Hymnenstreit

Vor rund 50 Jahren zertrümmerte Jimi Hendrix beim legendären Woodstock-Festival die amerikanische Nationalhymne: The Star-Spangled Banner

Woodstock, August 1969: Im Rahmen seines Auftritts beim wohl berühmtesten Festival der Rockgeschichte stimmt Jimi Hendrix auf seiner E-Gitarre plötzlich die amerikanische Nationalhymne an. Hoppla, soll das etwa ein patriotisches Bekenntnis sein? Die Irritation im Hippie-Publikum währt nur wenige Sekunden. Denn dann wird klar, dass Hendrix genau das Gegenteil vorhat. Wir erinnern uns: Die amerikanische Nationalhymne entstand 1814 während des Britisch-Amerikanischen Krieges – Textautor Francis Scott Key soll damals vom Anblick der amerikanischen Flagge, des „Sternenbanners“, inspiriert worden sein, die nach einer Schlacht bei Baltimore immer noch stolz über dem US-Fort wehte. Bei Hendrix jedoch bleibt nichts intakt, und von Stolz kann erst recht keine Rede sein. Der schwarze Ausnahmemusiker reißt die US-Flagge akustisch regelrecht auseinander. Mehr noch: Mit Effekten wie Tremolo, Rückkopplung und extremem Pitching simuliert er Maschinengewehrfeuer, Alarmsirenen und markerschütternde Schreie. So greift er einerseits den martialischen Entstehungskontext der Hymne auf und nutzt sie andererseits zu einer lärmenden Kritik am Vietnamkrieg. Amerika ist in dieser Version nicht das „Land der Freien“ und die „Heimat der Tapferen“ („land of the free“, „home of the brave“), sondern eine kriegstreibende Nation, die sich in ferne Konflikte einmischt, Napalmbomben wirft und unzählige Opfer „produziert“. Der heroische Songtext wird nicht nur vielsagend ausgeblendet, man könnte sogar interpretieren: Er geht im instrumentalen Schlachtenlärm gänzlich unter.

Ein derart destruktiver Akt wird von bedingungslosen Patritoten und vom gesellschaftlichen Establishment natürlich als Verunglimpfung interpretiert. Vor allem in den Südstaaten droht man dem Gitarristen Gewalt an, sollte er seine Version der Nationalhymne dort live spielen. Darüber hinaus polarisiert Hendrix als schwarzer Künstler und als Symbol für Integration: In seinen Bands, zum Beispiel in mehreren Experience-Besetzungen, spielten ganz selbstverständlich auch weiße Musiker. Und in seinem Umfeld tummelten sich viele weiße Frauen, die sich einen Dreck um Rassentrennung scherten. Das rief drastische Reaktionen hervor, führte aber auch zu Haltungsänderungen. In ihrem Aufsatz „Voodoo Child: Jimi Hendrix and the Politics of Race in the Sixties“ erzählt die Historikerin Lauren Onkey, wie der Band samt Entourage vor allem im Süden der USA Hotelzimmer und Restaurantbesuche verweigert wurden. Ihr Status als populäre „integrierte Band“ habe sowohl die Chancen als auch die Grenzen der Rassenintegration offengelegt. Immerhin habe Hendrix in dieser Richtung auch Emanzipationserfolge verzeichnet: „His extensive touring claimed the right of an African American to play with white musicians and consort with white women whenever and wherever he chose.“

Am 14. März 2019 erscheint bei WBG/THEISS mein neues Buch Provokation! Songs, die für Zündstoff sorg(t)en. Vorgestellt werden rund 70 Songklassiker der letzen hundert Jahre, die zu ihrer Zeit die Gemüter erhitzten und zum Teil noch heute kontrovers diskutiert werden – von Rock Around the Clock bis Relax, von Anarchy in the U.K. bis zum Punk-Gebet, von Rache muss sein bis Stress ohne Grund, von der „British Invasion“ bis zum Echo-Skandal 2018. Den Band ergänzen Betrachtungen zu den wichtigsten Darstellungsformen im Song und Antworten auf 26 Fragen rund um das Thema Songprovokationen. Mit weiteren Texten zum Thema gibt „tedaboutsongs“ einen kleinen Vorgeschmack.


