B-Seiten-Perle aus den Sechzigern: Gilbert Bécaud, „L’Orange“

Zu den schönsten Alltagserlebnissen gehört es, einen Song zu entdecken und zu erschließen – egal, ob es sich um einen simplen Hit aus dem Frühstücksradio oder um ein komplexes Stück Musik handelt. Da ist das Aufhorchen beim oft zufälligen ersten Hören; das Nachforschen, um welches Stück von wem es sich handelt; das Einholen von Informationen über die Künstler; das tagelange Immer-Wieder-Hören und Vor-sich-hin-Summen; und schließlich die Ablage im imaginären Archiv der Lieblingslieder, das langsam, aber stetig wächst und aus dem man den Song noch in Jahren und Jahrzehnten ab und zu hervorkramen wird.

Ein schwererer Krankheitsfall in der Familie. Man hilft ein wenig, bringt die Wohnung in Ordnung. Und stößt auf einen kleinen Stapel alter Schallplatten. Der Gedanke: Wäre es nicht schön, der Kranken, einer älteren Dame, ihre Lieblingslieder digital zur Verfügung zu stellen, zum Beispiel auf einem iPod? Also werden USB-Plattenspieler und PC angeworfen, um das alte Zeugs in MP3-Pakete umzuwandeln. Schon toll, was sich da alles findet: Single-Platten mit je vier Stücken von Jazzern wie Miles Davis und Gerry Mulligan, seichter Schlagerkram und jede Menge französischer Chansons. Die alte Dame ist sehr frankophil, und so stößt man unweigerlich auf Gilbert Bécauds Mittsechzigerhit Nathalie! Ja, das kennt man auch aus dem eigenen Elternhaus, „Monsieur 100.000 Volt“ war zu dieser Zeit in ganz Europa beliebt.

Aber was ist das da für ein schräger Song auf der B-Seite? Heißt L’Orange, swingt ungemein, Hit the Road Jack lässt grüßen, setzt sich mit zwei, drei wenigen Akkorden sofort im Gedächtnis fest, hat aber auch etwas merkwürdig Hysterisches, unterschwellig Bedrohliches. Schon der Titel ist sehr ungewöhnlich: Geht es um die Farbe Orange oder um eine Apfelsine? Also aktiviert man die rudimentärsten Französischkenntnisse und durchforstet, während der Song immer wieder läuft, das Internet – auf der Suche nach den Lyrics und einer Übersetzung. Auf Deutsch findet sich erst mal nichts, aber auf Dänisch gibt’s die Textzeilen nachzulesen. So bekommt man eine erste Vorstellung. Da soll einer auf dem Markt eine Apfelsine gestohlen haben. Er wird von einer Menge massivst beschuldigt, doch er beteuert, dass er es nicht getan habe. Er komme von weit her, aus der schönen Natur, und habe mit Orangen nichts am Hut. Doch die Menge, hörbar gemacht durch den fordernden Chor und schrille Frauenstimmen, lässt nicht locker. Auf Yotube findet sich ein Video, in dem Monsieur Bécaud nur allein zu sehen ist. Aber er fühlt sich verfolgt und bedroht, am Ende bricht er vor Angst zusammen.

Dann eine weitere Entdeckung, die den ersten Eindruck bestätigt. Dietmar Schönherr, Deutschlands anspruchsvollster und politischster Showmaster der Sechziger- und Siebzigerjahre, hat den Song auf Deutsch gecovert. Titel: Der Orangendieb. Gesanglich eher weniger intensiv, inhaltlich umso mehr. Ein echter Exot im deutschen Schlagerkontext. Es scheint um Ausgrenzung und Gruppendruck, letztlich um Gewalt gegen Andersaussehende zu gehen. Ein Fremder, der in die Stadt kommt, wird beschuldigt einen Diebstahl begangen zu haben. Er beteuert seine Unschuld, aber niemand glaubt ihm. Wird ihn die Menge lynchen? Der Youtube-User, der den Song eingestellt hat, packt am Ende das Bild eines Galgens dazu. Als Hörer ist man auf der Seite des Verfolgten. Ein irritierender Song, der es derart in sich hat, dass er sogar in einer Internetliste von Antikriegsliedern auftaucht. Und der Monsieur 100.000 Volt für mich in neuem Licht erscheinen lässt. Der Schnulzensänger, für den ich ihn als Jugendlicher hielt, hatte ganz offensichtlich mehr drauf – zu bewundern auch in einer mitreißenden Liveaufnahme des Songs.

