Eine große, tragische Liebesgeschichte, die zur Abwechslung mal im Rock-’n’-Roll-Milieu spielt? Oder ein cooles Rock-’n’-Roll-Epos, das Elemente einer tragischen Liebesgeschichte integriert? Daisy Jones & The Six, der Erfolgsroman von Taylor Jenkins Reid, funktioniert auf beiden Ebenen, peppt das Ganze mit einem ordentlichen Schuss Siebzigerjahre-Nostalgie auf und befeuert nebenbei die ewige These, dass große Kunst vor allem aus Schmerz und Leiden geboren wird. Die Verfilmung der glamourösen Rockstarfiktion als Amazon-Prime-Serie nimmt zwar einige dramaturgische Änderungen vor, setzt die Vorlage aber mehr als kongenial um – und beschert der Welt das reale Musikalbum einer Gruppe, die es gar nicht gibt.
Ende der Siebzigerjahre: Daisy Jones & The Six haben es geschafft – sie sind weltweit gefeierte Rockstars. Doch just auf dem Höhepunkt ihrer Karriere bricht die Band auseinander. Die Fans sind fassungslos. Wie konnte es so weit kommen? Viele Jahre später werden die Bandmitglieder, die nichts mehr miteinander zu tun haben, sowie wichtige Personen aus ihrem Umfeld für eine Dokumentation getrennt voneinander interviewt. Aus all den kleinen Einwürfen, Anekdoten und teils widersprüchlichen Einschätzungen werden opulente Rückblenden – entfalten sich Aufstieg und Fall einer schillernden Band bis hin zu den wahren Gründen für ihre Auflösung. Erst zum Schluss offenbart sich, wer die erhellenden Interviews führt. Es ist eine herzerwärmende Pointe, die eine überraschende neue Perspektive eröffnet.
Von der Romanfiktion zum Serienhit zum Chartserfolg
Jahrzehntelang waren Spielfilme die Königsdisziplin, wenn es um das Erzählen von Geschichten für die Kinoleinwand und Bildschirme aller Art ging. Entgegen allen Behauptungen über die Schnelllebigkeit unserer Zeit und das kontinuierliche Sinken von Aufmerksamkeitsspannen ist jedoch seit geraumer Zeit das üppige Serienformat auf dem Vormarsch. Es eröffnet die Möglichkeit, eine Geschichte plausibel und in mehreren Strängen zu entfalten, Charakteren Tiefe zu verleihen und die positiven wie negativen Dynamiken zwischen den Protagonistinnen und Protagonisten in sämtlichen Facetten auszuloten. Kaum zu glauben, aber die Fans bleiben dran, selbst über sechs bis zehn Folgen und gleich noch über mehrere Staffeln hinweg – wenn sie denn gut gemacht sind. Das gilt auch für Pop-Biopics und -Fiktionen. Schon verschiedenste 90– bis 120-Minuten-Werke krankten bei allem Unterhaltungswert daran, dass sich das Drehbuch auf wenige zentrale Motive beschränken musste und eine Band, die eben noch reichlich amateurhaft in einem heruntergekommenen Provinzclub zu sehen war, im nächsten Moment von einem großen Festivalpublikum gefeiert wurde, um schon in der übernächsten Einstellung die finalen Zersetzungserscheinungen zu zeigen.
Die Macher der Amazon-Prime-Serie Daisy Jones & The Six haben nicht nur die Vorteile des Serienformats optimal genutzt, sondern auch das Vermarktungspotenzial der Vorlage, des gleichnamigen Erfolgsromans von Taylor Jenkins Reid, konsequent ausgeschöpft. Durch geschickte dramaturgische Eingriffe, eine zündende Besetzung und eine stilvolle Inszenierung haben sie ein mitreißendes Stück Heimkino geschaffen, in das man knapp zehn Stunden lang eintauchen kann; und statt eines konventionellen Soundtrack-Albums, zu dem verschiedene Interpreten die Songs beisteuern, haben sie das fiktive Daisy-Jones-&-The-Six-Album Aurora tatsächlich zum Leben erweckt. Mit dem Ergebnis, dass sich die erfundene Truppe mit ihren Songs wie ein realer Rock-Act in den internationalen Charts tummelt.
