Politik der Achtsamkeit

ZURÜCKhaltung – das zweite Album der Liedermacherin julakim

Sie ist und bleibt ein Phänomen: julakim, die Architektin, die quasi über Nacht zur Songwriterin mutierte; die zwischen Südamerika und Rhein-Main, zwischen Büro und Bühne pendelt; die in keins der Singer-Songwriter-Klischees von „Betroffen-Anklagend“ bis „Nachdenklich-Beseelt“ passt, sondern ihren ganz eigenen verrückten und immer leicht sperrigen Gesang-und-Lyrik-Stil entwickelt hat; die bei Bandwettbewerben auch neben lautstarken Metal- oder Postpunkgruppen glänzt; und die das Geld zur Produktion ihres zweiten Albums mal eben schnell via Crowdfunding zusammengetragen hat.

Wie auf dem ersten Album itufi – to the tropics and back gibt es auch auf ZURÜCKhaltung einen überlangen, sagen wir: „Experimentaltrack“ – diesmal besteht er aus einem extrem leise abgemischten Achtminuten-Songteil und rund 11 Minuten Geräuschen von einem Bauernhof oder etwas Ähnlichem. Vom Gegacker der Welt heißt das Ganze und enthält ein paar gewichtige Verse, weshalb man sich umso mehr wundert, warum erst dann etwas zu verstehen ist, wenn man die Anlage aufdreht. Vielleicht will julakim, dass wir gerade hier ganz genau hinhören? Es geht um blinde Hühner, die nur ab und zu den Kern treffen müssen, die ihrer Wut frönen, nur an ihren eigenen Vorteil denken, irgendwelchen Gönnern hinterherlaufen und ansonsten nur funktionieren. Ein Kommentar zu Populisten, zu Pegida und AfD?

Abgesehen von diesen etwas fordernderen 19 Minuten aber ist ZURÜCKhaltung etwas runder und – im positiven Sinne – gefälliger geworden als das Debüt. Klarere Songstrukturen, rhythmische Vielfalt, mal jazzige, mal countryhafte Zwischentöne und mittendrin das wunderschöne Instrumentalstück Der Alltag: Aus der simplen Ausgangslage „Eine Frau und ihre Gitarre“ holt julakim noch einmal etwas mehr heraus. Und auch andere Stücke auf ZURÜCKhaltung scheinen sich auf aktuelle gesellschaftliche Themen zu beziehen: Willkommene handelt von leidgeprüften Flüchtlingen, vor deren Schicksalen wir zu lange die Augen verschlossen haben. Die Netzhaut spielt auf Lug und Trug und Hass im Internet an. Und Hallo Welt/Ola mundo, die Vertonung eines Gedichts von Sandra Becker, erzählt von negativen Folgen der Globalisierung, die es zu überwinden gilt, von Entfremdung, Spaltung und von Scheinwelten, gedanklichen wie virtuellen.

Wenn julakim überhaupt Lösungen anbieten will, dann finden sie sich in Songs wie dem Titelstück ZURÜCKhaltung und Stich in See. Nicht um ein Sich-Verkriechen geht es, sondern um eine Rückbesinnung auf Werte, verbunden mit aufrechtem Gang, einer gewissen Disziplin, mit Offenheit und Zusammenhalt, ja Achtsamkeit. Mut braucht es, um ungerechten Frustabbauern, Machtmenschen, Unterdrückern, falschen Propheten entgegenzutreten – dazu Neugier auf die Schönheit unserer Welt, auf die Schönheit in anderen Menschen oder ganz einfach auf die Liebe: „Schöne Unbekannte, zeigst du dich auch mal bei mir?“ Das ist das, was aus den Texten unaufdringlich hervorschimmert, auch wenn man längst nicht alles an ihnen versteht. Es ist ein Mix aus kurzen Statements, Aufforderungen, Gedankenfetzen, Bewusstseinsstrom – mal reimt es sich, mal klingt es provozierend unpoetisch. Aber so ist sie, die unerschrockene Lo-Fi-Künstlerin aus Darmstadt: Pfeift auf Konventionen und Erwartungen, lässt sich in keine Schublade packen und bleibt dabei doch immer nett und gut gelaunt.

