Die Black-Music-Wundertüte: Janelle Monáe und ihr neues Album „The Electric Lady“

Nein, mit Electric Ladyland, dem Doppel-LP-Klassiker von Jimi Hendrix, hat The Electric Lady nichts zu tun. Und doch schafft es Janelle Monáe auf ihrem neuen Album mühelos, musikalische Bezüge zum berühmtesten schwarzen Gitarristen der Rockgeschichte herzustellen. Wenn in gefühlvolle R&B-Balladen plötzlich psychedelische Gitarrensoli einbrechen, dann klingt nicht nur Hendrix an, sondern auch Purple Rain, der 80er-Jahre-Schmachtfetzen des Black-Music-Erneuerers und Hendrix-Epigonen Prince. Dieser Prince wiederum, der sich als Künstler heute rarer und rarer macht, gehört nicht nur zu den Förderern von Janelle Monáe, sondern hat auf The Electric Lady auch einen Gastauftritt, im dramatisch-lasziv vorwärtsgroovenden Givin Them What They Love.

Zwischen Hendrix und Prince liegen 20 aufregende R&B- und Soul-Jahre, die neben Girl-Group-Pop von den Supremes und schweißtreibendem Bläser-Soul à la James Brown auch introspektives R&B-Singer-Songwriting der Marken Marvin Gaye und Stevie Wonder, den knarzenden Space-Funk von George Clinton und Funkadelic mit seiner „Move your ass and your mind will follow“-Philosophie, leichtgängigen Philly-Sound und schwüle Barry-White-Grooves hervorgebracht haben. Nach Prince wiederum, in den 1990er und 2000er Jahren, setzten Hip-Hopper wie A Tribe Called Quest, Jazz-Hopper wie Warren G oder High-Energy-Soulpopper wie Outkast neue Akzente im Black-Music-Sektor, mit teils abgedrehten, teils selbstvergessen groovenden Acts wie Erykah Badu oder D’Angelo etablierte sich das Etikett Neo-Soul. Und wie schon auf dem Vorgängeralbum The Archandroid gelingt es Janelle Monáe auch auf The Electric Lady, all diese Einflüsse zu verbinden, ohne dass irgendwelche Brüche vernehmbar wären. Dass dann auch noch eine Prise Sixties-James-Bond-Soundtrack und eine gehörige Portion Latin Grooves dazukommen, sorgt nicht etwa für endgültige Verwirrung, sondern macht – in Verbindung mit einer fantastischen Produktion und wunderbaren produktionstechnischen Gimmicks – dieses Popalbum nur noch aufregender.

Dabei wirkt vieles auf The Electric Lady im ersten Moment leichtgängig, vertraut, manchmal fast schon belanglos. Doch wenn man die Songs in voller Länge und das Album als Ganzes hört, entdeckt man die vielen überraschenden, ungewohnten Akkordwechsel – stellt man fest, wie Stücke plötzlich eine völlig andere Wendung nehmen, wie sie Klassiker anreißen und zitieren, ins Jazzige hinübergleiten, sich in Sphärenklängen auflösen oder völlig neu zusammensetzen. Auch stimmlich zieht Janelle Monáe alle Register, vom mädchenhaften Trällern über erwachsenes Croonen und beseelten Gospel-Gesang bis hin zum scharfen Rap hat sie die entscheidenden Vocal Moves drauf, und wo vielleicht noch ein Akzent fehlt, helfen Gastinterpreten wie Miguel und Solange Knowles, die kleine Schwester von Beyoncé, gerne aus.

