Theorie und Leerlauf

Till Lindemann und Rammstein sind nicht nur wegen massiver Missbrauchsvorwürfe in der Diskussion. Aufgrund ihrer Brachialästhetik werden sie immer wieder auch in eine „rechte Ecke“ gerückt. In diesem Zusammenhang gaben 2019 der Rammstein-Song Deutschland und das dazugehörige Musikvideo fast perfekte Zielscheiben ab. Deutschland ist Gegenstand eines im Herbst 2022 erschienenen Sachbuchs, das mit einer ausführlichen Analyse des Werks etwas Ruhe in die Diskussion zu bringen versucht. Lohnt die Lektüre? 

Rammstein und Till Lindemann? Kein einfaches Thema. In diesen Tagen sind Band und Sänger vor allem wegen schwerer Missbrauchsvorwürfe in den Schlagzeilen. Und zu gern möchten einige Kritikerinnen und Kritiker bereits in den Lyrics und Gedichten Lindemanns handfeste Beweise für seine Täterschaft erkennen – eine fragwürdige Herangehensweise, wie ich finde. Die abschließende Beurteilung der Zusammenhänge, die aufgrund aktueller Vorwürfe gegen Rammstein-Keyboarder Christian „Flake“ Lorenz immer komplexer erscheinen, steht noch aus. Bis dahin kann man sich etwas konkreter mit anderen Rammstein-Kontroversen auseinandersetzen. Zum Beispiel mit dem Vorwurf, Lindemann und die Band würden in ihren Überwältigungs-Songs- und Videos auf gefährliche Weise auch eine rechtsnationale Ideologie befeuern. Der Song Deutschland aus dem Jahr 2019 wird hier gern als Beweisstück herangezogen, erst recht in Kombination mit dem neuneinhalbminütigen Musikvideo, das dazu produziert wurde. Der spektakuläre Clip collagiert blutrünstige Episoden aus der deutschen Geschichte, zeigt die Bandmitglieder in unterschiedlichen Rollen, als Ritter oder Mönche, KZ-Häftlinge oder Nazischergen, SED-Köpfe oder RAF-Terroristen, und präsentiert eine schwarze Germania.

Imagologie, flache Vergangenheit, melancholischer Nationalismus

Was ist dran an solchen Vorwürfen? Rammsteins ,Deutschland’: Pop – Politik – Provokation heißt ein kompakter 188-Seiten-Band, der im Oktober 2022 bei J. B. Metzler erschien. Der knackige Titel, das Taschenbuchformat und der attraktive Preis von rund 15 Euro lassen ein ansprechendes Werk erwarten, das Fans und Interessierten auf leicht verständliche Weise Hintergrundinformationen und Hilfen zur Einschätzung von Song und Video bietet. Doch dieser Eindruck täuscht. Das 12-köpfige Autor:innenkollektiv, tätig in Disziplinen wie Germanistik, Anglistik/Amerikanistik, Kultur- und Medienwissenschaft, richtet sich in überraschend theorielastigem Spezialistenjargon vor allem an ein akademisches Fachpublikum. Das wäre durchaus zu verschmerzen, würde man das Buch am Ende nach großem Erkenntnisgewinn zuklappen. Doch dem ist nur bedingt so. Natürlich erfährt man – neben interessanten Songdetails, die man bisher vielleicht überhört oder -sehen hatte – einiges über gängige Denkansätze und wissenschaftliche Definitionen einschlägiger Begriffe. Doch vieles davon wirkt um seiner selbst willen präsentiert. Wirklich erhellen oder vertiefen kann es die eigentlich präzisen Beobachtungen zu einzelnen Textstellen, Videosequenzen und musikalischen Besonderheiten nur selten.