Ist julakim eine politische Liedermacherin? Ja. Aber nicht im Sinne eines Wolf Biermann oder klassischer Protestsongs. Ihr geht es eher darum, wie man im Alltag mit sich selbst und mit anderen Menschen, auch mit Fremden, umgeht – um eine starke, positive Haltung. Aber läuft das nicht doch Gefahr, auch in Ein bisschen Frieden-Rührseligkeit abzudriften? Nein. Denn dass man leider kämpfen muss für seine Haltung, ist julakim durchaus bewusst. „Stich in See, du Mutiger / Lass dich nicht beirren“, singt sie an einer Stelle, „Es wird wohl immer blutiger / Aber du bitte lass dich nicht beirren.“ Schon seltsam, dass dieses Album just zum deprimierenden Wahlsieg von Donald Trump erschien.

Die CD ZURÜCKhaltung kostet 15 Euro zzgl. Porto und kann persönlich bei der Künstlerin bestellt werden. Mehr Infos und E-Mail-Adresse auf www.julakim.de. Über iTunes erhält man auch einen der schönsten julakim-Songs, comPARTIR.

Heilmittel gesucht

Gedanken zum Konzert von The Cure in der Frankfurter Festhalle

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Eisbär von Grauzone und Paul ist tot von den Fehlfarben, Der Mussolini von DAF, Polizisten von Extrabreit und etwas später noch Blue Monday von New Order – diese Songs bildeten in den frühen Achtzigern immer einen wunderbaren Mix in den angesagten Clubs der Stadt. Und natürlich A Forest, jenes geheimnisvoll und leicht beunruhigend dahinfließende Stück von The Cure, das eher von Atmosphäre und Sound, von verloren klagenden Worten als von einer klaren Songstruktur und Powerrefrain lebte. Die Zeiten waren konservativ und neoliberal, in Großbritannien regierte Margret Thatcher, in den USA Ronald Reagan, und die genannten Hits drückten den Weltschmerz und die Orientierungslosigkeit ganzer Heerscharen von Heranwachsenden und Twens dieser Zeit aus. Daneben gab es jede Menge Experimentelles, geistvoll Unterhaltsames, Respektlos-Multikulturelles und Rotzig-Provokantes, von Der Plan bis Palais Schaumburg, von Spandau Ballet bis Heaven 17, von Madness bis The Specials, von Joe Jackson und The Police über Blondie oder die Tubes bis hin zu Ideal – und es ist bestimmt nicht übertrieben, wenn man festhält, dass die New Wave, die im krassen Gegensatz zum politischen Weltklima eine vitale Vielfalt entwickelte und ganz nebenbei mit dem dekadenten Rockbombast der 1970er aufräumte, bis heute eine der kreativsten Phasen in der Geschichte der Popmusik markiert.

Exif_JPEG_PICTUREA Forest, ein wahres Monument dieser Zeit, war dann auch das Highlight des Konzerts, das The Cure am Montag, dem 7. November, in einer mehr als gut gefüllten Frankfurter Festhalle gaben. Und obwohl die Zeiten heute ganz andere sind, stellte sich in den Tagen nach dem Konzert auf eigenartige Weise ein ähnliches Gefühl wie damals ein. Denn am 9. November wurde überraschend der Populist Donald Trump zum nächsten Präsidenten der USA gewählt, womit sich aus Sicht vieler Europäer die schlimmsten Befürchtungen bestätigten. Im Frühjahr, als wir die Tickets orderten, gab es noch keinen Brexit, keinen Putschversuch in der Türkei, und die AfD war noch nicht ganz so „etabliert“, wie man mittlerweise entsetzt feststellen muss. Jetzt spukt uns parallel zu den desillusionierenden Nachrichten über Amerika nach der Wahl und den Rechtsruck in Europa die klagende Wimmerstimme von The-Cure-Dreh- und Angelpunkt Robert Smith im Kopf herum, zusammen mit den Bildern von KZs und Vietnamkrieg, die in der Festhalle beim Song One Hundred Years auf riesige Leinwände projiziert wurden, zusammen mit den endlosen Molltönen der Songs, den Textzeilen über Einsamkeit und Entfremdung. Aus dem entspannten „Ach komm, die touren immer noch? Dann lass uns einen schönen Nostalgieabend haben“-Impuls beim Kartenkauf ist ein ernstes „Unglaublich, die haben ja immer noch oder gerade wieder was zu sagen“-Empfinden geworden, auf das man vielleicht auch gerne verzichtet hätte.