Der gute Groove, die spannenden Vibes, die kompositorischen Finessen sind natürlich das, was den Musikliebhaber am meisten interessiert. Aber es gibt drei weitere Pluspunkte, die Janelle Monáe aus dem Gros der heutigen R&B-Künstlerinnen herausheben: das abgefahrene textliche Konzept ihrer Songs, ihr souveränes Styling und ihre tänzerische Klasse. The Electric Lady knüpft als weiteres Konzeptalbum an The Archandroid an und erzählt von einer nahen Zukunft, in der neben Menschen auch Androiden auf der Erde leben. Letztere haben die Fähigkeit, Emotionen zu adaptieren, doch sind ihnen Liebesbeziehungen zu Menschen strengstens verboten. Die Geheimorganisation The Great Divide wacht über die Einhaltung der Gesetze und wendet dabei auch Mittel wie Zeitreisen an. Eines Tages aber, so ein Mythos in diesem Universum, soll der Erzandroid kommen und die Welt befreien. Cindi Mayweather ist dieser Android, und ihm sind diverse Song-Ichs zuzuordnen. Das Ganze ist allerdings so lose und unaufdringlich konstruiert, dass viele Stücke auch als kleine R&B-Perlen für sich stehen können. Sie erzählen von großen Gefühlen, prangern aber auch soziale Missstände an, thematisieren die Gleichberechtigung der Frau oder zeugen von einer liberalen Haltung gegenüber gleichgeschlechtlicher Liebe. Etwa im Song Q.U.E.E.N., der mit eckigen Riffs und dem Slogan „The booty dont lie“ (sinngemäß: „Ein tanzender Hintern lügt nicht“) alte Funkadelic-Zeiten heraufbeschwört und Neo-Soul-Queen Erykah Badu als Gastvokalistin ein paar zusätzliche politische Statements abfeuern lässt. Die gelegentlich in die Lyrics eingestreuten Roboter- und Zeitreise-Metaphern lassen sich dabei auch ohne den narrativen Hintergrund als einfach überdrehte lyrische Bilder verstehen.

Passend zu diesem eigenwilligen inhaltlichen Ansatz verzichtet Janelle Monáe auf anbiedernde sexy Outfits. Stattdessen kleidet sie sich in strikt schwarz-weiß gehaltene Kombinationen, die mitunter – auch das sehr passend zum musikalischen Konzept – an die „Cotton Club“-Ära der 1920er und 1930er Jahre erinnern. Und wo sich andere weibliche R&B-Stars an grotesken Girl-Group-Moves, absurden Aerobic-Choreographien und – „Sex sells!“ – peinlichen aufreizenden Tabkedance-Posen versuchen, zeigt Janelle Monáe auf verdammt coole Art und Weise, wie zeitgemäße Tanzvideos auszusehen haben. Bestes Beispiel ist das Video zum schweißtreibenden Song Tightrope aus dem letzten Album, das in seiner Intensität an die wilden Swingsequenzen aus dem Filmklassiker Hellzapoppin (1941) erinnert.

Obwohl sie neben Prince auch von Hip-Hop-Guru P Diddy oder den Outkast-Jungs unterstützt wird und obwohl sie Grammy-Nominierungen vorweisen kann, ist Janelle Monáe bei uns noch relativ unbekannt. Was wirklich schade ist, denn auch mit ihrer neuen Platte hat sie ein verführerisches Popjuwel geschaffen – ein Electric Lady-Land, in das man ihr nur zu gerne folgt.

Danish Candlelight

Tja, Cascada und Deutschland, das war wohl nix beim Eurovision Song Contest in Malmö. Natürlich bleibe ich dabei, dass der ESC eine Musikveranstaltung aus einem Paralleluniversum ist und „unser“ Song Glorious etwas ESC-Prototypisches hatte, aber zwei Wettbewerbe hintereinander dieselbe „Euphoric Dancefloor“-Formel, das hat am Ende doch nicht funktioniert. So wie es seinerzeit ein Irrglaube war, Europa zwei Mal hintereinander Lena Meyer-Landrut verkaufen zu können.

Gewonnen hat statt Cascada Emmelie de Forest, und die zog mit Only Teardrops geschickt eine andere ESC-Erfolgskarte, ich nenne es mal die „Melancholischer Folkpop im foxtrottigen Wiegerhythmus“-Karte. Mit der hatte beispielsweise 2009 schon Alexander Rybak den Sieg eingefahren: Sein Song damals hieß Fairytale und machte Norwegen glücklich.

