Ein Splatterfilm im Songformat

Geto Boys, Mind of a Lunatic

Ein Textauszug:

Don Fernando, dieser göttliche Held, stand jetzt, den Rücken an die Kirche gelehnt; in der Linken hielt er die Kinder, in der Rechten das Schwert. Mit jedem Hiebe wetterstrahlte er einen zu Boden; ein Löwe wehrt sich nicht besser. Sieben Bluthunde lagen tot vor ihm, der Fürst der satanischen Rotte selbst war verwundet. Doch Meister Pedrillo ruhte nicht eher, als bis er der Kinder eines bei den Beinen von seiner Brust gerissen, und, hochher im Kreise geschwungen, an eines Kirchpfeilers Ecke zerschmettert hatte. Hierauf ward es still, und alles entfernte sich. Don Fernando, als er seinen kleinen Juan vor sich liegen sah, mit aus dem Hirne vorquellenden Mark, hob, voll namenlosen Schmerzes, seine Augen gen Himmel.

Ein Auszug aus einem Song? Nein, aus einem Prosatext. Irgendwas aus den letzten Jahrzehnten? Nein, die Zeilen wurden schon Anfang des 19. Jahrhunderts verfasst. Ach was? Es handelt sich um den vorletzten Abschnitt der Novelle Das Erdbeben in Chili von Heinrich von Kleist. Darin geht es, ganz knapp skizziert, um zwei Liebende, die aufgrund eines schweren Erdbebens und der daraus resultierenden Wirren mit ihrem kleinen Sohn aus der eigentlich zu Unrecht verhängten Haft fliehen können. Außerhalb der Stadt sammeln sich die Überlebenden, und es scheint, als habe die schreckliche Katastrophe die alten sozialen Strukturen und gesellschaftlichen Dynamiken beseitigt – als sei ein neues, friedlicheres, freieres Leben möglich. Doch als das Paar gemeinsam mit der Familie des Adeligen Don Fernando zu einem Gottesdienst in die Stadt zurückkehrt, initiiert ein aufgebrachter Mob ein Blutbad, bei dem nicht nur die beiden Protagonisten, sondern auch Don Fernandos Schwägerin und sein Sohn Juan ums Leben kommen.

Die explizite Gewaltdarstellung, die man heute auch mit dem Begriff „Splatter“ umschreiben würde, war zu Kleists Zeit noch völlig neu. In der Folge setzte sie sich in verschiedenen literarischen Genres, auch abseits von Krimi und Horrorthriller, durch – im 20. Jahrhundert sahen es vor allem Filmregisseure als Herausforderung, die Möglichkeiten und die Grenzen des explizit Darstellbaren auszuloten. Die ständige Weiterentwicklung der Tricktechnik dürfte dabei ein wesentlicher Motor sein. Auch hier herrscht heute Konsens: Die explizite Gewaltdarstellung kann einen „künstlerischen Wert“ haben, wenn sie nicht um ihrer selbst willen erfolgt und wenn sie nicht dazu dient, zur Gewaltanwendung aufzurufen.

Kleist beschrieb zu seiner Zeit eine „gebrechliche Einrichtung der Welt“ – seine Novellen sind gekennzeichnet von einer grundlegenden Skepsis gegenüber dem Menschen. Entgegen Aufklärern und Romantikern, die womöglich von der Entwicklung der Menschheit auf einen paradiesischen Idealzustand hin träumten, legte er brutale gesellschaftliche Mechanismen offen und zeigte den Menschen als schwach, als irrational und zu unvorstellbarer Gewalt fähig. Analog dazu halte ich etwa heutige Horror- und Splatterfilme dann für grundsätzlich interessant, wenn sie die Gewaltdarstellung in einen ernsten Kontext einbetten: wenn der Schrecken aus einer auf Umweltsünden reagierenden Natur resultiert; wenn Zombies die Auswüchse einer dekadenten Konsumgesellschaft repräsentieren; oder wenn die Taten von Psychopathen auf schwere Traumata, aber auch auf soziale Fehlentwicklungen schließen lassen. Im Kontext hintergründiger Satiren und Grotesken oder auch im nicht ganz ernst gemeinten, spielerischen Austesten der Möglichkeiten filmischer Spezialeffekte kann ich Splatterelemente ebenfalls aushalten.

Keine Angst, das Video enthält keine expliziten Gewaltszenen

Solche Gedanken möchte ich dem folgenden Songbeispiel vorausschicken. Es geht um Mind of A Lunatic, ein Stück des amerikanischen Hip-Hop-Trios Geto Boys von 1989/90. Hier werden in Ich-Form explizit verschiedenste Gewaltverbrechen beschrieben: „The sight of blood excites me, shoot you in the head / Sit down, and watch you bleed to death“, heißt es in der ersten Strophe, „Der Anblick von Blut törnt mich an, ich schieß dir in den Kopf / Dann setz ich mich hin und seh dir zu, wie du verblutest.“ Schon das klingt überaus drastisch. Es ist aber, man kann es nicht anders sagen, noch harmlos verglichen mit dem, was folgt. In der zweiten Strophe überfällt der Sprecher eine Frau, die er schon länger als Spanner beobachtet hat, vergewaltigt sie und schneidet ihr die Kehle durch, um sich anschließend noch einmal an dem leblosen Körper zu vergehen. War der Erschossene aus der ersten Strophe „in the right place with me at the wrong time“, ist die Frau aus der zweiten Strophe in den Augen des Täters selber schuld, weil sie die Vorhänge nicht zugezogen habe: „Shouldn’t have had her curtains open, so that’s her fate.“ In der dritten Strophe geht es um Drogenkonsum („when I’m high“) und die Selbstcharakterisierung als „homicidal maniac with suicidal tendencies“, als mordender Irrer mit selbstmörderischen Tendenzen. Das Song-Ich der vierten Strophe tötet erst die kokainsüchtige Freundin und dann deren Großmutter, um schließlich in eine blutige Schießerei mit der Polizei zu geraten, die das Haus umstellt hat. Zwei weitere Strophen erzählen vom Werdegang dieses Psychopathen und unterstreichen seine menschenverachtende Einstellung.

