Schrecken und Erleichterung können so nah beieinanderliegen: In Frankfurt wollte ein Mann in den Tod springen, o weh. Doch dann rettete ihm ein Polizist das Leben – und zwar mit einem Lied. Fast wie „Last night a DJ saved my life“, nur in echt. Der Gesang des geistesgegenwärtigen Beamten lenkte den Selbstmordkandidaten ab, so dass weitere Einsatzkräfte sich nähern und den Mann vom Fenstersims ziehen konnten.
Uffz, gerade noch mal gutgegangen!
Doch was genau hat der clevere Polizist spontan gesungen? Zum Glück nicht Jump von Van Halen, das wäre sicher kontraproduktiv gewesen. Genauso wie Jump (For My Love) von den fabulösen Pointer Sisters oder Down Down, Deeper and Down von Status Quo. Nein, er stimmte Hulapalu an, den aktuellen Oktoberfest-Hit von „Volks-Rock-’n’-Roller“ Andreas Gabalier.
Der Song für sich genommen hat durchaus einen witzigen Dreh: Denn er zitiert die alten rock-’n’-roll-typischen lautmalerischen Ekstase-Codes und kommentiert sie gleichzeitig. In dem Song geht es um eine wilde Partynacht, in der sich zwei Menschen näherkommen. Und wenn sie IHM „Hulapalu“ ins Ohr haucht, dann klingen natürlich nicht nur Gene Vincents doppeldeutig schmachtende Seufzer aus „Be-bop-a-lula (She’s my baby … She’s the one that gives more, more, more“) aus dem Jahr 1956 an, sondern auch ferne, weichgespülte Echos wie Peter Maffays „Tabaluga“ und „Amaluna“, ein Programm des Fantasy-Artistik-Projekts Cirque du Soleil. Das Witzige: Statt die Wortschöpfung einfach nur in den Raum zu stellen und für sich stehen zu lassen, wird sie augenzwinkernd von Gabalier thematisiert: „Wos is denn Hulapalu, wos gehört denn dazu?“, fragt der Sprecher im Song, „Macht ma beim Hulapalu vielleicht die Augen zu?“ Oder: „Wos is denn Hulapalu, sog mir, wo kommt des her? Wie schreibt ma Hulapalu, wos is des bittesehr?“ Ähnliches mögen sich entsetzte Eltern der späten 1950er auch bei Gene Vincents verführerischem Hit gefragt haben. Gabalier greift die alte Frage auf, und seine heutige Antwort spricht das damals Unaussprechliche aus – sie trifft genau den Kern dessen, worum es schon zu Gene Vincents Zeiten ging: „I glaub nur, Hulapalu is net ganz jugendfrei…“
So weit, so hintersinnig. Auch die Musik dazu geht in Kopf und Beine: Helene-Fischer-, Atemlos-mäßig und auch etwas „Ballermann“-like. Keine schlechte Wahl des Polizisten also, möchte man meinen. Zumal Andreas Gabalier nicht nur seinen Vater, sondern auch seine Schwester durch Suizid verloren hat. Dass der Star jetzt indirekt einem Selbstmordkandidaten das Leben rettete – ein starker Trost gleich in mehrfacher Hinsicht.
Und doch hat die schöne Geschichte einen faden Beigeschmack. Denn Andreas Gabalier ist trotz unzähliger Fans und gefeierter Auftritte in der TV-Show „Sing meinen Song“ nicht unumstritten. Was an der Verbindung aus altem Rock ’n’ Roll amerikanischer Prägung, zeitgemäßem Schlager und Volksmusik innovativ sein könnte, unterwandert der Künstler selbst durch seltsame Texte über Heimat und Männer-Kameradschaft, über „eiserne Kreuze“ und über die Allianz zwischen Deutschen, Italienern und Japanern (der Zweite Weltkrieg lässt ganz, ganz leise grüßen) – sowie durch Plattencover, denen von Kritikern schon mal eine Leni-Riefenstahl-Ästhetik unterstellt wurde. Würden so etwas die Wildecker Herzbuben machen? Eine ewiggestrige und letztlich harmlose Volksmusik, die die Natur und die Liebe besingt, ist das eine – moderne Crossover-Musik, in die sich unangenehme Ambivalenzen und Anspielungen mischen, das andere. Mit der Aufmüpfigkeit des Rock ’n‘ Roll hat Letztere auch nicht unbedingt zu tun.
Natürlich, anders als etwa Frei.Wild tritt Andreas Gabalier nicht offen kontrovers in Erscheinung, sondern feiert seine Themen und sorgt so für positive Stimmung. Doch mit der vermeintlichen Belanglosigkeit, im Sog der Gute-Laune-Musik könnte unterschwellig auch reaktionäres Gedankengut transportiert werden. „Weil es nichts gibt, gegen das angegangen würde, keine offensichtliche Hetze, sondern ‚nur’ pseudonaives Bejubeln von Berg-Alm-Wiesen-Buabn-Dirndl-Seligkeit“, resümierte die „taz“ schon im Juli 2014, „wurde Gabaliers ernst gemeinte Blut-und-Boden-Terminologie bisher geflissentlich übersehen.“
Warum nun ausgerechnet ein Polizist spontan einen Gabalier-Song aus dem Zauberkasten holt, möchte ich hier nicht weiter hinterfragen – es wäre arg spekulativ und würde sicher auch dem beherzten Retter unrecht tun, der hier immerhin dazu beigetragen hat, einen Menschen vom Suizid abzuhalten. Aber dass ausgerechnet in Zeiten von AfD und Pegida auch Künstler wie Frei.Wild oder Andreas Gabalier zu Stars werden und dass Letzterer vom nicht ganz verschwörungstheoriefreien Xavier Naidoo in dessen Show „Sing meinen Song“ eingeladen wurde, gibt hin und wieder zu denken.