Emmelie de Forest startete  für Dänemark, und das ist der eigentliche Grund für diesen kleinen Blogeintrag. Denn aus Dänemark kamen in den letzten Jahren gleich mehrere Bands, die in träumerischen und bisweilen abgründigen Rocksongs das Schwelgerische, Melancholische kultivieren. Steht Emmelie de Forest für die gezähmte, ESC-kompatible Light-Variante dieser wohligen Traurigkeit, sorgen Kashmir, Efterklang, I Got You On Tape oder Lars and The Hand of Light mit ihren freien Kompositionen für schillernde originäre Versionen.

Auf I Got You On Tape und Lars and the Hands of Light – schon die Bandnamen sind von bizarrer Schönheit – hat mich mein Freund Uwe aufmerksam gemacht. Erstere werden von der Fachpresse für ihre grüblerischen düsteren Hymnen gelobt, Sänger Jacob Bellens hat eine schöne, volle Stimme mit hohem Wiedererkennungswert. I Got You On Tape bevorzugen langsamere Songs, in Church of the Real, dem starken Titelsong ihres aktuellen Albums, ziehen sie das Tempo ein klein wenig an.

Lars and the Hands of Light zelebrieren die verspieltere, leichtfüßigere Variante der spezifisch dänischen Songmelancholie. Ihre Markenzeichen sind neben überraschenden Harmonie- und Stimmungswechseln die Gesangsstimmen von Jeppe Ostergaard und Lars Vognstrup. Das gilt auch für den Song End of Summer aus dem neuen Album Baby, We Could Die Tomorrow.

Versponnener, teils experimenteller kommen Efterklang daher. Im September 2012 erschien ihr aktuelles Album Piramida, für das die Band zunächst im Studio die Basic Tracks aufnahm. Diese wurden anschließend durch Sound-Aufnahmen in einer verlassenen russischen Bergarbeiterstadt in der Arktis ergänzt. Ein Youtube-Trailer gibt einen kurzen Einblick in die Vor-Ort-Aufnahmen und fängt etwas von der geisterhaften Stimmung des Albums ein.

Kashmir sind schon recht lange im Geschäft und klangen früher etwas rockiger, auf dem neuen Album E.A.R. dagegen driften sie gelegentlich ins Sphärische ab, wie der Youtube-Live-Mitschnitt des Songs Milk for the Blackhearted zeigt.

Wirklich kreativ, diese Dänen!

Frühlingsgefühle

Die Stimmung steigt, die Natur explodiert, und beim einen oder der anderen spielen die Hormone verrückt. Klarer Fall: Es wird Frühling! Der Sommer wirft seine Schatten voraus und lässt Blogger im Überschwang der Gefühle zu den abgedroschensten Phrasen greifen. Egal – Wald, Wiesen und der Garten rufen, die Sonne will genossen, die Blumenpracht gegossen, das Gemüse gepflanzt werden.

Gibt es eigentlich Frühlings-, Sommer-, Garten- und Pflanzensongs? Na klar gibt es die, und zwar in Hülle und Fülle. Man denke nur an Summer Wine, Boys of Summer, Suddenly It’s Spring, Octopus‘ Garden, In-A-Gadda-Da-Vida, Every Rose Has Its Thorn

Weil man endlich wieder keine Jacke mehr braucht und weil’s einfach Spaß macht, hier noch ein paar weitere Songbeispiele, mal mehr, mal weniger offensichtlich. Los geht’s mit dem amerikanischen Kinderlied The Garden Song, sehr nett in der Version von Country-Onkel John Denver. Zum Hingucker wird das Ganze, weil Mr. Denver – angekündigt als „one of the good guys in contemporary music“ – in der „Muppets Show“ gastiert:

Wer es etwas skurriler mag, schaut sich diesen schratigen Gitarren-Freak im Sonnenblumenmeer an – der Sunflower Song, ein kleines Instrumental- und Video-Juwel. Ganz am Ende singt er dann doch noch und begrüßt die Sonne:

Auch nicht schlecht: Der King of Rock’n’Roll, Elvis Presley, mit Spring Fever, hier in einer Szene aus dem Musikfilm Girl Happy. Nett: eine Gruppe autofahrender Jungs und drei autofahrende Mädels im Schnitt-Gegenschnitt-Verfahren. Alle sind im Frühlingsfieber – aber kriegen sie sich auch?

