LouLou-Maschinen-Musik: Lou Reed und der Warhol-Faktor

„Hast du was zu Lou Reed?“, fragt Faust-Kultur, „hier müssen wir uns was einfallen lassen.“ Auch wenn sich Faust-Kultur nicht unbedingt als Nachrufplattform versteht: Bei Lou Reed läuten sofort die Pflichtglocken. Da muss was geschrieben werden. War eben ein ganz Großer. Und ein Wichtiger. Das Problem: In den wenigen Tagen seit Reeds Tod am 27. Oktober sind schon so viele alles sagende Nachrufe erschienen, dass ein weiterer Nachruf fast schon peinlich wirken würde: Schwere Kindheit mit Elektroschockerfahrungen, frühe Begeisterung für Doo-Wop-Musik und Literaturstudium bei dem Schriftsteller Delmore Schwartz; musikalische Anfänge als Auftragssongschreiber, wegweisende Platten mit The Velvet Underground im Umfeld von Pop-Art-Papst Andy Warhol, darunter die berühmte mit der „schälbaren“ Banane auf dem Cover; die thematischen Vorliebe für Stricher, Drogensüchtige und Freaks, das Spiel mit androgynen, schwulen Images, gipfelnd in Glam-Rock mit David Bowie; die unhörbare Feedback-Orgie Metal Machine Music – heute bei „Wire“ eine der „100 Records That Set The World On Fire (While No One Was Listening)“; düstere Alben über New York und Berlin, Ehe mit der Performance-Künstlerin Laurie Anderson, dazu seltsame künstlerische Projekte und Kollaborationen wie die mit Theaterguru Robert Wilson (Vertonung von Edgar-Allen-Poe-Gedichten und das Musical „Time Rocker“) oder die mit der Band Metallica (CD „Lulu“ nach Frank Wedekind, die nachträgliche Aufnahme der Musik zu einer weiteren Robert-Wilson-Inszenierung) – all das ist gut abgehangener Stoff der Rock- und Popgeschichte, immer wieder blumig aufbereitet und stets ergänzt durch den Hinweis, was für ein Arschloch Lou Reed doch sein konnte, nicht nur gegenüber Vertretern des Establishments, sondern auch gegenüber Fans und vor allem gegenüber Musikjournalisten.

Lou Reed „war wahrscheinlich nicht der sympathischste Rockmusiker, dafür aber einer der größten und dazu geistig kühnsten unserer Zeit“ („FAZ“), ein „muffiger Existenzialist“, ein „Grantler und Griesgram in fröhlichen Zeiten“ („Rolling Stone“), der „Avantrock-König“ (Amazon), ein „teuflischer Rock-Poet“, sein Werk „ein großes, dunkles Geheimnis“ (Die Welt“), die Essenz einer „großen Poesie der schlechten Laune“ („Süddeutsche Zeitung“). Ich möchte hier ganz bestimmt keinen Nachruf abliefern, aber ergänzen: Lou Reed war ein Antistar – eine Berühmtheit, die es immer wieder prächtig verstand, es sich mit allen zu verscherzen, eine garstige Ikone, die nicht auf den größtmöglichen Umsatz, sondern auf die größtmögliche Irritation abzielte. Auf einen gefälligen Hit folgte schwer Verdauliches, auf hintergründige Interviewfragen folgten bewusst nichtssagende Antworten, und wo man prominente Duettpartner für Songs mit Top-Ten-Garantie hätte gewinnen können, wurde lieber eine Kopfschütteln verursachende interdisziplinäre Kunst-Kollaboration gewählt. Reed-Arbeiten waren nie nur Rock, sondern Rock war bei ihm stets eine Ausdrucksform unter mehreren, Teil eines größeren Ganzen. Das zeigte sich bereits in den 1960er Jahren bei Andy Warhols verstörenden Multimedia-Shows unter dem Motto „The Exploding Plastic Inevitable“, in die die Auftritte von The Velvet Underground integriert waren. Lou Reed war ein Meister des ambivalenten Songwritings – bei vielen seiner Stücke weiß man nicht, ob sie etwas Abgründiges als tragisch beweinen oder etwas Tragisches als abgründig idealisieren, ob sie wirklich zärtlich sind oder unterschwellig zynisch, ernst gemeint oder getragen von bitterer Ironie. In Venus in Furs, Take A Walk on the Wild Side oder Perfect Day kann man noch heute vieles Unterschiedliches hineininterpretieren, ohne wirklich falsch zu liegen. Ein Rockkonventionen unterlaufender Vortragsstil, das ständige Changieren zwischen Singsang, Rezitation und Brabbeln, hält dabei das Publikum auf Distanz.

Und: Lou Reed scheint mir bis zum Schluss nie ganz von der Pop Art Warhol’scher Prägung losgekommen zu sein. Andy Warhol, der den Satz „Ich will eine Maschine sein“ formulierte, um das Künstliche der Kunst hervorzuheben, sie von der Abstraktion und all dem „Innerlichkeitskram“ zu befreien; Andy Warhol, der im Zeitalter der Massenmedien erkannte, dass praktisch jeder Mensch seine „15 Minuten Ruhm“ erlangen kann, wenn er nur an die Öffentlichkeit geht und sich zum Star erklärt; Andy Warhol, der mit seinen Siebdruckwerken das Verständnis von einem „Originalkunstwerk“ entwertete oder zumindest veränderte; und Andy Warhol, der mit seinen provokante „Unbewegte Kamera“-Streifen das Medium Film und seine Ausdrucksmöglichkeiten bewusst unterlief. Multimediale Variationen der reinen Oberfläche. So klingt in Lou Reeds Feedback-Album Metal Machine Music nicht nur Warhols Ausspruch „Ich will eine Maschine sein“ wider – die vier viertelstündigen Tracks wirken auch wie akustische Entsprechungen zu den Warhol-Filmen Sleep und Empire, die stundenlang einen schlafenden Mann bzw. das Empire State Building zeigen und höchstens durch einen Schnitt, eine kleine Bewegung oder wechselnde Lichtverhältnisse für so etwas wie Spannung sorgen: Analog präsentiert Reed langgezogene Gitarrenfeedbacks, quasi eingefrorene Rockmomente, die sämtliche Ausdrucksmöglichkeiten des Rock-Songwritings unterlaufen und ihre Dramaturgie, wenn es überhaupt eine gibt, einzig aus dem Oszillieren des Sounds entwickeln. Weder die Filme noch die LP muss, geschweige denn kann man durchgängig goutieren, sie müssen aber als Beleg existieren und archiviert sein.