Beispielsweise gibt es ein Kapitel, in dem internationale Medienstimmen zu Rammstein und zu Deutschland zitiert werden. Dort wird mit großem Tamtam zunächst eine besondere wissenschaftliche Disziplin eingeführt, die Imagologie, „die sich mit der historischen und medialen Konstruktion von nationalen Eigen- und Fremdbildern befasst“. Auf eine Auseinandersetzung mit dieser Disziplin folgen dann die angekündigten internationalen Medienstimmen, jedoch ohne tiefere „imagologische“ Einordnung. Wozu dann das Theorie-Brimborium vorausgeschickt wird, bleibt schleierhaft – die Medienstimmen sprechen doch für sich. Ähnlich verfährt das Buch in Kapiteln zu zentralen Begriffen wie „Nation“, „Skandal“ oder „Geschichte“: Stets wird ein Berg an Definitionsversuchen angehäuft, um dann reichlich banale Schlüsse zu ziehen. So wird durchaus korrekt beobachtet, dass das Video zu Deutschland Szenen aus verschiedensten Epochen der deutschen Geschichte nebeneinanderstellt, und zwar vor allem düstere, blutrünstige. Der Songtext wiederum äußert ein gespaltenes Verhältnis zur deutschen Nation. Rund um diese klaren Feststellungen aber wird die Leserschaft mit diversen theoretischen Konzepten von „Geschichte“ und von „Nationalismus“ zugeschüttet – als Fazit werden Rammstein mit dem Geschichtstableau einer „flachen Vergangenheit“ und einer Art „melancholischem Nationalismus“ in Verbindung gebracht. Das alles in Kontrast zu „banal-nationalistischen Narrativen“ à la Max Giesinger (80 Millionen) und einem „rekonstruktiven Nationalismus“, wie ihn Andreas Gabalier oder rechtspopulistische Bands repräsentierten. „Imagoogie“? „Flache Vergangenheit“? „Melancholie“? Das klingt nur im ersten Moment ganz interessant, im zweiten Moment wirkt es weichgespült paraphrasierend. Kurz: Es trägt kaum etwas bei zu einem tieferen Verständnis von Rammstein und ihrem Deutschland-Song.

Sind Rammstein politisch? Seltsame Frage …

Über allem steht die immer wieder aufgegriffene Frage, ob Rammstein wohl „politisch“ seien. Wie sich unschwer erahnen lässt, werden auch zu dieser Thematik im Buch allerlei Definitionen des „Politik“-Begriffs und „des Politischen“ präsentiert – mit dem Ergebnis, dass Rammstein, nun ja, schon irgendwie politisch seien. Was man sich längst selbst gedacht hat angesichts einer Band, die immer wieder Empörung weckt, komplexe, konfliktträchtige Themenkomplexe wie Nation oder Geschichte bearbeitet und obendrein eine dezidierte Haltung dazu formuliert. Die wissenschaftliche Leistungsschau einschließlich abstrakter Scheindiskussionen hat einen ermüdenden Effekt – und verblüfft mit kleinen Ungenauigkeiten: etwa wenn im Kontext von Rammsteins buchstäblichem Spiel mit dem Feuer über das Live-Intro der Band, Georg Friedrich Händels Musick for the Royal Fireworks (1749), fabuliert wird, es sei ein Werk, „mit dem das Ende des Sezessionskrieges gefeiert wurde“. Nun, als Sezessionskrieg wird für gewöhnlich der Amerikanische Bürgerkrieg 1861–1865 bezeichnet – mit Händels Werk dagegen wurden gut 100 Jahre zuvor der Aachener Frieden und das Ende des Österreichischen Erbfolgekrieges gefeiert.

Doch zurück zur Frage nach dem Politischen: Spannender für Fans und Interessierte dürfte doch die simple Frage sein, ob Rammstein nun latent böse rechte Jungs sind – oder ob man sie von solchen Vorwürfen freisprechen kann. Immerhin gelangt das Buch letztendlich zu der Erkenntnis, dass Rammstein und ihr Song Deutschland in der von ihnen geäußerten Melancholie, im deutlich vermittelten gespaltenen Verhältnis zur deutschen Nation wie zur deutschen Geschichte alles andere als anschlussfähig seien für rechtes Gedankengut. Ein nachvollziehbares Fazit, das man allerdings auch durch genaues Zuhören, Beobachten und Deuten der Zeichen ziehen kann. Soooo ambivalent, wie auch das Autor:innenkollektiv nicht müde zu betonen wird, sind Rammstein meines Erachtens gar nicht. Trotzdem gut, dass im Buch explizit auch auf wirklich rechte Interpreten und Bands als Kontrapunkte verwiesen wird. Denn hier wird zwischen den Zeilen deutlich, dass es eigentlich müßig ist, sich permanent an der Rammstein’schen Horrorshow abzuarbeiten, die letztlich eher bei Alice Cooper und Marilyn Manson als bei düsteren Nazispektakeln zu verorten ist. Die Kritik sollte sich doch gegen jene Rechtsrockbands richten, die aus ihrer fragwürdigen Haltung keinen Hehl machen und immer wieder ungehindert bei einschlägigen Festivals, vor allem auf dem Land, ihr Unwesen treiben.   

