk-Mitglieder tragen Einheitsanzüge mit reflektierendem Gittermuster – am Ende lassen sie sich einen Track lang sogar durch Roboterpuppen ersetzen. Weil die Aufmerksamkeit weg vom exzentrisch-egomanischen Künstler und ganz auf das Werk gelenkt wird, erwartet man auch keine großen persönlichen Ansprachen von der Bühne herunter. Eine knarzende Computerstimme, die zur Begrüßung die Worte „Meine Damen und Herren, Ladies and Gentlemen“ zerhackt, und ein verhuschtes „Auf Wiedersehen“ von Ober-Kraftwerker Ralf Hütter am Ende des Konzerts – mehr braucht es nicht an Nettigkeiten zwischen Band und Publikum. Das atemlos-ekstatisch hervorgestoßene „Hallo Frankfurt!“ würde man Kraftwerk ohnehin nicht abnehmen, zumal dabei schon so mancher Star dank Tourstress und Lagerkoller den falschen Städtenamen in die Menge gebrüllt hat. Wozu eine Nähe vorgaukeln, von der jeder im Saal ahnt, dass es sie gar nicht gibt?
Und weil es bei Kraftwerk so ist, wie es ist, schüttelt man sich als Fan auch nicht in Ekstase wie bei einem Konzert von dEUS, Imelda May oder den Rolling Stones. Wirklich still stehen kann man angesichts der mitreißenden Rhythmen zwar nicht, aber man passt sich der Ruhe der Künstler und dem Fluss der Klänge und Bilder an. Der Bandname ist Programm – oft geht es um die Umsetzung von Kraft in Bewegung: Muskelkraft treibt Fahrräder an, Maschinenkraft bringt Autos und Züge in Fahrt, geistige Kraft, man könnte auch Kreativität sagen, verbindet Bilder, Sprache und Musik zu anregenden Kunstwerken. Titel wie Tour de France, Autobahn, Trans Europa Express, Mensch-Maschine oder Music Non Stop sprechen für sich. Die angestrebte Bewegung ist kontrolliert, sie verläuft stetig und gleichmäßig, kennt kaum Aufs und Abs, kein hektisches Hin und Her. Auch hier ist der Weg das Ziel.
Und so verfällt man als Konzertbesucher automatisch in ein kontrolliertes leichtes Grooven, das einen bei aller Selbstvergessenheit doch auch die schönen Erscheinungen und simplen kleinen Botschaften am Wegesrand aufnehmen lässt. Von Sehnsüchten ist da leise die Rede, etwa wenn es um das gut aussehende Model oder um Computerliebe geht, von Musik als Ideenträger und sogar von der zerstörerischen Kraft der Atomenergie, von Radioaktivität. Wer hier vor Jahren mal ein Wortspiel um lebendigen Rundfunk zu verstehen glaubte, wird längst durch Begriffe wie Hiroshima, Tschernobyl und Fukushima eines Besseren belehrt. So sind sie, die Kraftwerker: Statt leidenschaftlicher Argumentationen und bizarrer Bilder reichen ihnen ein paar lose kombinierte Einzelwörter. Und ein feiner Sphärenklang, ein verspieltes Zirpen zur rechten Zeit. Etwas Kindlich-Naives, gepaat mit leiser Wehmut, prägt nicht wenige Kraftwerk-Tracks.
Wo Liebe anklingt, wo es nicht um das menschliche Ego geht und wo bei aller Begeisterung für die Errungenschaften der Technik auch ein Bewusstsein für die Schönheit unserer Welt durchscheint, da sollten doch eigentlich nur liebe, friedliche Zeitgenossen zusamennkommen, möchte man meinen. Oder, als Frage formuliert: Können Kraftwerk-Fans überhaupt Arschlöcher sein? Die einfache Antwort lautet: Aber natürlich können Kraftwerk-Fans Arschlöcher sein! So wie wilde Rockmusik, die Friede, Freiheit und Bewusstseinserweiterung propagierte, nicht zwangsläufig nur edle Menschen angezogen, geschweige denn hervorgebracht hat, so tummeln sich auch im Kraftwerk-Universum echte Idioten. Nachdem sich eine Stunde lang Tausende Fans ihre Stehplätze gesucht und dabei freundlich miteinander arrangiert haben, schieben sich kurz vor Showbeginn drei junge Männer durchs immer dichter stehende Publikum. Direkt neben uns kommen sie nicht mehr weiter, was dazu führt, dass sich der erste und größte der drei direkt vor einer kleinen Frau mittleren Alters postiert. Die hat nun plötzlich in nur 20 cm Entfernung ein breites orangefarbenes Sweat-Shirt vor sich. Die Frau gehört zu einer Gruppe aus drei Paaren, die sich vorsichtig zu beschweren versuchen. Doch der Lange, eine Mischung aus Streberstudent und Yuppie, schaut unbeteiligt um sich – tut so, als wäre er nicht gemeint. Und als die Vogel-Strauß-Taktik nicht mehr hilft, weil sich immer mehr Umstehende einschalten, zuckt er linkisch mit den Schultern und sagt: „Ich hab mir genauso eine Konzertkarte gekauft wie Sie.“ Woraufhin sich zwei Herren aus der Gruppe ganz dicht vor und ganz dicht hinter den Langen stellen, um ihm ein Gefühl für die Sauerei zu vermitteln, die er gerade abzieht. Doch der so Bedrängte durchschaut das Manöver und sagt unbeteiligt: „Das ist völlig okay für mich.“ Er lässt einfach alles an sich abperlen. Bis es dem einen Herrn aus der Gruppe zu blöd wird und er wieder beiseite tritt. Die Sache ist entschieden: Der Lange hat sich durchgesetzt. Und was macht die in ihrer Sicht behinderte Frau? Weist alle Angebote anderer Besucher, zu ihnen zu kommen, um besser sehen zu können, zurück und bleibt tapfer hinter dem Langen stehen – nicht ohne weiter vor sich hin zu schimpfen.
Ein Musterbeispiel dafür, wie ein ignoranter Egoist einer ganzen Gruppe seinen Willen aufzwingt – und wie sich die Gruppenmitglieder masochistisch selbst zerfleischen. Wie umgehen mit dem Tyrannen: Konsequent Druck ausüben oder gar Gewalt? Immerhin haben die Begleiter des Langen Skrupel bekommen und sich woanders platziert. Und bevor sich die Lage abschließend klären lässt, beginnt die Show: Jetzt zählt nur noch eine andere Art von Konsequenz: die Konsequenz des audiovisuellen Designs.
Meine Damen und Herren, dürfen wir Sie mal gepflegt überwältigen?
Zweieinhalb Stunden Kraftwerk sind dann aber bei aller Überwältigung auch ein bisschen anstrengend. Und weil man trotz der vielen Bewegung eigentlich keinen Meter vorangekommen ist, stellt sich mit dem Schmerz in Füßen und Rücken auch ein leichtes Gefühl der Langeweile ein. Vielleicht ist ja doch nicht nur der Weg das Ziel – vielleicht sollte man zwischendurch auch mal ankommen?
Und so ist es völlig okay für uns, als irgendwann das Licht im Saal wieder angeht. Nachdem die Menge mit den 3-D-Brillen wie eine Horde jeglicher Identität beraubter Aliens gewirkt hat, erkennt man allmählich wieder Individuen. Und es ist interessant, wie sich im Lauf der Show doch die Konstellationen verschoben haben: Den langen Tyrannen hat es deutlich weiter nach rechts von der Mitte verschlagen, zwei der drei Paare, die sich über ihn beschwert hatten, stehen ein paar Reihen schräg hinter uns. Die unzähligen Handykameras der Kraftwerk-Fans haben selbstverständlich keine 3-D-Brillen vor dem Objektiv gehabt – und folglich jede Menge unscharfer Bilder gespeichert. Der eine oder andere Fan wird zu Hause am PC eine böse Überraschung erleben. Was den Konzertbesuch zu einem einizigartigen, nicht konservierbaren Erlebnis macht. Clever gemacht von Hütter & Co. Ein guter Grund, in ein paar Jahren wieder zum Kraftwerk-Konzert zu gehen. Velleicht erlebt man die altbekannten Hits dann ja im Rahmen eines altersgerecht barrierefrei gestalteten Riesen-Hologramms.
