Ding-Dong, nur ein Song

Vor rund drei Jahrzehnten provozierte die konservative britische Politikerin Maggie Thatcher eine bis dahin nie gekannte Flut an Protestsongs. 

Großbritannien unter Margaret Thatcher „inspirierte“ viele Bands und Songwriter zu äußerst kritischen bis regelrecht zynischen Protestsongs. Und kaum eine Politikerpersönlichkeit der letzten 70 Jahre wurde so häufig so explizit zur Zielscheibe von Songtexten wie die britische Premierministerin. Die Politik während ihrer Amtszeit (1979–1990) war gekennzeichnet durch Privatisierung, Deregulierung und die Zerschlagung der Gewerkschaften, was – bei allen wirtschaftlichen Erfolgen – zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit, zu sozialen Härten, zu einer Vergrößerung der Kluft zwischen Arm und Reich führte. Der unsinnige Falkland-Krieg und Verordnungen, die die Diskriminierung von Homosexuellen zur Folge hatten, waren weitere Makel ihrer Regierungsarbeit. Eine zwiespältige Situation für Songwriter: einerseits die Erfahrung eines immer härter werdenden Existenzkampfes, andererseits jede Menge Inspiration für aufwühlende Songs. Dennoch hält Bruce Robert Howard alias Dr. Robert, einst Sänger der Blow Monkeys, nichts von der Idee einer Maggie Thatcher „als ‚Geburtshelferin’ einer blühenden britischen Gegenkultur während der Achtziger und frühen neunziger Jahre“, wie sie die „taz“ in einem Interview aus dem Jahr 2013 formuliert.Nein“, wehrt Howard ab. „Sie war eine polarisierende Figur, die zur Gier und zum Egoismus ermunterte, und die das Leben von Menschen zerstörte. Die Kunst mag unter solchen Umständen florieren, aber das ist nichts, für das man dankbar sein sollte. Meiner Meinung nach hatte Thatcher einen zynischen Blick auf die menschliche Natur.“

Die Blow Monkeys waren in den 1980er Jahren nicht nur Teil der von Billy Bragg, Paul Weller und Jimmy Somerville angeführten Musikerinitiative „Red Wedge“ zur Unterstützung der Labour-Partei, sondern „widmeten“ der Tochter eines Kolonialwarenhändlers 1987 auch das Album She Was Only A Grocer’s Daughter. Darauf zu finden: der seinerzeit aus dem Radioprogramm der BBC verbannte Hit (Celebrate) The Day After You. Wo andere aber nur den „Tag danach“, das heißt das Amtsende der Premierministerin feierten, ging Morrissey noch weiter. Der ehemalige Frontmann der Smiths, der schon 1986 The Queen Is Dead propagiert hatte, imaginierte1988 auf seinem Soloalbum Viva Hate gleich die Hinrichtung der ungeliebten Margaret, nicht ohne ein antiaristokratisches Volksaufstand-Szenario wie das der Französischen Revolution zu beschwören. „The kind people have a wonderful dream / Margaret on the guillotine / Cause people like you make me feel so tired / When will you die?“ Natürlich wird nur ein Vorname genannt, aber die Anspielung ist mehr als deutlich. So deutlich, dass Morrissey von Scotland Yard verhört wurde, wie der Sänger 2013 in seiner Autobiografie offenbarte. Damals habe untersucht werden sollen, ob der Star eine reale Bedrohung für die berühmte Politikerin darstellte.

Etliche weitere Songs aus der Zeit provozierten mit mehr oder minder klaren Verweisen: I’m in Love With Margret Thatcher von The Not Sensibles, Kick Out the Tories von den Newton Neurotics, Maggie, Maggie, Maggie (Out, Out, Out) von den Larks, Thatcherites von Billy Bragg oder Shipbuilding von Elvis Costello – ein Song, der zynisch um den Bau von Kriegsschiffen für den Falklandkrieg kreist, wobei möglichen neuen Arbeitsplätzen zukünftige Kriegstote gegenübergestellt werden. Mit Renaud Sechan stimmte 1986 sogar ein französischer Sänger ins Thatcher-Bashing ein. Sein Song Miss Maggie formulierte fiese Liebeserklärungen an die Frauen an sich, jeweils getoppt von einem Seitenhieb auf die verhasste britische Politikerin. Die immergleiche Rüpel-Argumentation: Frauen, und sind sie noch so minderbemittelt, können nie so dumm, so brutal, so kriegstreiberisch sein wie Männer – mit einer Ausnahme: Madame Thatcher …

Als „Madame Thatcher“ dann 2013 tatsächlich starb, verhalf das einem schon 2000 veröffentlichten Punksong der Band Hefner zur Heavy Rotation im Internet. The Day That Thatcher Dies lässt ein Song-Ich auf die 1980er Jahre und seine politische Sozialisierung durch die Labour-Partei zurückblicken. Den zukünftigen Tod der ehemaligen Premierministerin würde der Sprecher schon mal ausgiebig feiern, heißt es da trotzig, auch wenn es nicht korrekt sei: „We will laugh the day that Thatcher dies / Even though we know it’s not right / We will dance and sing all night.“ Das Stück zitiert gegen Ende noch ein fröhliches Kinderlied aus The Wizard of Oz, dem berühmten Film-Musical von 1939, nämlich Ding-Dong! The Witch Is Dead. Tralli, tralla, die Hex’ ist tot? Das schien vielen Thatcher-Kritikern nur allzu gut zu passen. Prompt erlebte Ding-Dong! selbst ein Revival, stieß dank Social-Media-Promotion sogar in die Spitzenregionen der britischen Charts vor – und wurde ebenfalls von der BBC boykottiert. Was aber niemanden wirklich juckte.