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Das Konzert in der Festhalle war eine Zeitreise zurück durch die Jahrzehnte – in Form von 29 Songs, wie aufmerksame Medienvertreter hinterher berichteten. Es begann mit Material aus den 2000er Jahren, das auch wir kaum kannten, weil uns gar nicht bewusst gewesen war, dass The Cure bis vor wenigen Jahren regelmäßig neue Alben veröffentlicht hatten. Exif_JPEG_PICTURERobert Smith und der ständig sämtliche Bühnenregionen abschreitende Simon Gallup, seit dem 1980er Album Seventeen Seconds Bassist der Band, Reeves Gabrels, einst gemeinsam mit David Bowie im Rockprojekt Tin Machine unterwegs, Schlagzeuger Jason Cooper (seit 1995 bei The Cure) und Keyboarder Roger O’Donnell, On-and-off-Mitglied seit 1987, bliesen ihr Programm in dieser Konzertphase auf Stadionrock-Format auf, bis hin zum wüsten Heavy-Metal-Gewitter.

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Es folgte Bekannteres aus den Neunzigern, bis man schließlich, nach knapp zwei Stunden und mehreren kurzen Päuschen, endlich zu den großen The-Cure-Hits der Achtziger zucken und jubeln konnte: neben A Forest natürlich Boys Don’t Cry, In Between Days, Lullaby, Friday I’m In Love und, nicht unclever als Schlusspunkt gesetzt, Why Can’t I Be You? Das Ganze wurde dann auch nicht nur etwas sparsamer, klarer im Sound und näher am Original, sondern ebenso mit zunehmender Lockerheit vorgetragen: Je näher The Cure den Achtzigern kamen, desto häufiger nuschelte ein deutlich fülliger gewordener Robert Smith etwas ins Publikum oder ließ sich zu selbstironischen Verrenkungen verleiten, zum Abschied sogar zu dem einen oder anderen Lächeln samt Handshakes mit Konzertbesuchern in der ersten Reihe.

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Nur die übermütigen Love Cats fehlten – und das gewagte Killing An Arab – ein Song, der mit Motiven von Albert Camus spielt, aber in der Vergangenheit gern von reaktionären Kräften bewusst als rassisch motiviert fehlinterpretiert wurde. Bezeichnenderweise ist das Stück auf iTunes heute nur in einer verwaschenen Liveversion zu finden. Vielleicht musste es auch gerade in diesen Zeiten nicht unbedingt noch einmal gespielt werden, das dargebotene Songspektrum war auch so schon beeindruckend bis überwältigend.

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Was das Konzert außerdem interessant machte, war das visuelle Konzept der Show: Immer wieder wurden die Künstler überlebensgroß auf riesige Leinwände im Bühnenhintergrund projiziert, zum Teil mit irritierenden Effekten: mal als gigantische Schatten, die sich alles andere als synchron zu den Akteuren auf der Bühne bewegten, mal live von vorn gefilmt, auch farblich verfremdet, mal von hinten, mit dem Blick ins Festhallenpublikum, so dass sich wie in einem Spiegel der Eindruck einer gigantischen Menschenmenge einstellte. Ganz unauffällig wurden so Identitäten, Zerrbilder und Projektionen, das Verhältnis von Individuum und Masse, von Künstler und Publikum thematisiert. An anderen Stellen boten Spinnenetze, psychedelisch verfremdete Landschaften, ein finsterer Wald oder die Umrisse einer japanischen Geisha visuelle Entsprechungen zu den Textinhalten.

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Retromania heißt ein Buch aus dem Jahr 2011, in dem der britische Journalist Simon Reynolds die Band-Reunions, Wiederveröffentlichungen und Stil-Revivals einer historisch gewordenen Rock- und Popkultur kritisch unter die Lupe nimmt. Alles Nostalgie, befindet er enttäuscht – was fehle, seien neue musikalische Kräfte mit belebenden überraschenden Impulsen. The Cure kann er nicht wirklich gemeint haben, denn wie gesagt: Hier handelt es sich nicht um eine Reunion oder eine nostalgische Best-of-Tour aus kommerziellen Interessen – Robert Smith & Co sind in wechselnder Besetzung seit den 1970er Jahren aktiv. Werden aber gerade von der Geschichte eingeholt: Denn einmal mehr droht die Welt, sich in finsteren Wäldern zu verirren, auf eine neue Eiszeit zuzusteuern, in der Erzkonservative bis Totalitäre das Sagen haben. Wir lernen: Kontinuität und Konstanz, wie sie The Cure an den Tag legen, sind vielleicht nicht das Schlechteste.