Erst der späte Ruhm, dann der preisgekrönte Dokumentarfilm „Searching for Sugar Man“ – und jetzt ist auch noch ein Buch über die Suche nach dem legendären Seventies-Songwriter Rodriguez erschienen. Hat der „Sugar Man“ das verdient? Und: Befeuern hier nicht einfach ein paar Selbstdarsteller immer wieder ihren selbst kreierten Mythos?
Damit kein Missverständnis entsteht: Ich finde Rodriguez, den lang vergessenen Seventies-Singer-Songwriter, und seine Lieder wirklich außergewöhnlich. Und auch außergewöhnlich gut. Aber ich gehöre zu der wachsenden Zahl von Skeptikern, die in dem seit einigen Jahren herrschenden Hype um Rodriguez immer mehr Lücken und Schwachstellen entdecken. Die Kritik richtet sich weniger gegen den ganz offensichtlich zurückhaltend bis bescheiden auftretenden Künstler als gegen diejenigen, die aus seiner wundersamen Wiederentdeckung Kapital geschlagen haben und noch immer Kapital schlagen. Namentlich sind das der südafrikanische Plattenladenbetreiber Stephen Segerman, der Journalist Craig Bartholomew Strydom, ebenfalls aus Südafrika, und der schwedische Dokumentarfilmer Malik Bendjelloul. Segerman und Bartholomew Strydom haben erst kürzlich ihr Buch Sugar Man – The Life, Death and Resurrection of Sixto Rodriguez veröffentlicht (auf Deutsch erschienen bei Ullstein unter dem Titel Sugar Man – Leben, Tod und Auferstehung des Sixto Rodriguez). Darin schildern sie einmal mehr, wie sie sich in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts auf die Suche nach dem tot geglaubten Songwriter machten, ihn schließlich aufspürten und ihm mit einem Vierteljahrhundert Verspätung zum verdienten Ruhm verhalfen.
Diese Suche und der unglaubliche anschließende Erfolg von Rodriguez stehen auch im Zentrum des Films Searching for Sugar Man, den Malik Bendjelloul 2012 veröffentlichte und der ihm 2013 die höchstmögliche Auszeichnung einbrachte, die ein Regisseur erhalten kann: den Oscar. Bendjelloul beging im Mai dieses Jahres Selbstmord, angeblich war er depressiv; und nicht zuletzt die Veröffentlichung des Buchs von Segerman und Bartholomew Strydom motivierte mich, endlich mal den allseits hochgelobten Film anzuschauen, den ich mir Weihnachten 2014 als DVD hatte schenken lassen. Es ist ein auf den ersten Blick wirklich schöner, ergreifender Film. Er erzählt also die Geschichte von Sixto Rodriguez, einem amerikanischen Songwriter mexikanischer Herkunft, der Anfang der 1970er Jahre Cold Fact und Coming from Reality veröffentlichte, zwei fantastische Psychedelic-Folk-Alben mit tollen Melodien und ungewöhnlich tiefgründigen Lyrics. Das Tragische: Beide Alben, obwohl von der Kritik gepriesen, waren totale Flops. Weshalb sich, so der Film weiter, Rodriguez komplett zurückzog – nicht ahnend, dass seine Musik in den 1970er und 80er Jahren ausgerechnet in Südafrika ungemein populär wurde. Über von Touristen mitgebrachte Audiokassetten, über Bootlegs und spätere Wiederveröffentlichungen avancierten Cold Fact und Coming from Reality zum Soundtrack der südafrikanischen Anti-Apartheid-Bewegung und wurden hunderttausendfach verkauft. Aufgrund eben jener Apartheid aber war über regierungskritische Künstler nichts herauszufinden, und irgendwann machten Gerüchte die Runde, Rodriguez hätte sich irgendwo bei einem Konzert auf der Bühne das Leben genommen. Die einen sagten, er hätte sich angezündet, die anderen meinten, er hätte sich erschossen. Was den Mythos natürlich ungemein nährte. Bis zwei südamerikanische Fans, eben Segerman und Bartholomew Strydom, Sixto Rodriguez Ende der 1990er Jahre mühselig aufspürten und ihn für eine umjubelte Konzerttournee nach Südafrika holten. So hätte schließlich die ganze Welt von diesem außergewöhnlichen Künstler erfahren.
Es sind laut Film unter anderem drei Wege, die die beiden bei ihrer tränentreibenden Suche nach Rodriguez beschritten haben wollen. Erstens: Sie versuchten, den Fluss des Geldes zurückzuverfolgen. Denn, so ihr nicht ganz falscher Gedanke, wer so viele Platten verkauft hatte, der musste doch irgendwelche Tantiemen ausgezahlt bekommen haben. Dabei stießen die beiden aber schnell an ihre Grenzen und auf windige Ex-Labelchefs, die eine Mauertaktik an den Tag legten. Hmmmm, sehr verdächtig! Zweitens: Sie nutzten das gerade aufkommende Internet und legten eine Website namens „The Great Rodriguez Hunt“ an, auf der sie zur Suche nach Rodriguez aufforderten und Fans in aller Welt um Mithilfe baten. Und drittens: Sie hörten sich noch einmal gezielt die Songs von Rodriguez an. Wo sie dann – im Stück Inner City Blues – auf die magische Zeile „Met a girl from Dearborn, early six o’clock this morn / A cold fact“ stießen. Der Film inszeniert noch einmal genüsslich, wie einer der beiden Helden elektrisiert zum Weltatlas greift, um nachzuschauen, wo denn Dearborn liegt. Und potztausend, Dearborn entpuppt sich da als ein kleiner Ort südwestlich von Detroit! Womit allmählich der Knoten platzt. Irgendwann – der Film suggeriert, die Suche habe mehrere Jahre gedauert – laufen die Fäden dann endlich zusammen: Unsere südafrikanischen Helden finden einen der Produzenten der ersten Rodriguez-Platte, und auf der Website meldet sich tatsächlich eine leibhaftige Tochter des Sängers. Rodriguez sei am Leben heißt es, er wohne gleich nebenan in Detroit. Und eines Tages, auch dieser Moment wird noch einmal hochdramatisch rekapituliert, haben Batholomew Strydom und Segerman endlich the man himself am Telefon.
Boaaaahhhhhh, ey, Gänsehaut!!!!!!
Spätestens hier überkamen mich allerdings erste Zweifel. Nicht an der Tatsache, dass die beiden überhaupt Kontakt zu Rodriguez aufgenommen hatten, denn das war ja nicht zu bestreiten. Nein, es waren Zweifel an der Art und Weise, wie sie Rodriguez aufgespürt haben wollten – an der vermeintlichen Detektivarbeit, an den ganzen Krimielementen, die der Film so spannend aufbereitet; an der Glorifizierung dieser beiden Fans, die Erstaunliches geleistet haben sollten, um hinter den Mythos zu schauen, um ihrem Idol zum verdienten Ruhm zu verhelfen. Vor allem ein Gedanke machte mich stutzig: Jede Schallplatte enthält Informationen über die Urheber der Songs und über die Produzenten im Studio. Und selbst die obskursten Schallplatten sind in telefonbuchartigen Verzeichnissen mit sämtlichen Labelnummern gelistet, was sowohl für die Originalveröffentlichungen als auch für Wiederveröffentlichungen gilt, auch bei wechselnden Labels. So hätte man nicht nur schnell auf den Ursprung der Platten schließen können, sondern auch Informationen darüber erhalten können, wann und wo die Platten überall noch erschienen waren. Ausgerechnet ein Plattenladenbetreiber und ein investigativer Journalist aber, selbst wenn sie im restriktiven Südafrika arbeiteten, sollten nicht in der Lage gewesen sein, die einfachstmöglichen Wege zu beschreiten, die es in einem solchen Fall gibt? In Katalogen nachzuschlagen oder schlichtweg direkt nach den auf den Plattencovern vermerkten Produzenten zu fahnden? Wohlgemerkt: Liberalisierungsprozesse und der Übergang von der Apartheid zur rechtlichen Gleichstellung der Schwarzen in Südafrika hatten bereits in den späten 1980er Jahren begonnen, 1994 wurde Nelson Mandela zum Präsidenten gewählt. Das Land war also während der Suche nach „Sugar Man“ schon gar nicht mehr abgeschottet. Außerdem hatte man ja inzwischen auch das aufstrebende Internet zur Verfügung! Und: Mindestens einer der Produzenten von Rodriguez war alles andere als ein Unbekannter.