Klingende Werte

Zum Tod von Aretha Franklin

„My friends all wonder what’s come over me, I’m as happy as a man can be“, sang Wilson Pickett 1967 in dem von Bobby Womack geschriebenen Song I’m In Love. Und: „I feel just like a baby boy / On a Christmas mornin’ with a brand new toy.“ Eine typische Soul-Schnulze, garniert mit den üblichen Macho-Attitüden: die Frau als Spielzeug, über das sich der frisch Verliebte wie ein kleiner Junge an Weihnachten freut. Aretha Franklin mochte den Song und hat ihn 1974 gecovert. Aber sie sang ihn mit einem subtil überarbeiteten Text: In ihrer Version spricht eine Frau, und diese Frau dreht den Spieß nicht etwa eins zu eins um, sondern befreit ihn von allen Dominanzgesten: „Friends all wonder what’s come over me, I’m as happy as any girl could be“ und: „I’m sproutin’ and bloomin’ like last summer’s rose.“ Es ist eine Coverversion, aus der großes Selbstbewusstsein spricht – und in der alles Machohaft-Offensive blumig, mit einem Augenzwinkern weggewischt wird.

In dieser unscheinbaren, leicht discobeseelten Interpretation, in diesem Umgang mit dem Original steckt vieles von dem, was die große Sängerin, Songwriterin, Pianistin und Entertainerin Aretha Franklin ausgemacht hat: eine entschlossene Selbstbehauptung, aber humorvoll, ohne Konfrontation, Integrität, Souveränität und musikalische Eleganz, dazu eine Ausstrahlung, die mühelos Grenzen überwand. Aretha Franklin war nicht nur die „Queen of Soul“, sondern eine wahre „Queen of Pop“, nicht nur eine schwarze, sondern eine globale Ikone, gefeiert in ehrwürdigen Kritiker- und Musikliebhaberkreisen, aber auch von Rentnern und Teenies auf der ganzen Welt, nicht zuletzt von der Gay Community.

Die Technik des augenzwinkernden, dezent manipulierenden Coverns hatte Aretha Franklin schon einmal angewandt, und zwar mit durchschlagendem Erfolg. Aus Otis Reddings Song Respect, in dem ein Mann von seiner Frau etwas Wertschätzung verlangt, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt, machte die aufstrebende junge Künstlerin 1967 einen Mutmachsong für unterdrückte Frauen weltweit. Bei ihr ist es der Mann, der seiner Frau Respekt entgegenbringen soll, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt. Erst dann werde er auch von ihrem Geld profitieren. Und damit die Botschaft auch unmissverständlich rüberkommt, wird der Titel immer wieder ohrwurmartig durchbuchstabiert: „R – E – S – P – E –C – T“. Respect wurde einer der größten Erfolge von Aretha Franklin und in der Folge nicht nur feministisch vereinnahmt, sondern auch als Hymne der schwarzen Bürgerrechtsbewegung gefeiert.

Einige ihrer Auftritte sind unvergessen: etwa der im Filmklassiker Blues Brothers, in dem sie den flotten Soulhit Think zum Besten gab und weitere Elemente ihres Image festigte: als resolute, geerdete Persönlichkeit, die jeden Laden schmeißt, als natürliche Autorität und Stimme der Vernunft, der man folgt, wenn sie sich erhebt. Nicht minder bewegend ihre Gesangseinlage bei der Amtseinführung des demokratischen US-Präsidenten Barack Obama, mit der sie die damalige Aufbruchsstimmung musikalisch untermalte. Aretha Franklin, auch als Songautorin und Pianistin respektiert, sang Duette mit Annie Lennox, George Michael oder Elton John, sprang auch mal für Luciano Pavarotti bei Nessun Dorma ein und machte nicht zuletzt durch vielfältige Charity-Aktivitäten ganz unaufgeregt deutlich, dass musikalisch wie gesellschaftlich alles geht, wenn man nur aufgeschlossen, hoffnungsvoll und konsequent agiert und das Herz am richtigen Fleck hat.

Kaum ein menschliches Leben ist frei von Schicksalsschlägen, Krisen und steinigen Phasen. Das gilt auch für Aretha Franklin. Und doch sind von ihr keine Skandale, keine Exzesse, keine peinlichen Extravaganzen bekannt. Im Gegenteil: Die stimmgewaltige Tochter eines Baptistenpredigers stand für Ehrlichkeit, Verlässlichkeit und Konstanz, für gesellschaftliche Verantwortung und beeindruckende künstlerische Qualität. Nicht umsonst landete sie um die 40 Top-Ten-Hits, errang diverse Grammys und konnte sich über die eine oder andere Meilenstein-Auszeichnung freuen. So wurde sie 1987 als erste Frau in die „Rock and Roll Hall of Fame“ aufgenommen. Wer weiß, vielleicht hat all das ja auch mit ihrem Familiennamen zu tun. In Franklin steckt das Adjektiv „frank“, also „offen“ und „frei“, Namensvetter Benjamin Franklin war nicht nur einer der Gründerväter der USA, sondern auch beteiligt am Entwurf der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Der Demokrat Franklin D. Roosevelt wiederum war einerseits Hitlers Gegenspieler und ging andererseits als Sozialreformer in die Geschichte ein, Stichwort: „New Deal“.