Ist es immer derselbe Psychopath, der hier spricht – oder sind es mehrere gestörte Killer? So genau kann man das nicht sagen. Weil aber nur schwer vorstellbar ist, dass alle geschilderten Verbrechen von ein und demselben Täter begangen werden, und jede Strophe von einem anderen Bandmitglied gerappt wird, gehe ich von verschiedenen Ich-Sprechern aus. Die Drastik und die grelle Überzeichnung der Lyrics unterstreichen den Rollencharakter dieser Sprecher. Natürlich sind die Lyrics zu Mind of A Lunatic gegen die sprachlich fantastische, atmosphärisch und psychologisch dichte Novelle von Heinrich reichlich simpel gestrickt. Aber ebenso wenig wie Kleist kann man den Geto Boys Gewaltverherrlichung oder den Aufruf zur Gewalt unterstellen – dazu gibt es in ihrem Song zu viele distanzierende Elemente. Am deutlichsten fallen hier der Songtitel und regelmäßig wiederkehrende Zeilen wie „This is what goes on in the mind of a lunatic“ aus, das heißt, die Schilderungen werden eindeutig als Taten oder Fantasien eines Wahnsinnigen charakterisiert. Der Effekt ist ein ähnlicher wie in Frank Zappas Song Bobby Brown, der die besungenen Verirrungen und Geschmacklosigkeiten ganz klar einem Rollen-Ich zuweist, im Sinne eines Spiegelmonologs. Hinzu kommen Vergleiche des Täters mit „Jason“ und „Freddy“, den Psychopathen aus den Filmen „Freitag der 13.“ und „Nightmare on Elm Street“, das heißt mit Protagonisten aus fiktiven Horrorszenarien. Auffällig ist auch die völlig überzogene Aneinanderreihung der unterschiedlichsten Schreckenstaten, von kaltblütigem Mord über Vergewaltigung und Nekrophilie bis hin zum Amoklauf inklusive Polizistenmord. Das wirkt wie das akribische Abarbeiten einer Liste von Abscheulichkeiten, von denen eine schlimmer als die andere ist. Ähnlich wie in einigen Heavy-Metal-Spielarten, in denen sich die Bands im Sinne eines „Noch härter, noch wüster, noch extremer“ gegenseitig zu übertreffen versuchen, scheinen sich auch die Geto-Boys-Mitglieder von Strophe zu Strophe von einem Extrem ins nächste zu pushen. Letztlich aber wirken Musik und Vortrag als distanzierende, ja relativierende Elemente. Die Raps klingen verhältnismäßig unaufgeregt, bisweilen sogar lakonisch, und Beat und Arrangement ergeben einen fast schon geschmackvoll zu nennenden harten Groove.

Mind of a Lunatic ist nur eins von mehreren Geto-Boys-Stücken, die die Darstellung von Verbrechen und Perversionen auf die Spitze treiben und in Verbindung mit bestechend cooler Musik eine irritierende Gemengelage zelebrieren. Ich kann jeden Menschen verstehen, der diese Ästhetik als abstoßend empfindet und keine Lust hat, sich damit zu beschäftigen. Auch der Plattenfirma Geffen war dieser künstlerische Ansatz seinerzeit ein zu heißes Eisen – sie weigerte sich nach heftigen Kontroversen, den Vertrieb für das Album Geto Boys, das Mind of A Lunatic und andere ultraharte Songs enthält, zu übernehmen. Das kann man natürlich akzeptieren. Unverständlich aber wäre es, diese Art von Songs pauschal als gewaltverherrlichend und frauenfeindlich abzustempeln. Die furchteinflößende Wirkung, die von tatsächlichen „hate songs“ etwa aus der politisch extremen rechten Ecke ausgeht, kann man Mind of A Lunatic nicht attestieren – auch wenn den Geto Boys im Alltag der Umgang mit Waffen vertraut scheint und sie nicht gerade als Meister der friedlichen Konfliktlösung bekannt sind. So verlor Geto Boy Bushwick Bill einst ein Auge, als sich während einer Auseinandersetzung mit seiner Freundin ein Schuss aus einer Waffe löste – ein tragischer Vorfall und eine schreckliche Verletzung, die prompt bei der Promotion des nächsten Albums weidlich ausgeschlachtet wurde.
Im Grunde übertrugen die Geto Boys vor rund 30 Jahren eine Horror- und Splatterfilm-Ästhetik auf den Rapsong, um mit diesem auch als „Horrorcore“ bezeichneten Stil ein Alleinstellungsmerkmal zu kreieren. Und wenn man so will, hatte das Ganze auch eine sozialkritische Komponente. Denn die Lyrics trieben die reale Situation in manchem amerikanischem Schwarzen-Ghetto – eine durch Hoffnungslosigkeit und extremen Drogenkonsum befeuerte Atmosphäre der Gewalt – in ihren Songs künstlerisch auf die Spitze. Das Leben im Ghetto als Horror- und Splatter-Spektakel gewissermaßen. Dass die Geto Boys vor allem in den USA und weniger in Europa kontrovers diskutiert werden, mag auch an ihrem geringen Bekanntheitsgrad in unseren Breiten liegen. 

Am 14. März 2019 erscheint bei WBG/THEISS mein neues Buch Provokation! Songs, die für Zündstoff sorg(t)en. Vorgestellt werden rund 70 Songklassiker der letzen hundert Jahre, die zu ihrer Zeit die Gemüter erhitzten und zum Teil noch heute kontrovers diskutiert werden – von Rock Around the Clock bis Relax, von Anarchy in the U.K. bis zum Punk-Gebet, von Rache muss sein bis Stress ohne Grund, von der „British Invasion“ bis zum Echo-Skandal 2018. Den Band ergänzen Betrachtungen zu den wichtigsten Darstellungsformen im Song und Antworten auf 26 Fragen rund um das Thema Songprovokationen. Mit weiteren Texten zum Thema gibt „tedaboutsongs“ einen kleinen Vorgeschmack.

   

Ding-Dong, nur ein Song

Vor rund drei Jahrzehnten provozierte die konservative britische Politikerin Maggie Thatcher eine bis dahin nie gekannte Flut an Protestsongs. 

Großbritannien unter Margaret Thatcher „inspirierte“ viele Bands und Songwriter zu äußerst kritischen bis regelrecht zynischen Protestsongs. Und kaum eine Politikerpersönlichkeit der letzten 70 Jahre wurde so häufig so explizit zur Zielscheibe von Songtexten wie die britische Premierministerin. Die Politik während ihrer Amtszeit (1979–1990) war gekennzeichnet durch Privatisierung, Deregulierung und die Zerschlagung der Gewerkschaften, was – bei allen wirtschaftlichen Erfolgen – zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit, zu sozialen Härten, zu einer Vergrößerung der Kluft zwischen Arm und Reich führte. Der unsinnige Falkland-Krieg und Verordnungen, die die Diskriminierung von Homosexuellen zur Folge hatten, waren weitere Makel ihrer Regierungsarbeit. Eine zwiespältige Situation für Songwriter: einerseits die Erfahrung eines immer härter werdenden Existenzkampfes, andererseits jede Menge Inspiration für aufwühlende Songs. Dennoch hält Bruce Robert Howard alias Dr. Robert, einst Sänger der Blow Monkeys, nichts von der Idee einer Maggie Thatcher „als ‚Geburtshelferin’ einer blühenden britischen Gegenkultur während der Achtziger und frühen neunziger Jahre“, wie sie die „taz“ in einem Interview aus dem Jahr 2013 formuliert.Nein“, wehrt Howard ab. „Sie war eine polarisierende Figur, die zur Gier und zum Egoismus ermunterte, und die das Leben von Menschen zerstörte. Die Kunst mag unter solchen Umständen florieren, aber das ist nichts, für das man dankbar sein sollte. Meiner Meinung nach hatte Thatcher einen zynischen Blick auf die menschliche Natur.“