Die Rede ist von Dennis Coffey, einem Session-Gitarristen jener Funk Brothers, die für das berühmte Soul-Label Motown tätig waren. Coffey und sein Partner Mike Theodore waren es, die das erste Rodriguez-Album Cold Fact produziert hatten, sozusagen im Herzen der amerikanischen Musikindustrie! Sie hatten den Künstler in seiner Heimat Detroit entdeckt, und es mutet aus heutiger Sicht wie ein schlechter Witz an, dass die beiden südafrikanischen Meisterrechercheure Rodriguez nach langer mühsamer Suche schließlich, nun ja, genau dort aufspürten: in seiner Heimatstadt Detroit!
Simpel gefragt: Warum sind sie nicht über die Labels und die Tonstudios gegangen? Warum haben sie nicht einfach bei der Stadtverwaltung in Detroit beziehungsweise bei Dennis Coffey angerufen bzw. einen Brief oder eine E-Mail geschrieben und sich nach Sixto Rodriguez erkundigt? Es wirkt, als wollte man von Frankfurt nach Wiesbaden fahren und würde noch einen Umweg über Darmstadt und Köln machen.
Der schwedische Dokumentarfilmer Bendjelloul trat überhaupt erst 2006 auf den Plan, als der Käse eigentlich schon Jahre lang gegessen war. Bereits 1998 war Rodriguez als Folge seiner Wiederentdeckung in Südafrika aufgetreten. Aber jetzt wurde das Ganze noch einmal richtig groß aufgerollt. Schließlich gab es weltweit noch immer etliche Musikinteressierte, die noch nie etwas von Rodriguez gehört hatten. Die ungeheure Wirkung des Films erscheint umso grotesker, je mehr man hinterher über Rodriguez und seinen Werdegang herausfindet, ganz einfach über diverse Zeitungsartikel. Denn der Künstler war in all den Jahren mitnichten so obskur und vergessen gewesen, wie dem Kino- und DVD-Publikum in Searching or Sugerman aufwendig suggeriert wird. Mal abgesehen davon, dass Rodriguez in seiner Heimatstadt Detroit Ende der 1980er Jahre sogar bei den Bürgermeisterwahlen angetreten war, hatte er auch über die 1970er Jahre hinaus einigen Erfolg als Künstler gehabt. So war er über mehrere Jahrzehnte hinweg nicht nur in amerikanischen und europäischen Indie-Kreisen ein Begriff, sondern vor allem in Neuseeland und in Australien ein regelrechter Star. Down Under hatte eine seiner Schallplatten Goldstatus erreicht, und 1981 war er dort mit Superstars wie Midnight Oil getourt. Klar war er in den 1990er Jahren etwas in Vergessenheit geraten – aber wer sich wirklich für ihn interessierte, erst recht, wenn er Plattenladenbetreiber oder investigativer Journalist war, für den hätte es ein Leichtes gewesen sein müssen, das Nötigste schnell in Erfahrung zu bringen. Auch von Südafrika aus.
Und mal ehrlich: Ein Rockstar, der sich auf der Bühne selbst verbrennt oder mit einem Revolver erschießt – soll das ernsthaft jemand glauben? Hätte es so etwas tatsächlich gegeben, wäre das nicht eine der weltweiten Storys des Jahrhunderts geworden? Ein bisschen albern, so etwas groß aufzubauen, um dann spektakulär gegen alle Gerüchte das unfassbare Gegenteil zu beweisen… Es muss also all die Jahre lang glasklar gewesen sein, dass Rodriguez irgendwo ziemlich normal vor sich hinlebte. Das ganze Brimborium wäre möglicherweise gar nicht nötig gewesen. Vor diesem Hintergrund erscheint mir die Dokumentation Searching for Sugerman mit einigen Tagen Abstand als immer größeres Ärgernis. So wie etlichen Journalisten und Filmkritikern, vor allem aus dem englischsprachigen Raum, die sich über die Lücken und Schwächen des Films ausgelassen haben. Symptomatisch ist der Beitrag von Bill Cody vom 21. Januar 2013 auf comingsoon.net, in dem er skeptisch fragt, ob Bartholomew Strydom und Segerman wirklich ernsthaft nach Rodriguez gesucht hätten und wie viel künstlerische Freiheit wohl erlaubt sei bei einem Dokumentarfilm, der doch so etwas wie die Wahrheit wiedergeben solle: „Is it okay to bend the truth in order to make the story better than it really is?“
Zu den Schwächen des Films gehört neben all den Unterschlagungen und Dramatisierungen auch, dass er zwar die richtige Frage nach den nicht gezahlten Tantiemen stellt und viele schlimme Dinge suggeriert, aber letztlich keine befriedigenden Antworten gibt. So wie er überhaupt mehr Fragen aufwirft, als er löst. Weil er sich auf alle möglichen Erzählstränge konzentriert und kaum einen davon wirklich zu Ende bringt. Am wenigsten den über Rodriguez selbst. Aus den unterschiedlichen Namen „Sixto Rodriguez“ und „Jesus Rodriguez“ in den Songwriting-Credits, die sich am langen Ende irgendwie erklären lassen, werden höchst mysteriöse Nebelbomben und Erschwernisse kreiert. Es reden Leute aus dem Musikbusiness, es reden die fieberhaft Suchenden, dann die Töchter von Rodriguez, von denen sich eine – noch so eine rührende Geschichte – in ein Crewmitglied verliebte und prompt eine Familie gründete, außerdem zwei ungemein eloquente Rodriguez-Kollegen und -Freunde aus Detroit, die ihren Kumpel „Sugar Man“ als edlen Helden beschreiben. Waren das die einzigen beiden Menschen aus dem persönlichen Umfeld des Künstlers, die man auftreiben konnte? Nur in ein paar wenigen Szenen spricht Rodriguez selbst – das heißt, ausgerechnet über die Hauptfigur erfährt man am allerwenigsten.
Wenn schon aktuell unbedingt noch ein weiteres Buch zum Thema auf den Markt kommen sollte, dann wäre doch eine (Auto-)Biografie des Künstlers beziehungsweise die wahre Geschichte aus der Sicht von Rodriguez das Gebot der Stunde gewesen. Oder ein investigativer Report, der die einstigen Geldströme wirklich offenlegt, um dem Urheber der Songs endlich zu seinen wohlverdienten Tantiemen zu verhelfen. Stattdessen aber inszenieren sich noch einmal die Herren Bartholomew Strydom/Segerman selbst, mit der altbekannten Geschichte. Und schaut man ins Buch, dann staunt man nicht schlecht über den Stil: Die beiden Autoren schreiben über sich selbst in der dritten Person! Das wirkt nicht nur arg selbstverliebt und artifiziell, sondern auch wie pure Geschäftemacherei. Immer schön weitermachen, lautet offenbar die Devise. Und das trotz alledem, was man inzwischen über Rodriguez weiß. Je weniger der Songwriter dazu sagt oder im Rampenlicht steht, desto geheimnisvoller wirkt er wohl weiterhin – und desto ungestörter kann man sein eigenes Rodriguez-Ding machen.
Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch die Homepage sugarman.org, die sich selbst als offizielle Rodriguez-Website bezeichnet. Dort sind als Aufmacher Filmplakate und Plattencover zu sehen, dann folgen eine 360-Grad-Ansicht von „Mabu Vinyl“, Segermans Buch- und Plattenladen in Kapstadt, sowie Ankündigungen, Interviews und Rezensionen zum neuen Buch von Segerman und Bartholmew Strydom. Es stellen sich weitere Fragen, zum Beispiel: Was sagt sugarman.org über die Rechtsstreitigkeiten, die sich in den letzten Monaten entsponnen haben, weil nach dem Erfolg des Films plötzlich alle möglichen Beteiligten aus ihren Löchern hervorkrochen, um zu eruieren, ob sie nicht auch noch ein bisschen mitverdienen könnten? Und was sagt der Künstler selbst zu alldem? Auch hier fällt auf: Es geht vor allem um die (Selbst-)Inszenierung der Rechercheure – wer etwas über Rodriguez erfahren will, muss eine ganze Weile klicken, um nur ein kleines bisschen zu erfahren. Fast möchte man an den genialen, aber psychisch labilen Beach Boy Brian Wilson denken, dessen Karriere ein paar Jahre lang von dem Psychotherapeuten Eugene Landy gesteuert worden war.
So bleibt es durchaus das Verdienst von Bendjelloul, Segerman und Bartholmew Strydom, eine breitere Weltöffentlichkeit über einen Zeitraum von knapp fünfzehn Jahren hinweg noch einmal auf den zu wenig gewürdigten Songwriter Rodriguez aufmerksam gemacht zu haben. Was aber das Thema Mythos betrifft, so haben sie nicht unbedingt hinter den Mythos Rodriguez geschaut. Vielmehr scheint es, als hätten sie vor allem ihren eigenen profitablen Mythos kreiert. Ob Bendjellouls Selbstmord in irgendeinem Zusammenhang damit steht, ist nicht überliefert.
Um Himmels willen, von was singen die da bloß? Schräge Bilder und sinnfreier Text, gelegentlich überraschende Tiefe: die Bond-Songs
Kennen Sie Kissy Suzuki? Plenty O’Toole? Vielleicht May Day? Oder Xenia Onatopp? Alles „sprechende“ Namen sogenannter „Gespielinnen“ eines gewissen Herrn Bond, James Bond. Dessen Familienname – deutsch etwa: Verbindung, Verpflichtung, Anleihe – ist zwar ebenfalls recht gesprächig, aber lange nicht so verräterisch chauvinistisch wie die Namen seiner unzähligen „Girls“. Nun steht die Marke James Bond ja seit jeher für comichaft überdrehten Action-Unsinn, für ein ziemlich plumpes, aber oftmals spektakuläres Dumme-Jungs-Spiel mit Abenteuerfantasien und Rollenklischees, weshalb man schon immer ein Auge zugedrückt hat, mal mehr, mal weniger bereitwillig. Doch irgendwann waren die sprechenden Frauennamen – nicht zuletzt wegen der erfolgreichen Emanzipationsbewegung seit den 1970er Jahren – wohl auch den Bond-Machern selbst so peinlich, dass sie mehr und mehr darauf verzichteten. Nur in Ein Quantum Trost schmuggelte sich 2008 noch mal eine Dame namens Strawberry Fields ins Figurenaufgebot, um ein lustvolles Früchtepflücken im Gebüsch zu suggerieren. Die wahren „Höhepunkte“ in der Bond-Girl-Galerie lieferten natürlich Pussy Galore („Galore“ heißt „in rauen Mengen“), Honey Rider (was ihrer Darstellerin Ursula Andress den Kalauer „Ursula Un-Dress“ auf den Hals hetzte) und eine gewisse Octopussy – womit wir allmählich zum Thema kommen: den Bond-Songs.
Denn es gehört zu den ungeschriebenen Gesetzen der Marke, dass der Filmtitel auch in den Songlyrics auftauchen soll. Und bei Octopussy von 1983 fand genau das NICHT statt. Auch aus heutiger Sicht scheint es schier unmöglich, zu einem Thriller mit Massen-Appeal einen halbwegs akzeptablen Themensong zu schreiben, der um einen bescheuerten Begriff wie Octopussy kreist. Da braucht es schon die Rrrriot-Girl-Bewegung und eine respektlose Frauenband wie die Lunachicks, der irgendwann im ausgehenden 20. Jahrhundert das Kunststück gelang, mit „Oct Oct Ocxtopusssssyyyyyy!“ ein schlüpfriges achtarmiges „monster of love“ zu besingen. Ob das damals auch als Kommentar zum britischen Geheimagentenmacho gedacht war? Auf jeden Fall hieß der Titelsong zum James-Bond-Film Octopussy dann völlig unglamourös All Time High, wurde von Rita Coolidge dahingehaucht und handelte eher einfallslos und agentenunspezifisch von der großen Liebe, die überraschend aufgetaucht war, um dem Song-Ich fortan ein Dauer-Hoch zu bescheren.
Ganz MI6 träumt von der Liebe: Bond-Songs sind meist Lovesongs
Eine weitere Ausnahme von der Regel bietet der aktuelle Bond-Song von Sam Smith. Und das, obwohl man mit dem Filmtitel Spectre – deutsch: Phantom, Gespenst – textlich sicher eine ganze Menge hätte anstellen können. Stattdessen kommt in Writing’s on the Wall ein Ich zu Wort, das ein Leben lang vor seiner Vergangenheit weggerannt ist und sich jetzt endlich stellen muss: Ein Sturm zieht auf, so die unheilvollen Vorzeichen, und der Sprecher muss alles riskieren – in der Hoffnung, dass das angesprochene Du, das er liebt, ihn auffängt. Großes Gefühlskino also, durch interessanten Falsettgesang gepimpt, und doch vollgepackt mit textlichen Klischees, vom Weglaufen über das Alles-Riskieren bis hin zum biblischen Menetekel. Wem nicht wirklich etwas einfällt, so lautet offenbar die Devise, der lässt lieber den Filmtitel ganz aus den Lyrics heraus, als so schräge Bilder zu servieren wie Shirley-Bassey im Themensong zum James-Bond-Film um das Space-Shuttle Moonraker. Da schmachtet ein Ich nach der geliebten Person und beschreibt sich, nun ja, natürlich nicht als Raumgleiter, aber als eine Art Mondsegel auf der Suche nach seinem Traum aus Gold („like a moonraker in search of his dream of gold“) – stets wissend, dass dieser Traum wahr werden wird: „Just like the moonraker knows his dream will come true one day.“ Dass das Mondsegel ein selten geführtes Segel auf Schiffen und hier im Songtext plötzlich männlichen Geschlechts ist, macht das Ganze etwas bizarr: Um was geht es hier eigentlich?, fragt man sich unwillkürlich. Und wer schmachtet nach wem?