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Und doch täten begleitend frische Impulse gut. „Brothers, sisters, we don’t need that Fascist Groove Thang“ sangen Heaven 17 in den Achtzigern leidenschaftlich, während The Blow Monkeys mit The Day After You versteckt und ungemein tanzbar das Ende der Thatcher-Regierung herbeisehnten. Mit klarer Kante und überbordender Kreativität wurden damals Erzkonservative, Ewiggestrige und offen Rechte letztlich auch musikalisch weggeblasen. Wir brauchen so etwas wie einen neuen Soundtrack zum aktuellen Credo der amerikanischen Demokraten: „Wir haben Reagan hinter uns gelassen, wir haben Bush hinter uns gelassen, und wir werden auch Donald Trump hinter uns lassen.“

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Fotos © M. Behrendt

Der Axiomator, Debütalbum „Aliens mit Niveau“: Retro-Elektronik! Oldschool-Synthipop!! Novelty-Electro!!!

Musikneuerscheinungen rezensiere ich für gewöhnlich nicht, aber bei diesem Album mache ich gern eine Ausnahme. Schließlich kommt es von einem kreativen Kopf aus der Region, der einiges an Beachtung verdient hat. Schon seit geraumer Zeit tüftelt Der Axiomator in kompletter Eigenregie an einnehmenden Tracks, die uns musikalisch zurück in die 1980er Jahre entführen. Genauer: ins gute alte Synthipop- und Elektronik-Universum, wie es von Gary Numan oder Human League, von Yazoo, Depeche Mode und Camouflage, von DAF, Visage und natürlich von Kraftwerk geprägt wurde. Der im positiven Sinn verrückte Einzelkämpfer verbindet die prägenden Elemente und Stilmittel dieser Zeit virtuos: federleichte Basssequenzen und laszive Waber-Grooves, lustige Computerstimmen und furztrockene Synthidrum-Schläge, monumentale Keyboard-Wände mit Dub-Effekten, dazu herrlich nervöse Zisch- und Zwirbel-, Kruschpel-, Knarz- und Fiep-Sounds. Ist das Retro? Ist das Oldschool? Oder einfach hemmungsloser Eklektizismus? Ich habe keine Ahnung. Aber es klingt verdammt gut.

Was Der Axiomator anders macht: Er arbeitet ausschließlich mit deutschen Texten und schert sich einen feuchten Kehricht um Songkonventionen. Statt konsequenter Strophe-Bridge-Refrain-Srukturen kreiert er oftmals lediglich Strophen- oder Refrain-Fragmente; statt anständig zu singen oder zu rappen, bedient er sich eines eigentümlich-charmanten Sprechgesangs; und statt klassischen Storytellings oder bilderreicher lyrischer Reflexionen bevorzugt er die Aneinanderreihung von absurden Thesen, ernsten Gedankengängen und werbespruchartigen Slogans. In Verbindung mit schrillen Synthiklängen entstehen dann gelegentlich munter vor sich hin pluckernde Tracks, denen man durchaus ein neues Label verpassen könnte: „Novelty-Electro“!

„Novelty Songs“ sind an sich nichts Neues. Grob gesagt, handelt es sich dabei um Unterhaltungssongs, die durch skurrile Texte, schräge Arrangements oder Gaga-Sounds derart mit der Konvention brechen, dass ein Schmunzel- oder Lacheffekt entsteht. Berühmte Beispiele: They’re Coming to Take Me Away, Ha-Haaa, natürlich Monster Mash, Charlie Brown oder der Babysitter-Boogie – mit dem unwiderstehlichen Babylachen nach jeder Strophe. Im Kontext klasse produzierter Elektronikmusik aber schafft der Axiomator hier durchaus etwas Eigenes. Wenn er im Titeltrack seines Debütalbums die intergalaktische Partnervermittlungsagentur Starship Punkt X O besingt, Slogan: „Wir vermitteln Aliens mit Niveau“, dann ist das ähnlich Novelty-Techno wie sein kleines, feines Drama um einen von Haarausfall geplagten Mann, der sich nur noch mit Toupet in die Disco traut (Fifi mit Klett), oder die paradoxe epische Zukunftsvision vom freien, intelligenten Roboterembryo, der sich – per Kabelschnur (sic!) mit Information und Energie gefüttert – anschickt, eine dem Untergang geweihte Menschheit hinter sich zu lassen.

Eigentlich ein bisschen gruselig, kommentieren Nutzer im Internet, und das nicht zu Unrecht. Tracks wie Roboterembryo unterstreichen denn auch, dass es dem Axiomator noch um mehr als nur einen feinen Klamaukeffekt geht. Die 11 Stücke von Aliens mit Niveau zeigen sich fasziniert von der Technik, benennen jedoch auch deren Gefahren und – vor allem – den großen Risikofaktor, den die Menschen mit ihren Schwächen in der Welt darstellen. Es sind überhebliche Menschen, die sich unnötig von unheimlichen Technologien abhängig machen; die in einer Mischung aus Konsumrausch und Profitstreben Berge von Elektroschrott produzieren; oder die Systeme entwickeln, die dann andere eitle Menschen wie Hacky, der Hacker zum Einsturz bringen. Da fragt man sich unwillkürlich: Sind wir Menschen nicht unbegründet eitel, eigentlich lächerliche Gestalten?