Wenn sogar die Sonne rot wird

Die Temperaturen schlagen immer noch mal nach oben aus, aber eins steht unwiderruflich fest: Der Sommer ist vorbei. Und was war das für ein unglaublicher Sommer in diesem Jahr! 1976 sang Peter Und es war Sommer, aber damit waren nicht unbedingt Temperaturen um die 40 Grad gemeint. Es ging um eine ganz andere Unglaublichkeit …

Könnte man so etwas heute noch texten? Wahrscheinlich nicht. Denn Schmalz, Unsinn und unfreiwillige Komik triefen in diesem Song aus fast jedem Vers: „Die Sonne brannte so, als hätte sie’s gewusst“, „Sie gab sich so, als sei ich überhaupt nicht da“, „Doch bleib bei mir, bis die Sonne rot wird, dann wirst du sehen“ … So klischeehaft das im 21. Jahrhundert klingt, so brisant war es zu seiner Zeit. Weil ein leicht melancholischer Mann erzählt, wie er mit 16 von einer erwachsenen Frau verführt wurde. Minderjährigen-Sex also, oha! Hin und her gerisssen zwischen Erinnerung und unmittelbarem Noch-einmal-Erleben spricht der „Held“ des Songs von sich selbst mal in der dritten, mal in der ersten Person. Und natürlich wird auch die nächtliche sexuelle Begegnung in blumigste Worte gefasst: „Wir gingen beide hinunter an den Strand / Und der Junge nahm schüchtern ihre Hand / Doch als ein Mann sah ich die Sonne aufgehn / Und es war Sommer.“

Der Altersunterschied zwischen Liebenden wurde in den Songs der Sechziger und Siebziger auffällig oft thematisiert. So ist Maffays Text inspiriert von Bobby Goldsboros deutlich coolerem US-Hit Summer (The First Time) aus dem Jahr 1973, auch wenn der Sprecher dort „schon“ 17 ist. Nur kannte den Song in Deutschland kaum jemand. Hierzulande hatte man eher noch die Beatles mit den suggestiven Zeilen „She was just seventeen / You know what I mean …“ aus ihrem 1963er Hit I Saw Her Standing There im Ohr. Oder Udo Jürgens, der 1965 geschmettert hatte: „17 Jahr, blondes Haar, so stand sie vor mir …“? Ohne Zweifel, auch in diesem Schlager geht es um die erotische Spannung zwischen zwei Menschen, von denen nur einer volljährig ist. Aber: Die amouröse Begegnung bleibt bei Udo Jürgens nur ein Traum: „Sie hat mich angelacht und war vorüber (…) und überall such ich sie.“ Das war für das gesettelte deutsche Publikum von damals offenbar gerade noch zu verkraften. In den 1960er Jahren hatte man tatsächlich noch 21 werden müssen, um die Volljährigkeit zu erreichen, da konnten Künstler maximal eine Fantasie besingen. 1975 war dann aber ein im Jahr zuvor verabschiedetes neues Gesetz in Kraft getreten, das den Eintritt der Volljährigkeit immerhin auf die Vollendung des 18. Lebensjahrs herabsetzte. Dalidas Er war gerade 18 Jahr, die 1974 erschienene deutsche Version ihres französischen Hits Il venait d’avor 18 ans, kriegte da mit dem Rückblick auf einen entsprechenden One-Night-Stand ganz wunderbar die Kurve. Doch 1976 eckte Maffay mit der Geschichte eines 16-Jährigen, der Sex mit einer erwachsenen Frau hatte, tatsächlich an. Hölle und Verdammnis – das war ganz klar verboten!

„Als Maffay diesen Titel in der ‚ZDF-Drehscheibe’ vorstellen wollte, wurde er abgeblockt“, fasst der Journalist Dirk Maxeiner die „schlimmste“ Konsequenz zusammen: „Die Zeilen ‚Ich war 16 und sie 31, und über Liebe wusste ich nicht viel, sie wusste alles und sie ließ mich spüren, ich war kein Kind mehr’ führten zu einem Verbot. Das ZDF: ‚Der Text ist eindeutig zweideutig und passt deshalb nicht in unsere Sendung.’“ Auch der eine oder andere Radiosender weigerte sich, den Song zu spielen. Trotzdem wurde Und es war Sommer samt dem gleichnamigen Album ein Riesenerfolg im deutsprachigen Raum. Es dauerte nicht lange, da trat Peter Maffay mit dem „kontroversen“ Lied doch auch im ZDF auf. Und wo? Natürlich in der „Hitparade“.

Ding-Dong, nur ein Song

Vor rund drei Jahrzehnten provozierte die konservative britische Politikerin Maggie Thatcher eine bis dahin nie gekannte Flut an Protestsongs. 