In Lou Reeds Konzentration auf das Abgründige klingen wiederum Warhols Siebdrucke nach, die mit Variationen des Immergleichen arbeiteten und deren irritierende Motive nicht nur Konsumgüter und Glamour-Stars, sondern auch Autounfälle und elektrische Stühle beinhalteten. Auch Reed produzierte gewissermaßen Stricher-, Drogen-, Transsexuellen-Dramen in Serie, und was für Berlin (1973) galt, ließ sich auch für New York (Coney Island Baby, 1975; New York, 1989; Hudson River Wind Meditations, 2007) wiederholen, wobei die „Windmeditationen“ den Metal Machine Music-Ansatz um den etwas neueren Ambient-Music-Gedanken erweitern. Dass Lou Reed sich selbst als Star inszenierte, ist ebenso unbestritten wie sein ständiges Bemühen, diese Starrolle, die Mechanismen des Startums und die Gesetze der Medienwelt zu unterlaufen. An die Stelle des „Stars“ trat dann bei ihm zunehmend das „Ego“, dass er gnadenlos in den Vordergrund rückte. „Ich bin Künstler, und das heißt, dass ich so egoistisch sein kann, wie ich will“, wird er auf SPIEGEL Online noch einmal zitiert. Mehrmals behauptete Reed, seine Alben ergäben zusammengenommen den „Großen amerikanischen Roman“. Das wirkt einerseits wie eine tragische Selbstüberschätzung – andererseits ist es eine weitere Entsprechung zum Warhol’schen Ansatz, ein paar schillernde Nobodys aus seiner „Factory“ kurzerhand zu „Superstars“ zu erklären. Und es würde mich nicht wundern, wenn einmal eine Tagebuchnotiz offenbarte, Reed habe das Lulu-Album mit Metallica nur deshalb gemacht, weil der Titel wie sein seriell gedoppelter Vorname, sein potenziertes Ego klingt und der Bandname Metallica noch mal hübsch an sein verkanntes Frühwerk Metal Machine Music erinnert.

Natürlich hat Lou Reed einige tolle, bewegende, interessante Songs in die Welt gesetzt. Doch bei allen Feinheiten dieses Songwritings kann man boshaft in den Raum stellen, dass andere seiner Produktionen unfertig, unverständlich daherkamen und manche seiner Arbeiten für eine überkommene Kunst im alten Warhol’schen Sinne stehen, die sich immer wieder selbst reproduziert. Das Künstler-Ego scheint nur ab und zu etwas nachlegen zu müssen – das wird zwar den meisten Menschen überhaupt nicht gefallen, andererseits findet sich immer ein beflissener Fan oder Kritiker, der dem aktuellen Erguss einen Hauch von Genialität bescheinigt. Ein bisschen Rock, ein bisschen Pop-Art und Konzeptkunst, gewürzt mit einer Prise Publikumsbeschimpfung, dazu das Changieren zwischen Tiefgang und Herumwerkeln an der Oberfläche: ein interessanter Ansatz, der deutlich über das, was Durchschnittsrocker machen, hinausgeht – der aber nicht wirklich rund oder konsequent wirkt und auch vor zehn, zwanzig Jahren schon Schnee von vorgestern war. Als kreativer Eigenbrötler und Egomane, der immer wieder auch Kunst ablieferte, die man weder goutieren konnte noch musste, wirkte Reed schon länger aus der Zeit gefallen und, seien wir ehrlich, nicht nur anstrengend, sondern auch ein bisschen langweilig.

Dieser Beitrag und weitere Texte zum Thema „Songs“ auf http://faustkultur.de/ unter „Pop-Splitter“ und „What have they done to my song?“ 

 

Die Black-Music-Wundertüte: Janelle Monáe und ihr neues Album „The Electric Lady“

Nein, mit Electric Ladyland, dem Doppel-LP-Klassiker von Jimi Hendrix, hat The Electric Lady nichts zu tun. Und doch schafft es Janelle Monáe auf ihrem neuen Album mühelos, musikalische Bezüge zum berühmtesten schwarzen Gitarristen der Rockgeschichte herzustellen. Wenn in gefühlvolle R&B-Balladen plötzlich psychedelische Gitarrensoli einbrechen, dann klingt nicht nur Hendrix an, sondern auch Purple Rain, der 80er-Jahre-Schmachtfetzen des Black-Music-Erneuerers und Hendrix-Epigonen Prince. Dieser Prince wiederum, der sich als Künstler heute rarer und rarer macht, gehört nicht nur zu den Förderern von Janelle Monáe, sondern hat auf The Electric Lady auch einen Gastauftritt, im dramatisch-lasziv vorwärtsgroovenden Givin Them What They Love.

Zwischen Hendrix und Prince liegen 20 aufregende R&B- und Soul-Jahre, die neben Girl-Group-Pop von den Supremes und schweißtreibendem Bläser-Soul à la James Brown auch introspektives R&B-Singer-Songwriting der Marken Marvin Gaye und Stevie Wonder, den knarzenden Space-Funk von George Clinton und Funkadelic mit seiner „Move your ass and your mind will follow“-Philosophie, leichtgängigen Philly-Sound und schwüle Barry-White-Grooves hervorgebracht haben. Nach Prince wiederum, in den 1990er und 2000er Jahren, setzten Hip-Hopper wie A Tribe Called Quest, Jazz-Hopper wie Warren G oder High-Energy-Soulpopper wie Outkast neue Akzente im Black-Music-Sektor, mit teils abgedrehten, teils selbstvergessen groovenden Acts wie Erykah Badu oder D’Angelo etablierte sich das Etikett Neo-Soul. Und wie schon auf dem Vorgängeralbum The Archandroid gelingt es Janelle Monáe auch auf The Electric Lady, all diese Einflüsse zu verbinden, ohne dass irgendwelche Brüche vernehmbar wären. Dass dann auch noch eine Prise Sixties-James-Bond-Soundtrack und eine gehörige Portion Latin Grooves dazukommen, sorgt nicht etwa für endgültige Verwirrung, sondern macht – in Verbindung mit einer fantastischen Produktion und wunderbaren produktionstechnischen Gimmicks – dieses Popalbum nur noch aufregender.

Dabei wirkt vieles auf The Electric Lady im ersten Moment leichtgängig, vertraut, manchmal fast schon belanglos. Doch wenn man die Songs in voller Länge und das Album als Ganzes hört, entdeckt man die vielen überraschenden, ungewohnten Akkordwechsel – stellt man fest, wie Stücke plötzlich eine völlig andere Wendung nehmen, wie sie Klassiker anreißen und zitieren, ins Jazzige hinübergleiten, sich in Sphärenklängen auflösen oder völlig neu zusammensetzen. Auch stimmlich zieht Janelle Monáe alle Register, vom mädchenhaften Trällern über erwachsenes Croonen und beseelten Gospel-Gesang bis hin zum scharfen Rap hat sie die entscheidenden Vocal Moves drauf, und wo vielleicht noch ein Akzent fehlt, helfen Gastinterpreten wie Miguel und Solange Knowles, die kleine Schwester von Beyoncé, gerne aus.