Etwas läuft schief mit dem Feminismus in den USA, zumindest in der Popmusik: Weibliche Superstars, die in Hitvideos erotisches Posing zelebrieren, gelten als Inbegriff der selbstbewussten, emanzipierten Frau. Wie gut, dass es Künstlerinnen gibt, die andere Frauenbilder dagegensetzen. Die interessantesten kommen aus Europa.
Vor nicht allzu langer Zeit in den US-Charts ganz oben: die Britin Florence Welch mit ihrer Band The Machine und dem Album „How Big, How Blue, How Beautiful“. Das Bemerkenswerte daran ist nicht so sehr die Musik , denn die verquickt recht konventionell Folk, Soul, Indie-, Synthi- und Stadionrock zu veritablen Ohrwürmern. Nein, das Bemerkenswerte sind die Videos, die die Songs begleiten. Immer wieder ist da die Sängerin zu sehen, wie sie blass, ungeschminkt und in Alltagsklamotten ringt, und das nicht nur mit Männern: Da wird umarmt, gestoßen, geschlagen gehadert, und nicht selten steht sich die Protagonistin – wie im Hit „Ship to Wreck“ – buchstäblich selbst im Weg oder rennt vor sich selbst davon. „Did I drink too much? Am I losing touch? Did I build this ship to wreck?“, heißt es dazu programmatisch in den Lyrics. Abwracken, Mist bauen, den Karren an die Wand fahren – Florence Welch zeigt bevorzugt Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs.
Sicher nicht beabsichtigt und doch auf ganz prägnante Weise hat sie damit gerade in den amerikanischen Charts einen spannenden Kontrapunkt gesetzt: zu den Hochglanzvideos von Superstars wie Beyoncé, Nicki Minaj und Miley Cyrus – und zu dem Hype um die emanzipatorische Botschaft, den diese Videos angeblich transportieren. „Ich denke, dass ich zu den größten Feministinnen der Welt gehöre“, erklärte vor eineinhalb Jahren Miley Cyrus in einem BBC-Interview – und das, obwohl sie in ihren Videos verführerisch in Unterwäsche posiert oder auch mal völlig nackt auf einer Abrissbirne schaukelt und an Stahlteilen leckt. Ihre Begründung: „Ich vermittle den Frauen, dass sie vor nichts Angst haben müssen.“ Mit ihrer zeigefreudigen öffentlichen Inszenierung, zu der auch ein hochpeinlicher „Skandal“-Auftritt bei den MTV Awards gehörte, mag sich die junge Dame vielleicht von dem cleanen Teeniestar-Image emanzipiert haben, das sie als Hannah Montana in der gleichnamigen Disney-Serie etabliert hatte. Mit Feminismus aber, wie ihn die meisten kennen, hat das nichts zu tun.
Sexuell offensiver geht Nicki Minaj ans Werk. Selbst in nicht gerade als Mainstream bekannten deutschen Medien wird die schillernde Rapperin als wahre Feministin gefeiert – weil sie Tabus breche, Grenzen überschreite, ein selbstbewusstes „bad bitch“-Image zelebriere. Stephan Szillus in der „taz“: „Die New Yorkerin spielt in ihrem Image gekonnt mit sexuellen Identitäten und einem ironisch gebrochenen Ghetto-Chic. Mit ihren durchgeknallten Stylings, diversen Alter Egos und wilden Performances bietet die 31-Jährige tatsächlich so etwas wie ein Rollenvorbild.“ Klar, Nicki Minaj mag respektlos mit Samples umgehen, sich in ihren Raps als dominante, stolze „Schlampe“ inszenieren und nicht jugendfreie Geschichten von Drogenkonsum und promiskem Sex mit zwielichtigen Typen erzählen. Aber in den Videos dazu geht es stets um Nicki Minajs Körper – und vor allem um ihr auffälliges Hinterteil. Selbstbewusstsein heißt dann, in allen nur denkbaren erotischen Posen die eigenen körperlichen Vorzüge zu preisen. Die Tatsache, dass der Mann sie beim „Lap Dance“ im Video zu „Anaconda“ nicht berühren darf, als feministisches Statement zu feiern, wie es manche Kritiker tun, wirkt da arg bemüht – schließlich gehört das auch in den einschlägigen Bars jedes Rotlichtviertels zu den Regeln dieses Spiels. Denn vor allem geht es der Künstlerin ums Antörnen und um Umsatz.
Wie widersprüchlich die Botschaften von Frau Minaj letztlich sind, zeigt ein kurzer Vergleich des Videos zu „Anaconda“ mit dem Video zu „Lookin Ass“: In Ersterem wird die abfällige Bemerkung über Frauen mit „fetten Ärschen“ aus einem anderen Rapsong aufgegriffen und in ein positives Statement der Bewunderung aus Männerperspektive umgedeutet, à la: Seht euch diesen großartigen Hintern an, er macht jede Anaconda (i. e. das männliche Glied) wild. Der Blick wird also ganz bewusst auf Minajs auffälligstes Körperteil und auf die mit ihr durchs Video zuckenden „heißen“ Begleittänzerinnen gelenkt, was „Anaconda“ für das „Missy Magazine“ zur feministischen Hymne, „zur Big-Butt-Empowerment-Anthem des Jahres“, macht. Exakt diesem lüsternen Blick aber, symbolisiert durch ein männliches Augenpaar, wird im Video zu „Lookin Ass“ (übersetzt etwa: Hintern gucken) mit endlosen Maschinengewehrsalven wieder der Garaus gemacht – natürlich erst, nachdem minutenlang und in Zeitlupe sämtliche Körperrundungen der verführerisch in Spitzenunterwäsche gekleideten Künstlerin gezeigt wurden. Die seltsame Botschaft: Hey, ich drücke hier doch nur meine selbstbestimmte Sexualität aus – wehe, das törnt dich an!