Seltsam, dass ich L’Orange ausgerechnet in einer Zeit entdecke, in der die kleingeistigen AfD’s Pegidas und Donald Trumps dieser Welt mit miesesten Sprüchen gegen schutzsuchende Flüchtlinge und Asylbewerber, gegen alles Fremde, wettern.

Können Kraftwerk-Fans Arschlöcher sein?

Gedanken zum Kraftwerk-Konzert in der Jahrhunderthalle, 1.12.2015

RundfunkIch bin mir sicher: Würden Kraftwerk mal wieder ein Album mit neuen Stücken veröffentlichen, es stünde binnen weniger Tage in vielen Charts der Welt auf Platz eins. Aber Ralf Hütter & Co denken gar nicht daran, uns mit neuer Musik zu überraschen. Vielmehr zelebrieren sie ihre berühmten Werke, die längst zu museumsreifen Klassikern des modernen audio-visuellen Designs geworden sind, in immer neuen Verpackungen. Und so geht man zum Kraftwerk-Konzert wie in eine Botticelli-Ausstellung, auf eine Finissage oder zu einem Christo-Event: Man weiß in etwa, was einen erwartet, und freut sich auf die im wahrsten Wortsinn gut abgehangenen Ausstellungsstücke – aber spannend ist die Art und Weise der Präsentation.

UFOWas die aktuelle Tour der Düsseldorfer Elektronikpioniere so aufregend macht, ist das schicke 3-D-Konzept, das dem Ausstellungs- und Konzertevent den zusätzlichen Charakter einer Kinovorführung verleiht. Am Eingang bekommt man 3-D-Brillen aus Pappe, durch die man die riesigen Bewegtbildprojektionen im Rücken der Künstler ungemein plastisch und räumlich erlebt. Da schweben nicht nur Raumschiffe und Satelliten, sondern auch Zahlen, Musiknoten, Buchstaben und Schrifttafeln durch den Saal, und manchmal meint man, förmlich in die virtuellen Szenerien einzutauchen.

MachineDas alles passt zum Anti-Rockstar-Konzept, das die vier Kraftwerker unbeirrt umsetzen, indem sie die vollen zweieinhalb Performance-Stunden (inklusive Zugaben) stoisch konzentriert hinter ihren Konsolen stehen und das auf den Weg bringen, was die Besucher verlangen: geschmackvoll designte Sounds und auf den Punkt reduzierte Melodien, die seltsam berühren – getragen von treibenden Bassequenzen und Magengruben-Beats, eingebettet in ebenso kühle wie farbenfrohe Visuals, die zu keinem Zeitpunkt kitschig oder gar peinlich anmuten und die man sich nur so und keinen Deut anders vorstellen kann. Kraftwerk ist Kunst gewordene Konsequenz, ästhetische Selbstbeherrschung auf höchstem Niveau. Das leicht im Takt wippende Bein des zweiten Musikers von rechts kann da fast schon den Gesamteindruck stören.

