Till Lindemann und Rammstein sind nicht nur wegen massiver Missbrauchsvorwürfe in der Diskussion. Aufgrund ihrer Brachialästhetik werden sie immer wieder auch in eine „rechte Ecke“ gerückt. In diesem Zusammenhang gaben 2019 der Rammstein-Song Deutschland und das dazugehörige Musikvideo fast perfekte Zielscheiben ab. Deutschland ist Gegenstand eines im Herbst 2022 erschienenen Sachbuchs, das mit einer ausführlichen Analyse des Werks etwas Ruhe in die Diskussion zu bringen versucht. Lohnt die Lektüre?
Rammstein und Till Lindemann? Kein einfaches Thema. In diesen Tagen sind Band und Sänger vor allem wegen schwerer Missbrauchsvorwürfe in den Schlagzeilen. Und zu gern möchten einige Kritikerinnen und Kritiker bereits in den Lyrics und Gedichten Lindemanns handfeste Beweise für seine Täterschaft erkennen – eine fragwürdige Herangehensweise, wie ich finde. Die abschließende Beurteilung der Zusammenhänge, die aufgrund aktueller Vorwürfe gegen Rammstein-Keyboarder Christian „Flake“ Lorenz immer komplexer erscheinen, steht noch aus. Bis dahin kann man sich etwas konkreter mit anderen Rammstein-Kontroversen auseinandersetzen. Zum Beispiel mit dem Vorwurf, Lindemann und die Band würden in ihren Überwältigungs-Songs- und Videos auf gefährliche Weise auch eine rechtsnationale Ideologie befeuern. Der Song Deutschland aus dem Jahr 2019 wird hier gern als Beweisstück herangezogen, erst recht in Kombination mit dem neuneinhalbminütigen Musikvideo, das dazu produziert wurde. Der spektakuläre Clip collagiert blutrünstige Episoden aus der deutschen Geschichte, zeigt die Bandmitglieder in unterschiedlichen Rollen, als Ritter oder Mönche, KZ-Häftlinge oder Nazischergen, SED-Köpfe oder RAF-Terroristen, und präsentiert eine schwarze Germania.
Imagologie, flache Vergangenheit, melancholischer Nationalismus
Was ist dran an solchen Vorwürfen? Rammsteins ,Deutschland’: Pop – Politik – Provokation heißt ein kompakter 188-Seiten-Band, der im Oktober 2022 bei J. B. Metzler erschien. Der knackige Titel, das Taschenbuchformat und der attraktive Preis von rund 15 Euro lassen ein ansprechendes Werk erwarten, das Fans und Interessierten auf leicht verständliche Weise Hintergrundinformationen und Hilfen zur Einschätzung von Song und Video bietet. Doch dieser Eindruck täuscht. Das 12-köpfige Autor:innenkollektiv, tätig in Disziplinen wie Germanistik, Anglistik/Amerikanistik, Kultur- und Medienwissenschaft, richtet sich in überraschend theorielastigem Spezialistenjargon vor allem an ein akademisches Fachpublikum. Das wäre durchaus zu verschmerzen, würde man das Buch am Ende nach großem Erkenntnisgewinn zuklappen. Doch dem ist nur bedingt so. Natürlich erfährt man – neben interessanten Songdetails, die man bisher vielleicht überhört oder -sehen hatte – einiges über gängige Denkansätze und wissenschaftliche Definitionen einschlägiger Begriffe. Doch vieles davon wirkt um seiner selbst willen präsentiert. Wirklich erhellen oder vertiefen kann es die eigentlich präzisen Beobachtungen zu einzelnen Textstellen, Videosequenzen und musikalischen Besonderheiten nur selten.