Der gute Groove, die spannenden Vibes, die kompositorischen Finessen sind natürlich das, was den Musikliebhaber am meisten interessiert. Aber es gibt drei weitere Pluspunkte, die Janelle Monáe aus dem Gros der heutigen R&B-Künstlerinnen herausheben: das abgefahrene textliche Konzept ihrer Songs, ihr souveränes Styling und ihre tänzerische Klasse. The Electric Lady knüpft als weiteres Konzeptalbum an The Archandroid an und erzählt von einer nahen Zukunft, in der neben Menschen auch Androiden auf der Erde leben. Letztere haben die Fähigkeit, Emotionen zu adaptieren, doch sind ihnen Liebesbeziehungen zu Menschen strengstens verboten. Die Geheimorganisation The Great Divide wacht über die Einhaltung der Gesetze und wendet dabei auch Mittel wie Zeitreisen an. Eines Tages aber, so ein Mythos in diesem Universum, soll der Erzandroid kommen und die Welt befreien. Cindi Mayweather ist dieser Android, und ihm sind diverse Song-Ichs zuzuordnen. Das Ganze ist allerdings so lose und unaufdringlich konstruiert, dass viele Stücke auch als kleine R&B-Perlen für sich stehen können. Sie erzählen von großen Gefühlen, prangern aber auch soziale Missstände an, thematisieren die Gleichberechtigung der Frau oder zeugen von einer liberalen Haltung gegenüber gleichgeschlechtlicher Liebe. Etwa im Song Q.U.E.E.N., der mit eckigen Riffs und dem Slogan „The booty dont lie“ (sinngemäß: „Ein tanzender Hintern lügt nicht“) alte Funkadelic-Zeiten heraufbeschwört und Neo-Soul-Queen Erykah Badu als Gastvokalistin ein paar zusätzliche politische Statements abfeuern lässt. Die gelegentlich in die Lyrics eingestreuten Roboter- und Zeitreise-Metaphern lassen sich dabei auch ohne den narrativen Hintergrund als einfach überdrehte lyrische Bilder verstehen.

Passend zu diesem eigenwilligen inhaltlichen Ansatz verzichtet Janelle Monáe auf anbiedernde sexy Outfits. Stattdessen kleidet sie sich in strikt schwarz-weiß gehaltene Kombinationen, die mitunter – auch das sehr passend zum musikalischen Konzept – an die „Cotton Club“-Ära der 1920er und 1930er Jahre erinnern. Und wo sich andere weibliche R&B-Stars an grotesken Girl-Group-Moves, absurden Aerobic-Choreographien und – „Sex sells!“ – peinlichen aufreizenden Tabkedance-Posen versuchen, zeigt Janelle Monáe auf verdammt coole Art und Weise, wie zeitgemäße Tanzvideos auszusehen haben. Bestes Beispiel ist das Video zum schweißtreibenden Song Tightrope aus dem letzten Album, das in seiner Intensität an die wilden Swingsequenzen aus dem Filmklassiker Hellzapoppin (1941) erinnert.

Obwohl sie neben Prince auch von Hip-Hop-Guru P Diddy oder den Outkast-Jungs unterstützt wird und obwohl sie Grammy-Nominierungen vorweisen kann, ist Janelle Monáe bei uns noch relativ unbekannt. Was wirklich schade ist, denn auch mit ihrer neuen Platte hat sie ein verführerisches Popjuwel geschaffen – ein Electric Lady-Land, in das man ihr nur zu gerne folgt.

„…und mach mir deinen Song so wie er mir gefällt“

Wahlkampfzeit, Songvereinnahmungszeit. Aktuell sind es die Toten Hosen, die sich beschweren. Ihr Hit Tage wie diese wird auf Wahlveranstaltungen sowohl der CDU als auch der SPD gespielt, und das finden Campino & Co. Natürlich überhaupt nicht gut. Ein Ärgernis, das die Hosen mit vielen anderen Pop- und Rockstars teilen. Denn schon seit Jahrzehnten nutzen Politiker und Parteien bekannte Songs für ihre Zwecke. Solche Songvereinnahmungen erfolgen nach mindestens sechs grundsätzlichen Mustern – und manchmal ohne Rücksicht auf Verluste:

1 Der Song wird vereinnahmt, weil er zufällig den Namen oder Spitznamen des Politikers oder der Politikerin enthält. Bestes Beispiel: Angie von den Rolling Stones. Im Jahr 2005 ließen die Marketingstrategen der deutschen CDU das bereits 1973 veröffentlichte Stück regelmäßig im Anschluss an die Wahlkampfauftritte von Angela Merkel spielen. Und das, obwohl die Lyrics vom traurigen Ende einer Liebesbeziehung, von Abschied und Depression erzählen. „Äjndschäh, Äj-hiiiiihhhnn-dschäh, when will those clouds all dis-äppiie-hie-hie-hie-ähhh?“ Eigentlich nicht das passende Stück Musik für eine aufstrebende Politikerin. Aber vielleicht gibt es ja nach dem Bundestagswahlsonntag endlich mal einen wirklichen Grund, das Lied in der CDU-Zentrale zu spielen…

Ähnlich wie bei Angie lag der Fall bei Barracuda, dem 1977er Rockklassiker der US-Band Heart. Er wurde doch 2008 tatsächlich von der erzkonservativen Vizepräsidentschaftskandidatin Sarah Palin zum Anheizen des Wahlvolks benutzt, weil sie einst im Schul-Basketballteam den Spitznamen „Sarah Barracuda“ trug. Auch hier hatten die Lyrics – eine Abhandlung über Niedertracht und Verrat – nicht nur keinen Bezug zur Kandidatin, sondern waren überdies auch noch reichlich kontraproduktiv. Was aber niemanden zu stören schien.

2 Der Song hat einen hübschen Titel, der sich prima als Motto benutzen lässt. So geschehen mit American Girl, einem Stück von Tom Petty aus dem Jahr 1977. Hillary Clinton soll den Song 2008 auf Wahlkampfveranstaltungen genutzt haben, offenbar ohne Einwände des Interpreten. Als aber die wie Sarah Palin nicht eben zimperliche Republikanerin Michele Bachmann das Stück 2011 zum Start ihrer Präsidentschaftskampagne spielte, untersagte ihr Tom Petty den weiteren Gebrauch des Liedes.

Wieso der Song überhaupt für politische Zwecke genutzt wurde, bleibt allerdings auch hier schleierhaft. Denn er erzählt von einer jungen Frau, die frustriert vom Leben, von der Liebe ist. Einige Fans behaupten sogar, die Lyrics seien inspiriert vom authentischen Fall einer Studentin, die Selbstmord beging. Auch im Falle von More Than A Feeling, einem Rockklassiker der US-Gruppe Boston von 1970, dürfte der suggestive Titel der Hauptgrund dafür gewesen sein, dass ihn der Republikaner Mike Huckabee 2008 bei seinen Wahlkampfveranstaltungen spielen ließ. Eigentlich verbinden die Lyrics die Motive einer verlorenen Liebe und eines alten, sehnsüchtigen Songs, der im Radio läuft. Kein Wunder, dass sich Boston gar bitterlich beschwerten.