Großbritannien unter Margaret Thatcher „inspirierte“ viele Bands und Songwriter zu äußerst kritischen bis regelrecht zynischen Protestsongs. Und kaum eine Politikerpersönlichkeit der letzten 70 Jahre wurde so häufig so explizit zur Zielscheibe von Songtexten wie die britische Premierministerin. Die Politik während ihrer Amtszeit (1979–1990) war gekennzeichnet durch Privatisierung, Deregulierung und die Zerschlagung der Gewerkschaften, was – bei allen wirtschaftlichen Erfolgen – zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit, zu sozialen Härten, zu einer Vergrößerung der Kluft zwischen Arm und Reich führte. Der unsinnige Falkland-Krieg und Verordnungen, die die Diskriminierung von Homosexuellen zur Folge hatten, waren weitere Makel ihrer Regierungsarbeit. Eine zwiespältige Situation für Songwriter: einerseits die Erfahrung eines immer härter werdenden Existenzkampfes, andererseits jede Menge Inspiration für aufwühlende Songs. Dennoch hält Bruce Robert Howard alias Dr. Robert, einst Sänger der Blow Monkeys, nichts von der Idee einer Maggie Thatcher „als ‚Geburtshelferin’ einer blühenden britischen Gegenkultur während der Achtziger und frühen neunziger Jahre“, wie sie die „taz“ in einem Interview aus dem Jahr 2013 formuliert.Nein“, wehrt Howard ab. „Sie war eine polarisierende Figur, die zur Gier und zum Egoismus ermunterte, und die das Leben von Menschen zerstörte. Die Kunst mag unter solchen Umständen florieren, aber das ist nichts, für das man dankbar sein sollte. Meiner Meinung nach hatte Thatcher einen zynischen Blick auf die menschliche Natur.“

Die Blow Monkeys waren in den 1980er Jahren nicht nur Teil der von Billy Bragg, Paul Weller und Jimmy Somerville angeführten Musikerinitiative „Red Wedge“ zur Unterstützung der Labour-Partei, sondern „widmeten“ der Tochter eines Kolonialwarenhändlers 1987 auch das Album She Was Only A Grocer’s Daughter. Darauf zu finden: der seinerzeit aus dem Radioprogramm der BBC verbannte Hit (Celebrate) The Day After You. Wo andere aber nur den „Tag danach“, das heißt das Amtsende der Premierministerin feierten, ging Morrissey noch weiter. Der ehemalige Frontmann der Smiths, der schon 1986 The Queen Is Dead propagiert hatte, imaginierte1988 auf seinem Soloalbum Viva Hate gleich die Hinrichtung der ungeliebten Margaret, nicht ohne ein antiaristokratisches Volksaufstand-Szenario wie das der Französischen Revolution zu beschwören. „The kind people have a wonderful dream / Margaret on the guillotine / Cause people like you make me feel so tired / When will you die?“ Natürlich wird nur ein Vorname genannt, aber die Anspielung ist mehr als deutlich. So deutlich, dass Morrissey von Scotland Yard verhört wurde, wie der Sänger 2013 in seiner Autobiografie offenbarte. Damals habe untersucht werden sollen, ob der Star eine reale Bedrohung für die berühmte Politikerin darstellte.

Etliche weitere Songs aus der Zeit provozierten mit mehr oder minder klaren Verweisen: I’m in Love With Margret Thatcher von The Not Sensibles, Kick Out the Tories von den Newton Neurotics, Maggie, Maggie, Maggie (Out, Out, Out) von den Larks, Thatcherites von Billy Bragg oder Shipbuilding von Elvis Costello – ein Song, der zynisch um den Bau von Kriegsschiffen für den Falklandkrieg kreist, wobei möglichen neuen Arbeitsplätzen zukünftige Kriegstote gegenübergestellt werden. Mit Renaud Sechan stimmte 1986 sogar ein französischer Sänger ins Thatcher-Bashing ein. Sein Song Miss Maggie formulierte fiese Liebeserklärungen an die Frauen an sich, jeweils getoppt von einem Seitenhieb auf die verhasste britische Politikerin. Die immergleiche Rüpel-Argumentation: Frauen, und sind sie noch so minderbemittelt, können nie so dumm, so brutal, so kriegstreiberisch sein wie Männer – mit einer Ausnahme: Madame Thatcher …