„Doch nichts bewegt den Mensch so sehr wie hormonell gesteuerter Verkehr“, resümiert Der Axiomator einmal eindeutig doppeldeutig in einer grotesken Auflistung von Reisezielen und Fortbewegungsmitteln. Was am Ende zwei Dinge bedeuten mag. Erstens: Der Mensch bildet sich nur ein, dass er die Kontrolle hat – denn größtenteils wird er nicht vom Intellekt, sondern von chemisch-biologischen Prozessen gesteuert. Und zweitens ist das erst mal gar nicht schlimm, sondern kann sogar Spaß machen und überaus lustvoll sein. Richtig tragisch aber wird es laut Axiomator, wenn nicht wenigstens ein kleines bisschen Vernunft vorhanden ist – wenn Leute völlig unmenschlich und kopflos agieren, so wie Großkotze, Hooligans, Neonazis. „Willst du mal nen Tipp, dann tipp dir an die Stirn, denn da wird etwas vermisst – ja, man nennt es Hirn“, ruft der Künstler solchen Aliens OHNE Niveau in einem ohrwurmigen Song-Coup namens Hirn zu, um dann im entspannt groovenden Einfach locker fast schon pädagogisch wertvoll hinterherzuschieben: „Wir alle haben es in der Hand, dass unser Leben etwas lockerer und lebenswerter wird. Wir alle!“ Da kippt das Novelty-Axiom fast in ein gestrenges Message-Axiom um. Und das ist Geschmackssache.

Aber: Hat er nicht irgendwie auch recht, unser Axiomator?

Fazit: Aliens mit Niveau ist alles andere als Elektroschrott – ein erstaunlich souveränes, abgeklärtes Elektronikwerk, das gekonnt mit der Tradition spielt und gerade textlich eigene Akzente setzt. Die beiden atmosphärischen Instrumentaltracks am Anfang und am Ende des Albums hatte ich noch gar nicht erwähnt – ebenso wie die coolen, professionellen Videos, die der Axiomator gleichfalls selbst produziert. Auch mit ihnen macht dieser kreative Querkopf Lust auf mehr.

B-Seiten-Perle aus den Sechzigern: Gilbert Bécaud, „L’Orange“

Zu den schönsten Alltagserlebnissen gehört es, einen Song zu entdecken und zu erschließen – egal, ob es sich um einen simplen Hit aus dem Frühstücksradio oder um ein komplexes Stück Musik handelt. Da ist das Aufhorchen beim oft zufälligen ersten Hören; das Nachforschen, um welches Stück von wem es sich handelt; das Einholen von Informationen über die Künstler; das tagelange Immer-Wieder-Hören und Vor-sich-hin-Summen; und schließlich die Ablage im imaginären Archiv der Lieblingslieder, das langsam, aber stetig wächst und aus dem man den Song noch in Jahren und Jahrzehnten ab und zu hervorkramen wird.

Ein schwererer Krankheitsfall in der Familie. Man hilft ein wenig, bringt die Wohnung in Ordnung. Und stößt auf einen kleinen Stapel alter Schallplatten. Der Gedanke: Wäre es nicht schön, der Kranken, einer älteren Dame, ihre Lieblingslieder digital zur Verfügung zu stellen, zum Beispiel auf einem iPod? Also werden USB-Plattenspieler und PC angeworfen, um das alte Zeugs in MP3-Pakete umzuwandeln. Schon toll, was sich da alles findet: Single-Platten mit je vier Stücken von Jazzern wie Miles Davis und Gerry Mulligan, seichter Schlagerkram und jede Menge französischer Chansons. Die alte Dame ist sehr frankophil, und so stößt man unweigerlich auf Gilbert Bécauds Mittsechzigerhit Nathalie! Ja, das kennt man auch aus dem eigenen Elternhaus, „Monsieur 100.000 Volt“ war zu dieser Zeit in ganz Europa beliebt.