Aretha Franklin hat den Kampf gegen den Krebs verloren. Wenn überhaupt etwas über diesen viel zu frühen Tod hinwegtrösten kann, dann ist es der Gedanke, dass Botschaften wie Respect und Think jetzt wieder häufiger im Radio zu hören sind – und dass Werte, wie sie auf eigentümliche Weise mit dem Namen Franklin verbunden sind, wieder verstärkt ins öffentliche Bewusstsein dringen. Die Welt hat es nötig.

 

 

Diskurs – Maschinen – Sinfonie

Ein von Uwe Schütte herausgegebener neuer Essayband beleuchtet das Gesamtkunstwerk Kraftwerk

Kraftwerk gehörten für mich schon immer zu den schillernd ambivalenten Stars der populären Musik – auf einer Ebene mit den ganz Großen dieser Disziplin: Bob Dylan, Beatles, David Bowie, Madonna, Lady Gaga oder Prince. So unterschiedlich diese Künstler klingen mögen, es gibt ein paar entscheidende Gemeinsamkeiten: Alle schaffen starke individuelle Marken und machen inhaltlich Angebote in die unterschiedlichsten Richtungen, widersprüchliche Statements inklusive. Alle spicken ihre Werke mit kleinen oder größeren Provokationen und beherrschen die Kunst des schwindelerregenden programmatischen Interviewstatements. So sorgen sie dafür, dass sie niemals wirklich zu fassen sind.

Schon fast ein halbes Jahrhundert lang kultiviert das Düsseldorfer Quartett, von dessen Gründungsmitgliedern heute nur noch Ralf Hütter mitwirkt, eine spektakuläre synthetische Schrulligkeit. Kraftwerk stehen für die ständige Weiterentwicklung einer berauschenden elektronischen Soundästhetik mit höchstem Wiedererkennungswert und für irritierende minimalistische Texte. Hinzu kommen überwältigende Visualisierungen in Farbe und 3-D und eine überraschende Portion Melancholie – eine emotionale Intensität, die in spannendem Kontrast zum Band-Image steht: dem der kühlen Roboter- und Maschinenmenschen. Schon immer kokettierten Kraftwerk mit Futurismus und State-of-the-Art-Technologie – gleichzeitig hatten sie stets etwas charmant Nostalgisches, seit einigen Jahren schon wirken sie regelrecht aus der Zeit gefallen. Für mich präsentieren diese knuddeligen Elektro-Nerds ihre „Roboter“-Püppchen, ihre demonstrative Regungslosigkeit, die unglaublich fantasievollen Animationen, ihre simplen lyrischen Statements und Taschenrechner-Spielereien seit jeher mit einem Augenzwinkern. „Hört her, seht her!“, schienen und scheinen sie immer wieder zu sagen: „Wir mögen ja ganz schön ambivalent und hochgradig avantgardistisch rüberkommen – aber bitte nehmt uns nicht all zuuuuuu ernst. Denn eigentlich wollen wir nur spielen. Das allerdings auf höchstem multimedialem Niveau.“

Nun liegt mit Mensch – Maschinen – Musik ein Essayband vor, der das Quartett so richtig ernst nimmt. Erklärtes Ziel: der Welt Das Gesamtkunstwerk Kraftwerk näherzubringen. Ist das eine gute Idee? Aber ja! Denn Herausgeber Uwe Schütte hat ein hochinteressantes, anregendes, bisweilen richtig spannendes Buch auf die Beine gestellt, das neben steilen Thesen, akribischen Detailanalysen und sorgfältiger Katalogisierungsarbeit auch solchen Stimmen Gehör verschafft, die den schwergewichtigen akademischen Diskurs zumindest ansatzweise hinterfragen. Hervorgegangen ist das Projekt aus zwei Kraftwerkkonferenzen 2015 in Birmingham und Düsseldorf. Daraus resultierten einige Essays für dieses Buch, andere wurden dazubestellt. Und so geben sich nach einem atmosphärischen Vorwort von Cabaret-Voltaire-Mitgründer Stephen Mallinder renommierte Kultur-, Theater-, Literatur-, Kommunikations- und Medienwissenschaftler, Musikjournalisten und Verleger, Werbe- und Kulturmanager ein wortgewaltiges Stelldichein, darunter Ulrich Adelt, Heinrich Deisl, Alke Lorenzen, Didi Neidhart, Sean Nye, Melanie Schiller, Enno Stahl und Johannes Ullmaier. Als „Beitrag zur Kraftwerk-Forschung“ sollte das Buch auch einer interessierten Öffentlichkeit jenseits akademischer Kreise zugänglich gemacht werden: Weshalb der C. W. Leske Verlag ins Spiel kam und dem Ganzen eine schicke silber-schwarze Aufmachung samt moderatem Verkaufspreis verpasste. Den akademischen Hintergrund merkt man dem Vorhaben häufig an, in einzelnen Beiträgen und Passagen schwurbelt es ganz schön. Doch ist der Band so gut strukturiert und mit interessanten Informationen gefüllt, dass man sich gerne bis zur letzten Seite durcharbeitet.