Als „Madame Thatcher“ dann 2013 tatsächlich starb, verhalf das einem schon 2000 veröffentlichten Punksong der Band Hefner zur Heavy Rotation im Internet. The Day That Thatcher Dies lässt ein Song-Ich auf die 1980er Jahre und seine politische Sozialisierung durch die Labour-Partei zurückblicken. Den zukünftigen Tod der ehemaligen Premierministerin würde der Sprecher schon mal ausgiebig feiern, heißt es da trotzig, auch wenn es nicht korrekt sei: „We will laugh the day that Thatcher dies / Even though we know it’s not right / We will dance and sing all night.“ Das Stück zitiert gegen Ende noch ein fröhliches Kinderlied aus The Wizard of Oz, dem berühmten Film-Musical von 1939, nämlich Ding-Dong! The Witch Is Dead. Tralli, tralla, die Hex’ ist tot? Das schien vielen Thatcher-Kritikern nur allzu gut zu passen. Prompt erlebte Ding-Dong! selbst ein Revival, stieß dank Social-Media-Promotion sogar in die Spitzenregionen der britischen Charts vor – und wurde ebenfalls von der BBC boykottiert. Was aber niemanden wirklich juckte.

„Befreiung vom miefigen Bedeutungsgehalt …“

Interview mit Manfred Prescher, Autor einer Geschichte der deutschsprachigen Popmusik

Mit Es geht voran erschien bei WBG THEISS zur Frankfurter Buchmesse Die Geschichte der deutschsprachigen Popmusik. Manfred Prescher, Radiomacher und Koautor der erfolgreichen Buchreihe „Berühmte Songzeilen und ihre Geschichte“, erzählt darin, wie die Nazidiktatur der anspruchsvollen deutschsprachigen Songkultur der Weimarer Republik die Luft abdrehte; wie nach Ende des Zweiten Weltkriegs deutschsprachige Künstler sich erst wieder eine eigene Selbstverständlichkeit im Umgang mit ihrer Muttersprache erarbeiten mussten; wie die Burg-Waldeck-Festivals der 1960er Jahre hier wichtige Akzente setzten; wie Udo Jürgens und die Liedermacher der 1970er Jahre den eingeschlagenen Weg fortsetzten; wie Österreicher von Konstantin Wecker bis Wolfgang Ambros dabei ihre ganz eigenen Akzente setzten; und wie sich spätestens mit Udo Lindenberg, Nena und der Neuen Deutschen Welle, aber auch mit Austropop-Stars wie Falco, Kraftwerk und Rammstein deutsche und deutschsprachige Popmusik weltweit etablierte. Blödelbarden wie Otto Waalkes und Insterburg & Co werden ebenso beleuchtet wie die „Hamburger Schule“ und verschiedenste Ausprägungen deutscher Hip-Hop-Musik, bis hin zum letztjährigen Echo-Skandal. Der Verlag WBG THEISS geht mit „Es geht voran“ auch insofern neue Wege, als er nicht in der Printausgabe enthaltene „Bonuskapitel“ in seinem Verlags-Blog zur Verfügung stellen wird. Rund um die Buchmesse hatte ich Gelegenheit, Manfred Prescher ein paar Fragen zu seinem Buch zu stellen.

Manfred Prescher

Tedaboutsongs: Herr Prescher, warum gerade jetzt eine Geschichte der deutschsprachigen Popmusik?

Manfred Prescher: Im Grunde ist es ganz einfach: Noch nie dominierte deutsche Popmusik die Charts, speziell die Albumhitparade, so deutlich. Und selten gab es so viel Gerede und Zwist drumherum. Man erinnere sich nur an die Echo-Verleihung und die Auseinandersetzung danach. Oder an Jan Böhmermanns Trubel rund um seine satirisch aufbereiteten Erkenntnisse zu den sogenannten neuen Liedermachern wie Tim Bendzko oder Max Giesinger. Dazu kommt, dass ich mal den schwierigen Weg bis zum jetzigen Zustand aufzeigen wollte.

Auf den ersten Blick scheint alles vertreten, was Rang und Namen in der deutschsprachigen Popmusik hat. Auf den zweiten Blick vermisst man vielleicht ein paar Infos mehr zu Gitte und Wencke Myhre, zu Klaus Lage, Peter Maffay oder Heinz Rudolf Kunze, zu Soulpoppern zwischen Glashaus und Xavier Naidoo. Nach welchen Kriterien haben Sie die Künstler ausgewählt, über die Sie ausführlicher geschrieben haben?