Als massenkompatibler Inbegriff des feministischen Popstars wird dagegen R&B-Königin Beyoncé gefeiert. Was sie in den Augen vieler Rezensenten zur Ausnahmeerscheinung macht: Sie lebt in einer stabilen Beziehung mit ihrem Kollegen Jay-Z, ist Chefin ihres eigenen Unternehmens, hat immer wieder Songs über weibliche Selbstbehauptung im Programm, zitiert darin auch mal Feministinnen (wie die Nigerianerin Chimamanda Ngozi Adichie im Song „Flawless“), unterstützt im Charity-Bereich Bildungsprogramme für Frauen und inszeniert auch noch eine selbstbestimmte Sexualität – kurz: Sie ist die perfekte emanzipierte Kombination aus Ehefrau, Künstlerin, Chefin und Sexgöttin.
Tatsächlich steckt hinter Beyoncés Erfolg ein gnadenloses Leistungsprinzip, das viel mit Selbstdisziplin und Selbstverleugnung zu tun hat – Beyoncé ist schon lange so etwas wie die Heidi Klum des Soul. Was sie hier vorlebt, erscheint wie eine übermenschliche Anstrengung und dürfte kaum als Vorbild für die junge Frau von nebenan taugen – denn dieser stets perfekt geschminkte Spagat zwischen Karriere, Familie und Lust ist in der Welt, wie sie wirklich ist, kaum zu erreichen. Hinzu kommt, dass Beyoncé gerne brav erklärt, alles zu tun, um ihren Mann zu „pleasen“, und dass auch ihre angebliche „selbstbestimmte Sexualität“ ausgerechnet in Videobildern inszeniert wird, die an Rotlichtbar-Szenerien und Edelpornos erinnern. Die Liste ließe sich ergänzen durch Shakira und Rihanna, ebenfalls zwei US-Superstars, die ihre Karrieren selbst kontrollieren. Dafür gebührt ihnen allergrößter Respekt, ja wirklich. Aber zumindest mit Blick auf ihre Videos scheint diese Unabhängigkeit vor allem zu bedeuten, dass sie heute selbst entscheiden, sich als Sexobjekte inszenieren zu lassen – man denke nur an den auch mit lesbischen Vibes aufgeladenen Gemeinschaftsclip von Shakira und Rihanna zu „Can’t Remember to Forget You“.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Hier geht es nicht um Lustfeindlichkeit oder Prüderie. Eine selbstbestimmte erfüllte Sexualität ist ganz sicher für jeden Menschen erstrebenswert, und erotische Musikclips sind ja durchaus auch schön anzuschauen – wenn sie einem nicht ganz einfach wurscht sind. Nur fragt man sich, warum das ausgiebige Bedienen voyeuristischer Impulse so offensiv als Emanzipation verkauft wird. Warum die Spin Doctors der Musikindustrie so etwas vorgeben – und warum so manche Medien es nachbeten. In Europa scheint das alles weniger relevant. Natürlich werden auch hier junge Sängerinnen möglichst ansprechend und sexy inszeniert. Aber die erotische Leistungsschau amerikanischer Prägung bleibt weitgehend aus. Und: Neben Florence & The Machine gibt es weitere interessante Künstlerinnen, die in ihren Clips ganz andere, alltäglichere, düsterere Bilder von Weiblichkeit transportieren. Zum Beispiel die Newcomer-Rockband fon aus Leipzig. Deren Schwarz-Weiß-Video zum Song „YMMB – You Make Me Break“ zeigt Sängerin Katharina Helmke nackt, mit Erde und Farbe beschmiert, im Clinch mit einem ebenfalls nackten Mann. Aus den anfänglichen Zärtlichkeiten wird ein brutaler Kampf, eine Vergewaltigung wird suggeriert. Dann packt die Protagonistin einen Felsbrocken und schlägt wieder und wieder zu. Ob diese Rache wirklich ausgeführt wird oder eine Fantasie bleibt, ist unklar. Es ist ein Video, das bewegt, ohne irgendeinen Voyeurismus zu bedienen – die Nacktheit steht hier für Verletzlichkeit.
Die Meisterin der weiblichen Inszenierung in Popvideos ist und bleibt allerdings die Irin Roísín Murphy. Seit 2004 veröffentlicht die Exsängerin des Duos Moloko (größter Hit: „Sing It Back“) zu ihren Electronica-geprägten Soloalben Musikclips, in denen sie – fast wie die Fotokünstlerin Cindy Sherman – die unterschiedlichsten Frauenrollen durchspielt. Dagegen nehmen sich Nicky Minajs schrille Kostümwechsel wie Kinderfasching aus. Die kürzlich erschienene CD „Hairless Toys“ begleiten ein paar Videos, bei denen Murphy selbst als Regisseurin fungierte. In „Exploitation“ etwa gibt sie eine tablettensüchtige Theaterschauspielerin, in „Evil Eyes“ eine frustrierte Ehefrau und Mutter, die nach diversen rebellischen Akten in eine tiefe Depression verfällt. Weitere Markenzeichen von Murphy-Videos sind absurd unbequeme Kostüme und provozierend nachlässig getanzte Choreographien mit seltsamen Bewegungselementen, die den Perfektionismus, den Glamour und den künstlichen Sex-Appeal popindustrieller Spitzenproduktionen unterwandern.
Interessant vor diesem Hintergrund ist, dass gerade mit „Seht mich verschwinden“ Kiki Allgeiers Dokumentation über den Tod des Magermodels Isabelle Caro in den Kinos lief. All das sind Gegenbilder zu den amerikanischen Hochglanzinszenierungen weiblicher Superstars. Und so ist es auch kein Wunder, dass eins der krassesten „Frauenvideos“ der letzten Zeit ebenfalls aus den USA kommt. Es heißt „Tiff“, stammt von dem Bandprojekt Poliça aus Minneapolis und beschreibt, so Sängerin Channy Leaneagh, „eine Frau, die sich selbst der größte Feind ist“. Und das buchstäblich: Die Sängerin/Protagonistin sitzt gefesselt in einem Kellerverlies und wird von ihrer Peinigerin – es ist sie selbst – zu Klump geprügelt. Abstoßend, blutig, kaum zu ertragen.