3 Man positioniert sich oder provoziert, indem man einen bekannten Song als Lieblingssong zitiert. Das tat beispielsweise der 1976 zum US-Präsidenten gewählte Demokrat Jimmy Carter, als er 1974 Bob Dylans metaphorischen Song I Ain’t Gonna Work On Maggie’s Farm No More als wichtige Inspirationsquelle nannte. Zwar war Jimmy Carter ein gemäßigter, liberaler Politiker und vielleicht näher dran an Dylans Überzeugungen als die meisten anderen Politiker, doch zeigte sich der berühmte Songdichter am Ende „not amused“. Welcher um Unabhängigkeit bemühte Künstler will sich schon gern einkassieren lassen? Wirklich bizarr wird es, wenn Politiker Song oder Bands als Favoriten nennen, die eigentlich konträr zu ihrer Haltung stehen. So outete sich laut „Tages-Anzeiger“ vom 2. September dieses Jahres im letzten amerikanischen Wahlkampf Paul Ryan, der republikanische Vizepräsidentschaftskandidat, als Fan „der harten, linken Gruppe Rage Against the Machine“, was diese gar nicht gut fand.

Und „vor fünf Jahren bezeichnete der Eton-Absolvent David Cameron, damals noch Parteipräsident der Tories, Eton Rifles von The Jam als eines seiner Lieblingslieder. Sänger Paul Weller staunte unverblümt.“ – „Nicht selten gründen solche Übernahmen in mangelhaften Grundkenntnissen“, resümiert der „Tages-Anzeiger“: Eton Rifles ist eine Abrechnung mit jener englischen Klassenelite, die Leute wie David Cameron hervorbringt.“ Ich dagegen bin nicht sicher, ob sich nicht sogar eine gezielte Provokation hinter der Songvereinnahmung verbirgt.

4 Selektive Wahrnehmung – bis hin zur Umdeutung für die eigenen Zwecke. Das berühmteste Beispiel für dieses Muster ist die Vereinnahmung von Bruce Springsteens Song Born In The USA durch den US-Präsidenten Ronald Reagan 1984. Das im selben Jahr erschienene Stück hat etwas Hymnisch-Bombastisches, das ganz bewusst einen zynischen Widerspruch zum Text darstellt. Der erzählt nämlichen von einem sozial kalten Amerika, das seine jungen Männer erst in sinnlosen Kriegen zu seelischen Krüppeln macht und sie dann zu Hause, als Kriegsveteranen, im Stich lässt. Reagans Marketingstrategen, denen Springsteens immenser Erfolg bei der Jugend nicht verborgen geblieben war, pickten sich dann prompt nur den Titel, der auch den Refrain markiert, und das Hymnisch-Bombastische heraus und versuchten, den Singer/Songwriter als Zugpferd für die begehrten Jungwähler vor den eigenen patriotischen Karren zu spannen. Es versteht sich von selbst, dass auch hier der Künstler einen Riesenaufstand veranstaltete und sich diesen Songmissbrauch verbat.

5 Der Song hat einfach Drive – ist doch egal, wovon die da singen. Diese Haltung muss der Grund gewesen sein, warum Mitt Romney, republikanischer Gegenspieler Barack Obamas den treibenden Song Panic Switch der kalifornischen Band Silversun Pickups im Präsidentschaftswahlkampf einsetzte.

Dabei erzählen die Lyrics von Nervosität, von Depression, von Panikattacken. „Die merken ja ga nicht, was sie da tun“, kommentierte die Band, „und schießen sich stattdessen selbst ins Knie.“

6 Vereinnahmung eines textlich offenen Songs – womit wir wieder bei den Toten Hosen und Tage wie diese wären. Denn das Stück erzählt lediglich von Menschen, die sich treffen und an einem unbestimmten Ort, bei einem nicht näher beschriebenen Event, inmitten einer Menschenmenge ein rauschhaftes Erlebnis haben.

Ein Fußballspiel? Ein Konzert? Eine Party? Ein Kirchentag? Die Lyrics sind so ambivalent, dass man vieles in sie hineininterpretieren und sie eben auch für eine politische Veranstaltung, zum Beschwören eines Wahlsiegs oder einer politischen Zeitenwende, vereinnahmen kann.

„Tatsächlich können sich die Musikanten gegen die unerwünschte Vereinnahmung nicht wehren, weil sie sich wie praktisch alle GEMA-Mitglieder dem GEMA-Einheitsvertrag unterworfen haben“, schreibt der Autor Markus Kompa auf dem Portal Telepolis. „Damit begeben sich Urhebende ihrer Mitspracherechte, wer ihre Werke nutzen darf. Die GEMA ist verpflichtet, jedem zahlenden Interessenten die Nutzung zu gestatten. Eine Möglichkeit zur Differenzierung sieht die GEMA nicht vor.“

Nun hat sich ja – zum Beispiel mit Bruce Springsteen, der lautstark und erfolgreich gegen Reagan wetterte – gezeigt, dass vehementes Beschweren und Distanzieren politische Vereinnahmungen von Liedern durchaus stoppen können. Aber so sehr man die Künstler in ihrem „Not amused“-Sein auch versteht: gerade bei den Toten Hosen muss man noch einmal darauf hinweisen, dass ihr Song, zum Beispiel in Fußballstadion und in Festzelten, noch von ganz anderen fragwürdigen Klientelen gesungen wird und dass er tatsächlich inhaltlich derart vage ist, dass man alles Mögliche in ihn hineininterpretieren kann. Ein Song, der im Zeitalter der Massenmedien und vor dem Hintergrund der Globalisierung die Öffentlichkeit erreicht, entwickelt einfach ein nicht zu kontrollierendes Eigenleben – das sollten Rockkünstler mittlerweile begriffen haben. 1986 traten „die Hosen“ mutwillig mit dem „wahren Heino“ Norbert Hähnel auf und mokierten sich über Heinos verkniffene Versuche, die Parodie verbieten zu lassen. Schon von daher wäre im Falle von Tage wie diese ein weniger verärgerter, souveränerer Umgang angebracht, so etwas wie eine gelassen-freundliche Absage an das Treiben der Politiker – der milde lächelnde Hinweis, dass sie sich, siehe Silversun Pickups, mit ihren Vereinnahmungen in der Regel selbst ins Knie schießen. 

