Eigentlich ist das von Peter Fox beschworene Haus am See ein Sehnsuchtsort. Ein Ort, den viele gern erreichen würden und an dem man sich einfach wohlfühlen sollte. Doch irgendwie will dieses Haus nicht zur Ruhe kommen. Aktuell sorgt Heino für Unruhe in den Gemäuern. Der nicht mehr ganz taufrische Volksbarde hat sich einfach der Schlüssel bemächtigt und das Haus am See auf seinem mitunter gespenstisch anmutenden neuen Album Mit freundlichen Grüßen hier und da renoviert. Jetzt wirkt die kleine, feine Herberge wie eine rustikale Almhütte mit Kuhglockengebimmel im Hintergrund. Die Soundspitzen des Originals wurden eliminiert, der herrlich schnoddrige Gesang von Peter Fox durch inbrünstiges Jubilieren mit angedeuteten Seufzern ersetzt – so könnte sich letztlich auch ein Florian-Silbereisen-Fan eingeladen fühlen.
Aber seien wir ehrlich: Ein bisschen kann man auch grinsen bei dieser Coverversion – hat doch Heino mit seinem – Untertitel! – „Verbotenen Album“ insgesamt einen unverschämt frechen Überraschungscoup gelandet. Den Inhalt muss man nicht mögen, aber die Verpackung ist erste Sahne! Viel ärgerlicher finde ich das, was das Kölner rheingold Institut für qualitative Markt- und Medienanalysen 2010 mit Haus am See angestellt hat. „Die Absturz-Panik der Generation Biedermeier“ hieß damals eine von IKEA Deutschland finanziell unterstützte Jugendstudie des Instituts, in der der Peter-Fox-Song auf fragwürdige Weise vereinnahmt wurde. Hinter der Studie standen durchaus kluge Köpfe. So gehörten zum rheingold-Analyseteam der Diplom-Psychologe Stephan Grünewald, Autor von „Deutschland auf der Couch“, der Diplom-Psychologe Frank Quiring sowie die Diplom-Psychologinnen Jasmin Volk und Stephanie Morzinek. Um die Studien-Supervision kümmerten sich ein Herr Prof. Wilhelm Salber und ein Dr. Wolfram Domke.
In seiner Pressemitteilung vom September 2010 fasste das Institut die Ergebnisse mit folgenden Worten zusammen: „Die Jugend 2010 gibt ein verblüffendes Bild ab. Sie präsentiert sich sehr erwachsen, kontrolliert und vernünftig. Zielstrebig will sie ihren eigenen Weg finden. Dabei stehen Bildung, Karriere und ein hoffentlich gutes Einkommen hoch im Kurs. Eine große Anpassungs-Bereitschaft, persönliche Beweglichkeit und Pflichtbewusstsein werden ebenso als Garanten eines erfolgreichen bzw. abgesicherten Lebens angesehen, wie ein breites Kompetenz-Spektrum. Die Lebensentwürfe der jungen Menschen sind von klaren und vor allem erreichbaren Zielen bestimmt. Dabei scheint in diesen Entwürfen immer eine Biedermeierwelt durch, in der das zentrale Lebensziel darin besteht, ein kleines Haus mit Garten oder eine Eigentumswohnung zu besitzen. Bewohnt mit der eigenen Familie, den (beiden) Kindern und dem Hund.“
Dagegen war erst mal nichts einzuwenden. Schließlich hatten die Forscher 100 zweistündige psychologische Tiefeninterviews mit Jugendlichen zwischen 18 und 24 Jahren aus verschiedenen Gesellschaftsschichten durchgeführt. Doch dann kamen zwei Sätze, die Musikfreunde aufhorchen ließen: „Das Lied von Peter Fox über das ‚Haus am See’ ist daher eine Hymne an ein beschauliches Leben, in dem man endgültig angekommen ist, sich niedergelassen hat und sich im Kreise der Familie wohlfühlt. Zuhause will man sich gemütlich einrichten und Geborgenheit erfahren – möglichst mit einem verlässlichen und treuen Partner, an den man sich fest bindet.“