Dass man auch als sogenannter Diskursrocker Spaß an Gartenarbeit haben kann, unterstrichen Blumfeld einst mit Der Apfelmann – zur komletten Verwirrung zahlreicher Kritiker und Fans. „Ein Happysong für die dunklen Tage“, wie Herr Distelmeyer hier auf der Livebühne behauptet? Oder einfach nur die totale Verarschung?

Wieder in normalere Gefilde geht es mit dem Summer Dream von Electric Light Orchestra, auch das eine Liveversion. Immer noch ein toller Song:

Und wenn wir schon beim Sommer sind, dann darf ein aktuellerer Gassenhauer nicht fehlen: Summertime Sadness von Lana del Rey. Ok, die anfänglichen Hoffnungen der Hipstergemeinde hat die junge Amerikanerin längst enttäuscht, nicht zuletzt weil sie für Edelmarken modelt und Songs zu Autowerbespots beisteuert… Aber geht Summertime Sadness nicht trotzdem unter die Haut?

Morbide Sommergefühle wurden auch schon mit typisch britischem Touch besungen, und zwar von den Eurythmics. English Summer hießt der Titel, zu finden auf der kaum bekannten, aber wirklich starken ersten Eurythmics-LP In the Garden. Wiederntdecken lohnt sich. Das offizielle Video zu English Summer ist nicht verfügbar, aber es gibt zumindest den Song bei Youtube:

Zurück zum Frühling – hier kommt die letztes Jahr verstorbene Donna Summer(!) mit Spring Affair, einer Frühlingsliebe im Discogewand. Auch dieses Video ist nicht verfügbar, aber reinhören kann man unter:

Der Vater und die Mutter aller Gärten ist natürlich der Garten Eden – und den sollten wir weder durch Krieg noch Umweltverschmutzung zerstören, finden die New Riders of the Purple Sage. Recht haben sie ja… Garden of Eden findet sich bei Youtube als Liveversion mit zu vernachlässigendem Gesang, aber einer tollen Steel Guitar:

Gerne würde ich den Magic Garden von Dusty Springfield, Watch the Flowers Grow von den Four Seasons oder Kew Gardens von Ralph McTell anspielen, aber dazu findet sich kaum etwas Anschauliches auf den Videoportalen. Stattdessen stößt man auf Exzentriker wie Blixa Bargeld, der einst mit den Einstürzenden Neubauten ebenfalls einen Gartensong einspielte. Wer hätte das gedacht? Wichige Textzeile, frei übersetzt: Du findest mich im Garten, wenn es nicht in Strömen regent. Ah ja…  Interessant, aber sicher nicht jedermanns Geschmack:

Das ließe sich endlos fortführen, muss aber nicht sein. Deshalb zum Schluss drei Songs außer Konkurrenz: Robert PLANT(!), Big Log (wunderschöne Stimmung), Boomerang von BLÜMCHEN(!) – hier schließt sich der Kreis zur Autoszene mit Elvis Presley – und Rose GARDEN(!) von Lynn Anderson: gruselige US-TV-Ästhetik aus der Steinzeit. Aber Lynn hat uns ja schließlich auch keinen Rosengarten versprochen…

Birdy gibt den Cherry Ghost

Läuft zurzeit immer öfter im Radio: People Help The People, ein wunderschöner Schmachtfetzen, gesungen von der Britin Birdy, die im Mai gerade mal 17 wird.