Ich bin nicht Stiller…

Wenn man so will…

Immer wenn ich Ein Kompliment von Sportfreunde Stiller höre, „stolpere“ ich an derselben Stelle im Refrain: „Ich wollte dir nur mal eben sagen, dass du das Größte für mich bist / Und sichergehen, OB du denn dasselbe für mich fühlst…“ Ich stolpere, weil ich von Berufs wegen Korrektor/Lektor und deshalb ziemlich sicher bin, dass es „sichergehen, DASS“, nicht „sichergehen, OB“ heißen muss. Wieso? Ganz einfach: Man überprüft, OB etwas so und so ist – aber man geht oder stellt sicher, DASS etwas so und so ist. Da Ein Kompliment ansonsten ein wirklich wunderschönes Liebeslied ist, stelle ich mir immer wieder die Frage: Haben die „Sportis“, wie sie liebevoll schon auf HR3 und anderen Servicewellen genannt werden, hier einfach nur einen kleinen grammatikalischen Hänger?

Oder haben sie diese sprachlich Irritation sogar ganz bewusst auf das Gesamtbild hin eingebaut? Denn in Phrasen wie „Wenn man so will, bist du das Ziel einer langen Reise…“, „die Perfektion der besten Art und Weise“, „die Schaumkrone der Woge der Begeisterung“ oder „nur mal eben sagen“  offenbart sich ein reichlich unsicheres Song-Ich, das dem angesprochenen Du „irgendwie“ unbeholfen bis ungelenk pathetisch seine Liebe gesteht. In Verbindung mit dem eckig-naiven Gesangsstil ein charmanter Gegenentwurf zu all den zünftig rockenden Macho-Song-Ichs, die voll narzisstischem Selbstbewusstsein ihre Liebe und ihr Begehren in die Welt hinausröhren – da darf es auch mal sprachlich nicht ganz so korrekt formuliert sein…

Ich habe bis heute keine Antwort gefunden und freue mich über weiterhelfende Kommentare.

Überhaupt scheinen die „Sportis“ ein Faible für solche Zwiespältigkeiten zu haben. Auch ihr zweiter Dauerbrenner in den deutschen Serviceradios, Applaus, Applaus, hält für meine Begriffe einige Irritationen parat. In Applaus, Applaus, einem auf den ersten Blick ebenfalls lupenreinen Liebeslied, lobt das Song-Ich die Partnerin oder den Partner dafür, dass sie/er den Sprecher optimal „händelt“: „Ist meine Hand eine Faust, machst du sie wieder auf und legst die deine in meine / Du flüsterst Sätze mit Bedacht durch all den Lärm, als ob sie mein Sextant und Kompass wären.“ Das sind starke Bilder, auf die man als sprachbegeisterter Mensch neidisch werden kann – und die in der zweiten Strophe an Intensität noch getoppt werden: „Ist meine Erde eine Scheibe, machst du sie wieder rund, zeigst mir auf leise Art und Weise, was Weitsicht heißt / Will ich mal wieder mit dem Kopf durch die Wand, legst du mir Helm und Hammer in die Hand.“

Alle Achtung! Und doch horcht bei „Erde“, „Scheibe“ und „rund“ der blöde Lektor in mir wieder auf: Klar, ich verstehe, was gemeint ist: Es geht um Engstirnigkeit und den Blick fürs Ganze, versinnbildlicht durch den Konflikt zwischen der archaischen Haltung, die Erde sei flach, und der neuzeitlichen Erkenntnis, dass sie Erde eine Kugel ist. Aber: „Ist meine Erde eine Scheibe, machst du sie wieder rund“ scheint mir einmal mehr unsauber formuliert, denn auch eine Scheibe kann rund sein! Die „Sportis“ formulieren also nicht wirklich den Gegensatz zwischen einer flachen Erde und einer Welt in Kugelform, sondern erzwingen die Aussage mit Blick auf den Zeilenrhythmus eher ungelenk.

Eine weitere Irritation, und zwar hinsichtlich des Jargons, erfolgt für mich schließlich in den Refrainversen: „Applaus, Applaus, für deine Art, mich zu begeistern / Hör niemals damit auf! / Ich wünsch mir so sehr, du hörst niemals damit auf / Applaus, Applaus für deine Worte / Mein Herz geht auf, wenn du lachst / Applaus, Applaus für deine Art, mich zu begeistern / Hör niemals damit auf! / Ich wünsch mir so sehr, du hörst niemals damit auf.“

Mal ehrlich: Welcher und welche Liebende würde seinem/ihrem Partner Applaus spenden für seine/ihre Art, mit der geliebten Person umzugehen? Na? Wohl niemand. Applaus spendet man für eine Darbietung von Fremden – als Anerkennung einer Leistung, im Zirkus, im Fußballstadion, auf der politischen Bühne. Aber doch nicht in einer Liebesbeziehung! Was mich irritiert: Bei den „Sportis“ klingt es, als ob sich ein minderbemittelter Typ, der egoistisch seine Bedürfnisse und Triebe auslebt, seine sämtlichen Schwächen und Unzulänglichkeiten pflegt, zufrieden im Sessel zurücklehnt und genüsslich die Bemühungen seiner Lebensgefährtin bewertet. In meinen Ohren ein ziemlicher Schwachkopf.

Insofern stellt sich mir auch hier die Frage, ob es die „Stillers“ ganz einfach nicht so draufhaben mit den sprachlich wirklich runden Texten – denn das musikalische Arrangement von Applaus, Applaus ist an ernsthafter Romantik und Hymnenhaftigkeit eigentlich kaum zu überbieten; oder ob sie ganz bewusst einen unsicheren, selbstverliebten Beziehungskasper sprechen lassen, um ihn – in Form eines Rollen-Ichs – auf gewisse Weise bloßzustellen. Das hätte ja was.. Oder ob ich mir – wie meine Lebensgefährtin meint, die beide Songs mit gutem Recht einfach nur schön und gefühlvoll findet – schlichtweg zu viele unsinnige Gedanken mache…

Auch hier gilt: Ich habe bis heute keine Antwort gefunden und freue mich über weiterhelfende Kommentare.

Fest steht: Sowohl in Ein Kompliment als auch in Applaus, Applaus operieren die Sportfreunde Stiller mit Codes und Zeichensystemen, die letztlich nicht wirklich eindeutig sind. Was die „Sportis“ als Urheber sich bei diesem und jenem Song gedacht haben, haben sie nicht mittransportiert – sie haben Leerstellen gelassen; und was beim Publikum ankommt, das ist von der jeweiligen Gefühlslage, dem musikalischen Vorwissen und der Sozialisation einer jeden Hörerin, eines jeden Hörers abhängig.