Aber was ist das da für ein schräger Song auf der B-Seite? Heißt L’Orange, swingt ungemein, Hit the Road Jack lässt grüßen, setzt sich mit zwei, drei wenigen Akkorden sofort im Gedächtnis fest, hat aber auch etwas merkwürdig Hysterisches, unterschwellig Bedrohliches. Schon der Titel ist sehr ungewöhnlich: Geht es um die Farbe Orange oder um eine Apfelsine? Also aktiviert man die rudimentärsten Französischkenntnisse und durchforstet, während der Song immer wieder läuft, das Internet – auf der Suche nach den Lyrics und einer Übersetzung. Auf Deutsch findet sich erst mal nichts, aber auf Dänisch gibt’s die Textzeilen nachzulesen. So bekommt man eine erste Vorstellung. Da soll einer auf dem Markt eine Apfelsine gestohlen haben. Er wird von einer Menge massivst beschuldigt, doch er beteuert, dass er es nicht getan habe. Er komme von weit her, aus der schönen Natur, und habe mit Orangen nichts am Hut. Doch die Menge, hörbar gemacht durch den fordernden Chor und schrille Frauenstimmen, lässt nicht locker. Auf Yotube findet sich ein Video, in dem Monsieur Bécaud nur allein zu sehen ist. Aber er fühlt sich verfolgt und bedroht, am Ende bricht er vor Angst zusammen.

Dann eine weitere Entdeckung, die den ersten Eindruck bestätigt. Dietmar Schönherr, Deutschlands anspruchsvollster und politischster Showmaster der Sechziger- und Siebzigerjahre, hat den Song auf Deutsch gecovert. Titel: Der Orangendieb. Gesanglich eher weniger intensiv, inhaltlich umso mehr. Ein echter Exot im deutschen Schlagerkontext. Es scheint um Ausgrenzung und Gruppendruck, letztlich um Gewalt gegen Andersaussehende zu gehen. Ein Fremder, der in die Stadt kommt, wird beschuldigt einen Diebstahl begangen zu haben. Er beteuert seine Unschuld, aber niemand glaubt ihm. Wird ihn die Menge lynchen? Der Youtube-User, der den Song eingestellt hat, packt am Ende das Bild eines Galgens dazu. Als Hörer ist man auf der Seite des Verfolgten. Ein irritierender Song, der es derart in sich hat, dass er sogar in einer Internetliste von Antikriegsliedern auftaucht. Und der Monsieur 100.000 Volt für mich in neuem Licht erscheinen lässt. Der Schnulzensänger, für den ich ihn als Jugendlicher hielt, hatte ganz offensichtlich mehr drauf – zu bewundern auch in einer mitreißenden Liveaufnahme des Songs.

Seltsam, dass ich L’Orange ausgerechnet in einer Zeit entdecke, in der die kleingeistigen AfD’s Pegidas und Donald Trumps dieser Welt mit miesesten Sprüchen gegen schutzsuchende Flüchtlinge und Asylbewerber, gegen alles Fremde, wettern.

Können Kraftwerk-Fans Arschlöcher sein?

Gedanken zum Kraftwerk-Konzert in der Jahrhunderthalle, 1.12.2015

RundfunkIch bin mir sicher: Würden Kraftwerk mal wieder ein Album mit neuen Stücken veröffentlichen, es stünde binnen weniger Tage in vielen Charts der Welt auf Platz eins. Aber Ralf Hütter & Co denken gar nicht daran, uns mit neuer Musik zu überraschen. Vielmehr zelebrieren sie ihre berühmten Werke, die längst zu museumsreifen Klassikern des modernen audio-visuellen Designs geworden sind, in immer neuen Verpackungen. Und so geht man zum Kraftwerk-Konzert wie in eine Botticelli-Ausstellung, auf eine Finissage oder zu einem Christo-Event: Man weiß in etwa, was einen erwartet, und freut sich auf die im wahrsten Wortsinn gut abgehangenen Ausstellungsstücke – aber spannend ist die Art und Weise der Präsentation.

UFOWas die aktuelle Tour der Düsseldorfer Elektronikpioniere so aufregend macht, ist das schicke 3-D-Konzept, das dem Ausstellungs- und Konzertevent den zusätzlichen Charakter einer Kinovorführung verleiht. Am Eingang bekommt man 3-D-Brillen aus Pappe, durch die man die riesigen Bewegtbildprojektionen im Rücken der Künstler ungemein plastisch und räumlich erlebt. Da schweben nicht nur Raumschiffe und Satelliten, sondern auch Zahlen, Musiknoten, Buchstaben und Schrifttafeln durch den Saal, und manchmal meint man, förmlich in die virtuellen Szenerien einzutauchen.