Keine dieser Künstlerinnen bezeichnet sich als feministisch. Es wäre ja auch fatal, wenn sich Feminismus heute im Zur-Schau-Stellen von Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs erschöpfen würde. Aber es ist gut, dass es auch Alternativentwürfe zu den cleanen weiblichen Superstar-Pin-ups gibt. Und diese Alternativentwürfe können durchaus auch positiv inspirierend sein. Bestes Beispiel ist die amerikanische Sängerin, Tänzerin und Labelbetreiberin Janelle Monáe: Völlig ohne Erotikbrimborium besticht sie durch ein unglaubliches musikalisches Spektrum von Soul bis Rock, von Latin bis Elektronik, durch fantastische Tanzvideos („Tightrope“, „Q.U.E.E.N“) und durch positiv verrückte Albumkonzepte, die um eine Androidin namens Cindi Mayweather kreisen. Man wünscht sich mehr solcher Popkünstlerinnen aus Amerika.
Entziehungskur? Ach nö! Aber vielleicht wollte Amy Winehouse in Rehab ja etwas ganz anderes sagen… Gedanken zum Kinostart von Asif Kapadias Dokumentarfilm Amy
Seit Jahrzehnten gibt es zwei entgegengesetzte Meinungen über Songs: Der einen Meinung nach ist ein Song unmittelbarer Ausdruck der persönlichen Empfindungen des Menschen, der ihn geschrieben hat. Der anderen Meinung nach sind Songs etwas Künstliches – etwas, das vor allem von der Bearbeitung, von der Manipulation lebt. Aktuell sieht man beide Meinungen wieder wunderschön aufeinandertreffen. „Das rote Album“ wird die brandneue Songkollektion der deutschen Band Tocotronic genannt, weil sie einfach mit einem leuchtend roten Cover versehen wurde. Rot ist natürlich die Farbe der Liebe, so weiß der Volksmund, und dazu passt ganz vortrefflich, was inzwischen hinreichend in Pressemitteilungen und Medien kolportiert wurde: dass Tocotronic ein Album über die Liebe gemacht haben.
Die Liebe – eins der ganz großen Gefühle. Klarer Fall, folgert augenzwinkernd Nina Sonnenberg, Moderatorin der 3sat-Reihe „Kulturpalast“: Das muss sich Songschreiber Dirk von Lotzow doch direkt von der eigenen Seele geschrieben haben. Also fühlt sie dem Tocotronic-Mann in der „Kulturpalast“-Sendung vom 4. Juli mächtig auf den Zahn. Doch von Lotzow wiegelt ab: „Ich bin niemand als Autor, der aus Situationen heraus schreibt, und deshalb kann ich auch immer schlecht auf diese Fragen antworten: Schreibst du besser, wenn du glücklich bist oder wenn du unglücklich bist? Das ist eigentlich Authentizitätsquatsch!“ Für ihn hat Songschreiben rein gar nichts mit Herzausschütten zu tun: „Es geht ja nicht so sehr darum, was man selber fühlt“, erklärt er, „sondern dass man etwas macht, was bei den Leuten, die es hören, eine ästhetische Erfahrung oder so was auslöst – dass die was dabei fühlen. Was ich selber dabei gefühlt habe, ist ja unerheblich.“
Aber die Moderatorin lässt nicht locker. „Und trotzdem wirkt das ja alles sehr authentisch, was du schreibst“, hakt sie nach. Und als der Autor ebenso händeringend wie augenrollend nach Worten sucht, fragt sie schelmisch: „Lügst Du uns an?“ Da muss der Tocotronic-Frontmann dann doch mal lachen, und es platzt aus ihm heraus: „Nein, aber das sind Popsongs!“ Was für ihn heißt: „Popmusik ist grundsätzlich nicht authentisch. Das ist ein Kunstprodukt. Das ist eine künstlerische Äußerung, das kann gar nicht so authentisch sein. Ich fände es schon total bescheuert, wenn man ein Album über Liebe machen würde, und es wäre nicht romantisch. Aber es muss ja bei den Leuten, bei den Hörerinnen und Hörern, diese Gefühle auslösen. Und um diese Gefühle auslösen zu können – das ist die Grundidee von Popmusik – muss man die ganz nüchtern behandeln.“
Wham!, das hat gesessen. Welche Meinung über Songs Tocotronic vertreten, dürfte klar sein. Das andere Extrem begegnet uns aktuell in Gestalt von Asif Kapadia. Er ist Filmregisseur, wurde mit einer Dokumentation über den Rennfahrer Ayrton Senna bekannt und bringt jetzt, am 16. Juli, Amy in die deutschen Kinos. Amy ist ein Porträt der 2011 verstorbenen britischen Soulsängerin Amy Winehouse und wird vorab von den Medien hochgelobt. Dem Regisseur soll es um den Punkt gehen, an dem die Karriere des zuletzt von Alkohol und Drogen gebeutelten Stars ins Tragische kippte. In unserem Zusammenhang von Bedeutung ist die Tatsache, dass der Film immer wieder Auszüge aus den Songlyrics von Amy Winehouse einblendet – ganz offenbar weil der Regisseur diese Lyrics als so etwas wie Tagebuchauszüge begreift. So antwortet Kapadia in der Juli-Ausgabe der Zeitschrift „epd film“ auf die Frage, ob die Entscheidung für das Einblenden der Lyrics erst in der Postproduktion fiel: „Oh nein, dazu entschied ich mich ziemlich früh. Denn wer die Texte liest, versteht Amys Leben. Das war wirklich das Einzige, worüber sie geschrieben hat. Viele Fans haben womöglich nie darüber nachgedacht, dass sie all das selbst verfasst hat. Aber alles, was man wissen muss, findet man in ihren Songs. Für einen Moment hatte ich gedacht, dass es vielleicht überflüssig ist, die Lyrics auch tatsächlich einzublenden. Doch sobald man sie weglässt, fängt man als Zuschauer an, den Kopf im Takt der Musik zu bewegen und mehr der Melodie als dem Text zu folgen.“