Was All Time High, Writing’s on the Wall und Moonraker eint: Es sind alles mal mehr, mal weniger ambivalent gehaltene Lovesongs, denen man nur mit viel Fantasie einen Bezug zum jeweiligen Bond-Film oder zu einzelnen Charakteren unterstellen kann. In der Regel funktionieren sie eigenständig, auch wenn man gelegentlich den Eindruck hat, dass die Textverantwortlichen nicht ganz bei der Sache oder durch die eine oder andere halluzinogene Substanz benebelt waren. Liebeslieder bilden das Gros der Bond-Songs, und zwar in allen Facetten. In From Russia With Love (deutscher Filmtitel: Liebesgrüße aus Moskau) fliegt ein reumütiger Mann aus Russland der spät erkannten großen Liebe entgegen – immer in der Hoffnung, dass sie ihn noch will. Matt Monro croont das Ganze angenehm sinatraesk. In Carly Simons Nobody Does It Better beschwört eine schwer Verliebte nicht mehr und weniger als das, was der Songtitel sagt – und murkst sinnfrei, aber doch noch irgendwie den Filmtitel Der Spion, der mich liebte hinein: „But like heaven above me / The spy who loved me / Is keeping all my secrets safe tonight.“ Nur mit ganz viel Fantasie kann man aus solchen Zeilen den Liebesschwur eines Bond-Girls heraushören. Sheena Easton besingt in For Your Eyes Only (deutscher Filmtitel: In tödlicher Mission) einen wunderbaren Lover, der ganz tief in die Partnerin hineinschaut. Ist auch völlig logisch, denn im Film geht es ja um einen Steuercomputer für Atomraketen… Etwas spektakulärer laden Garbage ihren Song The World Is Not Enough auf: Da fordert ein mit allen Wassern gewaschenes Ich, das heilen, täuschen, küssen, töten kann, sein Gegenstück auf, mit ihm zusammen die Welt aus den Angeln zu heben – wenn es denn stark genug sei und sich traue: „And if you’re strong enough / Together we can take the world apart, my love.“ Dazu gibt’s das wohl beste, weil fieseste Bond-Songvideo mit Sängerin Shirley Manson als Doppelgänger-Android, der eine Starsängerin ausschaltet, ihren Platz auf der Bühne einer Gala einnimmt und dank intergierter Bombe die ganze Veranstaltung in die Luft sprengt. Die Welt aus den Angeln heben – das kann natürlich auch die Absicht von Bösewichtern sein. Aber genauso ist es eine klassische Lovesong-Metapher. Die besitzergreifende, fast schon Stalker-Züge aufweisende Lovesong-Variante bietet dagegen Gladys Knight mit Licence to Kill: Denk ja nicht, dass du mir entkommen kannst, heißt es da, und ich werde jeden umbringen, der sich zwischen uns drängt: „Please don’t bet that you’ll ever escape me once I get my sights on you / I got a license to kill and you know I’m going straight for you heart / Got a licence to kill anyone who tries to tear us apart…“ Wer würde da widerstehen?
Glanz und Donner: Wenn der Song dann doch mal was mit dem Film zu tun hat
Nur ganz wenige Bond-Songs versuchen, einen konkreten Bezug zum jeweiligen Film oder einzelnen Protagonisten herzustellen. Bestes und gelungenstes Beispiel: Shirley Basseys Goldfinger – ein Stück, das auch musikalisch einen gewissen Standard setzte. Der Text warnt vor Goldfinger, dem Mann mit dem Midas-Touch, und mahnt vor allem junge Damen, ihm nicht ins Netz zu gehen. Textlich klingt die berühmte Szene an, in der der Bösewicht seine Assistentin bestraft, in dem er sie mit Goldfarbe überziehen und qualvoll ersticken lässt: „For a golden girl knows when he’s kissed her / It’s the kiss of death from Mister Goldfinger.“ Ebenfalls Shirley Bassey gibt in Diamonds Are Forever (deutscher Filmtitel: Diamantenfieber) eine eiskalte Luxusdame, die mit sich selber spricht: Sie brauche nur Diamanten, um glücklich zu sein – die Edelsteine würden ihr niemals wehtun und immer leuchten, ganz im Gegensatz zu den erbärmlichen Männern in ihrem Leben. Es ist die zynische Version von Marilyn Monroes Diamonds Are A Girl’s Best Friend, die hier den Thriller-Ton setzt. Ähnlich wie Goldfinger fungiert Lulus The Man With the Golden Gun (Der Mann mit dem goldenen Colt) als Warnung vor dem gülden bewaffneten Oberschurken, und auch Thunderball (Fireball) von Tom Jones lässt sich zur Operation „Thunderball“ in Beziehung setzen, mit der im Film zwei gestohlene Nuklearsprengköpfe zurückerobert werden sollen. Zumindest zu James Bond als Teil dieser Operation. Denn die Lyrics beschreiben einen Mann, der handelt – einen Siegertypen, der niemals aufgibt, der ohne Reue Herzen bricht und im Kampf für die richtige Sache zuschlägt wie ein Feuerball: „Any woman he wants he’ll get / He will break any heart without regret. / His days of asking are all gone / His fight goes on and on and on, / But he thinks that the fight is worth it all, / So he strikes like Thunderball.“
Echt toll und bewundernswert, so ein Mann, der ohne Reue Herzen bricht. Wahrscheinlich ist hier derselbe Haudraufagent gemeint, der im wohl untypischsten, weil sehr rockigen Bond-Song als Rächer seinem Widersacher entgegenruft: Du weißt, wer ich bin! You Know My Name heißt das Stück zum Film Casino Royale, in dem Chris Cornell, Exchef der Grungerocker Soundgarden, den Protagonisten seinem Widersacher übelst drohen lässt: Ich bin kaltblütig, na los, bewaffne dich, denn niemand hier wird dich retten, bist du bereit zu sterben? Und so weiter, und so fort… Der Filmtitel fällt auch hier nicht, aber der Songtitel spielt auf die Schlussszene des Films an, in der Bond sein „Mein Name ist Bond, James Bond“-Sprüchlein aufsagt, und das Glücksspiel samt Schummeln und Bloßstellen des Gegenspielers klingt an in Zeilen wie: „The odds will betray you / And I will replace you.“ Seltsamerweise kommt dann James Bond, erstmals verkörpert von Daniel Craig, im Film bei aller Härte etwas verletzlicher und zerrissener rüber als in den Dampfhammer-Lyrics von Herrn Cornell, kurz vor Schluss trauert er sogar um eine Frau.
Äußerst elegant hat sich Adele mit ihrem gleichnamigen Song zum Bond-Film Skyfall aus der Affäre gezogen. Nicht nur musikalisch knüpft das hochdramatische Stück an Songmeilensteine der Serie an – auch textlich gelingt eine spektakuläre mehrdeutige Kombination aus Filmbezug und Lovesongmetaphorik. „Skyfall“ ist im Film der Name eines Landsitzes, wo es zum schicksalhaften Showdown mit dem Oberschurken kommt. „We will stand tall / Face it all together / At Skyfall“, heißt es denn auch bei Adele, die dem Song- und Filmtitel gleichzeitig noch das Schicksalhafte abgewinnt, das Bild des einstürzenden Himmels. Denn die Protagonisten wollen dann aufrecht auf Gut Skyfall ihrem Schicksal trotzen, wenn das Firmament über ihnen zusammenbricht: „Let the sky fall / When it crumbles / We will stand tall…“ Der Rest des Songs vereint düstere Bilder von bebender Erde und gesprengten Herzen, von kollidierenden Welten, Dunkelheit. Man kann vieles frei hineininterpretieren, aber auch Bond als Sprecher erkennen. Das fängt schon beim Eröffnungsvers „This is the end“ an, der sich nicht nur auf das Ende einer Beziehung, sondern auch auf Bonds vermeintlichen Tod am Anfang des Films wie auf den Tod von Bonds Ersatzmutter M im Finale beziehen lässt. „I’ve drowned and dreamt this moment“ scheint klar auf Null Null Siebens Sturz von einem Zug ins Meer gemünzt, und nicht nur im Film wird klar, dass der Agent bei allem aufopferungsvollen Kampf stets sein eigenes Ding machen, sein Herz verschließen wird: „You may have my number, you can take my name / But you’ll never have my heart.“ Intensiver hatte sich bisher kaum ein Bond-Song mit der Filmhandlung auseinandergesetzt.