HütterAlle vier Kraftwerk-Mitglieder tragen Einheitsanzüge mit reflektierendem Gittermuster – am Ende lassen sie sich einen Track lang sogar durch Roboterpuppen ersetzen. Weil die Aufmerksamkeit weg vom exzentrisch-egomanischen Künstler und ganz auf das Werk gelenkt wird, erwartet man auch keine großen persönlichen Ansprachen von der Bühne herunter. Eine knarzende Computerstimme, die zur Begrüßung die Worte „Meine Damen und Herren, Ladies and Gentlemen“ zerhackt, und ein verhuschtes „Auf Wiedersehen“ von Ober-Kraftwerker Ralf Hütter am Ende des Konzerts – mehr braucht es nicht an Nettigkeiten zwischen Band und Publikum. Das atemlos-ekstatisch hervorgestoßene „Hallo Frankfurt!“ würde man Kraftwerk ohnehin nicht abnehmen, zumal dabei schon so mancher Star dank Tourstress und Lagerkoller den falschen Städtenamen in die Menge gebrüllt hat. Wozu eine Nähe vorgaukeln, von der jeder im Saal ahnt, dass es sie gar nicht gibt?

AutobahnUnd weil es bei Kraftwerk so ist, wie es ist, schüttelt man sich als Fan auch nicht in Ekstase wie bei einem Konzert von dEUS, Imelda May oder den Rolling Stones. Wirklich still stehen kann man angesichts der mitreißenden Rhythmen zwar nicht, aber man passt sich der Ruhe der Künstler und dem Fluss der Klänge und Bilder an. Der Bandname ist Programm – oft geht es um die Umsetzung von Kraft in Bewegung: Muskelkraft treibt Fahrräder an, Maschinenkraft bringt Autos und Züge in Fahrt, geistige Kraft, man könnte auch Kreativität sagen, verbindet Bilder, Sprache und Musik zu anregenden Kunstwerken. Titel wie Tour de France, Autobahn, Trans Europa Express, Mensch-Maschine oder Music Non Stop sprechen für sich. Die angestrebte Bewegung ist kontrolliert, sie verläuft stetig und gleichmäßig, kennt kaum Aufs und Abs, kein hektisches Hin und Her. Auch hier ist der Weg das Ziel.

Tour de FranceUnd so verfällt man als Konzertbesucher automatisch in ein kontrolliertes leichtes Grooven, das einen bei aller Selbstvergessenheit doch auch die schönen Erscheinungen und simplen kleinen Botschaften am Wegesrand aufnehmen lässt. Von Sehnsüchten ist da leise die Rede, etwa wenn es um das gut aussehende Model oder um Computerliebe geht, von Musik als Ideenträger und sogar von der zerstörerischen Kraft der Atomenergie, von Radioaktivität. Wer hier vor Jahren mal ein Wortspiel um lebendigen Rundfunk zu verstehen glaubte, wird längst durch Begriffe wie Hiroshima, Tschernobyl und Fukushima eines Besseren belehrt. So sind sie, die Kraftwerker: Statt leidenschaftlicher Argumentationen und bizarrer Bilder reichen ihnen ein paar lose kombinierte Einzelwörter. Und ein feiner Sphärenklang, ein verspieltes Zirpen zur rechten Zeit. Etwas Kindlich-Naives, gepaat mit leiser Wehmut, prägt nicht wenige Kraftwerk-Tracks.

