Detroit im Song: Soul-Mekka, Motor City, Geisterstadt

„Geisterstädte sind das Ergebnis von Flucht- oder Wanderungsbewegungen und damit Zeugnisse für verschiedenste Ereignisse oder Entwicklungen“, heißt es im Ankündigungstext einer Reihe von Reportagen, die diese und kommende Woche auf arte laufen und anschließend noch eine Zeit lang in der Mediathek abgerufen werden können. Neben Riesi in Sizilien, wo der Mangel an Arbeitsplätzen und kriminelle Machenschaften viele Menschen zur Flucht in den Norden getrieben haben, Städten in der Türkei und in China ist auch Detroit im amerikanischen Bundesstaat Michigan Thema (9. und 16. Mai).

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Detroit, Rufnahme „Motor City“, war jahrzehntelang die amerikanische Autometropole und zog in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zahlreiche Arbeitssuchende, darunter viele Schwarze, an. Zwar erlebte die Stadt einen wirtschaftlichen Boom, doch war sie auch gleichzeitig immer wieder Schauplatz blutiger Auseinandersetzungen zwischen der schwarzen und der weißen Bevölkerung. Heute leidet Detroit aufgrund fehlender Arbeitsplätze, der allgemeinen Wirtschaftskrise und einer rigiden Sparpolitik an drastischem Bevölkerungsschwund und einer hohen Kriminalitätsrate, 2013 musste die Stadt Konkurs anmelden.

Kein Wunder, dass Detroit – durch das berühmte Motown-Label auch eine bedeutende Musikstadt – immer wieder in Songs thematisiert wird. Erst 2011 erschien A Long Time von Mayer Hawthorne, ein mitreißendes Stück im Motown-Sound, das von der Hoffnung auf die Rückkehr zu ruhmreichen Zeiten erzählt, aber auch von der Erkenntnis, dass es bis dahin ein langer Weg sein wird. In der ersten Strophe wird ein Mann namens Henry eingeführt, und unschwer kann man dahinter den Autobauer Henry Ford erkennen. Ford sorgte für den wirtschaftlichen Boom der Stadt, der mit dem krassen Bild der Atombombe verknüpft wird: „Welcome to the Motor Town / Boomin’ like an atom bomb“. Atombombe? Warum das? Wahrscheinlich weil mit dem Aufschwung eine explosive soziale Gemengelage zwischen Schwarz und Weiß entstand – und weil es 1966 in einem Forschungsreaktor bei Detroit zu einer partiellen Kernschmelze kam: ein Unfall, bei dem wie durch ein Wunder kein größerer Schaden entstand. In der zweiten Strophe des Songs geht es um einen Mann namens Berry, und natürlich ist Berry Gordy gemeint, der Gründer eben jenes Motown-Labels, das von Smokey Robinson und den Supremes über die Four Tops und die Temptations bis hin zu den Jackson Five, Stevie Wonder oder Lionel Richie etliche amerikanische Soulgrößen herausbrachte. Mit der wunderbaren Konsequenz: „Oh, people all around the world / Tuning in their radios“.

Henry und Berry, so der Refrain, waren die geschichtlichen Höhepunkte, das Ultimative, „the end of the story“, danach jedoch ging alles den Bach runter. Und doch wird auch die Entschlossenheit formuliert, etwas für den langwierigen Wiederaufstieg dieser Geisterstadt zu tun. „Then everything went wrong / And we’ll return it to ist former glory / But it just takes so long … It’s gonna take a long time / It’s gonna take it but we’ll make it one day.“

Explizit um den Reaktorunfall von 1966 geht es in We Almost Lost Detroit von Rap- und Soulpionier Gil Scott-Heron. Der klare, kaum poetisch verdichtete Text führt dem Hörer immer wieder die schreckliche Vorstellung vor Augen, dass damals beinahe eine ganze Stadt zerstört worden wäre. Atomkraft, singt Scott-Heron, ist eigentlich ein vom Wahnsinn getriebenes Konzept, bei dem es letztlich nur um Geld geht. Die Sicherheit der Menschen bleibt zweitranging: „That when it comes to people’s safety / Money wins out every time / And we almost lost Detroit this time, this time. / How would we ever get over / Over losing our minds? / You see, we almost lost Detroit / That time.“ Freunden der Coverversion sei die wesentlich lautere, aber nicht minder beeindruckende Interpretation des Stücks durch Dale Earnhadt Jr. Jr. empfohlen.