Nach dieser Auffassung scheint die Musik eines Songs – der Rhythmus und die Melodie, der Sound, die ganze Atmosphäre – nur zweitrangig zu sein und vom Wesentlichen, dem Text als authentischem Gefühlsausdruck, abzulenken. Da möchte man sich beinahe fragen, warum Amy Winehouse nicht einfach nur Gedichte oder einen Lebensbericht veröffentlicht hat… aber egal. Wichtiger ist die Frage, ob man die Songs von Amy Winehouse, und so viele sind es ja nicht, tatsächlich auf so etwas wie ihren autobiografischen Gehalt festlegen, ja reduzieren kann. Ich bin zumindest skeptisch. Schon als Udo Jürgens von seinem Bruder, dem Maler, sang, hatten sich in den scheinbar autobiografischen Textrahmen – sein Bruder ist tatsächlich ein angesehener Maler – kleine Details eingeschlichen, die so gar nicht der Realität entsprachen. Zum Beispiel war in den Lyrics die Rede davon, dass der Bruder Clowns male, dabei malt der Bruder alles, nur keine Clowns. Und so bin ich sicher, dass sich in fast jedem berühmten Lied, dem man eine große Nähe zwischen Song-Ich und biografischem Ich nachsagt, solche kleinen Detailveränderungen festmachen lassen, zumindest aber Verdichtungen und Zuspitzungen eines Gedankens, der weit über das vordergründige Songthema hinausgeht. Das vordergründige Thema ist dann eher so etwas wie ein Ablenkungsmanöver, eine Blendrakete.
Stichwort Rehab – der 2008 mit diversen Auszeichnungen überschüttete Superhit von Amy Winehouse. „They tried to make me go to rehab / But I said ey no, no, no“, heißt es da einprägsam und: „I ain’t got the time / And if my daddy thinks I’m fine / They tried to make me go to rehab / I won’t go, go, go.“ Also: „Sie haben mich gedrängt, einen Entzug zu machen, / aber ich habe gesagt: Nein, Nein, Nein (…) Ich hab keine Zeit, / Und wenn mein Vater denkt, es ist halb so schlimm… / Sie haben mich gedrängt, einen Entzug zu machen, / ich werd nicht geh’n, nein, nein.“ Man musste nur die Medien-Sensationsberichte der Jahre 2007 bis 2010 verfolgen, um zu sehen, wie nah der Text am wirklichen Leben der mit einer Ausnahmestimme gesegneten Interpretin zu rangieren schien. Es ging ganz offensichtlich um deren nicht von der Hand zu weisende Rauschmittelsucht, um peinliche Auftritte im benebelten Zustand, den Vater, der das Problem verharmloste, oder das Management, das wiederholt versucht haben soll, die Künstlerin zu einem Entzug zu bewegen. Nicht nur aktuell bei Asif Kapadia, sondern schon seit Songerscheinen ist in Internetforen und Zeitungsartikeln von einem „autobiografischen Song“ die Rede. Zum Beispiel auf der Website von Jochen Scheytt, der unter der Rubrik „Popsongs und ihre Hintergründe“ erschüttert feststellt, dass sich „die renitente Aussage des Refrains durch den ganzen Song“ ziehe. Nach erschreckenden Statistiken zum Thema Drogenmissbrauch und wenig erhellenden Kommentaren zu den Lyrics kommt Scheytt zu dem Schluss: „Man wünscht sich, dass die Einsicht noch kommen möge. (…) Ich wünsche mir einen Songtext von Amy Winehouse: ‚I really wanna go to rehab, I wanna go, go, go!’“
Die Songaussage auf die Ablehnung eines Entzugs durch die reale Person Amy Winehouse zu reduzieren, wird dem Stück, wie ich finde, nicht gerecht. Auch macht das Gerede vom autobiografischen Song hier mehr aus dem Ganzen, als es eigentlich ist. Denn Autobiografie ist die Beschreibung des eigenen Lebenslaufs, gespickt mit Reflexionen und persönlichen Einschätzungen – und davon kann in Rehab keine Rede sein. Das Stück ist äußerst redundant – sein Text lebt im Wesentlichen von wenigen ständig wiederholten Versen und ist mitnichten eine reflektierende Aufarbeitung der eigenen Lebensgeschichte oder auch nur eines Teils davon. Zum Beispiel wird weder die Heroinproblematik noch der ebenfalls suchtkranke Ehemann der Sängerin, der sowohl in ihrem Leben als auch in den Berichten der Boulevardmedien keine unwesentliche Rolle spielt, auch nur ansatzweise thematisiert. Wollte man den Lyrics nun unbedingt eine allgemeinere Aussage unterstellen, dann vielleicht die, dass sie eine typische Haltung von Alkoholkranken widerspiegeln: Verleugnung und Verdrängung des Problems.
Aber auch das scheint mir ziemlich weit hergeholt.