MachineDas alles passt zum Anti-Rockstar-Konzept, das die vier Kraftwerker unbeirrt umsetzen, indem sie die vollen zweieinhalb Performance-Stunden (inklusive Zugaben) stoisch konzentriert hinter ihren Konsolen stehen und das auf den Weg bringen, was die Besucher verlangen: geschmackvoll designte Sounds und auf den Punkt reduzierte Melodien, die seltsam berühren – getragen von treibenden Bassequenzen und Magengruben-Beats, eingebettet in ebenso kühle wie farbenfrohe Visuals, die zu keinem Zeitpunkt kitschig oder gar peinlich anmuten und die man sich nur so und keinen Deut anders vorstellen kann. Kraftwerk ist Kunst gewordene Konsequenz, ästhetische Selbstbeherrschung auf höchstem Niveau. Das leicht im Takt wippende Bein des zweiten Musikers von rechts kann da fast schon den Gesamteindruck stören.

HütterAlle vier Kraftwerk-Mitglieder tragen Einheitsanzüge mit reflektierendem Gittermuster – am Ende lassen sie sich einen Track lang sogar durch Roboterpuppen ersetzen. Weil die Aufmerksamkeit weg vom exzentrisch-egomanischen Künstler und ganz auf das Werk gelenkt wird, erwartet man auch keine großen persönlichen Ansprachen von der Bühne herunter. Eine knarzende Computerstimme, die zur Begrüßung die Worte „Meine Damen und Herren, Ladies and Gentlemen“ zerhackt, und ein verhuschtes „Auf Wiedersehen“ von Ober-Kraftwerker Ralf Hütter am Ende des Konzerts – mehr braucht es nicht an Nettigkeiten zwischen Band und Publikum. Das atemlos-ekstatisch hervorgestoßene „Hallo Frankfurt!“ würde man Kraftwerk ohnehin nicht abnehmen, zumal dabei schon so mancher Star dank Tourstress und Lagerkoller den falschen Städtenamen in die Menge gebrüllt hat. Wozu eine Nähe vorgaukeln, von der jeder im Saal ahnt, dass es sie gar nicht gibt?

AutobahnUnd weil es bei Kraftwerk so ist, wie es ist, schüttelt man sich als Fan auch nicht in Ekstase wie bei einem Konzert von dEUS, Imelda May oder den Rolling Stones. Wirklich still stehen kann man angesichts der mitreißenden Rhythmen zwar nicht, aber man passt sich der Ruhe der Künstler und dem Fluss der Klänge und Bilder an. Der Bandname ist Programm – oft geht es um die Umsetzung von Kraft in Bewegung: Muskelkraft treibt Fahrräder an, Maschinenkraft bringt Autos und Züge in Fahrt, geistige Kraft, man könnte auch Kreativität sagen, verbindet Bilder, Sprache und Musik zu anregenden Kunstwerken. Titel wie Tour de France, Autobahn, Trans Europa Express, Mensch-Maschine oder Music Non Stop sprechen für sich. Die angestrebte Bewegung ist kontrolliert, sie verläuft stetig und gleichmäßig, kennt kaum Aufs und Abs, kein hektisches Hin und Her. Auch hier ist der Weg das Ziel.

Tour de FranceUnd so verfällt man als Konzertbesucher automatisch in ein kontrolliertes leichtes Grooven, das einen bei aller Selbstvergessenheit doch auch die schönen Erscheinungen und simplen kleinen Botschaften am Wegesrand aufnehmen lässt. Von Sehnsüchten ist da leise die Rede, etwa wenn es um das gut aussehende Model oder um Computerliebe geht, von Musik als Ideenträger und sogar von der zerstörerischen Kraft der Atomenergie, von Radioaktivität. Wer hier vor Jahren mal ein Wortspiel um lebendigen Rundfunk zu verstehen glaubte, wird längst durch Begriffe wie Hiroshima, Tschernobyl und Fukushima eines Besseren belehrt. So sind sie, die Kraftwerker: Statt leidenschaftlicher Argumentationen und bizarrer Bilder reichen ihnen ein paar lose kombinierte Einzelwörter. Und ein feiner Sphärenklang, ein verspieltes Zirpen zur rechten Zeit. Etwas Kindlich-Naives, gepaat mit leiser Wehmut, prägt nicht wenige Kraftwerk-Tracks.