Eine besonders aufregende Phase erlebte Detroit in den 1960er Jahren, als es im Zuge der Rassendiskriminierung immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Schwarzen und Weißen kam – Letztere unterstützt von großen Teilen der Polizei.

Die Kämpfe gipfelten 1967 in den „12.-Straße-Unruhen“ („12th Street Riot“). Anlass war eine Polizeirazzia in einer Bar an der Ecke Clairmont Street, die anschließenden Straßenschlachten dauerten fünf Tage und forderten – auch weil Armee eingesetzt wurde – über 40 Todesopfer. Etliche Hundert Häuser wurden verwüstet. In The Motor City Is Burning, der nervösen Aufarbeitung der Ereignisse durch den Bluesmusiker John Lee Hooker, blickt noch im selben Jahr ein fassungsloses Ich auf die brennenden Straßen. Erinnerungen an den Vietnamkrieg drängen sich auf, man spürt die Angst des Sprechers, seine Heimatstadt könne komplett zugrundegehen. Weder weiß das Ich, was es gegen die Zerstörung tun kann, noch versteht es die Zusammenhänge, die zu den Unruhen geführt haben. Wie heftig die Wut der Bewohner des Viertels ist, zeigt das Bild der Heckenschützen, die die Feuerwehr am Löschen der Flammen hindern. Hier die ersten beiden Strophen: „Oh, the motor city’s burnin’, it ain’t no thing in the world that I can do / Don’t ya know, don’t ya know the big D is burnin’,ain’t no thing in the world that Johnny can do / My home town burnin’ down to the ground, worser than Vietnam. // Well, it started on 12th and Clairmont this mornin’, I just don’t know what it’s all about / Well, it started on 12th and Clairmont this mornin’ I don’t know what it’s all about / The fire wagon kept comin’, the snipers just wouldn’t let ’em put it out.“

Die 1960er Jahre waren aber auch die große Zeit der amerikanischen Gegenkultur, der Friedens- und der Protestbewegung, zum Teil vorgetragen mit revolutionärem Impetus. Und nicht wenige weiße Rockmusiker lieferten den Soundtrack dazu. Wie die in Detroit ansässige Band MC 5 (für „Motor City Five“), die sich nicht durch einen rauen Sound, sondern auch durch provokante Parolen auszeichnete und für viele Kritiker schon auf die Punkbewegung 10 Jahre später vorauswies. Ihre internationale Karriere starten MC 5 im Jahr 1969 höchst ungewöhnlich, nämlich gleich mit einer Live-LP, die auch eine Coverversion von John Lee Hookers The Motor City Is Burning enthält. Hier drosseln die Musiker das Tempo des Originals und verleihen dem Stück etwas Düster-Bedrohliches, etwas Dampfwalzenhaftes. Der Text wird an wenigen Stellen markant verändert, wodurch er seinen fassungslosen, resignativen Charakter verliert: Nicht der Sprecher des Songs hat keinen Schimmer, was er tun soll, sondern die Gegenseite, die weiße Gesellschaft („they“, „white society“) muss tatenlos zusehen, wie die Schwarzen für ihre Rechte kämpfen. In der zweiten Strophe wird das ungläubige Nicht-Verstehen des ursprünglichen Song-Ichs durch einen hasserfüllten Hinweis auf die anrückende Polizei ersetzt – die Rede ist von umherspringenden und -schreienden „pig cops“ („Bullenschweinen“). Und aus den anonymen Heckenschützen, die die Feuerwehr am Löschen der Flammen hindern, werden explizit Heckenschützen der radikalen Bürgerrechtsbewegung „Black Panthers“, mit denen sich die Band letztendlich solidarisiert. Hier die beiden ersten Strophen der Coverversion von MC 5: „Ya know, the motor city is burning, babe, there ain’t a thing in the world they can do / Ya know, the Motor City is burning, people, there ain’t a thing that white society can do / Ma home town burning down to the ground, worser than Vietnam. // Let me tell you how it started now: It started on 12th Clairmount that morning, it made the… the pig cops all jump and shout / I said, it started on 12th Clairmount that morning, it made pigs in the street go freak out / The fire wagons kept comin’, baby, but the Black Panther snipers wouldn’t let them put it out.“ Sprach aus dem Original ein verunsicherter Schwarzer, ein um seine Zukunft bangender „kleiner Mann von der Straße“, äußert sich bei MC 5 ein selbstbewusstes Song-Ich, das dem unterdrückerischen weißen Establishment den Kampf ansagt. Auch andere amerikanische Städte sind mit ihren Problemen in Songs thematisiert worden, etwa der einst dahinsiechende Seehafen Baltimore (Randy Newman) oder die Spielerstadt Atlantic City (Bruce Springsteen). Aber das sind wieder ganz andere Geschichten.