ModelWo Liebe anklingt, wo es nicht um das menschliche Ego geht und wo bei aller Begeisterung für die Errungenschaften der Technik auch ein Bewusstsein für die Schönheit unserer Welt durchscheint, da sollten doch eigentlich nur liebe, friedliche Zeitgenossen zusamennkommen, möchte man meinen. Oder, als Frage formuliert: Können Kraftwerk-Fans überhaupt Arschlöcher sein? Die einfache Antwort lautet: Aber natürlich können Kraftwerk-Fans Arschlöcher sein! So wie wilde Rockmusik, die Friede, Freiheit und Bewusstseinserweiterung propagierte, nicht zwangsläufig nur edle Menschen angezogen, geschweige denn hervorgebracht hat, so tummeln sich auch im Kraftwerk-Universum echte Idioten. Nachdem sich eine Stunde lang Tausende Fans ihre Stehplätze gesucht und dabei freundlich miteinander arrangiert haben, schieben sich kurz vor Showbeginn drei junge Männer durchs immer dichter stehende Publikum. Direkt neben uns kommen sie nicht mehr weiter, was dazu führt, dass sich der erste und größte der drei direkt vor einer kleinen Frau mittleren Alters postiert. Die hat nun plötzlich in nur 20 cm Entfernung ein breites orangefarbenes Sweat-Shirt vor sich. Die Frau gehört zu einer Gruppe aus drei Paaren, die sich vorsichtig zu beschweren versuchen. Doch der Lange, eine Mischung aus Streberstudent und Yuppie, schaut unbeteiligt um sich – tut so, als wäre er nicht gemeint. Und als die Vogel-Strauß-Taktik nicht mehr hilft, weil sich immer mehr Umstehende einschalten, zuckt er linkisch mit den Schultern und sagt: „Ich hab mir genauso eine Konzertkarte gekauft wie Sie.“ Woraufhin sich zwei Herren aus der Gruppe ganz dicht vor und ganz dicht hinter den Langen stellen, um ihm ein Gefühl für die Sauerei zu vermitteln, die er gerade abzieht. Doch der so Bedrängte durchschaut das Manöver und sagt unbeteiligt: „Das ist völlig okay für mich.“ Er lässt einfach alles an sich abperlen. Bis es dem einen Herrn aus der Gruppe zu blöd wird und er wieder beiseite tritt. Die Sache ist entschieden: Der Lange hat sich durchgesetzt. Und was macht die in ihrer Sicht behinderte Frau? Weist alle Angebote anderer Besucher, zu ihnen zu kommen, um besser sehen zu können, zurück und bleibt tapfer hinter dem Langen stehen – nicht ohne weiter vor sich hin zu schimpfen.

Ein Musterbeispiel dafür, wie ein ignoranter Egoist einer ganzen Gruppe seinen Willen aufzwingt – und wie sich die Gruppenmitglieder masochistisch selbst zerfleischen. Wie umgehen mit dem Tyrannen: Konsequent Druck ausüben oder gar Gewalt? Immerhin haben die Begleiter des Langen Skrupel bekommen und sich woanders platziert. Und bevor sich die Lage abschließend klären lässt, beginnt die Show: Jetzt zählt nur noch eine andere Art von Konsequenz: die Konsequenz des audiovisuellen Designs.

Meine Damen und Herren, dürfen wir Sie mal gepflegt überwältigen?

WeltallZweieinhalb Stunden Kraftwerk sind dann aber bei aller Überwältigung auch ein bisschen anstrengend. Und weil man trotz der vielen Bewegung eigentlich keinen Meter vorangekommen ist, stellt sich mit dem Schmerz in Füßen und Rücken auch ein leichtes Gefühl der Langeweile ein. Vielleicht ist ja doch nicht nur der Weg das Ziel – vielleicht sollte man zwischendurch auch mal ankommen?

Brillen 2Und so ist es völlig okay für uns, als irgendwann das Licht im Saal wieder angeht. Nachdem die Menge mit den 3-D-Brillen wie eine Horde jeglicher Identität beraubter Aliens gewirkt hat, erkennt man allmählich wieder Individuen. Und es ist interessant, wie sich im Lauf der Show doch die Konstellationen verschoben haben: Den langen Tyrannen hat es deutlich weiter nach rechts von der Mitte verschlagen, zwei der drei Paare, die sich über ihn beschwert hatten, stehen ein paar Reihen schräg hinter uns. Die unzähligen Handykameras der Kraftwerk-Fans haben selbstverständlich keine 3-D-Brillen vor dem Objektiv gehabt – und folglich jede Menge unscharfer Bilder gespeichert. Der eine oder andere Fan wird zu Hause am PC eine böse Überraschung erleben. Was den Konzertbesuch zu einem einizigartigen, nicht konservierbaren Erlebnis macht. Clever gemacht von Hütter & Co. Ein guter Grund, in ein paar Jahren wieder zum Kraftwerk-Konzert zu gehen. Velleicht erlebt man die altbekannten Hits dann ja im Rahmen eines altersgerecht barrierefrei gestalteten Riesen-Hologramms.