Der Spion, den ich siebte: Der Bond-Song als künstlerisches Freispiel
Von den schicksalhaften Begegnungen ist es nur ein kleiner Schritt zu einer dritten Kategorie von Bond-Songs: dem totalen Freispiel. Für diese Stücke scheint zu gelten: Je durchgeknallter, desto besser. Ästhetisch ein Kopp und ein Arsch sind hier die Songs von Duran Duran zu A View to A Kill (Im Angesicht des Todes) und von a-ha zu The Living Daylights (Der Hauch des Todes). Zwei Mal hoffnungslos überproduziertes neuromantisches Achtzigerjahre-Brett, was das Vergnügen aber in keinster Weise schmälert. Und hey, sind nicht auch die Originalfilmtitel schon ziemlich prätentiös formuliert? Textlich geht es jeweils um… ja um was eigentlich?! Bei Duran Duran trifft man sich mit der Aussicht auf den Tod, es gibt geheime Pläne, geheime Orte, und irgendwann, es ist ja alles so aufregend, tanzt man zusammen ins Feuer, weil – man braucht ja nur einen tödlichen Kuss: „Until we dance into the fire / The fatal kiss is all we need.“ Und bei a-ha? Da lässt sich irgendein Schuldbeladener irgendwohin fahren („Hey driver, where are we going?“) und hofft, dass die Nacht, die Dunkelheit, ewig anhält. Seine Erkenntnis: Das Leben zeigt sich in der Art und Weise, wie wir sterben – „The living’s in the way we die.“
Aha!
Kruder geht es eigentlich nicht, so wollte man meinen, doch dann traten Jack White und Alicia Keys auf den Plan, um den zweiten Daniel-Craig-Streifen A Quantum of Solace (Ein Quantum Trost) mit einem Song zu veredeln. Nein, er heißt nicht A Quantum of Solace, sondern Another Way to Die, aber er spielt respektlos mit der Regel „Filmtitel muss in den Lyrics vorkommen“, indem er lediglich das Wort „solace“ (Trost“) irgendwo am Rande einfließen lässt: „Another tricky little gun / giving solace to the one.“ In diesem Zitat deutet sich auch schon das Prinzip des gesamten Textes an. Die Verse collagieren einfach ziemlich zusammenhanglos einen Sack voll Thriller-Klischees und machen sich damit unterschwellig auch über die Bond-Macher lustig, so als wollten sie sagen: Da habt ihr euren Song, Aufgabe erfüllt, wir machen’s dann einfach mal genauso wie ihr: „A door left open / A woman walking by / A drop in the water / A look in the eye / A phone on the table / A man on your side / Someone that you think that you can trust is just another way to die.“ Auch musikalisch ist das Stück etwas gewöhnungsbedürftig: Die beiden schneidenden Gesangsstimmen, der stark perkussive Gesamtcharakter und die verzerrten Sounds dürften gerade für große Teile des Mainstreampublikums eine Herausforderung gewesen sein. Als Alternative-Fan aber durfte man guten Gewissens sagen: Nicht schlecht, Herr Specht!
Das gilt auch für Live and Let Die (deutscher Filmtitel: Leben und sterben lassen) von Paul McCartney und den Wings. Vor allem musikalisch überraschen der Ex-Beatle und seine Band mit einer mehrteiligen Mini-Sinfonie. Und textlich? Ja, textlich scheint sich der alte Rockhaudegen genau wie Jack White und Alicia Keys fast schon einen Spaß aus der Herausforderung Bond-Song zu machen. Sinngemäß singt er da: „Als du jung warst, hieß es für dich leben und leben lassen – doch jetzt lenkst du weinend ein und sagst: Leben und sterben lassen. Aber was soll’s: Du hast ja einen Job zu erledigen, und du musst ihn gut erledigen, also musst du dem andern Typ in den Hintern treten“ – „You gotta give the other fellow hell!“ Das ist britischer Humor und Understatement vom Feinsten.
Kann man solche Respektlosigkeiten noch toppen? Aber ja doch, man kann. Indem man mal eben eine Verbindungslinie von James Bond zu dem Psychoanalytiker Sigmund Freud zieht. So geschehen in Madonnas Songbeitrag zum Film Die Another Day (deutscher Titel: Stirb an einem anderen Tag). „Sigmund Freud, Analyze this!“, heißt es da frech mittendrin, und man fragt sich verwundert, ob man richtig gehört hat. Hier beschreibt das Song-Ich – vielleicht unser liebster Geheimagent, vielleicht eine Gegenspielerin, vielleicht auch Madonna in der Rolle einer Geheimagentin? – lauter seltsame Dinge, die es tun wird. Zusammengefasst etwa: Ich werde aufwachen, küssen, meinen Körper verschließen, das System ins Wanken bringen, den Kreis durchbrechen, das Klischee meiden, mein Ego zerstören und – natürlich! – nicht etwa jetzt, sondern an einem anderen Tag sterben. Alles klar? Im aufwendigen Video dazu kämpfen zwei Versionen Madonnas einen Kampf auf Leben und Tod, die eine ganz in Weiß gekleidet, die andere ganz in Schwarz. Und ein Foto von Bond-Darsteller Pierce Brosnan kriegt ganz nebenbei ein Wurfgeschoss in die Brust… Ist das eine Absage an die Bond-Klischees? Der Impuls, dem angestaubten Agenten einen neuen Dreh zu geben? Vielleicht mit einem weiblichen Bond? Die Unterstellung einer Persönlichkeitsstörung beim obersten Geheimagenten Ihrer Majestät? Oder setzt sich Madonna hier nur mit ihrem eigenen Startum auseinander? Nix Genaues waaß mer net. Aber in seinem prätentiösen Gagatum ist Die Another Day kaum zu überbieten und obendrein so gut anzuhör’n wie anzuschau’n. Die Marke Bond lässt eben auch geniale Ausreißer zu.
Eher cool als genial, aber auch ein Freispiel, das fürs Protokoll, ist der Tina-Turner-Song zum Film GoldenEye. Im Film ist GoldenEye ein Waffensystem, im Song dagegen ist es so etwas wie der Blick des Song-Ichs, das den Racheengel gibt: Ewig zu kurz gekommen, ausgeschlossen und ignoriert, sieht es jetzt den Moment gekommen, um endlich Vergeltung an einem Mann zu üben, der mal als „him“ vorgestellt und mal als „you“ direkt angesprochen wird. Der Plan: diesen Mann mit einem goldenen Blick zu bezirzen und ihn dann mit einem „bitter kiss“ zu Fall zu bringen: „GoldenEye I found his weakness / GoldenEye he’ll do what I please / (…) / It’s a gold and honey trap / I’ve got for you tonight / Revenge it’s a kiss, this time I won’t miss / Now I’ve got you in my sight / With a GoldenEye, Golden, GoldenEye…“ Spricht hier eine heimtückische Mörderin oder doch wieder eine verschmähte Geliebte? Und was, zum Teufel, ist ein goldener Blick? Wahrscheinlich wissen es die Songschreiber selber nicht. Aber Hauptsache, es klingt geheimnisvoll, und, na klar, der Filmtitel wurde platziert!
Welcher ist denn nun der beste?
Nein, es gibt keine Formel für Bond-Songs, aber es gibt gewisse immer wiederkehrende Zutaten, schreiben Adrian Daub und Charles Kronengold in ihrem kürzlich erschienenen Buch The James Bond Songs: Pop Anthems of Late Capitalism (Oxford/New York 2015). Bond-Songs haben die Aufgabe, so die Autoren weiter, für den jeweiligen Film zu werben. Dabei müssen sie einerseits in die aktuellen Top 40 passen und sich andererseits deutlich von ihnen abheben. Daub und Kronengold sind sich sicher: Beim Einstieg in die Charts mischt ein neuer Bond-Song die Gemengelage ordentlich auf, und wenn er wieder raus ist, sind die Charts nicht mehr das, was sie vorher waren. Man ist geneigt, ihnen recht zu geben. Prima zu beobachten war das zuletzt bei Adele und ganz aktuell bei Sam Smith, der die Charts regelrecht stürmte, obwohl die Medien sein Writing’s on the Wall zuvor in Grund und Boden geschrieben hatten. Beide Songs hatten die gewissen Zutaten, die es braucht: dräuendes Orchester und schwindelerregende Melodieführung, dazu eine Prise episches Melodram, ein Hauch Sixties-Krimi-Soundtrack und natürlich die richtige Dosis textliches Gaga, das Ganze kombiniert mit dem Individualstil des vortragenden Stars.