»Diskografie« und »Diskurs«

Der erste von zwei Hauptteilen nennt sich „Diskografie“. Die hier versammelten Beiträge lassen die wichtigsten Kraftwerk-Alben Revue passieren, nicht ohne ihr jeweiliges gesellschaftliches Umfeld zu spiegeln und mehr oder minder interessante Hintergründe zu beleuchten. Im zweiten Hauptteil „Diskurse“ geht es dann vertiefend um Detailaspekte wie das Posthumane, die Songtexte, den Roboter-Bezug oder Kraftwerks Auftritte im Museum. Als „Zwischenspiele“ eingeschoben sind kürzere Textelemente: ein Interview, ein Gespräch, ein kleines Drehbuch in englischer Sprache, und so weiter. Kleine Verschnaufpausen, die man mitmachen, aber auch mal überblättern kann.

So vermitteln die Essays dem interessierten Leser etwa folgendes Gesamtbild: Kraftwerk entstanden im Umfeld der 68er-Bewegung und starteten mit drei LPs im experimentellen Krautrock-Idiom, die sie später aus ihrem Gesamtwerk regelrecht „exorzierten“: Das offizielle Œuvre startet erst 1974 mit dem vollelektronischen Pop-Appeal des Albums Autobahn und umfasst noch sieben weitere bis 1981 entstandene Platten. Mit diesen insgesamt acht Veröffentlichungen, darunter Radio-Aktivität, Trans Europa Express, Die Mensch-Maschine und Computerwelt, hat sich die Band ihren musikalischen Grundstock erarbeitet. Inhaltlich vollzieht sich dabei eine Entwicklung vom Menschlichen zum Posthumanen, vom Nationalen (Deutschland) zum Internationalen (Europa). Spätestens seit 1991, dem Beginn der zweiten großen Schaffensphase, ist eine Verschiebung vom Analogen zum Digitalen und von der Studioarbeit zur Live-Aufführung zu beobachten, der Schwerpunkt liegt nun auf der Aufarbeitung und Verfeinerung des von 1974–1981 geschaffenen musikalischen und visuellen Werks zu einem immer kompakteren Gesamtkunstwerk zwischen Musikindustrie und Kunstbetrieb. Aus Nachbearbeitungen und Neudefinitionen, dem Einsatz der jeweils aktuellsten Technik und Hinzufügen weiterer Musik- und Textteile ergeben sich zusätzliche Alben mit neuen Versionen der alten Originale, parallel erfolgen die Ausweitung des Werks ins Visuelle (zusätzliche Artworks, Bildbände, Installationen) und der Übergang ins Dreidimensionale. Zuletzt war die Selbst-Musealisierung der Band zu bestaunen, und zwar durch Live-Reenactments des Kraftwerk-Katalogs in führenden Museen der Welt.

Weil inzwischen alles von Kraftwerk in digitalisierter Form vorliegt und das mobile Kling-Klang-Studio die vier überallhin begleitet, kann man nicht mehr sagen, was live ist und was Studiomaterial. Alles wird ständig neu kombiniert und weiterbearbeitet. So halten Kraftwerk ihr Œuvre in konstanter Bewegung und Veränderung.

Mit ihren zentralen Alben, so der rote Faden etlicher Beiträge, haben Kraftwerk auf die Rockkultur anglo-amerikanischer Prägung und die gesellschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik reagiert. Über weite Strecken nachvollziehbar ist ihre Anti-Rockhaltung – weg von Bass, Gitarre, Schlagzeug, weg vom Narrativen, Exzessiven und Ekstatischen, hin zur Elektronik, zum Minimalistischen und zum Posthumanen. Nicht immer plausibel wirken die angebliche explizite Abgrenzung des Quartetts gegen Deutschlands Nazivergangenheit, die behaupteten Provokationen gegen die Umweltbewegung, die mutmaßliche künstlerische Reflexion der Angst der Menschen vor der Arbeitslosigkeit, hervorgerufen durch Computer und Digitalisierung, die Kritik der Band an der computerbasierten Rasterfahndung, ihr Fortschrittsglaube, ihr Zukunftspessimismus und was sonst man Kraftwerk alles unterstellt. Poststrukturalisten und Konstruktivisten kommen beim Lesen ebenso auf ihre Kosten wie Fans von Goethe, des literarischen Doppelgängermotivs und der romantischen Musiktradition oder Menschen mit Faible für Automatenpuppen des 18. Jahrhunderts, für Fritz Langs Filmklassiker Metropolis und für Mary Shelleys Gothic Novel Frankenstein. Dass wirklich alles davon tiefe Spuren im Werk von Kraftwerk hinterlassen hat, wage ich zu bezweifeln. Spannend und überlegenswert sind die Assoziationen und Argumentationen trotzdem. Ebenso wie die Ausführungen zu Retrofuturismus, Afrofuturismus und zu RUR, einem Drama von Karel Capek aus dem Jahr 1920: Es prägte den „Roboter“-Begriff und erzählte erstmals vom Aufstand der Maschinen gegen die Menschheit. Ralf Hütter, das ist belegt, mochte es.

Reibungspunkte

Aber warum haben Kraftwerk seit Jahrzehnten kein neues Album herausgebracht? Oder, anders gefragt: Was kann jetzt noch kommen? Auch dazu äußert sich das Buch. Die Thesen: Eine Neubearbeitung der ersten drei Krautrock-Alben ist wenig wahrscheinlich, dazu haben sich Kraftwerk zu deutlich von ihrem Frühwerk distanziert. Aus demselben Grund – der Ablehnung alles krautrockig-Kosmischen – dürfte sich auch eine etwaige Thematisierung der Raumfahrt verbieten, obwohl, wie ich hier einwerfen darf, 3-D-Animationen beim Frankfurter Konzert 2015 minutenlange Blicke ins All gewährten und sogar ein Raumschiff vor der Jahrhunderthalle landen ließen. Am wahrscheinlichsten aber ist, wie Herausgeber Schütte nachvollziehbar erklärt, dass es kein weiteres wirklich originäres Studioalbum von Kraftwerk mehr geben wird: weil ein neuntes Album die in sich abgeschlossene Ordnung durcheinanderbringen und nur wie ein Anhängsel wirken würde. Außerdem, so muss man hinzufügen, sind Ralf Hütter & Co auch nicht mehr die Jüngsten.