Beispielsweise gibt es ein Kapitel, in dem internationale Medienstimmen zu Rammstein und zu Deutschland zitiert werden. Dort wird mit großem Tamtam zunächst eine besondere wissenschaftliche Disziplin eingeführt, die Imagologie, „die sich mit der historischen und medialen Konstruktion von nationalen Eigen- und Fremdbildern befasst“. Auf eine Auseinandersetzung mit dieser Disziplin folgen dann die angekündigten internationalen Medienstimmen, jedoch ohne tiefere „imagologische“ Einordnung. Wozu dann das Theorie-Brimborium vorausgeschickt wird, bleibt schleierhaft – die Medienstimmen sprechen doch für sich. Ähnlich verfährt das Buch in Kapiteln zu zentralen Begriffen wie „Nation“, „Skandal“ oder „Geschichte“: Stets wird ein Berg an Definitionsversuchen angehäuft, um dann reichlich banale Schlüsse zu ziehen. So wird durchaus korrekt beobachtet, dass das Video zu Deutschland Szenen aus verschiedensten Epochen der deutschen Geschichte nebeneinanderstellt, und zwar vor allem düstere, blutrünstige. Der Songtext wiederum äußert ein gespaltenes Verhältnis zur deutschen Nation. Rund um diese klaren Feststellungen aber wird die Leserschaft mit diversen theoretischen Konzepten von „Geschichte“ und von „Nationalismus“ zugeschüttet – als Fazit werden Rammstein mit dem Geschichtstableau einer „flachen Vergangenheit“ und einer Art „melancholischem Nationalismus“ in Verbindung gebracht. Das alles in Kontrast zu „banal-nationalistischen Narrativen“ à la Max Giesinger (80 Millionen) und einem „rekonstruktiven Nationalismus“, wie ihn Andreas Gabalier oder rechtspopulistische Bands repräsentierten. „Imagoogie“? „Flache Vergangenheit“? „Melancholie“? Das klingt nur im ersten Moment ganz interessant, im zweiten Moment wirkt es weichgespült paraphrasierend. Kurz: Es trägt kaum etwas bei zu einem tieferen Verständnis von Rammstein und ihrem Deutschland-Song.
Sind Rammstein politisch? Seltsame Frage …
Über allem steht die immer wieder aufgegriffene Frage, ob Rammstein wohl „politisch“ seien. Wie sich unschwer erahnen lässt, werden auch zu dieser Thematik im Buch allerlei Definitionen des „Politik“-Begriffs und „des Politischen“ präsentiert – mit dem Ergebnis, dass Rammstein, nun ja, schon irgendwie politisch seien. Was man sich längst selbst gedacht hat angesichts einer Band, die immer wieder Empörung weckt, komplexe, konfliktträchtige Themenkomplexe wie Nation oder Geschichte bearbeitet und obendrein eine dezidierte Haltung dazu formuliert. Die wissenschaftliche Leistungsschau einschließlich abstrakter Scheindiskussionen hat einen ermüdenden Effekt – und verblüfft mit kleinen Ungenauigkeiten: etwa wenn im Kontext von Rammsteins buchstäblichem Spiel mit dem Feuer über das Live-Intro der Band, Georg Friedrich Händels Musick for the Royal Fireworks (1749), fabuliert wird, es sei ein Werk, „mit dem das Ende des Sezessionskrieges gefeiert wurde“. Nun, als Sezessionskrieg wird für gewöhnlich der Amerikanische Bürgerkrieg 1861–1865 bezeichnet – mit Händels Werk dagegen wurden gut 100 Jahre zuvor der Aachener Frieden und das Ende des Österreichischen Erbfolgekrieges gefeiert.
Doch zurück zur Frage nach dem Politischen: Spannender für Fans und Interessierte dürfte doch die simple Frage sein, ob Rammstein nun latent böse rechte Jungs sind – oder ob man sie von solchen Vorwürfen freisprechen kann. Immerhin gelangt das Buch letztendlich zu der Erkenntnis, dass Rammstein und ihr Song Deutschland in der von ihnen geäußerten Melancholie, im deutlich vermittelten gespaltenen Verhältnis zur deutschen Nation wie zur deutschen Geschichte alles andere als anschlussfähig seien für rechtes Gedankengut. Ein nachvollziehbares Fazit, das man allerdings auch durch genaues Zuhören, Beobachten und Deuten der Zeichen ziehen kann. Soooo ambivalent, wie auch das Autor:innenkollektiv nicht müde zu betonen wird, sind Rammstein meines Erachtens gar nicht. Trotzdem gut, dass im Buch explizit auch auf wirklich rechte Interpreten und Bands als Kontrapunkte verwiesen wird. Denn hier wird zwischen den Zeilen deutlich, dass es eigentlich müßig ist, sich permanent an der Rammstein’schen Horrorshow abzuarbeiten, die letztlich eher bei Alice Cooper und Marilyn Manson als bei düsteren Nazispektakeln zu verorten ist. Die Kritik sollte sich doch gegen jene Rechtsrockbands richten, die aus ihrer fragwürdigen Haltung keinen Hehl machen und immer wieder ungehindert bei einschlägigen Festivals, vor allem auf dem Land, ihr Unwesen treiben.