Die Blow Monkeys waren in den 1980er Jahren nicht nur Teil der von Billy Bragg, Paul Weller und Jimmy Somerville angeführten Musikerinitiative „Red Wedge“ zur Unterstützung der Labour-Partei, sondern „widmeten“ der Tochter eines Kolonialwarenhändlers 1987 auch das Album She Was Only A Grocer’s Daughter. Darauf zu finden: der seinerzeit aus dem Radioprogramm der BBC verbannte Hit (Celebrate) The Day After You. Wo andere aber nur den „Tag danach“, das heißt das Amtsende der Premierministerin feierten, ging Morrissey noch weiter. Der ehemalige Frontmann der Smiths, der schon 1986 The Queen Is Dead propagiert hatte, imaginierte1988 auf seinem Soloalbum Viva Hate gleich die Hinrichtung der ungeliebten Margaret, nicht ohne ein antiaristokratisches Volksaufstand-Szenario wie das der Französischen Revolution zu beschwören. „The kind people have a wonderful dream / Margaret on the guillotine / Cause people like you make me feel so tired / When will you die?“ Natürlich wird nur ein Vorname genannt, aber die Anspielung ist mehr als deutlich. So deutlich, dass Morrissey von Scotland Yard verhört wurde, wie der Sänger 2013 in seiner Autobiografie offenbarte. Damals habe untersucht werden sollen, ob der Star eine reale Bedrohung für die berühmte Politikerin darstellte.

Etliche weitere Songs aus der Zeit provozierten mit mehr oder minder klaren Verweisen: I’m in Love With Margret Thatcher von The Not Sensibles, Kick Out the Tories von den Newton Neurotics, Maggie, Maggie, Maggie (Out, Out, Out) von den Larks, Thatcherites von Billy Bragg oder Shipbuilding von Elvis Costello – ein Song, der zynisch um den Bau von Kriegsschiffen für den Falklandkrieg kreist, wobei möglichen neuen Arbeitsplätzen zukünftige Kriegstote gegenübergestellt werden. Mit Renaud Sechan stimmte 1986 sogar ein französischer Sänger ins Thatcher-Bashing ein. Sein Song Miss Maggie formulierte fiese Liebeserklärungen an die Frauen an sich, jeweils getoppt von einem Seitenhieb auf die verhasste britische Politikerin. Die immergleiche Rüpel-Argumentation: Frauen, und sind sie noch so minderbemittelt, können nie so dumm, so brutal, so kriegstreiberisch sein wie Männer – mit einer Ausnahme: Madame Thatcher …

Als „Madame Thatcher“ dann 2013 tatsächlich starb, verhalf das einem schon 2000 veröffentlichten Punksong der Band Hefner zur Heavy Rotation im Internet. The Day That Thatcher Dies lässt ein Song-Ich auf die 1980er Jahre und seine politische Sozialisierung durch die Labour-Partei zurückblicken. Den zukünftigen Tod der ehemaligen Premierministerin würde der Sprecher schon mal ausgiebig feiern, heißt es da trotzig, auch wenn es nicht korrekt sei: „We will laugh the day that Thatcher dies / Even though we know it’s not right / We will dance and sing all night.“ Das Stück zitiert gegen Ende noch ein fröhliches Kinderlied aus The Wizard of Oz, dem berühmten Film-Musical von 1939, nämlich Ding-Dong! The Witch Is Dead. Tralli, tralla, die Hex’ ist tot? Das schien vielen Thatcher-Kritikern nur allzu gut zu passen. Prompt erlebte Ding-Dong! selbst ein Revival, stieß dank Social-Media-Promotion sogar in die Spitzenregionen der britischen Charts vor – und wurde ebenfalls von der BBC boykottiert. Was aber niemanden wirklich juckte.

Kein liebes Lied von Kraftklub

Große Freude: Mein Buch I Don’t Like Mondays – Die 66 größten Songmissverständnisse findet dank des unermüdlichen Einsatzes meines Agenten und Promoters Günther Wildner reges Interesse. Ein Kapitel darin heißt „Frauenfeindlichkeit geht anders“ und beschäftigt sich unter anderem mit dem Beatles-Song Run for Your Life. Der Sprecher des Songs, ein unberechenbarer, eifersüchtiger Mann, droht seiner Partnerin, sie aufzuspüren und umzubringen, sollte er sie je mit einem anderen Kerl erwischen: „Well, I’d rather see you dead, little girl / Than to be with another man.“ Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass der Liebesrasende seiner Angebeteten da drastische Worte an den Kopf wirft. Weshalb der Song, erschienen 1965, vor allem von feministischen Kreisen als misogyn, als frauenfeindlich, gebrandmarkt wurde.

Dass ich das in der Tat für ein Songmissverständnis halte, habe ich in meinem Buch mit folgenden Argumenten untermauert. Erstens: Es ist ein Lovesong, ein Genresong, der wie viele andere Lovesongs um das Thema Eifersucht kreist und daher auch negative Gefühle wie Wut und Rachegedanken zum Ausdruck bringt. Zweitens: Es spricht eine Art Rollen-Ich, wie man es auch in vielen Songs von Frauen über untreue Männer oder über Nebenbuhlerinnen findet. Man denke nur an Kelis, die die Sprecherin ihres Songs I Hate You Right Now dem Lover androhen lässt, seinen Truck in die Luft zu sprengen, oder auch an Norah Jones, die in Miriam einer Konkurrentin an den Kopf wirft: „I’m gonna smile when I take your life.“ Niemand käme auf die Idee, diesen Songs Männerhass zu unterstellen. Drittens: Die Beatles spiegeln in ihren Songs die unterschiedlichsten menschlichen Gefühle wider, weshalb es in ihrem Repertoire auch die zärtlichsten Liebeslieder, ja wahre Hymnen auf Frauen gibt. Und viertens muss man den Song im Gesamtkontxet des Phänomens „The Beatles“ sehen: Zu keinem Zeitpunkt ihrer Karriere sind John, Paul, George & Ringo als misogyne Dumpfbacken aufgefallen. Im Gegenteil: Sie stehen noch heute für Kreativität, Fantasie, für Love & Peace und andere eher angenehme Dinge im Leben.