Birdy steht für Coverversionen von Songs nicht ganz so offensichtlicher Künstler. Während andere aufstrebende Stars gerne irgendwelche Welthits neu verwursten, um auf sich aufmerksam zu machen, wählt Birdy – Hut ab! – bevorzugt In- und Kenner-Material für ihre Single-Veröffentlichungen aus. So hatte sie ihre ersten großen Erfolge mit Songs von Bon Iver (Skinny Love) und The xx (Shelter). Auch People Help The People stammt nicht von Birdy selbst, sondern von der wunderbaren britischen Band Cherry Ghost, für die ich neulich schon mal in diesem Blog geschwärmt hatte.

Die Lyrics wirken auf den ersten Blick recht simpel, erweisen sich aber bei genauerem Hinhören als ganz schön vertrackt. Sicher liegt man nicht falsch, wenn man im hymnischen Refrain die einfache, klare Kernaussage vernimmt: Menschen sollten einander helfen. „People help the people / And if you’re homesick, give me your hand and I’ll hold it / People help the people / And nothing will drag you down.“ Zu Deutsch: „Menschen helfen den Menschen (oder: Menschen, helft den Menschen!) / Und wenn du Heimweh hast, gib mir deine Hand, und ich werde sie halten. / Wenn Menschen den Menschen helfen, / wird nichts dich runterziehen…“

In den Strophen aber werden lauter Menschen angesprochen, die verschlossen oder von inneren Dämonen getrieben sind, die etwas für sich behalten, sich zudröhnen und andere Menschen verletzen – sowie Menschen, die von anderen Menschen enttäuscht werden. So heißt es in der ersten Strophe ziemlich bilderreich: „God knows what is hiding in that weak and drunken heart / I guess you kissed the girls and made them cry / Those hard-faced queens of misadventure“, und: „God knows what is hiding in those weak and sunken eyes / A fiery throng of muted angels giving love and getting nothing back.“ Also: „Weiß Gott, was sich in diesem schwachen, trunkenen Herz verbirgt… / Ich schätze, du hast die Mädchen geküsst und sie unglücklich gemacht, / diese Königinnen des Missgeschicks mit den steinernen Gesichtszügen. / Weiß Gott, was sich in diesen (deren?) schwachen, eingefallenen Augen verbirgt… / Ein flammendes Gedränge stummer Engel, die Liebe geben und nichts zurückbekommen…“

Bezeichnend sind auch die den Refrain abschliependen widersprüchlichen Verse: „Oh, and if I had a brain I’d be cold as a stone and rich as the fool / That turned all those good hearts away…“ – „Oh, und hätte ich ein Hirn, dann wäre ich einfach kalt wie Stein und so reich wie der Dummkopf, der all diese guten Herzen weggeschickt hat…“ Das klingt, als sei es womöglich schlauer, eiskalt durchs Leben zu gehen und nur nichts an sich heranzulassen, um ja keine Verletzungen zu erleiden – und gleichzeitig wird diese Haltung als letztlich „dumm“ charakterisiert. Auch im weiteren Verlauf des Songs geht es um dunkle Dinge, die sich hinter Tränen und in Lebenslügen verbergen, um die Einsamkeit, die die Menschen umschlosse hält.

Ein existenzialistisches Statement? Der Einzelne hilflos zurückgeworfen auf sich selbst und seine Abgründe, obwohl er doch in komplexen Beziehungen mit vielen anderen Menschen lebt? Ein solches Statement kann man ebenso heraushören wie den einfachen Appell an Aufrichtigkeit, Mitmenschlichkeit, Empathie. Vertrackt wirkt der Songtext, weil nicht immer klar ist, auf wen sich was bezieht – etwa das flammende Gedränge stummer Engel in der ersten Strophe – und weil sich das Song-Ich nur schwer festmachen, kaum identifizieren lässt. Über weite Strecken scheint der Sprecher von außen auf die Welt und das deprimierende Mit- bzw. Gegeneinander der Menschen zu blicken. Ist er wirklich in der Lage, zu helfen, eine Hand zu reichen, wenn es jemandem schlecht geht?