LouLou-Maschinen-Musik: Lou Reed und der Warhol-Faktor

„Hast du was zu Lou Reed?“, fragt Faust-Kultur, „hier müssen wir uns was einfallen lassen.“ Auch wenn sich Faust-Kultur nicht unbedingt als Nachrufplattform versteht: Bei Lou Reed läuten sofort die Pflichtglocken. Da muss was geschrieben werden. War eben ein ganz Großer. Und ein Wichtiger. Das Problem: In den wenigen Tagen seit Reeds Tod am 27. Oktober sind schon so viele alles sagende Nachrufe erschienen, dass ein weiterer Nachruf fast schon peinlich wirken würde: Schwere Kindheit mit Elektroschockerfahrungen, frühe Begeisterung für Doo-Wop-Musik und Literaturstudium bei dem Schriftsteller Delmore Schwartz; musikalische Anfänge als Auftragssongschreiber, wegweisende Platten mit The Velvet Underground im Umfeld von Pop-Art-Papst Andy Warhol, darunter die berühmte mit der „schälbaren“ Banane auf dem Cover; die thematischen Vorliebe für Stricher, Drogensüchtige und Freaks, das Spiel mit androgynen, schwulen Images, gipfelnd in Glam-Rock mit David Bowie; die unhörbare Feedback-Orgie Metal Machine Music – heute bei „Wire“ eine der „100 Records That Set The World On Fire (While No One Was Listening)“; düstere Alben über New York und Berlin, Ehe mit der Performance-Künstlerin Laurie Anderson, dazu seltsame künstlerische Projekte und Kollaborationen wie die mit Theaterguru Robert Wilson (Vertonung von Edgar-Allen-Poe-Gedichten und das Musical „Time Rocker“) oder die mit der Band Metallica (CD „Lulu“ nach Frank Wedekind, die nachträgliche Aufnahme der Musik zu einer weiteren Robert-Wilson-Inszenierung) – all das ist gut abgehangener Stoff der Rock- und Popgeschichte, immer wieder blumig aufbereitet und stets ergänzt durch den Hinweis, was für ein Arschloch Lou Reed doch sein konnte, nicht nur gegenüber Vertretern des Establishments, sondern auch gegenüber Fans und vor allem gegenüber Musikjournalisten.

Lou Reed „war wahrscheinlich nicht der sympathischste Rockmusiker, dafür aber einer der größten und dazu geistig kühnsten unserer Zeit“ („FAZ“), ein „muffiger Existenzialist“, ein „Grantler und Griesgram in fröhlichen Zeiten“ („Rolling Stone“), der „Avantrock-König“ (Amazon), ein „teuflischer Rock-Poet“, sein Werk „ein großes, dunkles Geheimnis“ (Die Welt“), die Essenz einer „großen Poesie der schlechten Laune“ („Süddeutsche Zeitung“). Ich möchte hier ganz bestimmt keinen Nachruf abliefern, aber ergänzen: Lou Reed war ein Antistar – eine Berühmtheit, die es immer wieder prächtig verstand, es sich mit allen zu verscherzen, eine garstige Ikone, die nicht auf den größtmöglichen Umsatz, sondern auf die größtmögliche Irritation abzielte. Auf einen gefälligen Hit folgte schwer Verdauliches, auf hintergründige Interviewfragen folgten bewusst nichtssagende Antworten, und wo man prominente Duettpartner für Songs mit Top-Ten-Garantie hätte gewinnen können, wurde lieber eine Kopfschütteln verursachende interdisziplinäre Kunst-Kollaboration gewählt. Reed-Arbeiten waren nie nur Rock, sondern Rock war bei ihm stets eine Ausdrucksform unter mehreren, Teil eines größeren Ganzen. Das zeigte sich bereits in den 1960er Jahren bei Andy Warhols verstörenden Multimedia-Shows unter dem Motto „The Exploding Plastic Inevitable“, in die die Auftritte von The Velvet Underground integriert waren. Lou Reed war ein Meister des ambivalenten Songwritings – bei vielen seiner Stücke weiß man nicht, ob sie etwas Abgründiges als tragisch beweinen oder etwas Tragisches als abgründig idealisieren, ob sie wirklich zärtlich sind oder unterschwellig zynisch, ernst gemeint oder getragen von bitterer Ironie. In Venus in Furs, Take A Walk on the Wild Side oder Perfect Day kann man noch heute vieles Unterschiedliches hineininterpretieren, ohne wirklich falsch zu liegen. Ein Rockkonventionen unterlaufender Vortragsstil, das ständige Changieren zwischen Singsang, Rezitation und Brabbeln, hält dabei das Publikum auf Distanz.