Offene Fragen

Rammsteins ,Deutschland’: Pop – Politik – Provokation könnte wesentlich klarer, direkter, engagierter sein. Stattdessen erschwert das Buch den Zugang durch ein Dickicht an umständlich formulierten Thesen und Diskursen. Da stellt sich die Frage: Warum gehen die Autorinnen und Autoren (die übrigens lieber im Verbund auftreten, als die jeweils von ihnen verfassten Passagen namentlich zu kennzeichnen) auf diese Weise vor? Wollen sie mit einem besonders stattlichen Literaturverzeichnis Eindruck schinden, immerhin fast 17 Seiten? Betreiben sie so etwas wie cleveren Wissenschafts-Pop? Indem sie die Rammstein’sche Überwältigungsästhetik frech auf den akademischen Diskurs übertragen und erkenntnisreich damit spielen? Letzteres wäre wohl zu viel des Lobes, denn für augenzwinkernde Betrachtungen auf der Metaebene kommt Rammsteins ,Deutschland’ viel zu nüchtern und artig daher. Vielleicht wollten sich die Forschenden auch einfach nur besonders absichern? Um nicht aufgrund von allzu bodenständig-einfachen Analysen der Verharmlosung eines möglicherweise fragwürdigen Werks verdächtigt zu werden? Oder müssen die Autor:innen ihren Forschungsgegenstand spektakulär überhöhen – weil sie ihm letztlich selbst nicht ganz trauen? Who knows …

Wer wissen möchte, wie der typische Rammstein-Sound im Studio produziert wird, findet in einem knapp 20 Seiten langen Kapitel zum Thema „Musik“ interessante Hintergrundinformationen. Auch wenn die Ausführungen im Detail etwas nerdig wirken und Klischees von einer dezidiert „teutonischen“ Musik, wie sie vor allem von der internationalen Kritik an Rammstein herangetragen werden, etwas kritischer hätten hinterfragt werden können, ist dieses Kapitel sehr nah am Forschungsgegenstand und damit auch ganz bei sich. Gleiches hätte man sich für einige der anderen Kapitel gewünscht – und nicht zuletzt für die Betrachtungen über den Songtext zu Deutschland, welche überraschend spärlich ausfallen. Obwohl zum Autor:innen-Kollektiv Germanist:innen und explizit Literaturwissenschaftler:innen gehören, bleibt es bei wenigen kurzen Textinterpretationsversuchen und beim schnöden Verweis auf ein „lyrisches Ich“ – eine längst kritisch bewertete Kategorie, die eine genauere Betrachtung verdient gehabt hätte. Wer spricht eigentlich im Song Deutschland? Und wie verhalten sich die skeptisch anmutenden Lyrics zu dem sie umgebenden Zeichengewitter? Warum fehlt ausgerechnet zu solchen Fragestellungen der ansonsten so beflissen ausgebreitete theoretische Überbau?

Ein weiteres spannendes Detail, das nicht thematisiert wird, ist die Tatsache, dass Till Lindemann in Videos immer wieder seine eigene Tötung inszeniert. Man denke etwa an Till the End, eine „entschärfte“ Version seines Hardcore-Pornovideos Na chui, in der Frauen mit Lindemann-Totenmasken herumlaufen und der Sänger am Ende als auf einer Bahre fixierter Wahnsinniger durch eine Pflegerhand erstickt wird. Im Deutschland-Video wiederum hält Germania den abgetrennten Kopf Lindemanns in ihren Händen – und werden die Bandmitglieder als KZ-Häftlinge inszeniert, die auf den Tod durch Erhängen warten. Spielen die Künstler hier vielleicht auch auf ihre regelmäßige mediale „Hinrichtung“, ihren Status als der Öffentlichkeit liebstes Hassobjekt an? Es wäre spannend gewesen zu erfahren, was das ansonsten so analyseverliebte Autor:innen-Kollektiv zu Fragen wie diesen denkt.  