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Skrätsch mei Bräin: Vom ESC zu Wooden Peak und Der Axiomator

Ich bleibe dabei: Der Eurovision Song Contest ist eine Veranstaltung aus einem Paralleluniversum. Das fängt an beim immergleichen artifiziellen Musikmix aus Boller-Dancefloor, bombastischem Schnulzenpathos und Folkloreelementen, geht weiter über die bizarren modischen und choreografischen Geschmacksverirrungen bei Künstlern, Jurymitgliedern und Moderatorenteams und hört noch lange nicht auf bei den mal leicht, mal schwer zu durchschauenden Dynamiken der Punktevergabe. Immerhin springt ab und an ein wirkungsvolles Statements für Toleranz, für Frieden und für Völkerverständigung heraus, weshalb ich mich nicht groß beschweren will.

Dass der deutsche Beitrag 0 Punkte erreichte, liegt meines Erachtens nur daran, dass er viel zu bodenständig aus unserer realen Welt in das ESC-Paralleluniversum hinübergroovte – dass er schlichtweg nicht in diese künstliche Welt mit ihren ganz eigenen Zuckerguss- und Wir-haben-uns-alle-lieb-Regeln passte. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn der eigentlich vorgesehene Problembär Andreas Kümmert gesungen hätte – dem hätte man womöglich noch 2 x 12 Minuspunkte zusätzlich aufgebrummt.

Wie schön, sich einfach wieder Künstlern zuzuwenden, die Musik machen, weil sie etwas ausdrücken möchten – und nicht um bei einem Wettbewerb möglichst gut auszusehen. Es müssen auch gar keine internationalen Topacts sein. Hin und wieder erreichen mich Songtipps aus der lokalen Szene oder aus anderen deutschen Regionen, die sich durchaus hören lassen können. Zum Beispiel von Wooden Peak, einem Leipziger Duo, das jetzt nach mehreren feinen EPs in etwas größerer Besetzung produziert. Introvertiert klingen sie und ein wenig kammermusikalisch – ihre langsam dahingroovenden Songs mit eindringlichen Vocals entwickeln einen schlafwandlerischen Sog. Im Video zu MS Goodman von der neuen EP Polygon sind seltsame Menschen in einem altehrwürdigen Amtszimmer in seltsame Interaktionen verstrickt – was genau sie da machen, bleibt unklar. Das Unwirkliche dieser Szenen wird visuell unterstrichen durch behutsame Loop- und Scratch-Effekte – die Bildsequenzen laufen kaum merklich immer wieder vor und zurück. Musik und Videos von Wooden Peak finde ich wirklich beeindruckend.

Videoscratching bestimmt auch den smarten kleinen Film, den Der Axiomator aus dem Raum Frankfurt für seinen mindestens ebenso smarten Track Hirn produziert hat. Passend zum Titel wirkt die visuelle Umsetzung hier herrlich debil. Hinter dem Axiomator steckt ein positiv Verrückter mit einem Faible für hintergründig verspielte Texte. „Willst du mal nen Tipp / Dann tipp dir an die Stirn / Denn da wird etwas vermisst / Ja, man nennt es Hirn“, rappt er flüsternd vor der Frankfurter Skyline über einem geheimnisvollen elektonischen Groove, garniert mit allerhand Soundeffekten. Das hat etwas von einem witzigen Novelty-Song und eignet sich nicht nur zum persönlichen Vergnügen, sondern auch als geschmackvoll dezenter Hinweis an Zeitgenossen, die einem gehörig auf den Senkel gehen – von mir aus auch als Kommentar zum völlig irrationalen ESC-Gedöns.

Hirn ist zu finden auf der programmatisch betitelten EP Erste Störsignale, die mit Hacky der Hacker samt Remix-Version in ähnliche musikalische Kerben haut. Der Kraftwerk-Einfluss ist auch spürbar auf dem Track Entlang der Straße, einem ansatzweise dramatischen Elektronik-Instrumental, das mich auf lange Sicht am stärksten beeindruckt. Wooden Peak und Der Axiomator werden vermutlich nie an einem ESC-Finale teilnehmen, geschweige denn an einem nationalen Vorentscheid. Und das ist auch gut so.