Pop lebt von Momentaufnahmen und Schlaglichtern, von Anspielungen und Zitaten – so borgte sich John Lennon den Vers „I’d rather see you dead, little girl“ aus dem Elvis-Song Baby Let’s Play House und drehte die emotionale Schraube noch etwas weiter. Mit demselben Ansatz drehten Frauen wie Nancy Sinatra in ihrer Coverversion von Run for Your Life den Geschlechterspieß einfach um. So dass plötzlich eine eifersüchtige Liebende einen jungen Mann bedrohte: „I’d rather see you dead, little boy …“

Überraschenderweise wiederholt sich die Geschichte nun mit Dein Lied, einem neuen Song der Chemnitzer Band Kraftklub. Es ist eine langsame, getragene Bombastballade, die einen Verlassenen über das Ende einer Beziehung sinnieren lässt. Gefasst und reif klingt dieser gebeutelte Mann in den Strophen, sagt, es sei nun mal so, die Erde drehe sich weiter – und ganz nebenbei erfährt man, dass die Geliebte nun mit seinem besten Freund zusammen ist. Au Backe. Unvermittelt folgt eine ganz konkrete Erinnerung: „Du hast doch ständig gesagt: ,Schreib mir mal ein Lied! / Einfach so, um mir zu zeigen, wie sehr du mich liebst.’“ Bei der anschließenden Ankündigung beschleicht einen eine Ahnung: „Na, dann dreh mal die Anlage auf, geh raus auf den Balkon / Breit die Arme aus und sing zu deinem Song: …“  Tja, und was dann im Refrain folgt, hat in der Szene schon für Aufregung gesorgt. Es sind die Zeilen „Du verdammte Hure, das ist dein Lied / Dein Lied ganz allein.“ Ziemlich starker Tobak, der in der zweiten Strophe und dem zweiten Refrain noch einmal durchgespielt wird und der Band den Vorwurf der Frauenfeindlichkeit eingehandelt hat. Zumal der Begriff „Hure“ gern in Proll- und Gangsterrap-Kreisen und dort gern auch aufrichtig verächtlich gebraucht wird.

Ganz klar: Ich respektiere die Kritik und solche Empfindungen, denn es ist eine provokante Gratwanderung, die Kraftklub da vollziehen. Aber auch hier nehme ich die Band in Schutz, und zwar mit fast denselben Argumenten wie bei den Beatles. Kraftklub sind bisher überhaupt nicht durch misogyne oder anderweitig arschlochhafte Anwandlungen aufgefallen. Im Gegenteil: Sie stehen für einen frischen, energiegeladenen Rap-Rock, der ungemein sprachgewandt und schlagfertig die unterschiedlichsten menschlichen Gefühle beschreibt, Szeneklischees und Musikerkollegen auf die Schippe nimmt, Dumpfbackenmentalität entlarvt, sogar das Leben als erfolgreiche Band hinterfragt und bei alldem nicht mit Selbstironie geizt. Dein Lied macht fast schon altersweise deutlich, dass hinter allen Versuchen, eine Trennung würdevoll und erwachsen über die Bühne zu bringen, doch meist ein maßloses Verletztsein und eine ungeheure Wut stehen. Die Beschimpfung der Verflossenen als „Hure“ bildet als Zitat aus dem Ganster-Rap den größtmöglichen Kontrast zu hypersensiblen, fast allzu versöhnlichen Strophenversen wie: „Wichtig ist, gut auseinanderzugeh’n / Du hast einfach immer recht / Und wichtig ist auch, beide Seiten zu seh’n / War ja auch nicht alles schlecht / Da muss keiner leiden, nur weil wir uns streiten / Das lässt sich ja vermeiden / Keiner der Freunde muss sich entscheiden / Zwischen uns beiden / Wir sind nicht mehr dreizehn.“ Es sind unterschiedliche sprachliche Codes und Gefühlslagen, die hier ganz bewusst aufeinander losgelassen werden. So wie die balladenhaften Strophen mit einem fast schon opernhaften Megaschlager-Refrain samt Großorchester kollidieren. Wenn hier Trennungsschmerz als gaaaaaanz, gaaaaaanz großes Kino mit seltsamen Brüchen inszeniert wird, kann man bei dem eher dämlich herausgeschmetterten „Du Hure“ auch durchaus ins Schmunzeln kommen. Auf solche irritierenden Wirkungen zielt das Lied.

Das Video zu Dein Lied, in dem hinter der Band und dem Orchester genüsslich das Markenzeichen von Kraftklub, ein großes K, abgefackelt wird, wurde ebenfalls kritisiert, wegen angeblicher Nazifarbsymbolik. Auch das ist in meinen Augen völliger Unsinn. Es dominieren Rot/Schwarz (vergleiche Bühnenoutfits von Kraftwerk) und das Blau des gigantischen Buchstabens K, und ich kenne kaum eine Band, die mal eben so die Zerstörung ihres eigenen Logos zelebrieren würde. Ist das nicht vielmehr wieder Selbstironie? Kraftklub malen hier übertrieben Schwarz-Weiß, und sie tun es ganz bewusst. Der falschen Idealisierung (der Geliebten/der Band), der selbstverleugnenden Gefühlsduselei keine Chance! Und kann eine Gruppe, die in einem anderen neuen Song, nämlich Fenster, rechten Wutbürgern selbstbewusst rät: „Spring aus dem Fenster für mich / Du kannst was erreichen“, wirklich primitiv misogyn und gemein sein? „SPIEGEL Online“ lobt denn auch das neue Kraftklub-Album Keine Nacht für niemand als Befreiung von Indie-Zwängen, als „libertäres Aufbäumen, ein Feiern von Exzess und Ausgelassenheit, gegen den Drang zu Selbstoptimierung, den Zwang zur Fitness, die Ächtung von Rauchern“. Frontmann Felix Brummer wird mit den Worten zitiert: „Wir denken uns Geschichten aus. Und wenn wir die Perspektive des gebrochenen Ex-Freundes faszinierend finden, dann finden wir die halt faszinierend. Na klar ist das politisch unkorrekt, aber es ist nachvollziehbar, stark und spannend. Finden wir.“ Weshalb es die Band mit Sicherheit auch großartig fände, wenn eine Frauencombo auf den Plan treten würde, um Dein Lied ganz im Stile Nancy Sinatras einer gendertechnischen Bearbeitung zu unterziehen.