Fleetwood Mac (und andere) lassen grüßen
Aus den Rückblenden kristallisieren sich zunächst zwei Erzählstränge heraus. Da sind die Dunne Brothers, eine Band um den gern mal autoritär auftretenden Frontmann Billy Dunne, die irgendwo in Pennsylvania versucht, Fuß zu fassen, größtenteils mit Coverversionen. Und da ist Daisy Jones in Los Angeles, eine unangepasste junge Frau, die sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält, insgeheim aber von einer Karriere als Singer-Songwriterin träumt. Bewegung kommt in die Geschichte, als der renommierte, aber nicht mehr ganz so erfolgreiche Musikproduzent Teddy Price auf Daisy aufmerksam wird und sie unter seine Fittiche nimmt. Währenddessen durchlaufen die Dunne Brothers mehrere Transformationen und begrüßen schließlich die Keyboarderin Karen Sirko als neues Mitglied. Die Band benennt sich um in The Six, schreibt vermehrt eigene Songs und zieht irgendwann nach L.A., um dort den nächsten Karriereschritt zu machen. Eher durch Zufall lernt das schräge Kollektiv, das sich mehr und mehr zusammenrauft, Teddy Price kennen. Und nicht nur das: Es gelingt den Six auch, den einflussreichen Studiomagier von ihren Songs zu überzeugen. Aber etwas fehlt ihnen, so empfindet es der Produzent – womöglich noch etwas textlicher Input, dazu eine starke Frauenstimme. Und weil auch Daisy Jones etwas fehlt, nämlich eine Band, die ihre lyrischen und musikalischen Ideen in künstlerisch noch wertvollere Bahnen lenkt, bringt Teddy Price kurzerhand beide Fraktionen zusammen. Mit der Vorgabe, gemeinsam neue Songs zu schreiben. Ein genialer Move, der eine beispiellose Erfolgsstory in Gang setzt – aber auch ein heilloses emotionales Chaos.
Wer die Dynamiken innerhalb von Rockbands kennt, wird das eine oder andere Déjà-vu erleben – es gibt etliche gut beobachtete Details und Band-Anekdötchen zum Schmunzeln. Wer eine Vorstellung hat vom Musikbusiness damals und heute, dürfte über mächtige, selbstgefällige Konzern-Plattenbosse in Anzügen, über gewiefte Produzenten- und schrille Managertypen den Kopf schütteln. Wer die Seventies noch mitbekommen hat, wird mit Sicherheit von nostalgischen Gefühlen überkommen, so treffend sind Mode und Lifestyle eingefangen – auch wenn man nicht jede Sex- und Drogeneskapade selbst erlebt haben muss. Wer Fleetwood Mac und ihre Musik zu Rumours-Zeiten mag, wird große Ohren und Augen machen, sind doch Sound, Erscheinungsbild und das eine oder andere biografische Detail zu Daisy Jones & The Six von der legendären britisch-amerikanischen Band inspiriert. Und auch wer einfach nur überlebensgroße Lovestorys mit euphorischen Ups und tragischen Downs liebt, wird bestens bedient.
Billy Dunne und Daisy Jones sind zwei außergewöhnliche, nicht uneingeschränkt liebenswerte Charaktere – geschundene Seelen, die sich gegenseitig, aber auch dem gemeinsamen Umfeld einiges an Unzumutbarkeiten zumuten. Zwischen den beiden kracht es immer wieder gewaltig, aber kaum jemandem bleibt verborgen, dass es auch mächtig knistert. Billy hat eine kleine Tochter mit seiner Frau Camila. Die begreift die Bandgemeinschaft als verschworene Familie und wirkt wie eine Übermutter ausgleichend, wo immer es nötig wird. Doch auch sie muss damit klarkommen, dass Billy zeitweise dem destruktiven Rock-’n’-Roll-Lifestyle erliegt, dem Alkohol verfällt und nach einer Entziehungskur lange braucht, um in seine Vaterrolle hineinzuwachsen. Die Vibes, die sie später spürt, wenn sie ihren Mann und Daisy Jones zusammen performen sieht, dürfen ihr erst recht nicht gefallen. Und auch sie leistet sich Ausrutscher. Daneben gibt es stille Glücksmomente und rauschhafte Erfolge, eine lange geheim gehaltene Affäre innerhalb der Band, Mitmusiker, die unter mangelnder Wertschätzung leiden, Frust und Abstürze, bis hin zu einer vorübergehenden Auszeit Daisys in Griechenland. Und dann ist da noch – wir kennen das Motiv aus Almost Famous – der Journalist eines einflussreichen Rockmagazins, der die rasant aufstrebenden Stars auf Tour begleitet, um eine große Story zu schreiben. Die Tratschgeschichten und Geheimnisse, die er den aufgewühlten Bandmitgliedern unabhängig voneinander entlockt, sorgen für zusätzlichen Zündstoff im Gefüge. Nur der Drummer – in seiner naiven Unbekümmertheit erinnert er an den notorisch unterschätzten Beatle Ringo Starr – bleibt völlig unbeschadet: Er lernt tatsächlich eine attraktive Hollywoodschauspielerin kennen, gründet mit ihr eine Familie und lebt, so darf man vermuten, glücklich bis ans Ende seiner Tage. Welch ein wunderbares Popklischee – eine Figur, die für regelmäßigen „comic relief“ sorgt und die dramatische Erzählung mit einem Schuss Selbstironie würzt.