Klasse Input also über weite Strecken. Aber wie es sich für ein aufregendes Buch gehört, enthält auch Mensch – Maschinen – Musik Textstellen, an denen man sich als Leser reiben möchte. Etwa wenn Marcus S. Kleiner behauptet, Kraftwerks „Medienmusik“ sei kaum tanzbar und ermögliche nur selten kontemplativen Hörgenuss. Ein Beats-and-Sounds-Banause, wer hier nicht lautstark widersprechen will! Selbst der äußerst sachkundige und eloquente Herausgeber verstört, wenn er lässig dahinwirft, in ernstzunehmender Lyrik „sollte es ohnehin mehr um den Klang als um den Sinn der Worte gehen“. Als hätte es Heinrich Heine und politische Lyrik nie gegeben. Überhaupt, die Ausführungen zu den Kraftwerk-Texten. Dass die Lyrics seltsame minimalistische Klanggedichte seien, eine sonderbare Aussagesatz-Struktur hätten und so gar nichts von Rocktexten, ist eine legitime Feststellung. Aber hält sie der Analyse stand? Für mich bewegen sich Kraftwerk näher an Rock- und klassischen Songmustern, als hier gemutmaßt wird, wenn auch mit ironischer Distanz. Wo Crosby, Stills, Nash & Young sangen: „We are stardust, we are golden“, knarzen Kraftwerk trocken: „Wir sind die Roboter.“ Und wenn die Düsseldorfer schwärmen: „Sie ist ein Model, und sie sieht gut aus“, ist das kaum verschwurbelter als das Beatles-Bekenntnis „I’m in love with her, and I feel fine.“ Autobahn und Trans Europa Express wiederum sind nicht merkwürdiger als irgendwelche Volks-, insbesondere Wanderlieder: Klingt „Wir fahrn, fahrn, fahrn auf der Autobahn (…) Vor uns liegt ein weites Tal, die Sonne scheint mit Glitzerstrahl“ nicht ähnlich wie „Im Frühtau zu Berge wir zieh’n, fallera“ oder „Felder, Wiesen, und Auen / Ein leuchtendes Ehrengold / Ich möchte ja noch so gerne noch schauen / Aber der Wagen der rollt“? Der Unterschied ist, dass Kraftwerk hier die uralte Form des Wanderlieds mit Synthesizer-Musik, verspultem Gesang und modernen Fortbewegungsmitteln wie Auto und Hochgeschwindigkeitszug kombinieren – ein veritabler Verfremdungseffekt. Selbst wenn die verrückten Düsseldorfer nur ein paar Tour-de-France-Etappen (1983) oder Vitamine und Hormone in ihren Lyrics aufzählen (Vitamin, 2003), ist das nichts gänzlich Neuartiges. Zum einen hat es etwas von den Abzählversen des Rock ’n’ Roll („One o’clock, two o’clock, four o’clock, rock …“) und Nonsense-Versen à la Insterburg & Co, zum anderen knüpft es an experimentelle Rockbands wie King Crimson an, die schon 1981 in Elephant Talk – alphabetisch geordnet – menschliche Kommunikationsformen aufzählten, unterbrochen von synthetisch erzeugten Elefantenschreien. Vielleicht steht ja noch ein Beitrag aus zum Thema „Kraftwerk’scher Humor“ …

Da lachen ja die Maschinen

Spektakulär, aber doch prätentiös erscheint mir ein „Zwischenspiel“ in Form eines Gesprächs zwischen Journalist Max Dax und Regielegende Alexander Kluge. Beide überbieten sich gegenseitig in pathetischen Kraftwerk-Einordnungen. So werden für Kluge, wenn er „ihre acht offiziellen Alben in einer Nacht hört, (…) vierzig Jahre zu einem Tag.“ Fantasie hat der Mann! Techno, so Kluge weiter, habe schon im 17. Jahrhundert mit dem Basso ostinato begonnen – Kraftwerk hätten das als Prinzip übernommen, um einer ganzen Musikbewegung den Weg zu bereiten. Und: „Manchmal denke ich, dass die verzauberten Dinge singen können. Wenn in der karibischen See eine Ölplattform explodiert, dann schreit doch auch die See.“ Was Max Dax wenig später delirieren lässt: „Das große Feld der Trauer könnte ein Thema eines weiteren, eines dringend benötigten weiteren Kraftwerk-Albums sein.“ Kraftwerk als Chronisten bundesrepublikanischer Geschichte, als Opernerben, Meister der verzauberten Dinge und wahre Experten für Trauerarbeit? Da lachen ja die Maschinen …