„Feindliche Übernahme“ heißt ein weiteres Kapitel in meinem Buch über Songmissverständnisse. Darin geht es auch um den Ärzte-Song Männer sind Schweine. Das Stück, das unter anderem schwanzgesteuerte Aufreißer-Prolls kritisiert, wurde den Künstlern regelrecht weggenommen und mutierte zum Macho-Mitgrölhit am Ballermann. Nicht auszudenken, wenn ganze Cliquen angetrunkener Prolls auf Parties, auf der Wiesn oder bei Konzerten nun auch euphorisiert den Kraftklub-Refrain „Du Hure, das ist dein Lied“ durch die Gegend brüllen. Mit diesem unangenehmen Effekt muss die Band zumindest rechnen. Es sei denn, sie erwartet einen selbstentlarvenden Effekt – oder hat schon längst eine andere Strategie, wie sie eine solche feindliche Übernahme verhindert.



Aktuelle Buchveröffentlichung:

I Don’t Like Mondays – Die 66 größten Songmissverständnisse,
224 Seiten, THEISS,
19,90 Euro

 

Hauptsache berühmt

Aufreger des Jahres: Kanye Wests Famous-Coup featuring Taylor Swift und Donald Trump

 

Keine Frage, das Jahr 2016 wird als besonderes Jahr in die Musikgeschichte eingehen. Von David Bowie bis Prince, von George Martin bis Leonard Cohen – wohl in keinem anderen Jahr sind so viele Superstars gestorben. Gleichzeitig ist 2016 das Jahr, in dem mit Bob Dylan zum ersten Mal überhaupt ein Singer-Songwriter den Literaturnobelpreis erhalten hat. Aber 2016 kam auch eins der seltsamsten künstlerischen Statements der jüngeren Musikgeschichte heraus. Die Rede ist von Famous, einem Song und einem Video des amerikanischen Rappers Kanye West.

Es gibt mehrere Wege, sich dem Famous-Phänomen zu nähern. Zum Beispiel den über Taylor Swift, die in Song und Video prominent „platziert“ wird. Taylor Swift ist jenes ehemalige Country-Talent, das sich innerhalb weniger Jahre zum internationalen Superstar gemausert hat – heute ist sie in etwa so berühmt wie Lady Gaga und Madonna. Und sie hat so etwas wie ein Markenzeichen entwickelt: Sie geht nicht nur mit etlichen berühmten Musikern und Schauspielern aus, sie kokettiert damit auch in ihren Songs. So war es um 2014 fast schon so weit gekommen, dass Medien ihre zukünftigen Liebhaber ironisch zur Vorsicht mahnten – sonst würden sie womöglich in einem Song der Künstlerin landen. Frei nach dem Motto „Got a long list of ex lovers“ (Zitat aus dem Swift-Song Blank Space, 2014) listen Klatschportale und Musikmagazine mal 10, mal 15, mal 21 Swift-Songs auf, die von ganz konkreten Beziehungen und Affären handeln sollen, wenn auch gern versehen mit dem Hinweis, dass manches nur auf Spekulationen und Beobachtungen beruhe.

Es sind freilich Spekulationen und Beobachtungen, die Taylor Swift oftmals selbst befeuert hat: etwa indem sie zu bestimmten Zeitpunkten entprechende Songs veröffentlichte, gern auch unter Nennung von Vornamen in den Lyrics, oder indem sie Andeutungen und vieldeutige Songzeilen twitterte. Harry Styles von der Boygroup One Direction, Songwriter John Mayer, Schauspieler Jake Gyllenhaal und sein Kollege Taylor Lautner sind nur einige von vielen smarten Herren, die Swift auf die eine oder andere Weise in ihren Songs verwurstet haben soll.

Bei so viel direkter und indirekter Promi-Verarbeitung durch die Künstlerin blieb natürlich lange Zeit eine Frage offen: Wann dreht endlich jemand den Spieß mal um? Wann ist jemand so frei, seinerseits Taylor Swift in einem Song zu „droppen“? Womit wir zu den denkwürdigen Auftritten von Kanye West kommen. Der Rapper, der gemeinsam mit seiner Frau Kim Kardashian so etwas wie „Die Geissens“ des amerikanischen Hip-Hop verkörpert, sorgte 2016, wie schon angedeutet, mit einer rustikalen Swift-Anspielung in seinem Track Famous für einen handfesten Skandal. Um diesen strategischen „move“ zu verstehen, muss man aber noch einmal in die Vergangenheit zurückgehen. Denn er war der Gipfel einer medienwirksamen Fehde, die sich schon einige Jahre lang hingezogen hatte und die beiden Seiten – bei aller öffentlich zur Schau gestellten Wut, Enttäuschung und Angriffslust – „ruhmmäßig“ bestens bekommen war.

„I made that bitch famous“: Kanye Wests unerwartet kunstvoller Kommentar zu Taylor Swift und zum Thema Ruhm

Alles fing an mit den MTV Video Music Awards 2009. Damals hatte der Clip zu Taylor Swifts Song You Belong With Me die Auszeichnung als „Best Female Video“ erhalten, weshalb die überglückliche Künstlerin auf die Bühne gebeten wurde. Doch mitten in ihre Dankesrede platzte Kanye West, riss das Mikro an sich und tat dem überraschten Publikum kund, dass für ihn das ebenfalls nominierte Video zum Song Single Ladies von Beyoncé eins der besten Videos aller Zeiten sei. West wurde umgehend ausgebuht, doch das schadete ihm erstaunlicherweise überhaupt nicht. Im Gegenteil: Jetzt kannte man seinen Namen. Und dass sogar US-Präsident Barack Obama persönlich ihn einen „jackass“, einen „dummen Esel, nannte, dürfte er als Adelung von höchster Stelle empfunden haben.

In der Folge gab der Rüpelrapper den Reumütigen, entschuldigte sich auf den unterschiedlichsten Kanälen und ließ 2010 auch den Swift-Song Innocent über sich ergehen, aus dem Kritiker jede Menge Anspielungen auf den unrühmlichen Vorfall heraushörten. Und so schien die Sache Ende 2010 erledigt. Doch dann polterte West in einem Interview los, das Swift-Album Fearless sei aktuell zu Unrecht mit einem Grammy ausgezeichnet worden, und seine spektakuläre Einlage bei den MTV Music Awards 2009 hätte doch eine gewisse Berechtigung gehabt. Dabei ließ er nicht unerwähnt, dass exakt dieser Skandalauftritt Swift 100 Magazin-Titelbilder und Millionenverkäufe ihrer Alben beschert habe. Eigentlich, so die Botschaft zwischen den Zeilen, habe er, Kanye West, sie erst richtig berühmt gemacht.