„Row Zero“-Praktiken

Apropos Hassobjekt. Vielleicht doch noch kurz etwas zu den aktuellen Missbrauchsvorwürfen gegen Till Lindemann, zu den bisherigen Erkenntnissen und zu den eifrigen Schlüssen, die von Lindemann-Texten auf Lindemann als Privatperson gezogen werden: Natürlich können auch Songtexte und Gedichte Straftatbestände erfüllen. Doch so unappetitlich einige der lyrischen Lindemann-Werke auch anmuten, Straftatbestände erfüllen sie meines Wissens bisher nicht. Überraschende Parallelen zwischen in den literarischen Texten geäußerten sexuellen Dominanz- beziehungsweise Gewaltfantasien und Lindemanns sexuellen Vorlieben als Privatmensch legt nicht zuletzt das bereits erwähnte heftige Lindemann-Pornovideo Na chui – Bis zum Ende nah. Der dort gezeigte – explizite – brutale Sex wirkt zwar irritierend bis verstörend, auch weil man für gewöhnlich kaum einen Star, noch dazu einen Familienvater, bei derartigen Aktivitäten zu sehen bekommt , er kann aber an sich noch kein Beleg für Straftaten sein: Denn selbst wenn brutale Sexfantasien im wahren Leben, respektive im Medium Pornofilm, ausgelebt werden, können Einvernehmlichkeit zwischen den beteiligten Personen und ein wie auch immer geartetes spielerisches Setting einen legalen Rahmen geschaffen haben. Nicht umsonst sollen Rammstein-Songs auch in Fetisch- und S/M-Kreisen beliebt sein. Die Inszenierung einschließlich der Masken, die die beteiligten Frauen tragen, aber auch die Informationen, die zur Entstehung dieses Videos kursieren, lassen auf bezahlte Mitwirkende schließen, die wussten, worauf sie sich einlassen. Was sie dabei empfunden haben, ist für Außenstehende kaum zu beurteilen. Selbst dass der Streifen von seinen Macher:innen als extremes Kunstprojekt verstanden wird, ist zumindest vorstellbar.

Zwischen Rockstars und Fans, die sie anhimmeln, besteht bei persönlichen Begegnungen eine Art Machtgefälle, das ist wohl kaum zu bestreiten. Dennoch sind Interaktionen, auch intime, zwischen Idolen und sogenannten Groupies seit Jahrzehnten üblich und längst mehr oder weniger akzeptiert. Vermutlich gibt es hier so etwas wie „die üblichen Abläufe“. Wenn allerdings Stars das natürliche Machtgefälle gezielt ausnutzen, ja regelrechte Strukturen etablieren, um sich teils ahnungslose junge Fans für „Sexpartys“ zuführen zu lassen, dann ist das  mindestens ethisch fragwürdig – ganz zu schweigen von dem jämmerlichen Bild, das Rockstars eigentlich dabei abgeben. Ob in solchen Fällen wirkliche Straftatbestände erfüllt werden, ist wiederum nicht eindeutig zu sagen, erst recht nicht, wenn ausschließlich volljährige, mündige Personen beteiligt sind, die in der Lage bleiben, Entscheidungen zu treffen. Vermutlich finden die aufgedeckten „Row Zero“-Praktiken Till Lindemanns in einer rechtlichen Grauzone statt. Sollten dem Sänger – und/oder anderen Bandmitgliedern – allerdings Sex mit Minderjährigen, Nötigung, der Einsatz von K.-o.-Tropfen und Vergewaltigung nachgewiesen werden, wären eindeutige Straftatbestände erfüllt und selbstverständlich zu ahnden.