Die weibliche Perspektive
Wo von Männern geschriebene Rockdramen gern den Rock-’n’-Roll-Lifestyle ins Zentrum rücken und ihre Protagonisten als zerrissene, aber letztlich geniale Lonesome-Hero-Typen aufs Podest heben, legt Daisy Jones & The Six bewusst andere Schwerpunkte: zum Beispiel auf die problematischen Auswirkungen, die dieser Rock-’n’-Roll-Lifestyle und das Ringen zweier Alphatiere auf die Charaktere und ihr Umfeld haben. Die Hauptfiguren sind differenziert gezeichnet, mit großen Stärken, aber auch mit eklatanten Schwächen. Daisy, Camila und Keyboarderin Karen sind gleich drei selbstbewusste Frauen. Einerseits behaupten sie sich in der männerdominierten Rockwelt, andererseits haben sie unter den Bedingungen und Haltungen der damaligen Zeit noch einmal besonders zu leiden. So sind es eben die Frauen, die das Problem einer ungewollten Schwangerschaft und die möglichen Folgen für die angestrebte Karriere für sich selbst regeln müssen. Es ist schmerzhaft, aber gut, dass auch gezeigt wird, wie der einst so coole Frontmann Billy Dunne zunächst nicht in der Lage ist, sein Töchterchen in den Arm zu nehmen und zu seiner Vaterschaft zu stehen. Obwohl Daisy Jones ganz neue Saiten in ihm zum Klingen bringt, bleibt er immer auch seiner Frau Camila in Liebe verbunden. Es ist kompliziert. Und hier spürt man deutlich die Handschrift der Autorin – wie auch der Produzentin Reese Witherspoon, die schon als June Carter im Johnny-Cash-Biopic Walk the Line starke weibliche Akzente setzte.
Brillante Besetzung
Mindestens ebenso stark ist der schauspielerische Eindruck, den nun Kiley Reough als Daisy Jones hinterlässt. Die Enkelin von Elvis Presley beeindruckt durch eine intensive Mimik, Gestik und Körpersprache und dürfte mit dieser energiegeladenen Rolle nach diversen Kino- und Serienauftritten den endgültigen Durchbruch geschafft haben. Allein wegen ihrer Präsenz lohnt sich das Streamen. Doch auch die übrigen Mitwirkenden überzeugen, allen voran Tribute von Panem-Beau Sam Claflin als vielfach ge- und überforderter Frontmann Billy Dunne. Aus den Stars, die die Band verkörpern, ragt Suki Waterhouse als zielstrebig-kompromisslose Keyboarderin Karen Sirko heraus, daneben glänzen Tom Wright als clever-sensibler Produzent Teddy Price und Timothy Olyphant (er spielte einst den etwas hüftsteifen Sheriff in der famosen Westernserie Deadwood oder den glatzköpfigen Killer Hitman) als durchgeknallter, aber letztlich professioneller, angemessen empathischer Tourmanager Rod Reyes.
Die Besetzung der beiden Hauptfiguren erweist sich auch mit Blick auf die Musik als Glücksgriff. Beide Stars können tatsächlich singen, wobei Sam Claflin die etwas unauffälligere, gelegentlich in Richtung Tom Petty tendierende Stimme hat und Riley Keoughs Vortrag scheinbar mühelos die Fleetwood-Mac-Diva Stevie Nicks, Kate Pierson von den B 52’s und die eine oder andere Country-Ikone zitiert. Überraschend stark und rund klingt es, wenn Claflin und Keough zweistimmig singen und die Songs des fiktiven Albums Aurora lebendig werden lassen. Im Buch hatte Autorin Taylor Jenkins Reid ein paar eigene Lyrics zu den Songs der Band verfasst – es seien aber keine brauchbaren Texte gewesen, räumt sie unumwunden ein, sondern eher Verse, die die Figuren charakterisieren sollten. Mit Reids Einverständnis holten die Serienverantwortlichen dann echte Songwriting-Koryphäen ins Boot, darunter Phoebe Bridgers, Marcus Mumford und sogar Superstar Jackson Browne. Die Fachleute hatten einigermaßen freie Hand und lieferten die Musik samt neuen Lyrics zu den von Claflin und Keough gesungenen Stücken.