Offene Fragen
Rammsteins ,Deutschland’: Pop – Politik – Provokation könnte wesentlich klarer, direkter, engagierter sein. Stattdessen erschwert das Buch den Zugang durch ein Dickicht an umständlich formulierten Thesen und Diskursen. Da stellt sich die Frage: Warum gehen die Autorinnen und Autoren (die übrigens lieber im Verbund auftreten, als die jeweils von ihnen verfassten Passagen namentlich zu kennzeichnen) auf diese Weise vor? Wollen sie mit einem besonders stattlichen Literaturverzeichnis Eindruck schinden, immerhin fast 17 Seiten? Betreiben sie so etwas wie cleveren Wissenschafts-Pop? Indem sie die Rammstein’sche Überwältigungsästhetik frech auf den akademischen Diskurs übertragen und erkenntnisreich damit spielen? Letzteres wäre wohl zu viel des Lobes, denn für augenzwinkernde Betrachtungen auf der Metaebene kommt Rammsteins ,Deutschland’ viel zu nüchtern und artig daher. Vielleicht wollten sich die Forschenden auch einfach nur besonders absichern? Um nicht aufgrund von allzu bodenständig-einfachen Analysen der Verharmlosung eines möglicherweise fragwürdigen Werks verdächtigt zu werden? Oder müssen die Autor:innen ihren Forschungsgegenstand spektakulär überhöhen – weil sie ihm letztlich selbst nicht ganz trauen? Who knows …
Wer wissen möchte, wie der typische Rammstein-Sound im Studio produziert wird, findet in einem knapp 20 Seiten langen Kapitel zum Thema „Musik“ interessante Hintergrundinformationen. Auch wenn die Ausführungen im Detail etwas nerdig wirken und Klischees von einer dezidiert „teutonischen“ Musik, wie sie vor allem von der internationalen Kritik an Rammstein herangetragen werden, etwas kritischer hätten hinterfragt werden können, ist dieses Kapitel sehr nah am Forschungsgegenstand und damit auch ganz bei sich. Gleiches hätte man sich für einige der anderen Kapitel gewünscht – und nicht zuletzt für die Betrachtungen über den Songtext zu Deutschland, welche überraschend spärlich ausfallen. Obwohl zum Autor:innen-Kollektiv Germanist:innen und explizit Literaturwissenschaftler:innen gehören, bleibt es bei wenigen kurzen Textinterpretationsversuchen und beim schnöden Verweis auf ein „lyrisches Ich“ – eine längst kritisch bewertete Kategorie, die eine genauere Betrachtung verdient gehabt hätte. Wer spricht eigentlich im Song Deutschland? Und wie verhalten sich die skeptisch anmutenden Lyrics zu dem sie umgebenden Zeichengewitter? Warum fehlt ausgerechnet zu solchen Fragestellungen der ansonsten so beflissen ausgebreitete theoretische Überbau?
Ein weiteres spannendes Detail, das nicht thematisiert wird, ist die Tatsache, dass Till Lindemann in Videos immer wieder seine eigene Tötung inszeniert. Man denke etwa an Till the End, eine „entschärfte“ Version seines Hardcore-Pornovideos Na chui, in der Frauen mit Lindemann-Totenmasken herumlaufen und der Sänger am Ende als auf einer Bahre fixierter Wahnsinniger durch eine Pflegerhand erstickt wird. Im Deutschland-Video wiederum hält Germania den abgetrennten Kopf Lindemanns in ihren Händen – und werden die Bandmitglieder als KZ-Häftlinge inszeniert, die auf den Tod durch Erhängen warten. Spielen die Künstler hier vielleicht auch auf ihre regelmäßige mediale „Hinrichtung“, ihren Status als der Öffentlichkeit liebstes Hassobjekt an? Es wäre spannend gewesen zu erfahren, was das ansonsten so analyseverliebte Autor:innen-Kollektiv zu Fragen wie diesen denkt.