Es war gar nicht das Ziel, alle bekannten Künstler vorzustellen, mir ging es um wichtige Anker innerhalb der Historie. Natürlich kann man drüber streiten, ob zum Beispiel Xavier Naidoo und Laith Al-Deen – also das, was gern als „deutscher Soul“ bezeichnet wird – gewürdigt werden müssen. Speziell diese beiden Künstler und aktuell Helge Schneider werden im Blog des Verlags als Bonuskapitel „behandelt“. Andere wie etwa Heinz Rudolf Kunze habe ich bewusst vernachlässigt – weil im weitesten Sinne ähnlich geartete und historisch ähnlich zu bewertende Künstler ausführlich vorgestellt werden.

Mehrmals kreist Ihr Buch um das Phänomen des deutschen „Schlagers“, das sich nur schwer beschreiben lässt. Was macht den deutschen Schlager so einzigartig, und warum lässt er sich so schwer definieren?

Der Schlager muss meiner Meinung nach immer wieder gestreift werden, weil es sich natürlich erstens auch um deutsche Popmusik handelt und es zweitens immer wieder auch Nähe zu anderen Strömungen und Künstlern gibt. Übergänge sind fließend, was die Beispiele Udo Jürgens und Nina Hagen, aber auch das Kapitel über neue Interpreten wie Bendzko verdeutlichen. Aber das Schlager-Feld ist durchaus komplex und so eigen, dass es ein eigenes Buch darüber bräuchte. Das liegt auch daran, dass die grundlegende Intention des Schlagers von vornherein anders war und teilweise noch ist. Im Gegensatz nämlich zu allem, was sich seit Mitte der 1960er Jahre sonst an deutschsprachigem Pop entwickelt hat, ist der Schlager durchgehend in der Geschichte verwurzelt – und war nach dem Krieg als Teil der Restauration. Seit den Schlagerpartys der 1980er Jahre – und das finde ich sehr spannend – dringt der Schlager in nahezu alle Alters- und Gesellschaftsschichten vor.

Wie verhält sich die deutschsprachige Popmusik zur deutschen Popmusik und zur angloamerikanschen Popmusik?

Deutschsprachige Popmusik tut sich im Ausland sehr schwer, auch weil die Sprache – im Gegensatz zum universell verbreiteten Englisch – nicht mal in Rudimenten verstanden wird. Sie lässt sich schwer verkaufen, was die Medienunternehmen auch kaum versuchen. Ausnahmen wie Kraftwerk und Rammstein bestätigen dies, Falcos Rock Me Amadeus ist teilweise englisch gesungen, Nenas 99 Luftballons für den internationalen Markt komplett: 99 Red Balloons. Es gibt ohnehin vergleichsweise wenige deutsche oder österreichische Künstler, die im Ausland, speziell im angloamerikanischen Sprachraum, erfolgreich oder einflussreich sind. Entweder schaffen sie das, wie eben Rammstein, Kraftwerk oder auch die Krautrock-Bands, durch eine Eigenständigkeit, die man in anderen Ländern romantisch als „typisch deutsch“ ansieht –, oder die Musik ist so universell, dass sie überall entstanden sein könnte. Hier nenne ich mal Giorgio Moroder oder als neues Beispiel Felix Jaehn.

Würde ein Buch über die französischsprachige Popmusik, über die spanischsprachige oder die finnischsprachige Popmusik ähnlich aussehen wie dieses, mit ähnlichen Schwerpunkten? Oder müssten diese Bücher jeweils ganz anders geschrieben werden? Was wäre das Charakteristische an der deutschsprachigen Popmusik?

Die Bücher wären definitiv anders, was auch daran liegt, dass die Muttersprache nahezu überall durchgängig positiv besetzt ist. Dazu kommt, dass sich in jedem Land und jeder Region sehr unterschiedliche Musik entwickelte. Portugiesischer Fado, italienische Cantautori, die französischen Chansons… Der Einfluss arabischer Kolonien und speziell des Jazz, der bei unseren westlichen Nachbarn von Boris Vian bis Daft Punk zu spüren ist – Frankreich hat eine sehr eigene und eigenständige Historie. Beim Spanischen kommt dann noch dazu, dass es in sehr vielen unterschiedlichen Regionen der Welt mit eigener Geschichte – Spanien, Mexiko, Kuba, Argentinien und so weiter – gesprochen wird. Das ergibt ganz unterschiedliche Musik.