Nette Geister

Da schreibe ich gedankenverloren meine Blogeinträge, und plötzlich erreichen mich unaufgefordert E-Mails von Bands und Musikern, die ich gar nicht kenne. Das freut mich sehr, denn: Hui, mein Geschreibsel wurde irgendwo zumindest registriert. „Schreib doch auch mal was über uns“, lautet der einhellige Tenor dieser Mails, also denke ich mir: Warum eigentlich nicht? Denn irgendwo sind’s auch die Geister, die ich rief, und warum nicht mal Neues entdecken?!

Schöngeister

Das erste Projekt, das ich vorstellen möchte, kommt aus Leipzig und Berlin und nennt sich A Forest. A Forest? Trägt nicht ein Klassiker von The Cure diesen Titel? Mit den Sounds, den Rhythmen und den Melodien von Robert Smith & Co hat dieses Trio erst mal wenig gemein, wohl aber mit der molligen, leicht düsteren Grundstimmung. Getragene bis mittelschnelle elektronische Beats, flächige Sounds und zwei selbstvergessen vor sich hin raunende Männerstimmen setzen vor allem auf drei Effekte: Atmosphäre, Atmosphäre und … Atmosphäre. Früher hätte man etwas voreilig Trip-Hop dazu gesagt, A Forest selbst sprechen von „Electronica, Kammerpop, Singer-Songwriter, altem Soul und Minimal Techno“, es gehe um „Songs wie alte Gemälde“, „einen vollkommen eigenen Entwurf von Pop“. Leidenschaftlich und selbstbewusst sind sie, auch visuell arbeiten sie mit guten Leuten zusammen. Im geschmackvoll-seltsamen Video zu The Shepherd stapft eine Art Waldschrat, dessen Fell oder Umhang aus schwarzem Lametta oder Magnettonbandstreifen besteht, durch Feld und Wiesen, sein Ziel ist das Wasser.

A Forest bleiben bewusst vage, beschwören eigenartige Stimmungen, und vor allem die eine der beiden Leadstimmen – die rauere, markantere  – geht nicht übel unter die Haut. Auf der Homepage der drei (www.iamaforest.com) finden sich diverse Hörproben und Videos, die Interesse wecken dürften – dort kann man auch unter dem lustigen Motto „Become a leaf“ („Werde ein Blatt“) zum aktiven Supporter werden. Abgesehen davon hoffe ich, A Forest hauen mich nicht, wenn ich sage: Versucht’s doch mal mit deutschen Texten, das könnte einschlagen!

Der Geist der Goldenen Zwanziger

Aus Dresden kommt die Band Friling, die sich der Musik der Golden Twenties – von Django Reinhardt bis Swing – verschrieben hat. Friling ist jiddisch und heißt Frühling, was ganz gut zum Gute-Laune-Sound der Gruppe passt. Das auch über Crowdfunding finanzierte Album The Mighty Monsieur Moustache lebt vom Gesang der beiden Frontfrauen Lisa Zwinzscher und Linda Gossmann sowie von einer ungewöhnlichen Instrumentierung, zu der auch Violine und Posaune gehören.

Die Songs des Albums kommen locker-flockig daher, sympathisch und mit jugendlichem Charme, handwerklich versiert – nur ein 7-Minuten-Epos mit kleinen Hörspielelementen und die eine oder andere zusätzliche Instrumentalpassage wirken etwas überambitioniert. Dass sie es ernst meinen, unterstreichen Friling mit einem zünftigen Zwanzigerjahre-Outfit, das sie selbstverständlich auch auf der Bühne tragen. Keine Frage, das ist konsequent, engagiert, wirkt liebevoll durchgestylt und sorgt für ein gewisses Flair. Es zwängt die Band aber auch in ein Korsett. Hoffentlich hauen mich Friling nicht, wenn ich finde, dass sie sich noch etwas unentschieden zwischen Entertainment und schweißtreibender Mucke bewegen. Wollen sie ein Revue-Act sein, dem man andächtig lauscht und zuschaut, oder wollen sie den Club rocken? Musikalisches Potenzial ist auf jeden Fall mehr als reichlich vorhanden, und ich bin gespannt, was da noch kommt. Klar, dass sich auch bei ihnen ein Besuch auf der Website mit Hörproben und Videos lohnt – www.frilingmusic.de.