„Row Zero“-Praktiken
Apropos Hassobjekt. Vielleicht doch noch kurz etwas zu den aktuellen Missbrauchsvorwürfen gegen Till Lindemann, zu den bisherigen Erkenntnissen und zu den eifrigen Schlüssen, die von Lindemann-Texten auf Lindemann als Privatperson gezogen werden: Natürlich können auch Songtexte und Gedichte Straftatbestände erfüllen. Doch so unappetitlich einige der lyrischen Lindemann-Werke auch anmuten, Straftatbestände erfüllen sie meines Wissens bisher nicht. Überraschende Parallelen zwischen in den literarischen Texten geäußerten sexuellen Dominanz- beziehungsweise Gewaltfantasien und Lindemanns sexuellen Vorlieben als Privatmensch legt nicht zuletzt das bereits erwähnte heftige Lindemann-Pornovideo Na chui – Bis zum Ende nah. Der dort gezeigte – explizite – brutale Sex wirkt zwar irritierend bis verstörend, auch weil man für gewöhnlich kaum einen Star, noch dazu einen Familienvater, bei derartigen Aktivitäten zu sehen bekommt , er kann aber an sich noch kein Beleg für Straftaten sein: Denn selbst wenn brutale Sexfantasien im wahren Leben, respektive im Medium Pornofilm, ausgelebt werden, können Einvernehmlichkeit zwischen den beteiligten Personen und ein wie auch immer geartetes spielerisches Setting einen legalen Rahmen geschaffen haben. Nicht umsonst sollen Rammstein-Songs auch in Fetisch- und S/M-Kreisen beliebt sein. Die Inszenierung einschließlich der Masken, die die beteiligten Frauen tragen, aber auch die Informationen, die zur Entstehung dieses Videos kursieren, lassen auf bezahlte Mitwirkende schließen, die wussten, worauf sie sich einlassen. Was sie dabei empfunden haben, ist für Außenstehende kaum zu beurteilen. Selbst dass der Streifen von seinen Macher:innen als extremes Kunstprojekt verstanden wird, ist zumindest vorstellbar.
Zwischen Rockstars und Fans, die sie anhimmeln, besteht bei persönlichen Begegnungen eine Art Machtgefälle, das ist wohl kaum zu bestreiten. Dennoch sind Interaktionen, auch intime, zwischen Idolen und sogenannten Groupies seit Jahrzehnten üblich und längst mehr oder weniger akzeptiert. Vermutlich gibt es hier so etwas wie „die üblichen Abläufe“. Wenn allerdings Stars das natürliche Machtgefälle gezielt ausnutzen, ja regelrechte Strukturen etablieren, um sich teils ahnungslose junge Fans für „Sexpartys“ zuführen zu lassen, dann ist das mindestens ethisch fragwürdig – ganz zu schweigen von dem jämmerlichen Bild, das Rockstars eigentlich dabei abgeben. Ob in solchen Fällen wirkliche Straftatbestände erfüllt werden, ist wiederum nicht eindeutig zu sagen, erst recht nicht, wenn ausschließlich volljährige, mündige Personen beteiligt sind, die in der Lage bleiben, Entscheidungen zu treffen. Vermutlich finden die aufgedeckten „Row Zero“-Praktiken Till Lindemanns in einer rechtlichen Grauzone statt. Sollten dem Sänger – und/oder anderen Bandmitgliedern – allerdings Sex mit Minderjährigen, Nötigung, der Einsatz von K.-o.-Tropfen und Vergewaltigung nachgewiesen werden, wären eindeutige Straftatbestände erfüllt und selbstverständlich zu ahnden.
Baßler M., Wilhelms K., Nover, I., Stubenrauch E. u. a.: Rammsteins ,Deutschland’: Pop – Politik – Provokation. Reihe „Essays zur Gegenwartsästhetik“, hg. Moritz Baßler, Heinz Drügh, Daniel Hornuff und Maren Lickhardt. J. B. Metzler, 2022. Taschenbuch, 14,99 Euro