Mit der Art und Weise, wie sprachliche und musikalische Codes funktionieren, wie wir einen Song im Wesentlichen wahrnehmen, beschäftigt sich auch der aktuelle Essay meiner Reihe „What have they done to my song?“ auf Faust-Kultur, nachzulesen unter: http://faustkultur.de/1327-0-Behrendt-What-have-they-done-to-my-Song-VII.html#.Uh_U1LzBI7A

Im Battle mit Klaus und Claudia? Peinlicher Bushido!

„Scheiße, leise sollst du sein, kleiner Stricher / Lächerliches Tröpfchen Pisse, hier kommt der Scheibenwischer / Ich entsicher’, spann’ und schieß’ / und mach dich weg, wie du hoffentlich siehst / Ich fließ’ wie ein Fluss, schieß’ wie ein Schuss, / bin positiv wie ein Plus und mache Schluss mit dem Frust / Also muss ich dich zerstör’n, kannste mich hör’n…“ Ein Rap-Text von Gewalt-Rapper Bushido? Nein, ein Rap-Text von der Frankfurterin Sabrina Setlur. In ihrem Stück Pass auf aus dem Jahr 1995 macht die im wahren Leben eher friedliche Ex-BWL-Studentin das, was viele Rapperinnen und Rapper traditionsgemäß gerne tun: Andere mit Worten attackieren, um sich selbst zum Besten, Größten, Härtesten zu stilisieren, was auf diesem Planeten gerade kreucht und fleucht.

Dissen aus Tradition

Die Wurzeln dieser textlichen Strategie liegen in Amerika, in Metropolen wie New York, wo vor einigen Jahrzehnten rivalisierende schwarze Jugendliche anfingen, ihre Konflikte nicht mehr mit Fäusten und Waffen, sondern mit Worten, in Form von Tänzen und über Graffiti, kurz: über den künstlerischen Ausdruck auszutragen. Es ging darum, auf verschiedenen Gebieten die eigenen „Skills“, also Fähigkeiten, zu testen und den jeweils Besten zu ermitteln. Der Wettkampfaspekt, die „Competition“ – gern auch zur „Battle“, zur „Schlacht“ stilisiert – war von Anfang an ein wichtiger Aspekt der Hip-Hop-Kultur. Textlich äußert sich das auch heute noch neben einem möglichst originellen und kreativen Sprachgebrauch häufig im Prahlen und im verbalen Niedermachen des Kontrahenten, im sogenannten „Dissen“. Nur so ist es zu verstehen, wenn der Rapper Kool Savas 2005 in Das Urteil seinen ehemaligen Weggefährten Eko Fresh, der ihn zuvor in einem Track namens Die Abrechnung „gedisst“ hatte, mit Worten wie diesen belegt: „Meinen Flow übertriffst du nicht, nach dem Part übergibst du dich / Was du machst ist nicht korrekt wie Behindertenwitze / Alles, was du schreibst, ist für mich nicht mehr als Kindergekritzel / (…) / Fuck mich ab und ich mach dir Dampf, zerstör dich voll und ganz / EK, lutsch meinen Schwanz!“

Setlur und Kool Savas benutzen ähnliche Bilder, fast schon Standardfloskeln, es geht um die Zerstörung des Kontrahenten, womöglich mit einer Schusswaffe – wobei ausgerechnet der Text von Sabrina Setlur noch „krasser“ wirkt als der ihres männlichen Kollegen. Letztlich aber sind beide Raps, so brutal und hasserfüllt sie daherkommen, gleichermaßen harmlos. Denn die Künstler, die sie vortragen, sind im wahren Leben nicht für Mord und Totschlag bekannt – ihre Texte bieten lediglich eine derbe Wettkampfrhetorik, die versucht, an Drastik immer noch einen draufzusetzen. Dass dabei auch schwulen- und frauenfeindliche Parolen gedroschen werden, finde ich persönlich ziemlich beknackt, gehört aber in einigen Rapper-Kreisen offenbar dazu. Es ist leider auch Alltag auf vielen Schulhöfen, wobei die Spanne des Gebrauchs solcher Parolen je nach persönlichem Hintergrund vom „Nicht wissen, was man da sagt“ über das „So reden, weil man irgendwo dazugehören will“ bis hin zum tatsächlichen Schwulenhass reicht. Hier haben wir, nebenbei, ein gesamtgesellschaftliches Problem und keins, das im Hip-Hop begründet liegt.

Drastische Fiktionen zwischen Spaß und Ernst

Warum bis heute nicht jeder zweite Rap-Song indiziert wird, hat verschiedene Gründe. Da ist die Flut an Songs, die nicht zu überblicken, geschweige denn zu bändigen ist und oftmals nur ein Nischenpublikum erreicht. Da sind der nachlässige Vortrag und der überladene Sound, der viele Texte erst beim zweiten, dritten Hören oder gar erst beim Mitlesen im Internet verständlich werden lässt. Und da ist die – unbewusste bis stillschweigende – letztliche gesellschaftliche Übereinkunft, dass Songs im Allgemeinen und Rap-Texte im Besonderen auch bei aller Drastik und Geschmacklosigkeit am Ende des Tages doch nicht mehr als Fiktionen sind.

Es sind vor allem Sprüche und Images, um die es im Rap geht. Nicht um eine Eins-zu-Eins-Übertragung der eigenen Gefühle und Taten in Songs, sondern um ein möglichst taffes Show-Ich und eine starke, „krasse“ Performance, die dem Künstler beim Publikum, aber auch bei Kolleginnen und Kollegen Respekt verschafft. Was nicht ausschließt, dass sich Rap-Lyrics auch mit gesellschaftlichen Realitäten beschäftigen. And the Beef Goes On heißt eine Dokumentations des Musiksenders MTV aus dem Jahr 2008. Darin ist zu hören, wie einige der umstritteneren deutschsprachigen Rappern ihre Arbeit charakterisieren. Von „verarbeiten“ und „widerspiegeln“ ist da die Rede und von einer eher „journalistischen“ Herangehensweise. „Armut, Arbeitslosigkeit, Kids ohne Perspektive, Viertel, in denen das Gesetz der Straße herrscht und wo Konflikte durch Gewalt gelöst werden“, fasst der Offkommentar zusammen, „davon berichtet Rap.“ Was der Rapper Fler folgendermaßen kommentiert: „Meinen Frust, den ich im Leben durchgemacht habe, und meine schlechte Zeit, die ich im Leben durchgemacht habe, verarbeite ich mit der Musik.“ Kool Savas: „Die Musik spiegelt eigentlich nur wider, was in dieser Gesellschaft abgeht.“ Azad: „Wir sind so eine Art Straßenreporter, die über die Dinge berichten, die Medien nicht berichten.“ Massiv: „Ich reflektiere die Straße. In diesem Moment sehe ich mich als Journalist der Straße.“ Ein Selbstverständnis, das weniger auf eine bedingungslose Identität von biografischem Ich und Song-Ich schließen lässt als auf die künstlerische, bearbeitende Umsetzung von dem, was „da draußen“ in der Welt vor sich geht.