Aber vielleicht haben wir es hier auch gar nicht mit einem durchgehenden Ich-Sprecher zu tun, der seine Gedanken über die Welt und die Menschen äußert, sondern nur mit als O-Tönen in Ichform wiedergegebenen Haltungen einzelner Menschen. Oder mit möglichen Haltungen. „Wie schön wäre es, wenn die Menschen einander helfen würden“, mag sich mancher denken, „wenn du Heimweh oder andere Schwierigkeiten hättest, dann würde ich dir einfach meine Hand hinhalten.“ Während sich jemand anders vielleicht sagt: „Könnte ich doch nur gefühl- und herzlos sein, dann hätte ich weniger Probleme, so dumm das auch wäre.“ „No one needs to be alone, oh, save me“, heißt es an einer anderen Stelle, also: „Niemand muss einsam sein, oh, außer mir“, worin sich wiederum eine weitverbreitete Haltung des Selbstmitleids andeuten könnte.

Ob Montage von Haltungen und Beobachtungen oder Gedankengang eines einheitlichen Ich-Sprechers – People Help The People ist auf jeden Fall ein Song, über den man herzhaft nachdenken kann. Und den man sich unbedingt auch im (natürlich tausend Mal besseren) Original von Cherry Ghost anhören sollte!

Wo sind Sie, Herr Bowie?

Wow, ein neuer Berlin-Song von David Bowie, der Altmeister erinnert sich an die Zeit Ende der 70er Jahre, als er in der geteilten Stadt lebte und ein paar bahnbrechende Alben einspielte. So heißt es gern in den euphorischen Kritiken zu Bowies aktuellem Hit Where Are We Now?, den er pünktlich zu seinem 66. Geburtstag als Vorgeschmack auf die neue Lang-CD The Next Day veröffentlichte.

Kurz: Es ist wirklich ein wunderschöner Song, der vor allem die Fans des „alten“ Bowie der 70er und 80er Jahre ansprechen dürfte. Aber was die Zeitebenen und autobiografische Momente betrifft, stellt sich die Sache für mich etwas anders dar. Strophen, Refrain und Sprachbilder sind überraschend simpel gehalten und reihen ein paar bekannte Berliner Locations aneinander, unterbrochen von ein paar mal mehr, mal weniger kryptischen Gedanken: „Had to get the train from Potsdamer Platz / You never knew that… that I could do that / Just walking the dead“, heißt es in der ersten Strophe und:  „Sitting in the Dschungel on Nürnberger Straße / A man lost in time near KaDeWe / Just walking the dead.“ Das heißt frei übersetzt etwa: „Ich musste den Zug vom Potsdamer Platz kriegen / Du hättest nicht gedacht, dass ich das… dass ich das jemals tun könnte. / Die Toten begleiten. / Ich sitze im ‚Dschungel’ in der Nürnberger Straße / Ein Mann verschollen in der Zeit um die Ecke vom KaDeWe.“

Wenn man den Zug vom Potsdamer Platz nehmen, also etwas tun kann, was lange nicht für möglich gehalten wurde, dann scheint das Song-Ich über die Zeit des Mauerfalls zu sprechen – also über den Zeitpunkt 1989/90, als man plötzlich von Ost nach West fahren konnte, und umgekehrt. 70er Jahre? Keine Spur. Dieser Eindruck verstärkt sich in der zweiten Strophe, in der es heißt: „Twenty thousand people cross Bösebrücke / Fingers are crossed just in case / Walking the dead“, also: „20.000 Menschen überqueren die Bösebrücke / Sie drücken die Daumen, nur für den Fall, dass… / Die Toten begleiten.“ Die Bösebrücke war der erste Grenzübergang nach dem Mauerfall – die Menschen, die nun herüberströmen, können es noch nicht glauben. Der Mauerfall war ein kaum fassbares weltgeschichtliches Großereignis, was indirekt der Refrain unterstreicht: „Where are we now? / Where are we now? / The moment you know you know you know“, frei übersetzt etwa: „Wo stehen wir jetzt? / Wo stehen wir jetzt? / In dem Moment, in dem du es weißt, weißt du, dass du es weißt.“ Für mich kommt hier das Gefühl zum Ausdruck, dass man im Moment des Erlebens oft nicht begreift, dass man Zeuge eines Ereignisses ist, das die Welt verändern wird. Es dauert eine Weile, bis man realisiert hat, dass nichts mehr ist, wie es vorher war. Und auch wo man „heute“ steht, muss man immer wieder neu ergründen.