Freigeist

Mit schöngeistigen Soundtüfteleien und klassischem Entertainment hat julakim überhaupt nichts am Hut. Auch um Songkonventionen schert sich die Darmstädterin nicht. Mal klingt sie wie eine klassische Lo-Fi-Singer-Songwriterin, mal wie eine Avantgardemusikerin, mal singt sie englisch, mal deutsch, mal französisch, mal portugiesisch. Sie wirkt in der Architekturszene, hält lustige Vorträge bei Pecha-Kucha-Events und macht Projekte in Brasilien. Jetzt hat sie quasi aus dem Nichts eine Musik-CD veröffentlicht und macht Livebühnen unsicher. itufi heißt das Werk, was für I Think You Fake It steht.

Fake ist nichts bei julakim. Sie kann ihr Publikum musikalisch und gesanglich sanft umschmeicheln, aber sie kann es – und ich hoffe, sie haut mich nicht – mit stimmlichen Extravaganzen, versponnenen Texten und spontanen Experimenten auch härter rannehmen. Verblüffend: Dabei trägt sie stets ein Lächeln im Gesicht. Das für mich interessanteste Sück auf der CD ist Dear Fear, das seinem Titel mit fast schon psychedelisch anmutenden Klangexperimenten alle Ehre macht. Der letzte Track – don’t panic be organic (extended) – dauert 16(!) Minuten, von denen die ersten 12 nur aus leisen Naturgeräuschen bestehen. Außerdem scheint da irgendjemand vor sich hin zu gärtnern. Und wenn man schon gar nicht mehr hinhört, schält sich aus dem unbestimmten Gerausche, Gezirpe und Geklopfe doch noch ein kleiner Song heraus. Das ist grenzenlos, radikal individualistisch und gegen jede Regel.

Anfang nächsten Jahres geht julakim wieder für ein paar Monate nach Brasilien – vielleicht kommt sie dann als Malerin und Bildhauerin zurück. Zum Abschied tritt sie am 2.12. noch mal im Frankfurter Club „Orange Peel“ auf. Daneben plant sie – wie passend – ein Video über so etwas wie die Freiheit und die Authentizität des Individuums. Daran kann sich – Interaktion! – eine jede und ein jeder beteiligen! Noch in den nächsten Wochen sind Interessierte aufgefordert, kleine Filmbeiträge zu den Themen „Konsumerismus, Kapitalismus, schnelles Leben und System“ an julakim zu senden, die dann Eingang ins Video finden sollen. Mehr dazu von Martina („Ich bin nicht julakim“) im leicht bizarren Video oben und auf der Website http://julakim.de/be/

 

Yacht Rock – der neuste (alte) Schrei

Neulich postete der sehr geschätzte und weit über Frankfurts Grenzen hinaus bekannte DJ Heinz Felber auf Facebook einen Schmuserocksong, den ich lange nicht mehr gehört hatte: Baby Come Back von Player. Der lapidare Kommentar dazu lautete: „Yacht Rock Classic“.

Yacht Rock?, fragte ich mich, wie kommt denn da das Boot ins Spiel? Und wollte frotzelnd gleich etwas zurückposten, von wegen: „Auch ohne Luxusschiff spitze“, oder: „Heinz, bist Du seekrank?“ Aber da man sich mit allzu übereilten Facebook-Kommentaren leicht in die Nesseln setzen kann, warf ich lieber erst mal die Internetsuchmaschine an. Und siehe da: Den Yacht-Rock-Begriff gibt’s tatsächlich.