Und: Lou Reed scheint mir bis zum Schluss nie ganz von der Pop Art Warhol’scher Prägung losgekommen zu sein. Andy Warhol, der den Satz „Ich will eine Maschine sein“ formulierte, um das Künstliche der Kunst hervorzuheben, sie von der Abstraktion und all dem „Innerlichkeitskram“ zu befreien; Andy Warhol, der im Zeitalter der Massenmedien erkannte, dass praktisch jeder Mensch seine „15 Minuten Ruhm“ erlangen kann, wenn er nur an die Öffentlichkeit geht und sich zum Star erklärt; Andy Warhol, der mit seinen Siebdruckwerken das Verständnis von einem „Originalkunstwerk“ entwertete oder zumindest veränderte; und Andy Warhol, der mit seinen provokante „Unbewegte Kamera“-Streifen das Medium Film und seine Ausdrucksmöglichkeiten bewusst unterlief. Multimediale Variationen der reinen Oberfläche. So klingt in Lou Reeds Feedback-Album Metal Machine Music nicht nur Warhols Ausspruch „Ich will eine Maschine sein“ wider – die vier viertelstündigen Tracks wirken auch wie akustische Entsprechungen zu den Warhol-Filmen Sleep und Empire, die stundenlang einen schlafenden Mann bzw. das Empire State Building zeigen und höchstens durch einen Schnitt, eine kleine Bewegung oder wechselnde Lichtverhältnisse für so etwas wie Spannung sorgen: Analog präsentiert Reed langgezogene Gitarrenfeedbacks, quasi eingefrorene Rockmomente, die sämtliche Ausdrucksmöglichkeiten des Rock-Songwritings unterlaufen und ihre Dramaturgie, wenn es überhaupt eine gibt, einzig aus dem Oszillieren des Sounds entwickeln. Weder die Filme noch die LP muss, geschweige denn kann man durchgängig goutieren, sie müssen aber als Beleg existieren und archiviert sein.

In Lou Reeds Konzentration auf das Abgründige klingen wiederum Warhols Siebdrucke nach, die mit Variationen des Immergleichen arbeiteten und deren irritierende Motive nicht nur Konsumgüter und Glamour-Stars, sondern auch Autounfälle und elektrische Stühle beinhalteten. Auch Reed produzierte gewissermaßen Stricher-, Drogen-, Transsexuellen-Dramen in Serie, und was für Berlin (1973) galt, ließ sich auch für New York (Coney Island Baby, 1975; New York, 1989; Hudson River Wind Meditations, 2007) wiederholen, wobei die „Windmeditationen“ den Metal Machine Music-Ansatz um den etwas neueren Ambient-Music-Gedanken erweitern. Dass Lou Reed sich selbst als Star inszenierte, ist ebenso unbestritten wie sein ständiges Bemühen, diese Starrolle, die Mechanismen des Startums und die Gesetze der Medienwelt zu unterlaufen. An die Stelle des „Stars“ trat dann bei ihm zunehmend das „Ego“, dass er gnadenlos in den Vordergrund rückte. „Ich bin Künstler, und das heißt, dass ich so egoistisch sein kann, wie ich will“, wird er auf SPIEGEL Online noch einmal zitiert. Mehrmals behauptete Reed, seine Alben ergäben zusammengenommen den „Großen amerikanischen Roman“. Das wirkt einerseits wie eine tragische Selbstüberschätzung – andererseits ist es eine weitere Entsprechung zum Warhol’schen Ansatz, ein paar schillernde Nobodys aus seiner „Factory“ kurzerhand zu „Superstars“ zu erklären. Und es würde mich nicht wundern, wenn einmal eine Tagebuchnotiz offenbarte, Reed habe das Lulu-Album mit Metallica nur deshalb gemacht, weil der Titel wie sein seriell gedoppelter Vorname, sein potenziertes Ego klingt und der Bandname Metallica noch mal hübsch an sein verkanntes Frühwerk Metal Machine Music erinnert.