Nimmt man diese knappen Aussagen, dann ergibt sich das Bild eines Song-Ichs, das zeitlich entweder in den Jahren 1989/90 verankert ist oder sich aus der heutigen Zeit an damals zurückerinnert. Der Einwurf „A man lost in time“ unterstützt die letztere Vermutung, und dazu passt auch der Refrain: Damals, Mauerfall – und wo stehen wir heute? Was ist nur inzwischen wieder alles passiert? Die wehmütige Stimmung und der langsame, getragene Rhythmus vermitteln den Eindruck, dass sich die Welt unaufhörlich dreht, dass immer wieder Neues passiert, dass man nichts davon wirklich kontrollieren kann. Das Einzige, was man tun kann, ist zu leben und sich mitzudrehen. Fast folgerichtig steigert sich der Song zum Ende hin in die Aufzählung und inständige Wiederholung von wenigen simplen, aber unumstößlichen Gewissheiten, an die man sich klammern kann: „As long as there’s sun / As long as there’s sun / As long as there’s rain / As long as there’s rain / As long as there’s fire / As long as there’s fire / As long as there’s me / As long as there’s you.“ Sonne, Regen, Feuer, du und ich, das ist alles, was zählt im Leben, so scheint der Sprecher sich selbst zu trösten. Man existiert, man liebt, und mehr kann man in dieser verrückten Welt nicht verlangen.

Das sind für mich die Kernaussagen von Where Are We Now?. Ein einfaches Lied über den Lauf der Zeit, die Unberechenbarkeit des Lebens – und über die Liebe als Anker. Von den 70er Jahren und Bowies eigenen Erlebnissen klingt im Text überhaupt nichts explizit an. Das Song-Ich kann während des Mauerfalls kurz in Berlin gewesen sein oder schon immer dort gelebt haben, es kann aber auch lediglich aus der Ferne – über die Nachrichten, am heimischen Fernseher – Zeuge der damaligen Ereignisse gewesen sein. Und doch liegen die Rezensenten nicht falsch, die behaupten, es gehe auch um Bowies eigene Vergangenheit. Hier zeigt sich die Macht der nichtsprachlichen, außertextlichen Elemente, die einen Songtext mit zusätzlicher Bedeutung füllen können.

Denn wenn man sich ein bisschen für Rockmusik interessiert und vor allem wenn man Bowie-Fan ist, weiß man, dass in Berlin Ende der 70er Jahre die Alben Low und Heroes entstanden. Man weiß, wie diese Alben klingen, und Where Are We Now? greift deutlich den Sound und die Stimmung einiger Tracks von damals auf. Low revisited und Heroes in Zeitlupe, das waren meine ersten Höreindrücke.

Und dann ist auch nachzuvollziehen, dass im Text der „Dschungel“ erwähnt wird, jene legendäre Disco, in der sich Ende der 70er Jahre die schillerndsten Rockstars tummelten, natürlich auch Bowie. Zur Zeit des Mauerfalls war der „Dschungel“ allerdings zum Technoschuppen mutiert, und wenn man die Verse „Sitting in the Dschungel“, „A man lost in time“ und „Where are we now?“ zusammendenkt, dann kann man sich hinter dem eigentlich nur wenige persönliche Züge aufweisenden Song-Ich plötzlich auch einen David Bowie vorstellen, der sich um 1989/90 irritiert an das szenige Berlin der 70er Jahre zurückerinnert. À la: Mein Gott, nur zehn Jahre ist das her, wie hat sich alles verändert?! „Ein Mann verschollen in der Zeit“ weckt dann durchaus noch weitere Assoziationen: Lässt hier nicht auch Major Tom noch grüßen, jener Held aus den Bowie-Songs A Space Oddity und Ashes to Ashes, der einst auf einem fernen Planeten strandete?