Da klingen die abschließenden Verse des Stücks schon etwas aufschlussreicher: „The man said, why’d you think you’re here? / I said, I got no idea / I’m gonna, I’m gonna lose my baby / So I always keep a bottle near.“ Übersetzt: „Der Mann fragte mich: Was glauben Sie, warum Sie hier sind? / Ich sagte: Keine Ahnung / Mein Schatz, mein Schatz wird mich verlassen / Also habe ich immer eine Flasche in Reichweite.“ Einsamkeit ist also der Schlüssel, was durch Zeilen wie: „I don’t never wanna drink again / I just, oooh, I just need a friend“ untermauert wird: „Ich will nie wieder trinken, / ooooh, ich brauche einfach einen Freund.“ Nicht unbedingt um ein konstantes Alkoholproblem geht es also in dem Song, sondern eher um Einsamkeit und um Verlustangst, um Gefühle, die vorübergehend zu exzessivem Alkoholgenuss führen – und die Umgebung des Song-Ichs veranlassen, falsche Schlüsse zu ziehen. Nicht die Entzugsklinik wäre demnach die Lösung, sondern ein Ende der Einsamkeit: Geborgenheit und Nähe.
Aber das ist noch nicht alles: Etwa in der Mitte des Stücks gibt es eine weitere Passage, die die Interpretationsansätze noch einmal in eine ganz andere Richtung treibt: „I’d rather be at home with Ray / I ain’t got 70 days“, heißt es da und: „’Cause there’s nothing, there’s nothing you can teach me / That I can’t learn from Mr. Hathaway.“ – „Ich bleib lieber zu Hause mit Ray / Ich habe keine 70 Tage Zeit / Denn da gibt es nichts, was ihr mir beibringen könnt, / das ich nicht auch von Mr. Hathaway lernen kann.“ Mit Ray und Mr. Hathaway sind vermutlich die schwarzen Soulstars Ray Charles und Donny Hathaway gemeint. Ihnen schreibt das Song-Ich eine Lebenserfahrung und eine Weisheit zu, die keine Schulbildung, keine Therapie, kein Entzug vermitteln können. Ray Charles hatte zwar ein Heroinproblem, das er nach einer Entziehungskur überwand, aber Donny Hathaway litt vor allem an Depressionen und war mehrmals in stationärer psychiatrischer Behandlung, bevor er aus dem Fenster in den Tod sprang. Auch angesichts der Tatsache, dass das Song-Ich einen Entzug ablehnt, während Charles eine solche Kur absolvierte, kann das Suchtthema nicht der Grund für den Hinweis auf Ray und Hathaway sein. Vielmehr scheint es um eine Hommage an die große Zeit der schwarzen Soulmusik und ihre durch sämtliche Höhen und Tiefen des Lebens gegangenen Protagonisten zu gehen. Das unterstreichen der packende Rhythmus des Songs und seine wuchtige Soundproduktion, die den Soul der fünfziger und sechziger Jahre beschwört und ins 21. Jahrhundert hinüberholt.
In dieser Hommage und im Thema Einsamkeit, an dem sich auch die Soulmusik immer wieder auf einzigartige Weise abarbeitet, liegt meiner Meinung nach das eigentliche Zentrum von Rehab. Klar gibt es Themen und Motive, die an das wirkliche Leben der Künstlerin erinnern. Trotzdem geht es nicht in erster Linie um ein persönliches Statement der Privatperson Amy Winehouse, die möglicherweise nicht gewillt ist, dem Druck der Öffentlichkeit nachzugeben und endlich ihre Sucht zu akzeptieren. Nein, in erster Linie geht es um eine Huldigung an den Geist der Soulmusik. Die Aufforderungen an das Song-Ich, eine Entziehungskur zu machen, sind nur ein drastisches Bild für dessen Einsamkeit und für das Unverständnis, das mangelnde Einfühlungsvermögen der Menschen in seiner Umgebung. Damit bilden auch bei Amy Winehouse vereinzelte persönliche, autobiografische Elemente lediglich den Aufhänger für eine übergreifende Songbotschaft, die ganz anders gelagert ist, als es vordergründig erscheinen mag – und als es eine sensationsgierige Öffentlichkeit gerne hätte. Rehab ist kein Authentizitätsquatsch, sondern ein klasse gemachtes Kunstwerk mit mehreren Ebenen. Dirk von Lotzow würde sagen: „Rehab macht etwas, was bei den Leuten, die es hören, eine ästhetische Erfahrung auslöst. Was Amy Winehouse selber dabei gefühlt hat, ist unerheblich.“ Man darf gespannt sein, inwieweit Asif Kapadias Doku Amy auch solchen Songaspekten Rechnung trägt.
„My name is Luka…“, „And my name is Bobby Brown…“, „I love you…“ – in der Regel nehmen wir nicht für bare Münze, was uns die vielen Ichs im Songuniversum erzählen. Es sind fiktive Ichs, mal mehr, mal weniger nah an den Autoren, und sie entwickeln ihre ganz eigenen Geschichten und Gedanken. Der Song öffnet ein Fenster in eine abgeschlossene Welt, er ist wie eine Glaskugel, in die wir hineinschauen – wie eine Wundertüte, deren Inhalt sich über uns ergießt. Gelegentlich aber passiert etwas anderes: Plötzlich rückt der Song selbst in den Fokus, bevorzugt mit den Worten „this song“ – „dieser Song hier“. Und dann wird es spannend. Denn dann pocht der Song an seine Grenzen, versucht er spielerisch, sie zu überwinden. Das in den Lyrics Geschilderte rückt viel näher an den Interpreten heran. Der Text, die Musik scheinen nicht mehr eine eigenständige Fiktion hervorzurufen, sondern öffnen sich zur realen Welt, zumindest zum Show-Ich hin. Sie wirken plötzlich wie eine direkte Botschaft des Interpreten an ein bestimmtes Gegenüber. Dieses Gegenüber, dieses Du, wird aber nie konkret benannt. Und so ergibt sich eine eigenwillige Spannung – die zu übermütigen Spielchen motiviert.