Das bedeutet nicht, dass Rapper nicht auch mal „persönlichere“ Töne anschlagen – ihre Song-Ichs näher an ihr biografisches Ich heranrücken lassen. „Vater du verleugnest deinen Jungen“, rappt etwa Bushido in Reich mir nicht deine Hand, „Ich möchte dir nichts beibringen / Und ich nenne dich nicht Feigling, aber / Wegen dir war ich ein Heimkind.“ Das sind Verse, die nah dran sind an Bushidos eigener Lebensgeschichte mit einem Vater, der früh die Familie im Stich ließ, und mit Erfahrungen als Insasse eines Heims für schwer erziehbare Jugendliche. Im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Song-Ich und Realität aufschlussreich ist, wie Bushido Reich mir nicht deine Hand in der MTV-Doku kommentiert: „Das war für mich auf jeden Fall einer der wichtigsten Songs, die ich bis jetzt gemacht habe. Diese Geschichte, die da erzählt wird, da weiß mein Vater von, meine Mutter weiß davon, und ich weiß davon. Natürlich trage ich das in die Öffentlichkeit. Aber im Endeffekt wissen wirklich wir drei, wie die Sache für uns gelaufen ist.“ Was heißt: Der Song bezieht sich durchaus auf persönliche Erlebnisse aus dem Leben von Anis Mohamed Youssef Ferchichi, der realen Person hinter dem Show-Ich Bushido. Aber in erster Linie erzählt er eine Geschichte – und die ist das Ergebnis künstlerisch bearbeiteter Erfahrung. Wie es wirklich war, das wissen nur die unmittelbar beteiligten Personen.

„Ich und schwulenfeindlich? Ich gebe doch nur wieder, was ich auf der Straße gehört habe“ Oder: Hinter der Authentizitätsfassade kann man sich prima verstecken

So verwundert es kaum, wenn die Macher von And the Beef Goes On zu dem Schluss kommen, dass es auch im Hip-Hop zu einem großen Teil um Show und Unterhaltung geht, um Entertainment! „Provozieren, schocken, übertreiben: Genau das ist es, was viele Rapper in ihren Tracks veranstalten“, hält der Offkommentar fest. „Es ist ein Spiel. Ein derbes Spiel, aber eben ein Spiel.“ Und die Szene bekräftigt. B-Tight: „Du kannst auch Sachen einfach ironisch meinen – sie hart sagen, aber ironisch meinen.“ Marcus Staiger, Chef des Szenelabels Royal Bunker: „Rap hat eben auch das Recht, Dinge zu dramatisieren und zuzuspitzen.“ Bushido: „Und dann spielst du mit der Musik, mit den Wörtern – mit der Sprache einfach auch.“ Kool Savas: „Rap ist teilweise maßlose Übertreibung.“ Staiger: „Sonst wär’s ja langweilig.“ Fler: „Es ist die Ironie. Ich nehme mich ja selber dabei nicht ernst. Ich achte darauf, dass meine Musik auch provoziert, weil’s alles Entertainment ist.“ Massiv: „Ich versuche, die Leute zu entertainen, ich versuche, sie zu unterhalten.“ Und noch einmal B-Tight: „Der Entertainment-Faktor, der ist ganz hoch.“

Aber genau dieses Oszillieren zwischen dem angeblichen Reporterblick, der Verarbeitung persönlicher Erfahrungen und dem unterhaltsamen krassen „Dissen“ anderer Menschen und sozialer Gruppen sorgt auch dafür, dass sich viele Gangsterrapper nicht festlegen lassen, dass eine Art Geheimwissen, bestimmte Codes etabliert werden, die nur Szene-Insider verstehen. Es ist zudem eine kunstvolle Fassade, hinter der man sich prima verstecken kann, à la: „Ich und frauenfeindlich, schwulenfeindlich oder gar gewaltverherrlichend? Wieso, ich hab doch nur wiedergegeben, was ich täglich auf der Straße höre. Das Ich im Text, das bin doch nicht ich!“ Oder einfach: „Danke für die Aufregung, kurbelt den CD-Verkauf an, aber ist doch alles nur Show!“ Die Frage ist, ob nicht auch die coolen Rapper, die sich mal als benachteiligte Opfer der Gesellschaft, mal als gutgelaunte Entertainer stilisieren und Respekt verlangen, eine Verantwortung für das tragen, was sie in ihren Texten von sich geben. Gibt es vielleicht doch Zusammenhänge zwischen dem Rap-Ich im Text und dem biografischen Ich des Künstlers, zum Beispiel durch Erfahrungen in kriminellen Milieus? Und: Wo hört die spielerische Geschmacklosigkeit auf? Wo wird wirklich eine Grenze zum nicht mehr Akzeptablen überschritten?

Böse Menschen haben keine Raps?

Die MTV-Doku entlastet deutschsprachige Gangsterrapper generell, und zwar mit den Worten: „Rapper sind keine Gangster. Sie rappen über Gewalt, aber leben sie nicht.“ Den Gegenbeweis liefern Rap-Subszenen, quasi Rap-„Parallelwelten“, in Deutschland, für deren Protagonisten schwerere kriminelle Handlungen zum Alltag gehören. Eine davon ist die Köln-Bonner Szene um Rapper wie Bero Bass und Xatar. Allein oder im Rahmen von Projekten wie La Honda erzählen sie in ihren Texten, wie sie sich auf der Straße behaupten, wie sie ihre Gegner plattmachen, Überfälle begehen, Haftstrafen absitzen oder Verrätern drohen, die allzu eng mit der Polizei kooperieren. Das ließe sich leicht als das eben beschriebene hip-hop-typische Prahlen, Protzen und kategorische Übertreiben abtun – wäre nicht Bero Bass vor einiger Zeit wieder in eine blutige Messerstecherei mit anschließendem Gefängnisaufenthalt verwickelt gewesen und hätte nicht Xatar nach ähnlichen Körperverletzungs- und Drogenhandelsdelikten im Dezember 2009 zusammen mit sieben weiteren Tätern bei Ludwigsburg einen Goldtransporter überfallen. Die Beute von 1,8 Millionen Euro blieb verschwunden, Xatar selbst wurde ein halbes Jahr später gefasst.