Baßler M., Wilhelms K., Nover, I., Stubenrauch E. u. a.: Rammsteins ,Deutschland’: Pop – Politik – Provokation. Reihe „Essays zur Gegenwartsästhetik“, hg. Moritz Baßler, Heinz Drügh, Daniel Hornuff und Maren Lickhardt. J. B. Metzler, 2022. Taschenbuch, 14,99 Euro

Titel, Wesen, Temperamente

Es ist wie bei einer Musikproduktion: Manche Titel sind zwar spannend, passen aber nicht mehr aufs Album. Zum Glück gibt’s die Option „Bonusmaterial“ – und die hat auch Reclam bei den übrig gebliebenen Passagen meines neuen Musiksachbuchs „Mein Herz hat Sonnenbrand“ gezogen. Dazu gehört dieses kleine Kapitel über lustiges Namedropping und hemmungsloses Typecasting im Song: von Heino bis Bino, von Mary Roos bis Modern Talking

Namen sind Schall und Rauch? Und Typisierungen auch? Nicht im Popsong! Vor allem wenn es um V.I.P.s geht. Wer Prominente schon im Songtitel nennt, sichert sich – Buddy Holly (Weezer), Robert De Niro’s Waiting (Bananarama) – ein hohes Maß an Aufmerksamkeit, auch wenn die Berühmtheiten nur als Vergleichspunkte und eskapistische Fantasien herangezogen werden. Oder wirkt – man höre David Bowies Andy Warhol – an der Legendenbildung mit. Meistens jedoch werden in Songs Allerweltsnamen verwendet, und in der Regel bezeichnen sie fiktive Figuren. Nur gelegentlich verbergen sich dahinter reale Personen aus dem Umfeld der Songschreiberinnen und Songschreiber und somit auch vielleicht anrührende, „authentische“ Geschichten. Diana (Paul Anka), Rosanna (Toto) und Suzanne (Leonard Cohen) sind hier wohl die bekanntesten Beispiele.

Aber wer braucht schon Namen, wenn man Figuren auch poetisch umschreiben, interessanter machen, verklären kann? Und so werden Songs nicht nur von Celebrities und von „boys“ oder „girls next door“ bevölkert, sondern auch von den verrücktesten Archetypen: Mal haben sie sprechende Namen wie der aus ärmlichen Verhältnissen zum Gitarrengott aufsteigende Johnny B. Goode (Chuck Berry), mal stehen sie – wie Kelly Clarksons Miss Independent, Billy Joels Uptown Girl oder der Street Fighting Man der Rolling Stones – für eine bestimmte Haltung oder soziale Schicht. Der Piano Man (noch einmal Billy Joel) oder Elton Johns Rocket Man wiederum dienen als tröstliche Projektionsflächen: weil sie nächtliche Bargäste ein paar Lieder lang ihre Sorgen vergessen lassen – oder weil sie verloren im Weltall noch einsamer sind als mancher Mensch auf Erden. Hin und wieder, man denke an Bob Dylans Mr. Tambourine Man, umgibt diese Figuren auch etwas Zauberhaftes, gar Mystisches; oder eine faszinierende Aura des Verlorenen: Der 21st Century Schizoid Man (King Crimson) und der Nowhere Man (The Beatles), der Smalltown Boy (Bronski Beat) und der Iron Man (Black Sabbath) lassen grüßen. Stimmungskanonen wie der fahrende Rumhändler Poppa Joe (The Sweet) bleiben dagegen kleine Lichter.

Für Typisierungen in Songs gibt es keine Grenzen. Und so werden Figuren gern auch mit geografischen Bezeichnungen verknüpft, was ihr Schicksal stellvertretend für ganze Regionen, sogar ganze Nationen stehen lässt: Wollen Songschaffende so etwas wie Heimatliebe, Ehrerbietung, regionalen Zauber oder Exotik zum Ausdruck bringen, lassen sie Figuren als Mississippi Queen (Mountain) oder Witch Queen of New Orleans (Redbone), als California Man (The Move), Galway Girl (Ed Sheeran) oder auch als London Boy (Taylor Swift) durch ihre Songs streifen; oder üben – wie in der Präsentation eines American Girl (Tom Petty), gegebenenfalls einer American Woman (The Guess Who) – verhalten Sozialkritik. Das Ganze funktioniert auch mit einem selbstkritisch-verschwurbelten Blick in die Ferne, wie David Bowies berühmtes China Girl zeigt. Und dann gibt es da noch all die Ladies und Schwestern, in deren Namen sich besonders romantische, besonders schicksalhafte Begegnungen und Lebenssituationen, Sehnsüchte, Abhängigkeiten und Obsessionen spiegeln: die Lady in Black (Uriah Heep) und die Lady in Red (Chris de Burgh), die Midnight Lady (Chris Norman), die Lady Marmalade (Labelle), Sister Golden Hair (America), Sister Moonshine (Supertramp) oder Sister Morphine (The Rolling Stones).