Was die ewige und letztlich doch nur höchst subjektiv zu beantwortende Frage nach dem besten Bond-Song aller Zeiten aufwirft. Für mich persönlich ist es You Only Live Twice von Nancy Sinatra. Der Filmtitel (deutsch: Man lebt nur zweimal) spielt auf die ersten Szenen an, in denen James Bond seinen Tod vortäuscht. Im Song – einem Liebeslied, was sonst? – erfährt der Titel eine ganz andere, überaus romantische Wendung: Das eine Leben ist das, was man täglich hat, und das zweite das, das man in seinen Träumen lebt. So lange, bis sich einer dieser Träume in Gestalt der Liebe manifestiert: „You only live twice or so it seems / One life for yourself and one for your dreams / You drift through the years and life seems tame / Til one dream appears and love is it’s name.“ Natürlich ist diese Liebe, dieses zweite Leben, etwas Fremdes und Gefährliches, und man muss schon einen Preis dafür zahlen, so der Song sinngemäß, aber wenn du zu viel nachdenkst, ist die große Chance vertan. Das bewegt sich clever zwischen Leichtigkeit und Tiefe, zwischen Lebensweisheit und Kitsch und macht einen Riesenspaß. Eigentlich fast zu klug für Null Null Sieben.
Was wird uns der nächste Bond-Song bringen? Wird er ausgetretene Pfade begehen, oder wird er noch einmal ganz neue Akzente setzen? Das Warten hat schon jetzt begonnen.
PS: Wussten Sie, dass es eine ganze Reihe von inoffiziellen Bond-Songs gibt, die am Ende gar nicht genommen wurden? Zum Beispiel von Blondie? Der für mich gelungenste aber stammt von Alice Cooper und wurde mit Blick auf den Film Der Mann mit dem goldenen Colt geschrieben. Textlich sehr simpel gestrickt, sagt Coopers The Man With the Golden Gun nicht mehr aus als: Nimm dich in Acht vor dem Mann mit dem goldenen Colt – du siehst ihn nie, doch er ist hinter dir her. Musikalisch aber lässt es der alte Schockrocker vor allem in der längeren Albumversion bondmäßig ordentlich krachen!
oder „I left my brains down in Africa“: Die wundersame Welt der falsch verstandenen Lyrics
Kennen Sie das? Sie hören einen Song und rätseln über den Wortlaut eines bestimmten Wortes oder einer bestimmten Zeile? Sie könnten schwören, Sie haben da etwas ganz Bestimmtes gehört, aber irgendwie ergibt das, was Sie gehört haben, im Zusammenhang keinen Sinn? Jahre später schauen Sie auf einer Lyrics-Website nach, oder Freunde klären Sie auf. Und siehe da: Sie hatten die entsprechenden Worte, besagten Vers völlig falsch verstanden. Und warum? Weil sie in einer Fremdsprache gesungen wurden, derer Sie nicht ganz mächtig waren; weil die Interpreten wie Til Schweiger genuschelt haben; weil der Gesang einfach verwaschen produziert war; oder weil Sie in einer bestimmten Lebenssituation waren und einfach etwas Bestimmtes hören wollten.
Natürlich kennen Sie das. Und eigentlich kennen wir es alle. So hat sich eine von mir überaus geschätzte Person als junge Schülerin immer wieder gewundert, warum Marius Müller-Westernhagen so leidenschaftlich eine „6c“ beschwor – und erst später spitzgekriegt, dass das männliche Ich des Songs eine Frau einfach Sexy fand. Mir persönlich ging stets eine bestimmte Zeile im Refrain von Olivia Newton-Johns Hit Physical unter die Haut: „Let’s get into physical, let me in and find your heart!“, hörte ich als Jugendlicher gern heraus und war mir hundertprozentig sicher, dass die Worte bei allen erotischen Konnotationen auch noch etwas von Seelenverschmelzen und Romantik vermittelten. Nur um später festzustellen, dass Frau Newton-John doch nur Körper sprechen lassen wollte: „Let’s get into physical, let me hear your body talk…“
Einen zeitlos universellen Verhörer dürfte Kenny Loggins provoziert haben: Noch heute verstehen wohl Millionen Menschen jedes Mal „Oh oooh hard life“ oder „Oh oooh hard light“, wenn sein 1982 erschienener Gassenhauer Welcome to Heartlight erklingt. Zum einen ist das Ding an einzelnen Stellen so nachlässig dahingeworfen, dass man Feinheiten der Aussprache kaum noch heraushört – zum anderen kann sich wahrscheinlich niemand vorstellen, dass es um so etwas wie „Herzlicht“ gehen könnte. Ein „Herzlicht“? Was soll das sein? Liegt ein „hartes Leben“ oder ein „grelles Licht“ nicht viel näher? Wie gesagt: Man versteht, was man verstehen will. Eigentlich geht es auch Herrn Loggins nicht um ein „Herzlicht“, obwohl er tatsächlich „Heartlight“, singt. „Heartlight“ ist einfach der Name einer Schule in Kalifornien, und die wird hier, warum auch immer, überschwänglich gelobt: „I hold the hand / I walk with the teacher / (…) / I know we’ve learned to live together / Here in the Heartlight…“
Um solche Verhörer hat sich längst so etwas wie eine kleine Wissenschaft gebildet. Und die unterscheidet gleich mehrere Verhörer-Kategorien. Bewegen sich das tatsächlich Gesagte und das falsch Gehörte in derselben Sprache, dann hat man es mit einem „Mondegreen“ zu tun. Schon wie es zu diesem Begriff kam, ist eine schöne Geschichte – denn der Begriff „Mondegreen“ ist selbst ein „Mondegreen“: Die amerikanische Autorin Sylvia Wright hatte 1954 in der Zeitschrift „Harper’s“ einen Artikel veröffentlicht, in dem sie sich an Verhörer aus ihrer Kindheit erinnerte. So hatte sie, als ihre Mutter ihr eine schottische Ballade aus dem 18. Jahrhundert vorlas, verstanden, dass man den Earl of Murray samt Lady Mondegreen erschlagen habe: „They hae slain the Earl Amurray, / And Lady Mondegreen.” Tatsächlich aber gab es in dem Schauerstück gar keine Lady Mondegreen – der arme Earl of Murray war nach seinem Tod lediglich ins Gras gelegt worden: „They hae slain the Earl Amurray, / And laid him on the green.“ Und wie das Leben so spült: Der „Harper’s“-Artikel machte „Mondegreen“ zum feststehenden Begriff.
Für einen der bekanntesten jüngeren Mondegreens sorgte Taylor Swift, als sie ihren Song Blank Space veröffentlichte. An einer Stelle hörten Millionen von Fans immer wieder die Phrase „all the lonely Starbucks lovers“ und fragten sich, was ihr Star wohl mit all den einsamen Liebenden einer Kaffeekette am Hut haben könnte. Dabei heißt es in den Lyrics deutlich plausibler: „…got a long list of ex-lovers“ – offensichtlich ein Resultat der vielen Soundeffekte, die man im Studio über Taylor Swifts Stimme gelegt hatte. Wenn man weiß, auf was man hören soll, funktioniert’s kaum noch – aber die Medien waren eine Zeit lang voll davon. Wer dagegen bei Klassiksendungen im Radio statt „Köchelverzeichnis“ immer wieder „Knöchelverzeichnis“ hört, der erliegt einem der bekanntesten Mondegreens innerhalb der deutschen Sprache. Aus dem Verhörer „Der weiße Neger Wumbaba“ (nach „der weiße Nebel wunderbar“ aus dem Abendlied Der Mond ist aufgegangen) haben Axel Hacke und Michael Sowa 2004 gleich ein ganzes „Kleines Handbuch des Verhörens“ gemacht.