Peter Fox das Sprachrohr eines neuen jugendlichen Biedermeiertums? Haus am See die Hymne an ein beschauliches Leben im Kreise der Familie? Das muss man erst einmal verdauen. Immerhin ist Fox Mitglied der weitgereisten Berliner Reggae- und Dancehall-Band Seeed, die die deutschsprachige Musikszene zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit heißen karibischen Rhythmen und originell-provokanten, teils anzüglichen Texten aufmischte. Und Haus am See, diesen wunderbar dahinfließenden Song mit seinen originellen Sound-Akzenten und dem ironischen Frauenchor, hatte man doch immer ganz anders verstanden… Okay, in zwei Versen des Refrains klingt so etwas wie ein beschauliches Leben an: „Und am Ende der Straße steht ein Haus am See (…) Alle komm’n vorbei, ich brauch nie rauszugehn.“ Aber der Rest ist doch alles andere als das Zelebrieren einer engstirnigen deutschen Biedermeierwelt. Schon die beiden übrigen Refrainverse, die eben unter den Tisch fielen, deuten in eine ganz andere Richtung: „Orangenbaumblätter liegen auf dem Weg / Ich hab 20 Kinder, meine Frau ist schön.“ Wenn ich mich nicht irre, wachsen Orangenbäume kaum in Deutschland, sondern in südlichen Ländern wie Portugal, Spanien und Italien oder noch viel weiter weg, auf anderen Kontinenten; und die 20 Kinder aus den Song-Lyrics stehen in deutlichem Kontrast zu der Idylle „mit der eigenen Familie, den (beiden) Kindern und dem Hund“, die die rheingold-Studie so betont. 20 Kinder, das klingt eher nach einem kleinen zufriedenen Karibik-Macho, einem „Sugardaddy“, der sich irgendwo am Strand faul die Sonne auf den Pelz scheinen lässt und endlos seine Frau beglückt, die ihm im Gegenzug zig Kinder schenkt und den Haushalt schmeißt.
Wer genauer hinhört, entdeckt in Haus am See ein Ich, das sich aus einer beengten, traurigen, perspektivlosen Situation heraus ganz weit wegträumt. „Hier bin ich gebor’n und laufe durch die Straßen“, so skizzieren die ersten Verse den tristen Alltag, „Kenn’ die Gesichter, jedes Haus und jeden Laden. / Ich muss mal weg, kenn jede Taube hier beim Namen. / Daumen raus, ich warte auf ’ne schicke Frau mit schnellem Wagen.“ Das klingt nach vielem, nur nicht nach Kontrolliertheit und Vernunft, nach Zielstrebigkeit, Anpassungsbereitschaft, Pflichtbewusstsein und was die rheingold-Studie der Jugend 2010 sonst noch bescheinigt. Das Ich will viel eher raus aus seinem tristen Leben, alle Zwänge und Ängste hinter sich lassen, einfach etwas Aufregendes erfahren: „Die Sonne blendet, alles fliegt vorbei / Und die Welt hinter mir wird langsam klein. / Doch die Welt vor mir ist für mich gemacht! / Ich weiß, sie wartet und ich hol sie ab! / Ich hab den Tag auf meiner Seite, ich hab Rückenwind! / Ein Frauenchor am Straßenrand, der für mich singt! / Ich lehne mich zurück und guck ins tiefe Blau, / schließ’ die Augen und lauf einfach geradeaus.“ Das Ich pfeift also auf eine mögliche Karriere und tut dabei genau das Gegenteil von dem, was die rheingold-Studie konstatiert: „Die Lebensentwürfe der jungen Menschen sind von klaren und vor allem erreichbaren Zielen bestimmt.“