Das alles sind, natürlich, Beispiele aus der angloamerikanischen Pop- und Rockmusik. Und wie handhaben es Songs aus dem deutschsprachigen Raum? Nicht ganz so facettenreich und gern ein bisschen arg bemüht. Das Spiel mit Namen von Prominenten ist in unseren Breitengraden eher schwach ausgeprägt – als einer der wenigen konnte Falco 1985 mit Wolfgang Amadeus Mozart global groß auftrumpfen. Ansonsten fallen einem vielleicht noch Marianne Rosenbergs Liebeserklärung an Mr. Paul McCartney (1970) und zwei eher fragwürdige Songs ein, die auf die eine oder andere Weise um Tennislegende Steffi Graf kreisen. Das war’s dann aber auch beinahe. Nur ganz selten verbergen sich hinter Allerweltsnamen auch herzzerreißende Geschichten aus dem wirklichen Leben – in Popsongs aus dem deutschen Sprachraum werden Namen wie Nina, Anita und Michaela, Anuschka, Jenny oder Josie von Songschreibern vor allem wegen ihres Wohlklangs und ihrer Singbarkeit gewählt, nicht weil sich dahinter autobiografische Verstrickungen verbergen, die verarbeitet werden müssen. Was dann auch zu besonders seltsamen Namenskonstruktionen wie in Michael Holms Nur ein Kuss, Maddalena (1970) führt – und immerhin zu charmant-gewagten Spielereien wie in Benjamin, einem 2012 erschienenen Song von Anna Depenbusch, in dem die störenden nächtlichen Beischlafgeräusche aus der Nachbarwohnung mit dem dahingejapsten Namen des Mannes verbunden sind: Ben-Ja!-Ja!…, oh, Ben-Ja!-Ja!… und so weiter und so fort. Eher Auswüchse des sorglosen Umgangs mit fiktiven Namen sind unangenehm klingende Typisierungen wie Heinos Die Schwarze Barbara (1975), die wahlweise an ein männermordendes Monster oder an eine als inakzeptabel empfundene ethnische Herkunft denken lässt, obwohl sie doch nur durch ihr schwarzes Haar und ihren purpurroten Mund heraussticht. Bei Gisela („Isch möschte nischt“) von Horst Schlämmer alias Hape Kerkeling (2007), beim Presslufthammer B-B-Bernhard von Torfrock (1978) oder bei „Hannelörsche, ich beiß dir gleich ins Öhrsche“ aus dem Rodgau-Monotones-Song Hallo, ich bin Hermann (1985) steht dagegen vor allem der Klamaukfaktor im Vordergrund.

Was Archetypen in Kombination mit geografischen Bezeichnungen betrifft, imitiert man in unseren Breiten lieber die angloamerikanischen Vorbilder, als sich an lokale Gegebenheiten anzupassen: So besingt Mary Roos sehnsüchtig einen letztlich unerreichbaren Arizona Man (1970) und Michael Holm nicht weniger leidenschaftlich ein Arizona Girl (1971) – beides sind deutschsprachige Versionen eines englischsprachigen Hits des Südtirolers und späteren Starproduzenten Giorgio Moroder. Einen Saarland-Karl, ein Marienborn-Mädchen oder gar einen Meck-Pomm Macker aber sucht man in Hits aus Deutschland vergebens. Schon klar, ein Lied wie Boney M.’s Bahama Mama (1979) – über eine Mutter in der Karibik, die verzweifelt versucht, ihre sechs schönen Töchter unter die Haube zu bringen – lässt sich eben unbeschwerter dahinträllern als eine auf Konsensfähigkeit zielende Ode an einen strammen Typen aus dem Bayrischen Wald.