ModelWo Liebe anklingt, wo es nicht um das menschliche Ego geht und wo bei aller Begeisterung für die Errungenschaften der Technik auch ein Bewusstsein für die Schönheit unserer Welt durchscheint, da sollten doch eigentlich nur liebe, friedliche Zeitgenossen zusamennkommen, möchte man meinen. Oder, als Frage formuliert: Können Kraftwerk-Fans überhaupt Arschlöcher sein? Die einfache Antwort lautet: Aber natürlich können Kraftwerk-Fans Arschlöcher sein! So wie wilde Rockmusik, die Friede, Freiheit und Bewusstseinserweiterung propagierte, nicht zwangsläufig nur edle Menschen angezogen, geschweige denn hervorgebracht hat, so tummeln sich auch im Kraftwerk-Universum echte Idioten. Nachdem sich eine Stunde lang Tausende Fans ihre Stehplätze gesucht und dabei freundlich miteinander arrangiert haben, schieben sich kurz vor Showbeginn drei junge Männer durchs immer dichter stehende Publikum. Direkt neben uns kommen sie nicht mehr weiter, was dazu führt, dass sich der erste und größte der drei direkt vor einer kleinen Frau mittleren Alters postiert. Die hat nun plötzlich in nur 20 cm Entfernung ein breites orangefarbenes Sweat-Shirt vor sich. Die Frau gehört zu einer Gruppe aus drei Paaren, die sich vorsichtig zu beschweren versuchen. Doch der Lange, eine Mischung aus Streberstudent und Yuppie, schaut unbeteiligt um sich – tut so, als wäre er nicht gemeint. Und als die Vogel-Strauß-Taktik nicht mehr hilft, weil sich immer mehr Umstehende einschalten, zuckt er linkisch mit den Schultern und sagt: „Ich hab mir genauso eine Konzertkarte gekauft wie Sie.“ Woraufhin sich zwei Herren aus der Gruppe ganz dicht vor und ganz dicht hinter den Langen stellen, um ihm ein Gefühl für die Sauerei zu vermitteln, die er gerade abzieht. Doch der so Bedrängte durchschaut das Manöver und sagt unbeteiligt: „Das ist völlig okay für mich.“ Er lässt einfach alles an sich abperlen. Bis es dem einen Herrn aus der Gruppe zu blöd wird und er wieder beiseite tritt. Die Sache ist entschieden: Der Lange hat sich durchgesetzt. Und was macht die in ihrer Sicht behinderte Frau? Weist alle Angebote anderer Besucher, zu ihnen zu kommen, um besser sehen zu können, zurück und bleibt tapfer hinter dem Langen stehen – nicht ohne weiter vor sich hin zu schimpfen.

Ein Musterbeispiel dafür, wie ein ignoranter Egoist einer ganzen Gruppe seinen Willen aufzwingt – und wie sich die Gruppenmitglieder masochistisch selbst zerfleischen. Wie umgehen mit dem Tyrannen: Konsequent Druck ausüben oder gar Gewalt? Immerhin haben die Begleiter des Langen Skrupel bekommen und sich woanders platziert. Und bevor sich die Lage abschließend klären lässt, beginnt die Show: Jetzt zählt nur noch eine andere Art von Konsequenz: die Konsequenz des audiovisuellen Designs.

Meine Damen und Herren, dürfen wir Sie mal gepflegt überwältigen?

WeltallZweieinhalb Stunden Kraftwerk sind dann aber bei aller Überwältigung auch ein bisschen anstrengend. Und weil man trotz der vielen Bewegung eigentlich keinen Meter vorangekommen ist, stellt sich mit dem Schmerz in Füßen und Rücken auch ein leichtes Gefühl der Langeweile ein. Vielleicht ist ja doch nicht nur der Weg das Ziel – vielleicht sollte man zwischendurch auch mal ankommen?

Brillen 2Und so ist es völlig okay für uns, als irgendwann das Licht im Saal wieder angeht. Nachdem die Menge mit den 3-D-Brillen wie eine Horde jeglicher Identität beraubter Aliens gewirkt hat, erkennt man allmählich wieder Individuen. Und es ist interessant, wie sich im Lauf der Show doch die Konstellationen verschoben haben: Den langen Tyrannen hat es deutlich weiter nach rechts von der Mitte verschlagen, zwei der drei Paare, die sich über ihn beschwert hatten, stehen ein paar Reihen schräg hinter uns. Die unzähligen Handykameras der Kraftwerk-Fans haben selbstverständlich keine 3-D-Brillen vor dem Objektiv gehabt – und folglich jede Menge unscharfer Bilder gespeichert. Der eine oder andere Fan wird zu Hause am PC eine böse Überraschung erleben. Was den Konzertbesuch zu einem einizigartigen, nicht konservierbaren Erlebnis macht. Clever gemacht von Hütter & Co. Ein guter Grund, in ein paar Jahren wieder zum Kraftwerk-Konzert zu gehen. Velleicht erlebt man die altbekannten Hits dann ja im Rahmen eines altersgerecht barrierefrei gestalteten Riesen-Hologramms.

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