Sie haben in Ihre Abhandlung ein paar notwendige kritische Abschnitte zum Thema rechtsradikale Popmusik eingefügt. Diese finden sich allerdings etwas versteckt in einem Kapitel über „Dialekte und Dialektik in der Popmusik“. Warum so versteckt – und warum gerade in diesem Kontext?

Das liegt darin begründet, dass rechtsradikale Popmusik versucht, die Begriffe zu besetzen, die schon zu Kaiserzeit und im Nationalsozialismus von der extremen Rechten okkupiert und so missbraucht wurden, dass man sich nach dem Krieg damit schwertat: Heimat, Dialekt, Zugehörigkeit zu einer bestimmten Herkunftsregion usw… Seit Dialekt musikalisch erfolgreich eingesetzt wird, also seit etwa Mitte der 1970er Jahre, arbeiten sich Künstler an den besetzten Begriffen ab. Nach der Befreiung vom miefigen Bedeutungsgehalt holt sich die Naziszene die Begriffe wieder. Oder sie versucht es zumindest.

Im Buch geht es auch um den Unterschied zwischen DDR-Popmusik und Popmusik westdeutscher Prägung, den Sie ebenfalls als schwer bestimmbar beschreiben. Worin besteht das Problem? Und: Gibt es diesen Unterschied fast 30 Jahre nach der Wiedervereinigung immer noch, oder hat er sich nach und nach aufgelöst?

Das Problem ist, dass durch die unterschiedlichen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und die Lebensumstände zwangsläufig unterschiedliche Ausprägungen der Sprache entstanden. Eigentlich entstand eine eigene Sprache, die auf dem allgemeinen Deutsch aufbaut. Für Westdeutsche war schwer nachzuvollziehen, was genau mit vielen Texten von Puhdys oder Karat gesagt werden soll. Heutzutage ist das Problem bei vielen jungen Künstlern nicht mehr besonders groß. Kraftklub oder Jennifer Rostock könnten auch aus der alten Bundesrepublik kommen. Vergessen darf man aber nicht, dass diejenigen, die die Wende miterlebt haben, auch sprachlich entwurzelt wurden. Das äußert sich in vielerlei Hinsicht, etwa in der Nostalgie, die auch Puhdys und Co. umfasst. Man kann es so sagen: Das andere Deutschland ging unter, und seine Besonderheiten wurden von den „Wessis“ ignoriert. Die Unterschiede sind Zeichen einer fehlenden gegenseitigen Integration und werden noch eine Weile weiterexistieren und Probleme bereiten.

Deutschsprachige Popmusik findet man vor allem in Deutschland, in Österreich und in der Schweiz. Deutsche und österreichische Künstler sind in Ihrem Buch stark vertreten, aber mit Faber nur ein Schweizer. Kommt da aus der Schweiz nichts Nennenswertes?

Ich habe das Thema „Schweiz“ mit den Verantwortlichen im Verlag diskutiert. Es ist heikel, weil die Musikszene dort recht abgeschlossen vom Rest ist. Während Österreicher besonders in Süddeutschland dauerhaft und schon lange erfolgreich sind, bekommen wir von Künstlern aus der Schweiz relativ wenig mit – besonders wenn sie auf Deutsch singen. Im grenznahen Oberallgäu und im österreichischen Vorarlberg sind Sänger wie Baschi durchaus erfolgreich, im Rest der eidgenössischen Nachbarschaften nicht. Das liegt auch daran, dass sich das Schwyzerdütsch auch von anderen alemannischen Sprachausprägungen deutlich unterscheidet. Übrigens sind auch bundesdeutsche Künstler in der Schweiz weniger erfolgreich als in Österreich. Gab es einen schwyzerdütschen Hit in den deutschen Charts? Mir fällt spontan nur Kiosk von Rumpelstilz ein.

Kann man klare grundsätzliche Unterschiede zwischen deutschen, österreichischen und schweizerischen Popkünstlern benennen, oder läuft man da schnell Gefahr, sich in Klischees zu verfangen?

Man läuft durchaus Gefahr, in oberflächlichen Zuschreibungen stecken zu bleiben, aber Unterschiede sind klar erkennbar und historisch bedingt. Österreich-Ungarn als vielsprachige Doppelmonarchie, der komplette Zerfall in ein Zwergenland schon nach dem Ersten Weltkrieg, die anders verlaufende Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und das heutige Österreich, das eben kein verkapptes deutsches Bundesland ist – all das führt zu eigenen künstlerischen Entwicklungen. Diese verliefen schon zur Zeit Mozarts nicht deckungsgleich mit der deutschen. Aber Österreich ist sehr unterschiedlich – und in dieser Unterschiedlichkeit wieder mit dem nahen Bayern verwandt. Die eine große Metropole, wenige Großstädte und viel ländlicher Raum. Das schafft auch unterschiedliche Ausdruckformen. Das typische Österreich ist also wirklich ein Klischee.