Natürlich hat Lou Reed einige tolle, bewegende, interessante Songs in die Welt gesetzt. Doch bei allen Feinheiten dieses Songwritings kann man boshaft in den Raum stellen, dass andere seiner Produktionen unfertig, unverständlich daherkamen und manche seiner Arbeiten für eine überkommene Kunst im alten Warhol’schen Sinne stehen, die sich immer wieder selbst reproduziert. Das Künstler-Ego scheint nur ab und zu etwas nachlegen zu müssen – das wird zwar den meisten Menschen überhaupt nicht gefallen, andererseits findet sich immer ein beflissener Fan oder Kritiker, der dem aktuellen Erguss einen Hauch von Genialität bescheinigt. Ein bisschen Rock, ein bisschen Pop-Art und Konzeptkunst, gewürzt mit einer Prise Publikumsbeschimpfung, dazu das Changieren zwischen Tiefgang und Herumwerkeln an der Oberfläche: ein interessanter Ansatz, der deutlich über das, was Durchschnittsrocker machen, hinausgeht – der aber nicht wirklich rund oder konsequent wirkt und auch vor zehn, zwanzig Jahren schon Schnee von vorgestern war. Als kreativer Eigenbrötler und Egomane, der immer wieder auch Kunst ablieferte, die man weder goutieren konnte noch musste, wirkte Reed schon länger aus der Zeit gefallen und, seien wir ehrlich, nicht nur anstrengend, sondern auch ein bisschen langweilig.

Dieser Beitrag und weitere Texte zum Thema „Songs“ auf http://faustkultur.de/ unter „Pop-Splitter“ und „What have they done to my song?“ 

 

ESC oder: Der gezähmte Song

 Weißt du, es ist Zeit, dich mal richtig gehen zu lassen. Warum lassen wir’s nicht einfach raus? Sag mir, worauf du wartest. Denn ich, ich will leben, bevor ich sterbe. Abstürzen und brennen und den Verstand verlieren. Wir können die Welt in Flammen setzen. Heut Nacht können wir glorreich sein. Wir sind jung im Herzen, und wir sind frei. Die Welt gehört uns, ich kann die Musik in mir fühlen. Glorreich, ich habe eine Liebe gefunden, die Augen nicht sehen können, bin außer mir, oh oh oh… Ich glaube, das kleine Kind in mir kann meine Bestimmung offenbaren, und eines Tages werde ich mich befreien. Die Zeit ist gekommen, wir bewegen uns mit Lichtgeschwindigkeit. Ich werde dich auf der anderen Seite treffen – jedes Mal, wenn ich die Augen schließe.

So lautet frei übersetzt der Text des deutschen Songbeitrags zum Eurovision Song Contest, Glorious von Cascada. Es ist ein Song über Lethargie, Schüchtern- und Verklemmtheit, oder? Denn befreit man die Lyrics mal von all den Klischees über Feuer, Freiheit, kindliche Unbefangenheit und Kontrollverlust, die 95 Prozent ihres Gehalts ausmachen, dann sorgen 3 Zeilen für Irritation: „And one day I’ll be breaking free“, „I’ll meet you on the other side / Every time I close my eyes.“ Ja, wir KÖNNEN mal richtig die Sau rauslassen, wir KÖNNEN glorreich sein. Aber wir WARTEN, wir tun es nicht wirklich. EINES TAGES – also nicht jetzt – werde ich mich befreien. Ich werde dich auf der anderen Seite treffen, jedes Mal, wenn ich die Augen schliesse. Die wortreich beschriebene Befreiung, die Ekstase wird auf den Sanktnimmerleinstag verschoben, sie findet lediglich in der Fantasie statt…