Das war starker Tobak. Doch Taylor Swift blieb einmal mehr verhältnismäßig entspannt und hatte sogar die Größe, Kanye West bei den Video Music Awards im August 2015 den „Michael Jackson Video Vanguard Award“ zu überreichen – wobei man sich allmählich fragen durfte, warum die Konflikte der beiden Stars in schöner Regelmäßigkeit rund um irgendwelche publicityträchtigen Preisverleihungen entbrannten. Aber egal. Im Frühjahr 2016 jedenfalls stellte West sein neues Album Life of Pablo vor, und besonders der etwas wirre Track Famous hatte es in sich: Da beteuert eine von Superstar Rihanna „verkörperte“ Frau, dass sie ihren Kerl liebe, aber verstehen könne, dass er frei sein wolle, während ein von Kanye West impersonierter Sprecher nicht nur seinen Ruhm feiert, sondern all die Frauen, die er „hatte“. Die aber seien neidisch, weil sie nicht berühmt seien und nur irgendwelche erfolglosen Männer an ihrer Seite hätten. Hm, waren das die im Hip-Hop üblichen Prahlereien und Männer-/Frauen-Dialoge? Nur bedingt. Denn gleich am Anfang fallen die explosiven Verse: „For all my Southside niggas that know me best / I feel like me and Taylor might still have sex / Why? I made that bitch famous / Goddamn, I made that bitch famous.“ Zu Deutsch: „An all meine Southside-Leute, die mich am besten kennen / Ich hab das Gefühl, ich und Taylor könnten immer noch Sex haben / Warum? Ich habe die Schlampe berühmt gemacht / Gottverdammt, ich habe die Schlampe berühmt gemacht.“ Das knüpfte natürlich direkt an die alte Interview-Äußerung an, West habe Swift 100 Magazin-Titelbilder und Millionenverkäufe beschert.

Von da an wurde es unübersichtlich. Nicht nur aus dem Swift-Lager kam der Vorwurf, diese Verse gingen dann doch etwas zu weit. Woraufhin West konterte, er hätte mit Swift im Vorfeld der Veröffentlichung gesprochen, und diese hätte sich erfreut darüber gezeigt, dass er sie in einem Song erwähnen wolle – sogar so erfreut, dass sie die Passage explizit genehmigt hätte. Was wiederum Swift zu der Einlassung bewog, sie habe lediglich die Zeile „I feel like me and Taylor might still have sex“ genehmigt – die beleidigende Fortführung „Why? I made that bitch famous“ habe West ihr vorenthalten. Bis Juni 2016 flogen Anschuldigungen und Rechtfertigungen hin und her, wobei Kanye West etwas heuchlerisch darauf hinwies, dass der Begriff „bitch“ im Hip-Hop doch durchaus ein positiv besetzter Begriff, also ein Kompliment sei. Und just als die Fehde langsam abzuflauen schien, ereigneten sich – na so was! – zwei weitere Eskalationsstufen: Erstens überraschte Wests treu sorgende Ehefrau Kim Kardashian, ihrerseits TV-Star, Modeunternehmerin und Dauerthema in der Klatschpresse, die Öffentlichkeit mit der Information, dass ein Mitschnitt des Gesprächs existierte, in dem Swift die umstrittenen Verse aus dem West-Song Famous genehmigt hatte – ein absoluter Affront, der zudem die heikle Frage aufwarf, ob das heimlich Mitschneiden eines Gesprächs überhaupt rechtens gewesen sei. Zweitens veröffentlichte Kanye West am 24. Juni 2016 mit dem Video zum Track Famous den seltsamsten Clip der jüngeren Musikgeschichte. Seltsamst deshalb, weil der von einem Sonnenuntergang und einem Sonnenaufgang umrahmte Hauptteil des 10:37 Minuten langen Streifens aus langsamen, immer wieder Details fokussierenden Kamerafahrten über eine Reihe nackter Menschen besteht, die mal mehr, mal weniger von Laken bedeckt nebeneinander auf einem gigantischen Bett schlafen.

Bildschirmfoto Kanye West, "Famous", vom Videoportal vevo

Bildschirmfoto Kanye West, „Famous“, vom Videoportal vevo

Was neben der provozierenden Ereignislosigkeit und der nicht gerade hochauflösenden Bildqualität an diesem Video irritiert: Bei den schlafenden Nackten handelt es sich nicht etwa um namenlose Models, sondern durchweg um amerikanische Prominente, um „famous people“ sozusagen, aus Politik, Unterhaltung und Kultur. So werden die Republikaner George W. Bush und Donald Trump, „Vogue“-Chefredakteurin Anna Wintour, die Popstars Rihanna und Chris Bown, Kim Kardashians rappender Exmann Ray J, Kanye Wests Exfreundin und Model Amber Rose, die ehemalige Goldmedaillengewinnerin im Zehnkampf und heutige Transsexuelle Caitlyn Jenner sowie Komiker Bill Cosby gezeigt. Mittendrin liegt Kanye West, flankiert von seiner Frau Kim Kardashian und, na wem wohl, Taylor Swift! Sie ist barbusig! Ihr Gesicht ist Kanye West zugewandt, der sich wiederum von ihr ab- und Kim Kardashian zuzuwenden scheint! Krrrrass! Was für ein spektakulärer Effekt – dem bald Erläuterungen und eine gewisse Erleichterung folgen sollten. Denn natürlich sind die im Clip gezeigten Promis nicht echt. Außer bei Kanye West, der am Ende des zentralen Teils den Kopf in die Kamera dreht und die Augen öffnet, und vielleicht noch seiner Gattin handelt es sich bei allen Personen um Wachsfiguren.