Ihr Buch wird durch fünf „Intermezzi“ unterbrochen mit Ausführungen zu Künstlern wie Faber, Isolation Berlin oder Wiener Blond. Was ist die Idee hinter diesen „Intermezzi“?

Ich wollte Künstler vorstellen, die ich für interessant halte und von denen ich noch weitere Impulse erwarte. Ihnen ein langes Kapitel zu widmen, wäre – mit Ausnahme von Ernst Molden und Willi Resetarits – vermessen. Aber ich sehe hier Potenzial für neue Impulse. Faber, Isolation Berlin oder auch dem Ersten Wiener Heimorgelorchester gelingt das auch schon. Wenn Sie so wollen, sind das Tipps für die Leser.

Apropos Tipps: Welches sind für Sie momentan die spannendsten deutschsprachigen Popkünstler?

Neben denen, die ich in den Intermezzi vorstelle, finde unter anderem noch Steiner & Madlaina interessant. Madlaina ist die Schwester von Faber und verbindet unterschiedliche Sprachen zu etwas, das ich „europäisch“ nennen würde. Theodor Shitstorm oder Der Nino aus Wien blicken mit intelligenten, anspielungsreichen Texten auf ihre unmittelbare Umgebung und schaffen so gesellschaftlich relevante Inhalte. Max Richard Leßmann halte ich für einen sehr guten Liedermacher im besten Sinn des Wortes.

Sagen Sie uns zum Schluss noch kurz etwas zu Ihrer regelmäßigen Radioshow: Wann und wo kann man sie hören, was ist das Konzept?

Sie heißt „3 NACH 8“ und läuft – mit einer aktuellen, berufsbedingten Unterbrechung bis 6. November – immer dienstags von 20 bis 23 Uhr bei AllgäuHIT und unter allgaeuhit.de. Im Prinzip ist es ein „klassisches“, auf die 1970er Jahre zurückgehendes Format, in dem der Moderator die tragende Säule ist. Ich halte das Ganze also zusammen. In der ersten Stunde stelle ich aktuelle Neuheiten vor, auch, um das Format des Senders nicht komplett zu brechen. Die HörerInnen und ich bewerten diese Musik. In der zweiten Stunde gibt es spannende Novitäten, Album der Woche, Buchbesprechungen und Interviews. In der dritten Stunde spiele ich dann besondere Versionen, Liveaufnahmen und erfülle den einen oder anderen Hörerwunsch. Der Abend klingt dann traditionell mit „Kiss And Say Goodbye“ von den Manhattans aus.

Reinhören lohnt sich offenbar. Vielen Dank für das Gespräch!

Manfred Prescher, „Es geht voran: Die Geschichte der deutschsprachigen Popmusik“,
248 Seiten, WBG THEISS, 19,95 Euro.

Klingende Werte

Zum Tod von Aretha Franklin

„My friends all wonder what’s come over me, I’m as happy as a man can be“, sang Wilson Pickett 1967 in dem von Bobby Womack geschriebenen Song I’m In Love. Und: „I feel just like a baby boy / On a Christmas mornin’ with a brand new toy.“ Eine typische Soul-Schnulze, garniert mit den üblichen Macho-Attitüden: die Frau als Spielzeug, über das sich der frisch Verliebte wie ein kleiner Junge an Weihnachten freut. Aretha Franklin mochte den Song und hat ihn 1974 gecovert. Aber sie sang ihn mit einem subtil überarbeiteten Text: In ihrer Version spricht eine Frau, und diese Frau dreht den Spieß nicht etwa eins zu eins um, sondern befreit ihn von allen Dominanzgesten: „Friends all wonder what’s come over me, I’m as happy as any girl could be“ und: „I’m sproutin’ and bloomin’ like last summer’s rose.“ Es ist eine Coverversion, aus der großes Selbstbewusstsein spricht – und in der alles Machohaft-Offensive blumig, mit einem Augenzwinkern weggewischt wird.