Mediterran angehauchte Romantik ist Trumpf in Popsongs aus dem deutschsprachigen Raum, vor allem im Schlager. Kein Wunder, dass dabei die Geliebte – wie in Pretty Madonna von Costa Cordalis (1979) – schon mal zur adretten Marienfigur stilisiert wird, der man – wie Bata Illic 1974 in Schwarze Madonna – noch einen zusätzlichen mystischen Anstrich verleihen kann. Aber es reicht ja auch schon, der Herzensdame einfach einen italienischen Begriff als Namen zu geben, um einen Hauch Exotik zu kreieren, und wenn es nur das italienische Wort für „Sonntag“ ist. So besingt Bernhard Brink 1999 eine schöne Frau namens Domenica, die im Begriff ist, das Song-Ich zu verlassen, was nicht nur für reichlich Herzschmerz sorgt, sondern auch für unschlagbare Verse wie diesen: Ich wart auf dich bei einer Flasche Rotwein / Ich rauch viel zu viel, obwohl ich gar nicht rauch. Aber halt, handelt es sich nicht um die Coverversion eines Songs von Zucchero? Schon, ja. Doch das Original heißt eben nicht „Domenica“, sondern Diamante. Ob dann Semino Rossis Lovesong Bella Romantica (2013) überhaupt noch eine Person, vorzugsweise die Geliebte, adressiert oder schon einen alles fortreißenden Glückstaumel sprachlich verdichtet, muss jede Hörerin, jeder Hörer für sich selbst entscheiden.

Auch das Gefühl der Zuversicht scheint sich für manche Songwriter:innen gleich noch intensiver vermitteln zu lassen, wenn man es mit etwas Italo-Flair anreichert. Das könnte der Grund für Drafi Deutschers Text zum auch von ihm komponierten Song Mama Leone gewesen sein, der 1978 erst mit Verzögerung und letztlich in der Interpretation des aus Palermo stammenden Sängers Bino zum Hit wurde. Die „Löwenmutter“ ist eine Engelsgestalt, die Hoffnung bringt und alles gut werden lässt. Ja, da ist schon einiges an Pathos im Spiel, aber sei’s drum. Albern wird es aber, wenn all die Mamas und Domenicas mehr schlecht als recht zusammengewürfelt werden, um der Beschreibung einer eher banalen Lebenserfahrung etwas mehr Esprit zu verleihen. So trägt die Mutter, die 1987 in einem Song von Andy Borg wehmütig ihrem erwachsen gewordenen und endlich in die Fremde ziehenden Sohn nachschaut, den grotesken Namen „Mutter Sonntag“, Mama Domenica. Der Text dazu wartet außerdem mit einer irritierenden Zeile auf: In deinem Herzen bleibt sein Platz immer frei, Mama Domenica. Die Frage muss erlaubt sein: Sollte der Platz des Sohnes im Herzen der Mutter nicht auch dauerhaft vom Sohn besetzt sein, statt ewig frei zu bleiben? Vielleicht ist das ja besonders spitzfindig. Oder einfach nur ein kleiner Lapsus? Bei Andy Borg weiß man nie … Mindestens ebenso banal wie eine ihren Sohn vermissende Mutter ist ein Vater, der achtgibt, dass sein Töchterchen und ihr Freund hinter verschlossenen Türen keinen amourösen Unfug treiben. Wie hölzern würde es klingen, ginge es um einen Jungen namens Martin, ein Mädchen namens Petra und ihren Vater Manfred! Und wie interessant, ja richtig temperamentvoll klingt es, wenn es um einen Chico, seine Freundin Rosita und deren Papa Don Pedro geht! Mit Don Pedro unterstrich Costa Cordalis 1977, dass sich südländisches Flair auch dann intensiv entfaltet, wenn es griechisch-spanisch geprägt ist.