Es kam, wie es kommen musste: Heftige Wortgefechte erschütterten Fans und Medien. Bis die Fehde, man kannte inzwischen den Rhythmus aus Hochkochen- und Abkühlenlassen, irgendwann Ende 2016 einmal mehr im Sand verlief. Da stellt sich aus heutiger Sicht natürlich die Frage: Illegal mitgeschnittene Gespräche, Zurschaustellung von Nacktskulpturen – warum hat Taylor Swift ihren Widersacher Kanye West nie verklagt? Und warum haben sich auch die anderen im Famous-Video gezeigten Promis nicht gegen solch eine buchstäbliche „Bloßstellung“ gewehrt, allen voran der als aufbrausend und nachtragend berüchtigte Donald Trump? Ja, die eine oder andere der gezeigten Berühmtheiten soll „not amused“ gewesen sein, während George W. Bush von einem Sprecher verlauten ließ, er fühle sich schlecht getroffen, der echte Mr. Bush sei viel besser in Schuss als das schlaffe Wachsmodell in dem Video. Aber sonst? Die Antwort könnte lauten: Weil das Ganze letztlich ein großangelegtes Spiel zu sein scheint, bei dem jeder und jede am Ende gerne mitspielt. Genau das ist das Zwingende an diesem sonderbaren Video von Kanye West: Es zeigt einerseits, was Promis und VIPs über sich ergehen lassen müssen – wie sie in der Öffentlichkeit zur Schau gestellt und teilweise sogar entblößt werden; andererseits unterstreicht es, wie Promis und VIPs durch genau dieses Zur-Schau-gestellt-Werden und Sich-selbst-zur-Schau-Stellen profitieren: Es steigert ihren Ruhm ins Unermessliche. Selbst schuld, wer dagegen gerichtlich vorgeht. „Bitte überzieht mich mit Klagen“, soll West rund um die Videopräsentation ebenso selbstironisch wie siegessicher erklärt haben. Er wusste, dass ihm letztlich nichts passieren würde – und dass manch anderer Promi alles dafür gegeben hätte, um in diesem Video „auftreten“ zu dürfen.

Bildschirmfoto Andy Warhols "Sleep" vom Videoportal vimeo

Bildschirmfoto Andy Warhol, „Sleep“, vom Videoportal vimeo

Auch dass die dargestellten Promis nichts anderes als Wachsfiguren sind, gehört zur Aussage: Die Berühmtheiten erscheinen als formbare leere Hüllen, auf die wir, die nicht berühmten Menschen im Publikum, unsere Fantasien, unsere Hoffnungen, unsere Aggressionen projizieren. Die suboptimale Bildqualität unterstreicht den Schlüsselloch-Blick, den voyeuristischen Charakter des Streifens. Hinzu kommt, dass das Video künstlerische Vorlagen zitiert. Da ist zum einen der fast sechs Stunden lange Film Sleep von Andy Warhol aus dem Jahr 1963, der nichts anderes tut, als den Beat-Poeten John Giorno beim Schlafen zu zeigen: Es geht um den Prominenten als gewöhnlichen Menschen, um die Berühmtheit in einer Art Stand-by-Modus, um das Unterlaufen von Zuschauererwartungen, das intensive Wahrnehmen von Zeit und um die Entdeckung minimaler Variationen. Zum anderen bezieht sich das Video auf das 2008 entstandene Gemälde Sleep des Künstlers Vincent Desidorio, der dabei nach eigenen Aussagen an „schlummernde Götter“ gedacht haben will. Und so sind auch die „famous people“ im Video von Kanye West schlummernde Götter, die unter unserer Bewunderung zum Leben erwachen.

Bildschirmfoto Vincent Desidorios "Sleep" auf www.nytimes.com

Bildschirmfoto Vincent Desidorio, „Sleep“, auf www.nytimes.com

Bei all diesen Schlafenden handelt es sich zudem um Prominente mit besonders großem Hang zur Selbstinszenierung, teilweise auch zum Skandal. Sie haben sich sozusagen selbst zu spektakulären medialen Gottheiten gemacht. Die beiden äußerst nachlässig mit der Wahrheit umgehenden Spitzenpolitiker Bush und Trump, von denen Letzterer auch als Immobilien-Tycoon, als TV-Star und nicht zuletzt als polternder Populist für Aufregung sorgte; der unbeherrschte Rapper Chris Rock, der seine damalige Freundin Rihanna geschlagen hatte; sein großspuriger Kollege Kanye West; die Transsexuelle Caitlynn Jenner; die im Bestseller Der Teufel trägt Prada verewigte streitbare Starmacherin Anna Wintour vom „Vogue“-Magazin; oder der in hohem Alter mit Missbrauchsvorwürfen und Sexskandalen konfrontierte Komiker Bill Cosby – fast jede der hier versammelten Persönlichkeiten ist auf irgendeine Weise schon für sich genommen berühmt-berüchtigt. Aber auch im Verbund betrachtet stehen diese Promis für publikumswirksame, den Bekanntheitsgrad steigernde Kontroversen: Ausgerechnet zwei erzkonservative weiße Vertreter des politischen Establishments finden sich in einem Bett mit schwarzen Showgrößen und Transsexuellen wieder; ausgerechnet die verfehdeten Stars Taylor Swift und Kanye West oder das nach häuslicher Gewalt auseinandergegangene Expaar Rihanna/Chris Brown werden unter demselben Laken wiedervereint; ausgerechnet Kim Kardashian, ihr Ex-Lover Ray J und ihr aktueller Lover Kanye West teilen dasselbe Lager – es ist eine extreme Konstellation, die jede Menge Zündstoff birgt. Aus solchem Stoff ist Ruhm gemacht.

Genauer betrachtet erweist sich das Famous-Video als intelligenter Kommentar zu den Mechanismen des Ruhms. Auf der Metaebene beleuchtet der Clip mit cleveren Anspielungen auf künstlerische Vorbilder, wie Medienstartum entstehen kann und was er für alle Beteiligte bedeutet, die Stars ebenso wie ihr Publikum. Dabei schwingt auch etwas von dem Warhol’schen Gedanken mit, dass ein jeder Mensch seine 15 Minuten Ruhm haben kann, wenn er nur genügend präsent ist oder massiv genug behauptet, ein Star zu sein. Kanye West steigert hier seinen Ruhm, indem er sich mit anderen Berühmtheiten umgibt. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem skandalgetriebenen Ruhm, auf den Mechanismen, mit denen man zum Aufmacher in den Boulevardmedien wird.

Famous ist ein feines kleines Stück Gegenwartskunst. Und betrachtet man Song und Video speziell mit Blick auf Taylor Swift, dann macht Kanye West nicht nur das mit der Künstlerin, was diese mit berühmten Verflossenen aus dem wirklichen Leben macht, sondern zieht auch die Schraube noch einmal kräftig an. Konkret: Er droppt ihren Namen in einem Song, denkt öffentlichkeitswirksam laut über eine sexuelle Begegnung nach – und legt sie obendrein noch nackt neben sich ins Bett. Am Ende schlägt Kanye West Taylor Swift mit ihren eigenen Waffen. Ein aggressiveres Namedropping als Marketingstrategie ist kaum vorstellbar. Mit irgendwelchen „autobiografischen“ Einblicken in Kanye Wests biografisches Ich hat das nicht im Mindesten zu tun.