In dieser unscheinbaren, leicht discobeseelten Interpretation, in diesem Umgang mit dem Original steckt vieles von dem, was die große Sängerin, Songwriterin, Pianistin und Entertainerin Aretha Franklin ausgemacht hat: eine entschlossene Selbstbehauptung, aber humorvoll, ohne Konfrontation, Integrität, Souveränität und musikalische Eleganz, dazu eine Ausstrahlung, die mühelos Grenzen überwand. Aretha Franklin war nicht nur die „Queen of Soul“, sondern eine wahre „Queen of Pop“, nicht nur eine schwarze, sondern eine globale Ikone, gefeiert in ehrwürdigen Kritiker- und Musikliebhaberkreisen, aber auch von Rentnern und Teenies auf der ganzen Welt, nicht zuletzt von der Gay Community.

Die Technik des augenzwinkernden, dezent manipulierenden Coverns hatte Aretha Franklin schon einmal angewandt, und zwar mit durchschlagendem Erfolg. Aus Otis Reddings Song Respect, in dem ein Mann von seiner Frau etwas Wertschätzung verlangt, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt, machte die aufstrebende junge Künstlerin 1967 einen Mutmachsong für unterdrückte Frauen weltweit. Bei ihr ist es der Mann, der seiner Frau Respekt entgegenbringen soll, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt. Erst dann werde er auch von ihrem Geld profitieren. Und damit die Botschaft auch unmissverständlich rüberkommt, wird der Titel immer wieder ohrwurmartig durchbuchstabiert: „R – E – S – P – E –C – T“. Respect wurde einer der größten Erfolge von Aretha Franklin und in der Folge nicht nur feministisch vereinnahmt, sondern auch als Hymne der schwarzen Bürgerrechtsbewegung gefeiert.

Einige ihrer Auftritte sind unvergessen: etwa der im Filmklassiker Blues Brothers, in dem sie den flotten Soulhit Think zum Besten gab und weitere Elemente ihres Image festigte: als resolute, geerdete Persönlichkeit, die jeden Laden schmeißt, als natürliche Autorität und Stimme der Vernunft, der man folgt, wenn sie sich erhebt. Nicht minder bewegend ihre Gesangseinlage bei der Amtseinführung des demokratischen US-Präsidenten Barack Obama, mit der sie die damalige Aufbruchsstimmung musikalisch untermalte. Aretha Franklin, auch als Songautorin und Pianistin respektiert, sang Duette mit Annie Lennox, George Michael oder Elton John, sprang auch mal für Luciano Pavarotti bei Nessun Dorma ein und machte nicht zuletzt durch vielfältige Charity-Aktivitäten ganz unaufgeregt deutlich, dass musikalisch wie gesellschaftlich alles geht, wenn man nur aufgeschlossen, hoffnungsvoll und konsequent agiert und das Herz am richtigen Fleck hat.

Kaum ein menschliches Leben ist frei von Schicksalsschlägen, Krisen und steinigen Phasen. Das gilt auch für Aretha Franklin. Und doch sind von ihr keine Skandale, keine Exzesse, keine peinlichen Extravaganzen bekannt. Im Gegenteil: Die stimmgewaltige Tochter eines Baptistenpredigers stand für Ehrlichkeit, Verlässlichkeit und Konstanz, für gesellschaftliche Verantwortung und beeindruckende künstlerische Qualität. Nicht umsonst landete sie um die 40 Top-Ten-Hits, errang diverse Grammys und konnte sich über die eine oder andere Meilenstein-Auszeichnung freuen. So wurde sie 1987 als erste Frau in die „Rock and Roll Hall of Fame“ aufgenommen. Wer weiß, vielleicht hat all das ja auch mit ihrem Familiennamen zu tun. In Franklin steckt das Adjektiv „frank“, also „offen“ und „frei“, Namensvetter Benjamin Franklin war nicht nur einer der Gründerväter der USA, sondern auch beteiligt am Entwurf der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Der Demokrat Franklin D. Roosevelt wiederum war einerseits Hitlers Gegenspieler und ging andererseits als Sozialreformer in die Geschichte ein, Stichwort: „New Deal“.

Aretha Franklin hat den Kampf gegen den Krebs verloren. Wenn überhaupt etwas über diesen viel zu frühen Tod hinwegtrösten kann, dann ist es der Gedanke, dass Botschaften wie Respect und Think jetzt wieder häufiger im Radio zu hören sind – und dass Werte, wie sie auf eigentümliche Weise mit dem Namen Franklin verbunden sind, wieder verstärkt ins öffentliche Bewusstsein dringen. Die Welt hat es nötig.