Ganz offensichtlich spitzen die neuen Songversionen emotional zu und bringen vor allem die inneren Konflikte der Figuren, die zwischenmenschlichen Reibungen auf den Punkt. Verdichtung, Dramatisierung und Aktualisierung – ähnliche Effekte erzeugen auch die dramaturgischen Änderungen an der literarischen Vorlage: So haben Camila und Billy im Buch gleich mehrere Kinder, in der Serie ist es nur eine Tochter. Camila hat im Roman keine Affäre, in der Serie schon. Und während Daisy in der Vorlage nur Daisy heißt, darf sie Billy gegenüber in der Verfilmung offenbaren, dass sie eigentlich Margaret heißt – ein Moment, der erstmals eine besondere Nähe zwischen beiden Charakteren herstellt. Dass Keyboarderin Karen in der Adaption nicht mehr Amerikanerin, sondern Britin ist, nennt Showrunner Scott Neustadter eine explizite Hommage an die kürzlich verstorbene Fleetwood-Mac-Keyboarderin Christine McVie. Daisys Freundin Simone wiederum, Soulsängerin und aufstrebender Discostar, bekommt in der filmischen Umsetzung eine nach verschiedenen Höhen und Tiefen glückliche lesbische Beziehung angedichtet, als Reverenz an die queere Bewegung. Und als Daisy eine Überdosis erleidet, wird sie, anders als im Roman, von Billy gerettet, von wem auch sonst!
Geniales Pastiche oder: Kunst kommt von Einfühlen
Fast noch intensiver als die Vorlage suggeriert die Serienadaption, dass große Kunst vor allem aus Reibung, aus Schmerz und Leiden entsteht. Zu den besten Momenten der Serie gehören die Szenen, in denen Daisy und Billy gemeinsam komponieren und texten. Sie beharken sich, kritisieren immer wieder die Texte des Gegenübers und zwingen sich gegenseitig zur Nabelschau. Dabei stellen die scheinbar grundverschiedenen Charaktere fest, dass sie in ihrem Schmerz, in ihren unerfüllten Sehnsüchten mehr gemeinsam haben, als ihnen lieb ist. Und schon texten sie bittersüße Verse wie: „If you’re gonna let me down, let me down easy“, „I’m an echo in your shadow / I’m in too deep“ oder „We can make a good thing bad“. „Viel Leid, mehr hervorragende Songs“ – so lautet das Prinzip, und das ist natürlich schon in losen Orientierungspunkten wie der Bandgeschichte von Fleetwood Mac angelegt. Die Gruppe war berühmt für vertrackte Beziehungen und komplizierte zwischenmenschliche Dynamiken, die die Treiber hinter einigen ihrer besten Songs gewesen sein sollen.
Der „Große Kunst aus großem Schmerz“-Gedanke wird auch heute noch immer wieder gern vorgebracht und standardmäßig untermauert durch Verweise auf Vincent Van Gogh und Edvard Munch, Joseph Beuys und Hermann Nitsch. Hinzu kommen Thesen wie: Positive Gefühle muss man nur genießen, negative Gefühle muss man verarbeiten – weshalb letztere mehr und interessanteres Material für künstlerisches Schaffen liefern. Das alles mag für diverse Kreative und ihre Werke gelten, verallgemeinern aber lässt es sich nicht. Es wäre auch etwas unfair gegenüber Happy, Walking On Sunshine, Girls Just Want to Have Fun, Don’t Worry – Be Happy und anderen Evergreens der Glückseligkeit. Sie scheinen nicht mal im Ansatz aus großem Schmerz geboren und besitzen dennoch einen unbestreitbaren künstlerischen Wert, zumindest für den Autor dieser Zeilen. Zu guter Letzt kann man den Daisy Jones-Roman selbst und – mehr noch – die Serienadaption als Belege weiterer Antriebsquellen für große Kunst nennen. Autorin Taylor Jenkins Reid verfügt ganz einfach über ein unglaubliches Können, das hatte sie in ihren zuvor erschienenen Romanen bewiesen. Dann kam ihr die nächste Idee, doch in der Folge musste sie erst einmal gründlich recherchieren – zu Musik und Songwriting, zu den Biografien berühmter Bands und ganz allgemein zu den Siebzigern. Die Lust am Fabulieren und am Feilen, aber auch viel Geduld führten schließlich zu einer mitreißenden Geschichte über die Kraft der Liebe und die Kraft der Musik. Die Macher hinter der Serienadaption und dem Musik gewordenen fiktiven Album Aurora wiederum agierten im Rahmen einer großangelegten Ensemble-Produktion noch etwas mehr auf der Metaebene. Mit viel Hirn und Händchen manipulierten und ergänzten sie die literarische Vorlage, setzten eine professionelle Filmproduktionsmaschinerie in Gang, gaben gleichzeitig passende Songs in Auftrag. Das Ergebnis ist ein geniales Pastiche rund um ein paar Siebzigerjahre-Rockstars, die große Kunst aus großem Leiden schaffen. Davon, dass die Serienverantwortlichen und ihre Dienstleistenden selbst kongenial gelitten hätten, ist eher nicht auszugehen.