In Don’t Believe A Word, einem alten Gassenhauer der irischen Band Thin Lizzy, beteuert der Sprecher, das angesprochene Du nicht zu lieben, dabei ist er total verliebt. Ein gängiges Motiv im Lovesong, man denke an I’m Not In Love von 10cc oder Ich lieb dich überhaupt nicht mehr von Udo Lindenberg. Doch dann heißt es bei Thin Lizzy: „Don’t believe me if I tell you / That I wrote this song for you / There just might be some other silly pretty girl / I’m singing to.“ Natürlich kann der junge Mann, den man sich beim Hören vorstellt, auch in der Songwelt ein Songschreiber sein. Sein Lied, das womöglich ein echtes, ein bekennendes Liebeslied wäre, würden wir dann aber nicht vernehmen, es bliebe nur kurz erwähnt. Viel näher liegt es doch, „this song“ direkt auf das Musikstück von Thin Lizzy zu beziehen, das man gerade hört. Und das scheint mir auch das zu sein, was bei den meisten Hörerinnen und Hörern unbewusst als Erstes passiert. Damit ist aber die speziell entwickelte Songwelt – die Illusion einer Gesprächssituation oder einer einsamen Monologsituation – durchbrochen. Der Song beschreibt nicht mehr einen fiktiven Jungen, der mit seinen Gefühlen hadert und einem Mädchen dumme Sachen sagt, sondern Musik und Text selbst werden zur direkten Botschaft des Thin-Lizzy-Sängers Phil Lynott an ein konkretes Gegenüber. Oder anders gesagt: Das Song-Ich scheint nicht mehr Teil der Songwelt zu sein, sondern identisch mit demjenigen, der „diesen Song“ zum Besten gibt. Auch wenn die Aussage – „Dieser Song, in dem ich dir sage, dass ich dich nicht liebe, ist nicht für dich“ – etwas verschwurbelt daherkäme. Auf jeden Fall rücken so die Lyrics deutlich in die Nähe des biografischen, zumindest des Show-Ichs.
Aber wer ist das Gegenüber?
Speziell in diesem Song könnte man die kleine, im Ansatz absurde Spielerei schnell auflösen, indem man „this song“ metaphorisch interpretiert – im Sinne von Liebesschwüren oder Liebesgedichten, von Liebesgesäusel, das das Song-Ich an eine Frau in der Songwelt richtet. Denn am Ende handelt es sich auch in Don’t Believe A Word um eine konventionelle, mit Klischees arbeitende Komposition. Im wesentlich eleganteren Stück Your Song von Elton John dagegen wird einem geliebten Du, das natürlich ohne Konturen bleibt, vom Song-Ich in poetischer Manier exakt „dieser Song“ gewidmet: „I know it’s not much but it’s the best I can do / My gift is my song and this one’s for you // And you can tell everybody this is your song / It may be quite simple but now that it’s done / I hope you don’t mind / I hope you don’t mind that I put down in words / How wonderful life is while you’re in the world.“ Auch hier gibt es ein Song-Ich, das sich in der Song-Illusion bewegt, und gleichzeitig ist man geneigt, die Lyrics direkt Elton John zuzuordnen. Besonders ausgeprägt kommt hier aber och die Dynamik zwischen Entertainer und Publikum, zwischen Show-Ich und Fans, ins Spiel. Denn gerade wenn Elton John dieses Lied live vor einer begeisterten Menge spielt, dann klingen etliche der Verse tatsächlich auch wie ein Dankeschön, das der Star mit einnehmender Bescheidenheitsgeste direkt an seine treuen Anhänger richtet.
Der „this song“-Kniff durchzieht die ganze Rockgeschichte, von den Beatles (It’s Only A Northern Song) über P.I.L. (This Is Not A Lovesong) bis hin zu Villagers (Becoming A Jackal), Olly Murs (This Song Is About You) und D.R.U.G.S. (If You Think This Song Is About You, It Probably Is). Die berühmte Blaupause für solche Stücke und gleichzeitig die spektakulärste „This song“-Spielerei der jüngeren Liedgeschichte ist natürlich You’re So Vain, 1972 veröffentlicht von der amerikanischen Singer-Songwriterin Carly Simon. Als besonders clever erweisen sich hier die Refrainverse „You’re so vain / You probably think this song is about you“ – „Du bist so eitel / Wahrscheinlich denkst du auch, dieser Song handele von dir“. Impliziert ist natürlich: „Dabei handelt er gar nicht von dir“, so dass nicht aufgelöst werden kann, an wen genau der Song sich richtet. Denn wenn sich jedermann nur fälschlicherweise mit dem Song identifizieren kann, dann wurde er eigentlich für niemand Konkreten oder – andersherum – für alle eitlen Männer dieser Welt geschrieben. Die Lyrics sind die Abrechnung des weiblichen Song-Ichs mit einem ehemaligen Liebhaber, der sich als eitler Fatzke erwies und nur in einer armselig-glamourösen Scheinwelt lebt. Obwohl der text keine Rückschlüsse auf konkrete Personen zulässt, versuchen Kritiker und Fans seit Jahrzehnten herauszufinden, um welchen Mann aus dem persönlichen Umfeld der Sängerin es sich bei dem Du wohl handeln könnte. Und Carly Simon hat die Diskussion zeitweilig selbst gern befeuert. Ich schätze, ein abschließendes Statement wird ausbleiben. Die Enttäuschung läge letztlich in der Erkenntnis der Fiktion.
Die „Extended Version“ dieses Beitrags wie immer auf Faust-Kultur.