Er bezieht sich auf Musik, die die meisten von uns kennen. Gemeint sind die die überaus geschmackvoll produzierten, mit perfektem Satzgesang und exquisiten Soli versehenen Songs von späten 1970er- und frühen 1980er-Größen wie den Doobie Brothers, Toto, Loggins & Messina, Hall & Oates, den Eagles oder Steely Dan. Journey, REO Speed Wagon, Christopher Cross und selbst Foreigner mit ihren langsameren Songs zählen auch noch dazu. Natürlich wurde diese Musik damals noch nicht so genannt. Der Begriff Yacht Rock wurde laut Wikipedia erstmals 1990 gebraucht, und zwar im despektierlichen Blick zurück auf den Musikgeschmack der Achtzigerjahre-Yuppies, die all den genannten Bands lauschten, während sie auf ihren teuren Partybooten vor der Küste Kaliforniens cruisten. Auch die eine oder andere nautische Referenz in Songtexten, Videos und Albumcovers (siehe Sailing von Christopher Cross) soll den Begriff inspiriert haben.

Der abwertende Charakter erklärt sich durch die Tatsache, dass im selben Zeitraum (Ende der Siebziger- bis Ende der Achtzigerjahre) Punk und New Wave für eine Revolution in der Rockmusik gesorgt hatten – perfekte Studioproduktionen von kompositorisch versierten Künstlern mit Hippie- und Konfektionsrock-Hintergrund galten vielen jüngeren Fans als suspekt oder zumindest als angestaubt. Richtig populär, zumindest im angloamerikanischen Sprachraum, wurde Yacht Rock wieder um 2005, und zwar durch eine Serie von fünfminütigen Onlinevideos, die die Protagonisten des Genres in von Schauspielern gespielten fiktiven Szenen durch den Kakao zogen. Der Kopf dahinter, J. D. Ryznar, machte sich zwar ordentlich über die Musiker und die geradezu „inzestuösen“ Verbandelungen innerhalb der Yacht-Rock-Szene lustig, zeigte sich aber auch als echter Fan der Musik und ließ diese zu ihrem Recht kommen.

So wirken die Protagonisten der ersten Videofolge, in der fantasiert wird, wie es zur Entstehung des Hits What A Fool Believes von den Doobie Brothers kam, zwar wie Karikaturen – dem Hit selbst aber wird großer Respekt gezollt. Und dese Anerkennung der Musik führte schließlich zu der positiven Besetzung, die der Begriff Yacht Rock heute genießt. In einer Zeit, in der immer häufiger die „Qualität“ selbst von Fußballspielern und -teams beschworen wird, hat man auch die herausragende Qualität der Smooth-Rock-Hits von damals wiederentdeckt. Mit dem Ergebnis, dass es, etwa in London, regelmäßige Clubabende zum Thema gibt, dass einige der einschlägigen Acts wieder auf Tour gehen und dass verschiedene entsprechende Compilations herauskamen, zuletzt, im Juni 2014, eine „Yacht Rock“-3-CD-Zusammenstellung aus dem Hause Universal.

Bands wie Haim aus Los Angeles lassen etwas vom Rockgeist der späten Siebzigerjahre aufleben, die französische Gruppe Phoenix zitiert diesen kräftig, und die Stepkids aus dem US-Bundesstaat Connecticut klingen sogar manchmal wie eine Reinkarnation von Steely Dan. Das New Yorker Electro-Funk-Duo Chromeo wiederum arbeitet geschickt Yacht-Rock-Elemente in seinen Dancefloor-Sound ein – und war auch schon gemeinsam mit Hall & Oates auf Tour.

Da wird es ja mal Zeit, dass Yacht Rock auch in unseren Breiten ein Revival erlebt. DJ Heinz Felber will den Anfang machen. Mit einem Clubabend am 27.12. in Frankfurt, bei Hans Romanov im „Neglected Grassland“.