Was genau mit „Walking the dead“ gemeint ist, bleibt unklar. Es könnten bei Fluchtversuchen aus der DDR getötete Menschen sein, aber auch ganz allgemein die Geister der Vergangenheit – und, durch die „Autobiografie-Brille“ betrachtet, auch die Geister aus Bowies Vergangenheit. Vielleicht seine längst abgelegten Show-Ichs, von Aladdin Sane bis zum Thin White Duke? „Walking the dog“ heißt „den Hund ausführen“, „Gassi gehen“. Führt hier jemand in Gedanken noch mal seine früheren Persönlichkeiten als Verstorbene spazieren?

Ein bisschen „namedropping“, der Sound der späten 70er, das Spiel mit autobiografischen Schnipseln und Protagonisten aus früheren Songs – es ist schon erstaunlich, mit wie einfachen Mitteln Bowie in Where Are We Now? die unterschiedlichsten Bedeutungsebenen „antriggert“. Was man als Hörer daraus macht, bleibt jedem selbst überlassen. Man kann das Stück als wehmütigen Schmachtfetzen genießen, sich selbst ins Song-Ich hineinversetzen und ein Feuerzeug schwenken, man kann die Rückschau eines in die Jahre gekommenen Künstlers heraushören, und man kann, wenn man will, auch ein augenzwinkerndes Eigenlob hineininterpretieren. Denn die Verknüpfung des Mauerfalls mit musikalischen Anspielungen auf eine der kreativsten Bowie-Phasen unterstreicht die rockhistorische Bedeutung des Altstars und seines Oevres, auch wenn ein Bewusstsein davon anklingt, wie sehr sich die Welt und die Musik seit Low und Heroes tatsächlich verändert haben. Gleichzeitig weist das Stück in die Zukunft: Denn nach langer schöpferischer Pause ruft Bowie mit seinen 66 Jahren in die Welt hinaus: „Hey, ich bin noch da, ich will’s noch mal wissen!“ Ob er selbst, der mit bürgerlichem Namen David Jones heißt, um die Zeit des Mauerfalls tatsächlich in Berlin war oder die Ereignisse nur aus der Ferne verfolgt hat, ist, nebenbei bemerkt, gänzlich unerheblich. Das Ich des Songs ist ein höchst stilisierter Sprecher, und der Song macht Angebote auf mehreren Ebenen.

Künstlichkeit und Stilisierung, diese Bowie-Konstanten kommen im Video zu Where Are We Now? noch offensichtlicher zum Tragen. Inmitten einer Rumpelkammer oder eines Ateliers mit vielen sonderbaren Objekten steht eine Leinwand, auf die Filme projiziert werden, davor ein Tisch, darauf ein Holzblock, auf dem zwei Stoffpuppen mit ausgeschnittenen Gesichtern sitzen. Bowie und eine Frau (laut Bowie-Website Jacqueline Humphries, die Frau des Regisseurs Tony Oursler) halten lediglich ihre Gesichter in die Schablonen, wie man erst am Schluss des Videos wirklich erkennt. Im selben Moment merkt man auch, dass Tisch, Puppen und Künstler tricktechnisch einmontiert sein müssen – denn Bowie und Begleiterin sind nicht mehr im Raum zu sehen. Es ist ein irreales Atelier, ein künstlicher Raum, mit dem gespielt wird – genauso wie Bowie hinter dem vordergründigen Zu-Tränen-rühr-Song den altersweisen „Grandseigneur“ gibt, dazu mit seinem früheren Image, mit geografischen Bezügen, mit alten Songmotiven spielt. Mehrere Ebenen „bildbildlich“ also auch im Video. Vieles anreißen, Spekulationen anheizen, Masken aufsetzen, aber letztlich nichts preisgeben, same procedure as every decade. Einfachste Mittel, große Wirkung – schon clever, dieser Bowie!