Typisch deutsch und eher negativ konnotiert ist die Figur des Kowalski, die mal im Singular und mal im Plural, etwa in Gestalt von „Stammtischkowalskis“, durch den einen oder anderen schrägen Song von PUR streift. Eindeutig angloamerikanisch geprägt sind schließlich die Vorbilder, die Dieter Bohlen für sein Bandprojekt Modern Talking aufmarschieren ließ, und das in beachtlicher Zahl. Sein Brother Louie, der doch bitte die Frau gehen lassen soll, die das schmachtende Song-Ich liebt, hält sich 1986 noch einigermaßen an lyrische Konventionen. Doch bei anderen seiner Kreationen lässt es Bohlen ordentlich krachen – und knirschen. Da gibt es – ebenfalls 1986 – eine Asiatin namens Lady Lai, die eigentlich „Lady Lei“ gesungen werden müsste, aber wie die Dylan’sche „Lady Lay“ komplett englisch adressiert und mit tiefsinnigen Versen wie den folgenden beschworen wird: Stay, I love your Chinese eyes / Please, stay / ’Cause you’re a big surprise. Da verliebt sich ein Einsamer am Laptop in eine Dame aus dem Internet, vermutlich aus einem Computerspiel, doch statt von einer „Virtual Mama“ oder vielleicht einem „Game Girl“ schwärmt er in kompletter Gefühls- und Begriffsverwirrung von einer Mrs. Robota (2002). Charakterisiert wird die Unerreichbare ebenso folgerichtig wie sinnfrei mit den Worten: You’re high and low and just between, was kaum noch zu toppende Erregungszustände hervorruft: But more and more I like you more than just before …  Ähnlich aufwühlend, aber auch aus allen möglichen anderen Songs zusammengeklaubt sind die Gefühle, die der Liebende 1999 im Song Taxi Girl für eine sexy Taxi Lady äußert: I’m tossing and turning / ’Cause my heart is burning / Tell me your heart will go on / And if you will be clever / It’s always and ever / I’ll die for you.  Was es schließlich genau mit der Taxi-Metaphorik auf sich hat oder wer hier wen auf welche Weise durch die Gegend respektive durch sonderbare Gefühlswelten kutschiert, scheint der Sprecher selbst nicht zu wissen, sonst würde er im Refrain kaum jauchzen: Be my taxi taxi girl / In my secret taxi world / Be my taxi taxi girl / It’s a strange and secret world. Bleibt noch die ominöse Dame mit dem verbalromantischen Doppelwumms – jene Cheri Cheri Lady, die 1985 mit ähnlich deliriös collagierten Liebesbekundungen wie den eben zitierten bedacht wurde und schon durch ihrem Namen für Stirnrunzeln sorgte. „Cheri“ mit Betonung auf dem I ist eigentlich das französische Wort für „Liebling“, doch die Aussprache bei Modern Talking klingt eher wie ein Mix aus den englischen Wörtern „cherry“ („Kirsche“), „cherish“ („wertschätzen“) und „sharing“ („teilen“). Was letztlich auch den sprachsensibleren Gemütern in der Hörerschaft ein fatalistisches Gefühl von Goin’ through a motion verschafft …

In puncto Namedropping zeigen sich nur wenige deutschsprachige Songwriter:innen so kreativ wie Udo Lindenberg, der mit Rudi Ratlos und Johnny Controletti (1974) oder Wotan Wahnwitz (1975) gleich eine ganze Riege von Figuren mit sprechenden Namen in seinem Oeuvre aufmarschieren ließ. Oder wie Reinhard Mey: Der benutzt hin und wieder Pseudonyme, zu denen auch ein gewisser Alfons Yondrascheck gehört. Und dieser Alfons Yondrascheck geistert dann und wann durch die Songs von Reinhard Mey. In Ankomme Freitag, den 13. aus dem Jahr 1969 etwa erhält das Song-Ich ein Telegramm, in dem eine ominöse Christine einen Blitzbesuch ankündigt, und wird dadurch in helle Aufregung versetzt. Inmitten der sich anschließenden kopflosen Wohnungsaufräumaktion klingelt das Telefon und jemand möchte Alfons Yondrascheck sprechen – doch der Anrufer hat sich offenbar verwählt: „Noch sechseinhalb Stunden, jetzt ist es halb acht. / Vor allen Dingen ruhig Blut, mit System und mit Bedacht. / (…) / Das Telefon klingelt: Nein, ich schwöre: falsch verbunden, / ich bin ganz bestimmt nicht Alfons Yondrascheck – noch viereinhalb Stunden.“ Es ist schon ziemlich hintersinnig, sich selbst im eigenen Song anrufen zu lassen und dann zu behaupten, man hätte nichts mit dem Herrn zu tun …

Das komplette Bonusmaterial gibt’s bei Reclam unter diesem Link.
Die Kapitel: Mehr Unrundes von Caterina Valente, Tomte, Kool Savas und anderen / Lustiges Namedropping und hemmungsloses Typecasting im Song: von Heino bis Bino, von Mary Roos bis Modern Talking /

Kosmisches und anderes Geschwurbel mit Witthüser & Westrupp, Eloy, Can & Co /
Mini-Lyrics oder: Arg Kurzes von Silver Convention, Boney M., Kraftwerk und Scooter.