Es ist ein großes Verdienst von Herausgeber Schütte, dass er all den tiefschürfenden Analysen, gut abgehangenen Thesen und popintellektuellen Extravaganzen als Schlusspunkt den augenzwinkernden Aufsatz von Johannes Ullmaier entgegensetzt. Im Bemühen um eine alternative Version des Kraftwerk-Mythos erzählt der Herausgeber der Zeitschrift „testcard“ überaus launig, wie Ralf Hütter und Florian Schneider auf der Suche nach der eigenen Identität im Kraut-, Progressive- und Jazz-Rock-Dschungel der frühen Siebzigerjahre eher per Trial-und-Error-Verfahren zu ihrem eigenen elektronischen Sound fanden. Wie sie diesen Sound spielerisch kindlich, aber auch modernistisch kühl kultivierten, wobei ihnen die technische Entwicklung immer wieder in die Hände spielte. Gerade der intensive Bezug aufs Radfahren und die Tatsache, dass ausgerechnet schwarze Hip-Hopper Kraftwerk als große Inspirationsquelle sahen, unterlaufe das posthumane Maschinen-Image der Band. Kraftwerk seien ganz im Gegenteil altmodisch und überaus menschlich, dabei hätten sie weder etwas mit deutscher Geschichte noch mit einer spezifisch deutschen Kulturtradition oder Pop-Identität zu tun. Sein Fazit: Kraftwerk hätten eben keinen konsequenten Masterplan verfolgt. Und: Ihr Mythos sei „weltanschaulich bewusst so mehrdeutig gehalten (…), dass jedem Fan, Journalisten, Kulturpolitiker, Kurator, Kulturwissenschaftler etc. dazu gleich das einfallen kann, was ihm zu allem anderen auch immer gleich einfällt – sei es der Fortschritt, die Kritik daran, die Moderne, die Postmoderne, der Erfolg, die Kunst, der Pop oder eben Deutschland.“

Dieser Schluss macht nichts kaputt, aber er erdet das Vorangegangene, rückt es ein wenig zurecht, à la: Man könnte es ja auch mal so sehen … Darüber hinaus tröstet er über das einzige wirkliche Manko dieses gelungenen Buchs hinweg: das Fehlen einer kleinen, aber aussagekräftigen Farbbilderstrecke. Dass man 368 Seiten lang ein faszinierendes multimediales Gesamtkunstwerk beleuchtet, aber hungrige Leseraugen mit nur zwei kleinen Schwarz-Weiß-Fotos abspeist, ist schon, sagen wir, suboptimal.

Uwe Schütte (Hrsg.)
Mensch – Maschinen – Musik
Das Gesamtkunstwerk Kraftwerk
Gebunden, 368 Seiten
ISBN 978-3-946595-01-4
C. W. Leske Verlag, Düsseldorf, 2018
24,90 Euro

 

 

 

 

P.S.: Von Uwe Schütte mitherausgegeben erschien kürzlich auch der Band Gesamtkunstwerk Laibach: Klang, Bild und Politik (Gebunden, 220 Seiten, Drava,
25 Euro) – eine Sammlung analytischer Abhandlungen über das slowenische Künstlerkollektiv Laibach, das mit totalitärer Symbolik und martialischer Industrialmusik Mechanismen der Macht und der Massenmanipulation auch in der Popkultur hinterfragt. Und noch ein drittes Buch hat Schütte in diesem Frühjahr veröffentlicht: den knapp 100 Seiten langen Essay GODSTAR: Über Genesis P-Orridge, eine Geheimgeschichte der Popkultur (der konterfei, 9,90 Euro). Das lesenswerte Stück ist die aktualisierte Fassung einer jahrelangen Auseinandersetzung mit der extremen Künstlerpersönlichkeit Neil Andrew Megson, besser bekannt als Genesis (Breyer) P-Orridge. Eines Psychopathen, der einerseits eine enorme Belastung für seine Mitstreiter darstellte und darstellt, andererseits aber radikale Befreiungsbewegungen initiierte, die auf entfesselter Sexualität und einem revolutionären Verständnis von Geschlecht und Körper basieren. Immer wieder Bezugspunkt dabei: der britische Okkultist Aleister Crowley, der auch durch die Werke etlicher anderer Rock- und Popgrößen geistert. Schüttes Buch erzählt alles andere als eine verklärende Heldengeschichte, erläutert aber spannend und anschaulich die Ideen hinter Orridge-Hervorbringungen wie der Industrialband Psychic TV und der kultischen Vereinigung Temple of Psychic Youth.

 

julakim: comPARTIR // Review

Eine Frau. Sechs Saiten. Keine Schublade. julakim als furchtlose Anführerin eines Demonstrationszuges in Südamerika, mit leuchtenden Augen und wehender Fahne in der Hand, laut „Revolucion!“ rufend, mit rollendem R und scharfem Thie-Äitsch. julakim als sanftes Mädchen von Ipanema, vielleicht auch als Beach-Entertainerin an der West Coast der USA in den Siebzigern. julakim am Lagerfeuer auf der Alm, entspannt in die abendliche Bergwelt pfeifend. Und dann wieder als röhrende Monsterrockerin mit einer Prise Doobie Brothers im Getriebe. Es sind unterschiedlichste Assoziationen, die die tollkühne Darmstädter Songwriterin auf ihrer dritten CD comPARTIR weckt. Und was man da so assoziiert, unterstreicht: comPARTIR, der Abschluss einer geheimnisvollen Trilogie, ist julakims zugänglichstes Album bisher.