Und hier schließt sich der Kreis zu Bushido: Er blickt nicht nur auf ein Vorleben zurück, zu dem Körperverletzung, Drogendealereien, besagter Aufenthalt in einem Heim für schwer erziehbare Jugendliche und Gefängnis gehören, sondern soll auch aktuell Verbindungen zu Berliner Köpfen der organisierten Kriminalität haben. Hier haben wir es wieder, das unangenehme Oszillieren zwischen der nicht zu leugnenden künstlerischen Gestaltung im Rap, der Verfremdung, Zuspitzung, Übertreibung, bewussten Provokation auf der einen und klaren biografischen Bezügen auf der anderen Seite. Zwischen Wirklichkeit und Fiktion. Zwischen Ernsthaftigkeit und Koketterie. Da möchte man dem einen oder anderen Künstler schon mal Scheinheiligkeit unterstellen. „Warum ist es plötzlich cool, dass man früher Koks vertickt hat und sich mit Kalibern auskennt?“, wird Bushido, dessen Leben inzwischen verfilmt wurde, in einem Beitrag von Eric Leimann für „Viva“ zitiert. „Ich empfehle das den Kids nicht, wenn ich sie persönlich treffe. Was ich mache, ist Kunst. In der Kunst ist manches überspitzt, und meine Rolle ist eben oft nur eine Rolle.’“

Bushido macht Stress – völlig ohne Grund

Und so kann sich Bushido auch in seinem umstrittenen neuen Song Stress ohne Grund erst mal prima hinter einer Rolle verstecken, die ganz bestimmt nicht seinem biografischen Ich entspricht. Denn der Sprecher in Stress ohne Grund scheint so etwas wie der Chauffeur einer erfolgreichen Geschäftsfrau zu sein, die er verachtet. Während sie in wichtigen Meetings sitzt, verbringt er die Wartezeit bis zum nächsten Fahrerjob und seine Freizeit mit halbseidenen Geschäften in ebenso halbseidener Gesellschaft. Das Ich feiert sich selbst als „Assi“ und zitiert genüsslich Frank Sinatra und Dean Martin, denen man einst eine Nähe zur Mafia nachsagte. „Peter-Pan-Syndrom, Bitch / Ich rauch Marlboro, Bitch / Du trinkst Aperol Spritz / Ich bin Fahrer, oh Bitch / (…) chill beim Geschäftsmeeting / Heartbreaker, Bartträger, steht in meinem Steckbrief / (…) / Ich bin Assi, aber dein Gesicht ist Asy- / -metrich, Bitch, du sammelst Briefmarken, ich sammel Kreditkarten / Yeah, Frank Sinatra chillt mit Dean Martin.“ Auffällig sind auch die ersten Worte des Raps, „Peter-Pan-Syndrom“. Mit diesem Begriff beschrieb der amerikanische Familientherapeut Dan Kiley „Männer, die nie erwachsen werden“ – und er dient Bushido hier offenbar als Mittel, seinen Song gleich im ersten Vers zu verharmlosen. So als wolle er sagen: „Ist doch alles nur ein Spiel, ich bin doch bloß ein dummer Junge, der nicht erwachsen werden will und sein Song-Ich noch mal ordentlich auf die Kacke hauen lässt.“

Vor diesem Hintergrund heißt es dann in Stress ohne Grund, übrigens eine Phrase, die man schon aus früheren Songs von Bushido alias Sonny Black kennt, über einen realen Rivalen, den Rapper Kay One, mit einem Seitenhieb auf den Bürgermeister von Berlin: „Halt die Fresse, fick die Presse / Kay, du Bastard bist jetzt vogelfrei / Du wirst in Berlin in deinen Arsch gefickt wie Wowereit“. Weiter geht es gegen Nordeuropäer, Spaßmoderatoren und zwei weitere führende Köpfe aus der Politik, die Grünen-Politikerin Claudia Roth und Serkan Tören, den integrationspolitischen Sprecher der FDP: „Du versteckst dich, doch ich finde dich wie Google Maps / Ich verkloppe blonde Opfer so wie Oli Pocher / Ich mach Schlagzeilen, fick deine Partei / Und ich will das Serkan Törun jetzt ins Gras beißt / Yeah, Yeah, was für Vollmacht?, du Schwuchtel wirst gefoltert / Ich schieß auf Claudia Roth, und sie kriegt Löcher wie ein Golfplatz.“

Songs sind keine Bekennerschreiben – aber ernstzunehmende Kunst hört sich anders an

Ganz klar: Songs sind keine Pressemitteilungen, keine öffentlichen Bekanntmachungen und Verlautbarungen, auch keine terroristischen Bekennerschreiben oder Bekennervideos. Songs sind mehr oder minder kunstvolle künstlerische Gebilde, angesiedelt im Bereich der Fiktion, der Bearbeitung von Erfahrungen und von Welt. Insofern gehen die erschütterten Stellungnahmen, die angesichts von Bushidos Song Stress ohne Grund von einer ernstzunehmenden Todesdrohung und vom definitiven Aufruf zum Mord sprechen, entschieden zu weit. Es wäre schön, würden Staatsanwaltschaften verstärkt mit Soziologen, mit Kunst-, Kultur- und Literaturwissenschaftlern zusammenarbeiten, um zu besonnenen Einschätzungen umstrittener „Kunstwerke“ zu gelangen. Wohin Zensur führen kann, ist hinlänglich bekannt. Nichtsdestotrotz ist Stress ohne Grund an Dumpfheit und pubertärem Schwachsinn kaum zu überbieten. Von der Verantwortung, die ein Künstler trägt für das, was er als Kunst präsentiert, ist hier keine Spur. Dass ausgerechnet einer wie Bushido, der inzwischen Familienvater, reicher Geschäftsmann und vom gesellschaftlichen Establishment hofierter Künstler ist, dazu ein Praktikum im Bundestag absolviert hat, noch einmal in die Rolle eines dumpfe Parolen schwingenden Asso-Kriminellen schlüpft, ist absolut unlustig, zudem unglaubwürdig, auch wenn an den Verbindungen zur organisierten Kriminalität etwas dran sein sollte. Ich würde sagen: im Praktikum nichts gelernt, Credibility ver-„spielt“.

Seine Rapperkollegen zu dissen, ist das eine. Aber das drastische Rap-Spiel völlig grundlos und ohne Argumente auf führende Politikerpersönlichkeiten zu übertragen, entbehrt jeder Grundlage. Will er Claudia Roth, Klaus Wowereit und Serkan Tören zur Hip-Hop-„Battle“ einladen? Dann kann er lange warten. Falscher Code. Und: Echte Sozialkritik und Diskussionsbeiträge zur Integrationspolitik sehen anders aus. Klaus Wowereit wäre gut beraten, nicht mit einer Strafanzeige zu reagieren, die doch Bushido nur noch mehr Publicity und ihm selbst weitere unliebsame Diskussionen beschert. Er sollte andere, intelligentere Mittel und Wege finden, dem Herrn Gangsterrapper aufzuzeigen, wie lächerlich seine Kunstfigur wirkt, wie unglaubwürdig er sich selbst in der eigenen Szene macht und wie künstlerisch wertlos seine Tiraden eigentlich sind.

Eine ausführlichere Fassung dieses Beitrags mit weiteren O-Tönen aus der Hip-Hop-Szene und Links zu Videos findet sich bei Faust-Kultur.