In den nächsten Versen konkretisiert der Sprecher seine Vorstellungen – und verliert sich in überbordenden, völlig unerreichbaren Fantasien. Er will jede Menge Abenteuer erleben, unermesslichen Reichtum erlangen und am Ende eines auch an sinnlichen Erfahrungen reichen Weges an einem paradiesischen Ort zur Ruhe kommen. Es geht um Freiheit und Ungebundenheit, ums Entdecken, um Glücksspiel und Schatzsuche, um Abenteuer mit Frauen in möglichst exotischen Umgebungen, kurz: um ein illusorisches, märchenhaftes Leben und eine übermenschliche Heldenidentität irgendwo zwischen Indiana Jones und James Bond: „Ich suche neues Land mit unbekannten Straßen, / Fremde Gesichter und keiner kennt mein’n Namen! / Alles gewinnen beim Spiel mit gezinkten Karten. / Alles verlieren, Gott hat einen harten linken Haken. / Ich grabe Schätze aus in Schnee und Sand, / Und Frauen rauben mir jeden Verstand! / Doch irgendwann werd ich vom Glück verfolgt / Und komm zurück mit beiden Taschen voll Gold.“
Auch was das Ich für den Fall seiner ruhmreichen Heimkehr fantasiert, hat wenig mit deutschem Biedermeier zu tun. Statt eines gemütlichen Kaffeeekränzchens muss eine rauschhafte Feier im Kreise einer Großfamilie her, wie man sie klischeehaft eher in südlichen Ländern oder eben in der Karibik erwartet: „Ich lad’ die alten Vögel und Verwandten ein. / Und alle fang’n vor Freude an zu wein’n. / Wir grillen, die Mamas kochen, und wir saufen Schnaps. / Und feiern eine Woche jede Nacht.“ Am Ende des Songs offenbart sich die ganze Tragik des Ichs. Seine Träume ufern immer weiter aus – nun spielen schon 100 Enkel exotische Spiele auf dem Rasen –, doch es hat noch nicht einmal den ersten Schritt aus seiner traurigen Gegenwart heraus gemacht. Und es wird diesen ersten Schritt wohl auch niemals tun: „Hier bin ich gebor’n, hier werd ich begraben. / Hab taube Ohr’n, ’nen weißen Bart und sitz im Garten. / Meine 100 Enkel spielen Cricket auf’m Rasen. / Wenn ich so daran denke, kann ich’s eigentlich kaum erwarten.“ Angesichts der unglaublichen Abenteuer, die vorher ausgemalt wurden, klingt der letzte Vers reichlich bitter. Haus am See ist eine Aussteigerfantasie. Nicht die eines ausgebrannten Karrieristen, sondern die eines armen Schluckers, der überhaupt keine Perspektiven hat. Und der, auch das kann man in die letzten Verse hineininterpretieren, vielleicht längst ein ergrauter alter Mann ist, dem allmählich die Sinne schwinden. Dass der Sprecher weder seine Träume verwirklichen noch zielstrebig eine Biedermeierwelt mit Haus und Garten, Auto, zwei Kindern und Hund erreichen wird, unterstreicht auch das zu Haus am See gedrehte Video: Dort sitzt der Protagonist am Ende tatsächlich an einem See und angelt. Doch er trägt abgerissene Klamotten, ist unrasiert. Und: Er angelt ganz allein. Die vielbeschworene Behausung, die im Hintergrund zu sehen ist, erweist sich als ein armseliger Holzverschlag.
Es ist schon erstaunlich, wie nonchalant, in einem schnell dahingeworfenen Satz, Wissenschaftler einen unschuldigen Song für ihre Thesen vereinnahmen – ohne offenbar genauer in das Stück hineingehocht zu haben. Dabei sollten doch gerade Psychologen aufs Hineinhorchen geeicht sein. Hier scheinen der plakative Titel Haus am See und ein paar aufgeschnappte Verse gereicht zu haben, um – schwups! – einen „echt coolen“ Bezug zwischen Song und Studie herzustellen. So wird das Song-Haus zum interpretatorischen Spukhaus. „rheingold zählt zu den renommiertesten Adressen der qualitativ-psychologischen Wirkungsforschung“, heißt es in der oben erwähnten Pressemitteilung. Auf die Durchführung von Jugendstudien mag das zutreffen. Am Songverstehen müssen die Verantwortlichen aber noch ein bisschen arbeiten.