Allzu einfach macht es diese Ausnahmekünstlerin ihrem Publikum trotzdem nicht: Unerwartete Akkordfolgen, stimmliche Eskapaden, ganze Textkaskaden und rhythmische Wechsel verhindern nach wie vor, dass man sich ganz in einem Song verliert, gar selig wegdriftet. Keine Frage: Betörende Melodien zaubert julakim federleicht aus dem Ärmel; aber mindestens ebenso viel Spaß hat sie an Brüchen und Ausbrüchen, am Unterlaufen von Erwartungen. Nicht umsonst singt sie wieder in den unterschiedlichsten Sprachen: vom Teilen, vom Reisen, von Trennungen und Verletzungen, vom Segen der Gemeinschaft. Das alles wie gewohnt mit einem entwaffnenden Lächeln auf den Lippen und einem Selbstbewusstsein, das einem den Atem verschlägt.

Für ein Massenpublikum ist auch dieses Album kaum geeignet. Dafür sorgt nicht zuletzt der Bonustrack Die Konfektknackerinnen, eine gewöhnungsbedürftige (Anti-?)Psychedelic-Rock-Eskapade, live aufgenommen mit kompletter Band. Es gurgelt, zirpt und gniedelt, schief ist das neue schön, aber so what: Man ist da völlig schmerzfrei. Ein anderer Live-Bonustrack weiß dagegen positiv zu überraschen: Bei dieser Alternativversion des Titelstücks comPARTIR lässt sich julakim von dem Pianisten Norbert Paul begleiten und imitiert höchstpersönlich eine coole Jazztrompete. Hier, am Ende der CD, darf man als Zuhörer tatsächlich mal eine Zeit lang schwelgen, spürt eine ganz neue Intensität und bekommt eine Ahnung von den Facetten, die einige der tollen julakim-Songs zusätzlich entfalten könnten, würden sie mit einer dezenten Jazzband im Hintergrund eingespielt.

Nach wie vor bewundernswert ist, wie fröhlich und unbeirrt die Künstlerin ihren eigenen Weg weitergeht – nicht auf den großen Erfolg schielend, nur die persönliche künstlerische Vision im Blick. Dass man ihr nicht überallhin folgen kann, macht einen Teil des Reizes aus. julakim nimmt ein, verblüfft, gibt Rätsel auf und überrascht immer wieder mit verrückten bis durchgeknallten Ideen. So können Fans für 99 Euro ein signiertes Exemplar ihrer liebevoll selbst gefertigten „TriBox“ kaufen. Dazu heißt es auf der Website: „Das Sammlerstück für echte Aficionados der Trilogie enthält die drei CDs mit Booklet, ein Raumschiff zum Selberbauen aus bemalten und bedruckten Kartons in den Grundformen der Trilogie, um durch bLuzLand zu reisen.“ Ah ja … Gut, das Freigeist julakim auch uns die freie Wahl lässt – wir müssen nicht um jeden Preis die Koffer packen und losreisen. Wir können auch zu Hause bleiben und aus den „Liner Notes“ erfahren, was es mit der „Trilogie“ letztlich auf sich hat.

Julakim, comPARTIR, erhältlich über www.julakim.de

American Rocker mit Pop-Appeal: Zum Tod von Tom Petty

Für mich war Tom Petty immer ein guter Kompromiss: zwischen Bruce Springsteen (manchmal zu hymnisch, manchmal zu karg), Bob Dylan (gelegentlich zu intellektuell, zu nölig, zu rätselhaft), John Cougar Mellencamp (mitunter zu gewollt rock-’n’-rollig) und Bob Seger, der mir allzu karohemdig-vollbärtig und verschlossen erschien. Von allen aufrecht-erdigen US-Rockgrößen der 1970er/-80er Jahre versammelte Petty die massenkompatiblen Aspekte, und mit der blass-blonden Erscheinung samt kernigem Gitarrensound kam sogar noch ein bluesrockiger Schuss Johnny Winter dazu. Auch die Brücke zum globalen Charts-Pop vermochte Petty wunderbar zu schlagen: Immer wieder sang er feine Duette mit Stevie Nicks, was ihm zusätzliche Fans im Fleetwood-Mac- und Softrock-Universum bescherte – mit den Travelling Wilburys wiederum, jener Supergroup, die er zusammen mit George Harrison, Jeff Lynne, Bob Dylan und Roy Orbison auf den Weg brachte, trug er federleichten Countryrock in den weltweiten Mainstream. Petty-Songs wie Refugee und Breakdown, American Girl, Learning to Fly oder Don’t Come Around Here No More konnte ich auf privaten Cassetten-Compilations mühelos mit britischen Hardrock-Stücken von Thin Lizzy, gitarrenorientierten Wave-Krachern und sogar New-Romantic-Kram von Duran Duran oder Ultravox kombinieren, ohne allzu krasse Brüche zu verursachen. Es verwundert nicht, dass der Chef der Heartbreakers, jener Band, die ihn immer wieder begleitete, in jungen Jahren von einer Plattenfirma als „zu britisch“ abqualifiziert wurde und dass seine Karriere erst auf dem Umweg über England Fahrt aufnahm.

Tut man dem US-Rocker, der am 2. Oktober 2017 nach einem Herzinfarkt im Alter von nur 66 Jahren verstarb, mit dieser oberflächlichen Fan-Einschätzung unrecht? Ich hoffe nicht. Petty war eben ein Künstler, der gelegentlich über den Tellerrand hinausblickte und über weite Strecken einfach auch ein guter Handwerker war. Ab und zu passte er sich dem aktuell gängigen Studiosound an, bediente die Massen, ging ebenso interessante wie lukrative Kollaborationen ein. Und Rockfans wie ich, die einfach Spaß am Musikhören haben, wussten auch das immer wieder zu schätzen.