Ich weiß, meiner Deutung einer belanglosen Dancefloor-Nummer, die wahrscheinlich einfach nur ein bisschen jugendlichen Ausgehspaß vermitteln will,  wohnt ein gewisses Maß an boshafter Unterstellung inne. Aber in eben diesem Sinne ist Glorious von Cascada für mich ungewollt die Hymne des jüngeren ESC-Historie. Denn nirgendwo sonst geht es so offensichtlich darum, letztlich hohle, wertlose „Glorreich“-Punkte fürs eigene Land zu erringen – hohl auch deswegen, weil viele der verantwortlich zeichnenden Songwriter, die bei diesem Wettbewerb eigentlich im Zentrum stehen sollten, gar nicht aus dem Land stammen, für das sie den Beitrag geschrieben haben. Und nirgendwo wird so viel versprochen, aber nicht gehalten, so viel Glamour, so viel Freizügigkeit und Ekstase suggeriert, aber letztlich vertagt beziehungsweise familientauglich im Zaum gehalten.

Das Gezähmte der Veranstaltung offenbart sich schon in den Teilnahmebedingungen, die unter anderem besagen, dass die Songbeiträge keine politischen Botschaften enthalten dürfen. Das engt die „Relevanz“ dieses Wettbewerbs von vornherein deutlich ein und dürfte zu einem gewissen Maß an Selbstzensur bei vielen Songwritern führen, nach dem Motto: Bevor diese Textzeile falsch verstanden und mein Beitrag abgelehnt wird, schmeiß ich sie lieber raus. Liebeslieder, „Balladen“, Euphorie-Bretter und sogenannte „Novelty-Songs“, die um irgendeinen textlichen Gag oder musikalischen Gimmick kreisen, sind denn auch die beliebtesten Genres im Wettbewerb. Das Gezähmte zeigt sich weiter in der Beschränkung der Songs auf 3 Minuten Länge, was regelmäßig zu „Beschneidungen“ führt, sowie in den endlosen Vorentscheiden und Bewertungsmarathons: Sie lassen erwachsene Künstler wie Schuljungs und -mädels aussehen und sorgen dafür, dass das Publikum jedes Jahr dieselben nach vermeintlichen Erfolgsrezepten zusammenkonfektionierten Songs zu hören bekommt. Und es endet bei den teils unfassbar peinlichen Kostümen und Choreographien, die noch immer wie in einer Zeitschleife gefangen wirken, mit 70er-Jahre-Fernsehballett-Ästhetik und Eighties-Styling-Mutationen. Ein paar Paradiesvögel sind auch jedes Jahr dabei – sie wirken dann erst recht wie die gruseligen, seltenen und kuriosen Objekte, die Fürsten einst in ihren „Wunderkammern“ sammelten und zur Schau stellten. Entfesselung, Sinnlichkeit, Sex und Andersartigkeit lösen sich in bizarren Verkleidungen, kitschigen Trockeneisnebeln und merkwürdigen Verrenkungen auf, in den hysterischen Tränen der geschlauchten Sieger und im Frust der Letztplatzierten, in kühlen Länderplatzierungsstatistiken.

Das Wettstreiten liegt im Natur des Menschen, und gegen Song-Contests an sich ist nichts einzuwenden – im Grunde haben Hip-Hopper einst ihre Rivalitäten auf der Straße in diese friedliche Form der Auseinandersetzung kanalisiert. Aber ob man Kreativität derart einzwängen und zweckentfremden sollte wie beim ESC? Ich bin mir nicht sicher. Lustigerweise steht „ESC“ auf der Computertastatur für „Escape“, für „Ausstieg“. Aber das muss keine Handlungsaufforderung für den Eurovision Song Contest sein. Immerhin leisten sich die Final-Shows immer wieder spannende Ausreißer, als Ausnahmen, die die Regel bestätigen – in diesem Jahr etwa die schon betagtere Roma-Sängerin Esma Redzepova, die für Mazedonien antritt. Auch sind die Shows in den letzten Jahren so flott und humorvoll gemacht, dass man sie sich gut mal anschauen kann. Und der Cascada-Song, der einfach nur ein Genrestück und mitnichten ein Plagiat des Vorjahrssiegers Euphoria ist, erweist sich bei mehrmaligem Hören als harmonisch gar nicht mal so unfein collagiert. Weshalb es mich nicht wundern würde, wenn dieser hierzulande so gescholtene ESC-Prototyp am Ende doch auf den vorderen Plätzen landet.