Um ein „Soramimi“ dagegen handelt es sich, wenn man in einem englischsprachigen Text eine deutsche Phrase zu hören glaubt. Die am häufigsten zitierten Beispiele sind hier „Agathe Bauer“ – ein Verhörer angesichts der Wucht des SNAP!-Hits I Got the Power – und „Anneliese Braun“, frei missverstanden nach dem Songvers „All the leaves are brown“ aus dem The-Mamas-and-The-Papas-Klassiker California Dreaming. Freilich wird bei all dem gern die Grenze zur – Achtung: weitere Kategorie – mutwilligen Verballhornung überschritten. Wer in Internetsuchmaschinen die Stichworte „misheard lyrics“ eingibt, stößt auf etliche Portale und Videos, die neben Beispielen für „echtes“ falsches Raushören auch jede Menge böswilliger Unterstellungen präsentieren. Schade, dass es dafür nicht so einen schönen Begriff wie „Mondegreen“ oder „Soramimi“ gibt.
Wie auch immer: Es scheint, als sei das bewusste Missverstehen ein Volkssport geworden, und manche Ergebnisse, da darf man auch mal prollig und politisch unkorrekt sein, sind, na ja, einfach witzig. Da wird aus „See that girl, watch that scene, diggin’ the dancing queen“ im ABBA-Klassiker Dancing Queen die Zeile „See that girl, watch her scream, kicking the dancing queen“; aus der nüchternen Feststellung „That’s me in the corner, that’s me in the spotlight“ im Gassenhauer Losing My Religion von R.E.M. die Aufforderung „Let’s pee in the corner, let’s pee in the spotlight“; und aus der salbungsvollen Erkenntnis „I bless the rains down in Africa“ im Toto-Evergreen Africa das bescheuerte Geständnis „I left my brains down in Africa“. „Misheard lyrics“ dürften die am weitesten verbreiteten Songmissverständnisse sein, und der Fantasie scheinen keine Grenzen gesetzt.
„Hey, schon länger keinen neuen Post in deinem Songblog gelesen“, sprach mich kürzlich ein Freund am Telefon an. „Was ist denn los?“ Ja holla, gibt’s denn so was? Einerseits hat mich diese Frage sehr gefreut, denn „wenn auch nur ein Leser einen Text von mir vermisst“ – und ich zitiere sinngemäß einen zum Pathos neigenden Frankfurter Clubmacher aus den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts – „dann habe ich nicht umsonst gelebt!“, schluchz…
Andererseits habe ich mich tatsächlich selbst gefragt: Ja, was ist denn los?
Klar, da war das jährliche Sommerloch – Themenflaute vorprogrammiert. Das gibt es auch in der Musik. Was soll man im Juli/August schon über Songs und Interpreten schreiben? Wenn keiner da ist, der einen Aufreger produziert – und keiner, der es lesen möchte? Und dann, als ich dachte, ich könnte langsam wieder auf Themensuche gehen, wurde ich plötzlich von Kundenanfragen überrollt. Auch das eigentlich wie jedes Jahr: Denn irgendwann kommen besagte Kunden hochmotiviert aus besagten Urlauben zurück, und dann wollen sie nicht nur Neues für den Herbst an den Start bringen, sondern gleichzeitig auch noch das aufgearbeitet haben, was durch ihre Urlaube liegen blieb.
Da sind Autoren und Lektoren extrem gefragt. Und die Miete muss man ja auch irgendwie bezahlen…
Aber es gibt noch zwei andere Gründe, warum ich keine Motivation für einen neuen Blogeintrag über Songs verspürt habe: das aktuelle Flüchtlingsthema und die Flut von Hasskommentaren – in den Internetforen etablierter Medien wie in sozialen Medien. Ich hatte immer gedacht, unsere Welt, erst recht Europa und ganz besonders Deutschland seien längst weiter. Aber wie seit Wochen und Monaten auch hierzulande über Flüchtlinge debattiert wird – mal will man übereilt mehr Herkunftsländer als „sicher“ deklarieren, mal durchleuchtet man Flüchtlinge als „Wirtschaftsfaktor“, mal vermutet man hinter jedem zweiten Neuankömmling einen IS-Kämper oder Schläfer – und was irgendwelche Dummköpfe an menschenverachtendem Mist ins Internet stellen dürfen, ohne dafür belangt zu werden, das verschlägt mir schon die Sprache.
Keine Angst, es folgt keine Betroffenheitstirade, nur so viel: Menschen in Not muss geholfen werden, dabei müssen auch minimale Risiken eingegangen werden. Und: Hasskommentare sind inakzeptabel, sie müssen verfolgt und geahndet werden, weil sie nichts mit freier Meinungsäußerung zu tun haben, sondern nur mit unmenschlicher Hetze. Es kann einfach nicht sein, dass Friedensaktivisten und Antikapitalismusgegner regelmäßig mit Hilfe eines immensen Polizeiaufgebots eingekesselt werden und Neonazis, die Flüchtlingsunterkünfte angreifen, Helfer und sogar Odnungshüter verletzen, nicht belangt werden, unter anderem weil angeblich zu wenig Einsatzkräfte zur Verfügung stünden. Auch wenn das demonstrative Flüchtlingsumarmen derzeit ins fast schon Peinliche kippt: Ich finde es grundsätzlich gut, dass allmählich wieder auch solche positive, von Menschlichkeit zeugende Bilder aus Deutschland um die Welt gehen.
Vor diesem Hintergrund erscheint mir das, was die Pop- und Rockwelt so bewegt, gerade mal ziemlich irrelevant und banal. International waren wohl die kürzlich zelebrierten MTV Video Awards der größte Aufreger: Kanye West erklärte dämlicherweise, als Präsidentschaftskandidat antreten zu wollen, und eine unterbelichtete Miley Cyrus machte mit einem bescheuerten Outfit nach dem anderen von sich reden. Wenn das der Hauptgesprächsstoff und die gesellschaftlichen Impulse der Musikwelt sind, dann Gute Nacht. Und hierzulande? Machen gerade K.I.Z. und Schnipo Schranke von sich reden: K.I.Z. mit einem unnötigen Stück namens Ich bin Adolf Hitler, das – wenn man es oft genug dreht und wendet – sicher das Herz am rechten, äh, richtigen Fleck hat, aber doch etwas krampfhaft-pubertär schreit: „Ich will provozieren!“; da war Beate Zschäpe hört U2 von der Antilopen Gang schon deutlich ab- und tiefgründiger. Schnipo Schranke wiederum sind zwei ehemalige Kunstschulstudentinnen, die im späten Fahrwasser von Charlotte Roches Feuchtgebiete klassische Jugendthemen wie Einsamkeit, Beziehungsprobleme und verhasstes Spießertum in einer etwas arg kalkulierten Mischung aus Lo-Fi-Sound und provokantem Fäkalhumor bearbeiten. Ihr Song Pisse weiß ein paar Momente lang zu beeindrucken, vor allem sprachlich, hinterlässt dann aber doch nur ein gelangweiltes Achselzucken. Und spätestens wenn im Video ein Mann an den Frühstückstisch tritt, um in eine Kaffeetasse zu pinkeln – BOAAAAHHHH, ECHT JETZT, VOLL KRASS! – denkt man sich einfach nur: Drauf geschissen!
So deplatziert, selbstverliebt und hermetisch in sich abgeschlossen wirkt das alles vor dem Hintergrund des aktuellen Tagesgeschehens, dass einem die Lust, über Songs zu schreiben, auch mal vergeht. Videos schaue ich trotzdem noch gern, aber mein aktuelles Lieblingsvideo ist eben kein Musikvideo, sondern das von Grünen-Politikerin Katrin Göring–Eckardt, in dem sie nicht nur Stellung bezieht gegen „hate speech“, sondern auch den Internetgiganten Facebook auffordert, endlich etwas gegen entspechende Posts in seinem „SOZIALEN Netzwerk“ zu unternehmen.