Trotz seiner Mainstream-Kompatibilität und eines gewissen Pop-Appeals haftete dem schlaksigen Songwriter aber stets etwas uramerikanisch Bodenständiges, ja Cowboystiefliges an, das man als europäischer Rockfan gern ins Mythische verklärt, doch nie ganz verstehen wird. Obwohl in Florida geboren, galt Tom Petty letztlich als waschechter Südstaatenrocker und Traditionalist. Zusammen mit dem hemdsärmelig-maskulinen „Boss“ Bruce Springsteen, der den Demokraten nahesteht und schon für Barack Obama sang, mit John Cougar Mellencamp und Bob Seger, auch mit John Fogerty von Creedence Clearwater Revival wird er gern dem sogenannten „Heartland Rock“ zugerechnet, einer erdigen Spielart des Rock, die die Befindlichkeit der weißen Unterschicht im amerikanischen Mittleren Westen und im sogenannten „bible belt“ widerspiegelt. „Authentisch“, „handgemacht“, „Stimme des kleinen Mannes“ – das sind Attribute, die gern mal in diesem Zusammenhang genannt werden, ehrfürchtig und gelegentlich leicht rückwärtsgewandt. Dass Petty dann 2008 auch zum Auftritt in der Halbzeitpause des „Super Bowl“ eingeladen wurde, war nur folgerichtig: Das Finale der American-Football-Profiliga ist das amerikanische Sportereignis, so etwas wie ein Nationalfeiertag, es vereint demokratisch wie republikanisch gesinnte Fans aller Schichten. Tom Petty brachte eben die verschiedensten Aspekte der komplizierten amerikanischen Seele zum Klingen.

Skandale, Exzesse, dreiste Rüpeleien? Sind von ihm nicht bekannt – wenn man mal von dem Handbruch absieht, den er sich in den 1980er Jahren zuzog, als er im Tonstudio aus Frust über nicht gelungene Aufnahmen gegen die Wand schlug. Eine schlimme Drogenphase in den 1990er Jahren und gelegentliche Depressionen hat Tom Petty erst spät öffentlich gemacht: Er sei alles andere als stolz darauf und habe niemandem als schlechtes Vorbild dienen wollen, sagte er in Interviews. Nur einen wirklich seltsamen Ausrutscher hat er sich geleistet. Damals, wieder in den 1980er Jahren, hantierte er öffentlich mit der Südstaaten-Flagge aus dem amerikanischen Bürgerkrieg – einem Symbol, das noch heute mit Sklaverei und Rassismus in Verbindung gebracht wird und jüngst in den grausamen Auseinandersetzungen von Charlottesville wieder eine Rolle spielte. Immerhin hat sich Petty seinerzeit auf der Bühne (unter Beifallsbekundungen, aber auch unter Buhrufen) und später im Fachblatt Rolling Stone nicht nur ausführlich, sondern auch glaubwürdig von der Flaggenaktion distanziert: Sie sei absolut „stupid“ gewesen, er habe eigentlich etwas anderes sagen wollen, aber nicht genügend nachgedacht. Darüber hinaus hat er schon immer auch auf Veranstaltungen linker Organisationen gespielt, textlich die Schattenseiten des „American Dream“ ausgeleuchtet und im Jahr 2000 dem Republikaner George W. Bush die Verwendung seines Hits I Won’t Back Down untersagt.

Nein, als Kumpel von Dylan und Clinton-Unterstützerin Stevie Nicks gehörte Tom Petty ganz sicher nicht in die Reihe umstrittener amerikanischer Rock-Epigonen wie Steven Tyler, Joe Perry (beide Aerosmith) und Kid Rock, die bekennende Republikaner sind, zum Teil auch unbelehrbare Waffennarren. Oder wie Ted Nugent, der einst als begnadeter Hardrocker weltweit Erfolge feierte, in den letzten Jahren aber vor allem als Ultrarechter mit übelsten Hasstiraden nicht nur gegen Obama und „Hillary“ unangenehm auffiel. Längst ist Rockmusik ein Spiegel der gesamten Gesellschaft, bildet alle Haltungen und Einstellungen ab, auch die erzkonservativen bis extrem rechten. Petty war da eher in der Mitte oder links davon angesiedelt, als Songwriter der alten Schule und Bewahrer der traditionellen Rock-’n’-Roll-Werte.

Den „letzten Botschafter der analogen Welt“ nennt ihn die „Welt“ ein wenig pathetisch, „Der letzte Dinosaurier war ein Herzensbrecher“, titelt nicht minder archäologisierend die „F.A.Z.“ – so als würde heute niemand mehr Gitarre spielen, als wären alle anderen Saurier schon tot und auf Heartbreakers-Aufnahmen keine elektronischen Sounds zu hören. Geschenkt. Tatsächlich ließ es Tom Petty auf seinen Alben Mojo (2010) und Hypnotic Eye (2014) fernab vom Charts-Getümmel noch einmal richtig krachen, spann auf beeindruckende Weise den Bogen zurück zum Countryrock, zum Blues und zu atmosphärischen Heartbreakers-Klassikern à la Mary Jane’s Last Dance. Satte Rockmonumente nach Hausmacher Art – musikalische Rettungsringe und Kraftfutter für alternde Rockfans, die sich von den politischen Turbulenzen, den wirtschaftlichen Unsicherheiten und nicht zuletzt den nervösen digitalen Beats des 21. Jahrhunderts allmählich überfordert fühlen. Zu Recht hofften Kritiker noch auf ein, zwei fantastische Alterswerke von Tom Petty. Dazu wird es nun leider nicht mehr kommen.