Udo Jürgens wird zu Recht gefeiert. Er hatte Charisma, auch Ecken und Kanten, sogar die einen oder anderen Abgründe. Eigentlich logisch, denn Charisma ohne Ecken und Kanten, ohne Abgründe, das gibt es nicht. Und: Udo Jürgens war ein begnadeter Songschreiber. Er verstand es, simplen Schlagern Tiefe zu verleihen – Alltagserfahrungen, die viele Menschen machen, anspruchsvoll, chansonhaft auf den Punkt zu bringen. Udo Jürgens kannte alle Tricks, war versiert auch im Spiel mit autobiografischen Bezügen, sang, als wüsste er ganau, wovon er sang. Und untermauerte so den Eindruck, einige seiner Lieder seien direkt aus dem Leben gegriffen, sogar direkt aus dem eigenen. Der Trick bestand darin, Reales und persönliche Eindrücke ästhetisch zuzuspitzen, sie zu verdichten – dabei aber entscheidende kleine Details zu verändern.
Ein in dieser Hinsicht charmanter, im Ansatz schlitzohriger Udo-Jürgens-Song war für mich immer Mein Bruder ist ein Maler aus dem Jahr 1977. Mal abgesehen davon, dass der Text nicht von Udo Jürgens, sondern von Wolfgang Hofer stammt, bewegt er sich auf den ersten Blick recht nah an der Biografie des erfolgreichen Entertainers: Udo Jürgens heißt mit bürgerlichem Namen Udo Jürgen Bockelmann, und sein Bruder Manfred war tatsächlich auch zur Entstehungszeit des Songs schon ein gefragter Künstler. In den Lyrics vergleicht das Song-Ich seine Leistung als Musiker mit der Leistung des malenden Bruders – und kommt in einem Anflug von Neid zu dem Ergebnis, dass dessen Gemälde aufgrund ihrer Unvergänglichkeit wertvoller seien als die eigenen kurzlebigen musikalischen Kompositionen: „Manchmal komm’ ich so klein mir vor / mit meinen großen Tönen, / die im kleinsten Wind wie blauer Dunst verweh’n. / Und so etwas wie Eifersucht / beginnt in mir zu brennen, / wenn ich dann seine Bilder seh’, so unvergänglich schön.“ Im Refrain stellt das Song-Ich sein Licht ganz deutlich unter den Scheffel, um den Bruder und seine Leistung noch größer erscheinen zu lassen: „Denn mein Bruder ist ein Maler, / und ein Bild von seiner Hand / kann mehr sagen als tausend Melodien. / Ja, mein Bruder ist ein Maler, / ich bin nur ein Musikant, / und in manchen Träumen, da beneid’ ich ihn.“
Nach einer weiteren Strophe, die das Grundthema vertieft, und einem weiteren Refrain bringt das Song-Ich in einem Zwischenteil Beispiele für die Arbeit des Bruders und für die Art, wie seine Werke wirken: „Wenn seine Frau mal traurig ist, / malt er ihr Orchideen / Und seinem Kind, das weint, den Clown, der Lachen schenkt.“ Und hier sind Udo Jürgens und sein Texter Wolfgang Hofer ganz deutlich von den biografischen Fakten abgewichen. Inwiefern? Das erklärt Manfred Bockelmann 2008 in der Dezemberausgabe von „NZZ Folio“, der Zeitschrift der „Neuen Zürcher Zeitung“: „Als das Lied herauskam, fragten alle: ‚Ja, wo ist denn dieser Bruder?’ Ich war damals schon recht erfolgreich und zeigte meine Arbeiten auf der Kunstmesse in Köln, Düsseldorf und Basel, es ging richtig gut los. Nun kam dieses Lied. Es war die Zeit von ‚Griechischer Wein’. Und die Leute dachten, ich male Bilder, so wie Udo singt. Doch das tue ich nicht. Meine Kunst ist anspruchsvoller, das weiss Udo auch. In dem Lied gibt es diese Strophe: ‚Wenn seine Frau mal traurig ist, malt er ihr Orchideen, und seinem Kind, das weint, den Clown, der Lachen schenkt.’ – Ich habe noch nie einen Clown gemalt! Also nein!“
Also wirklich!
Ein Blick auf den Fortgang der Lyrics zeigt, was es mit den offenbar aus der Luft gegriffenen farbenprächtigen Blumen und Spaßmachern auf sich hat. Sie müssen als „bunte“ Elemente herhalten, um zum Finale des Songs überzuleiten: „Er macht das Trübste wieder bunt, / drum kann ich nicht widerstehen“, so weckt diese Überleitung Neugier, „wenn seine Frau mir dann erzählt, was er sich manchmal denkt:…“ Im anschließenden letzten Refrain, der – noch so ein Songwriting-Trick – mit einer überraschenden Schlusswendung aufwartet, wird folgerichtig der malende Bruder zitiert, den, so die Ehefrau, dieselben Gedanken und Gefühle wie das Song-Ich umtreiben, nur aus der entgegengesetzten Perspektive: „Ja, mein Bruder ist ein Sänger, / und ein Lied aus seinem Mund, / das sagt mehr, als manches Bild je sagen kann. / Ja, mein Bruder ist ein Sänger, / und sein Leben ist so bunt, / manchmal fing’ auch ich so gern zu singen an.“
In diesen letzten Versen offenbart sich das eigentliche Zentrum des Songs: Nicht um eine etwaige Rivalität der malenden und singenden Gebrüder Bockelmann im wirklichen Leben geht es, sondern um den universellen Gedanken, dass jeder Mensch ein Talent hat, das ihn auszeichnet – etwas, das andere nicht können. Und dass das, was ein Mensch schafft, jeweils seine ganz eigene Wertigkeit besitzt. So inbrünstig und überzeugend sie auch vorgetragen werden, die Biografien der Gebrüder Bockelmann dienen lediglich als Aufhänger für die Formulierung einer übergreifenden These oder Erkenntnis – und werden mit Blick auf die möglichst effektive Zuspitzung dieser These nach Belieben manipuliert. Das hat Witz, das hat Tiefe, das macht die Könnerschaft des Gespanns Udo Jürgens/Wolfgang Hofer aus. Schade, dass es mehr davon nicht mehr geben wird.