Epilog: Trump, West und die Folgen

Bei diesen Bemerkungen könnte man es belassen – wenn nicht am 8. November 2016 Donald Trump völlig unerwartet zum Nachfolger von Barack Obama als Präsident der Vereinigten Staaten gewählt worden wäre. Mit Blick auf den Famous-Coup hatte diese Wahl zwei erstaunliche Konsequenzen: Erstens erwies sich das Video plötzlich als geradezu visionär – denn Trump, zur Entstehungszeit des Videos noch umstrittener Kandidat, hatte durch den Wahlsieg tatsächlich denselben Status wie einst sein „Bettnachbar“ George W. Bush erlangt; zum anderen offenbarte sich Kanye West als Bruder Trumps im Geiste. Im Rahmen seiner Konzerttour Mitte November 2016 wetterte er nämlich plötzlich live von der Bühne gegen seine berühmten Musikerkollegen Jay-Z und Beyoncé, die die demokratische Kandidatin Hillary Clinton unterstützt hatten, und feixte, er sei zwar nicht wählen gegangen, hätte aber für Trump gestimmt – auch wenn er die „Black Lives Matter“-Initiative und andere antirassistische Bewegungen wichtig finde. Begründung: Trumps Kampagne, ihr Ansatz, sei „absolut genial“ gewesen, und sie bringe Rassisten endlich dazu, ihr wahres Gesicht zu zeigen. Trotz des halbherzigen Nachsatzes ein echter Abtörner, denn die unverhohlene Bewunderung für den siegreichen Republikaner und die Ausfälle gegen Beyoncé & Co dominierten. Bei seiner Glorifizierung der Trump’schen Wahlkampfstrategie, die auf größtmögliche Provokation, auf Sexismus, Rassismus und Ausgrenzung, kurz: auf die zynische Missachtung demokratischer Grundwerte zielte, ließ sich West nicht aus dem Konzept bringen, auch nicht von empörten Buhrufen aus dem Publikum. Vielmehr toppte er den Skandal noch mit der schon früher mal gemachten Ankündigung, im Jahr 2020 selbst für das Amt des US-Präsidenten kandidieren zu wollen. Was dem respektlos-cleveren Famous-Schachzug dann endgültig den Glamour nahm. In der Rückschau offenbarten sich plötzlich sämtliche widersprüchlichen, verletzenden Äußerungen und Auftritte Wests als Adaption der Trump’schen Populismus-Strategie ins Musikgeschäft und in den Kunstbetrieb: Austeilen, schädigen, Unsinn verbreiten, Zurücknehmen, Nachlegen, Toppen, und das alles ohne Rücksicht auf Verluste. Hauptsache: Ruhm und Quoten, also größtmöglicher Erfolg. Letztlich ein zweifelhafter Spaß, der unter anderem die Frage aufwirft: Sozial engagiert sein, aber ausgerechnet bei dieser Wahl seine Stimme nicht abgeben und schlussendlich noch Trumps Rhetorik gutheißen – kann das wirklich zusammenpassen? Ein Widerspruch, den der Rapper möglicherweise selbst nicht aushalten konnte. Wenige Tage nach seinen Tiraden auf der Konzertbühne musste er die Tour aus gesundheitlichen Gründen abbrechen und kam in ein Krankenhaus. Zur Beobachtung. Nicht wenige wären erfreut gewesen, hätte man ihn für immer dabehalten.

 

Alles andere als schön – aber unglaublich gut

Sieben Gründe, warum der Literaturnobelpreis für Bob Dylan gerechtfertigt ist

Advertising signs they con
You into thinking you’re the one
That can do what’s never been done
That can win what’s never been won
Meantime life outside goes on
All around you

Bob Dylan, It’s Alright, Ma (I’m Only Bleeding)

Sieben Schönheiten heißt ein Film der in Rom geborenen Regisseurin Lina Wertmüller aus dem Jahr 1976. Er erzählt von einem gestandenen italienischen Macho und Opportunisten, der misstrauisch die Jungfräulichkeit seiner sieben Schwestern bewacht, dann aber während des Zweiten Weltkriegs in deutsche Gefangenschaft gerät und schließlich im KZ landet. Aus purem Überlebenswillen tut er die abscheulichsten Dinge, unter anderem verführt er die grausame KZ-Wärterin und lässt sich zu ihrem Werkzeug machen. Der Film ist alles andere als schön, voll verstörender, entwürdigender Szenen, voll schmutziger Farben und drastischer Schnitte – ich muss sagen: Ich mag ihn nicht. Ich habe den Film seitdem nicht noch einmal gesehen, und ich will ihn auch nicht noch einmal sehen. Nein, Lina Wertmüller ist nicht mein Ding. Und doch muss ich gleichzeitig sagen: Sieben Schönheiten ist ein extrem guter, ein extrem wichtiger Film.

Ähnlich geht es mir mit Bob Dylan. Höre ich ihn singen, rollen sich mir die Fußnägel hoch. Bläst er in seine Mundharmonika, möchte ich schreiend aus dem Zimmer laufen. Etliche seiner Songs empfinde ich als anstrengend bis quälend. Nein, ich bin wirklich kein Bob-Dylan-Freund. Ich mag Bob Dylan einfach nicht. Und weiß gleichzeitig: Der Mann ist gut. Sogar sehr gut. Und eminent wichtig.

Insofern freue ich mich aufrichtig, dass ausgerechnet „Dylan“ – er gehört ja zu den Ikonen, deren Vornamen man im Gespräch eigentlich nicht mehr erwähnt – den Literaturnobelpreis 2016 erhalten hat. Und schüttele den Kopf über missgünstige Fachleute wie Trainspotting-Autor Irvine Welsh, der in den Medien mit den bescheuerten Worten zitiert wird: „Ich bin ein Dylan-Fan, aber dies ist ein schlecht durchdachter Nostalgiepreis, herausgerissen aus den ranzigen Prostatas seniler, sabbernder Hippies.“ Lieber Irvine Welsh: Man muss weder Dylan-Fan noch sabbernder Hippie mit ranziger Prostata sein, um diesen Preis als gerechtfertigt anzuerkennen. Und statt nun alle möglichen Dylan-Songs zu posten, irgendwelche suggestiv-bedeutungsschwangeren Songzeilen zu zitieren oder immer wieder allertiefste Anerkennung zu artikulieren, scheint es mir angebracht, wenigstens kurz ein paar Argumente für die außerordentliche literarische Qualität Bob Dylans zu skizzieren. Hier schon mal sieben Gründe, warum der Literaturnobelpreis gerechtfertigt ist – sieben Schönheiten im übertragenen Sinne:

https://vimeo.com/97255051

  1. Bob Dylan gehört zu den wenigen Literaten, die mit einem Text unmittelbar in die Gesellschaft hineinwirkten.      

1975/76, als Lina Wertmüller Sieben Schönheiten drehte, war Dylan bereits ein gefeierter Star und machte mit seiner „Rolling Thunder Review“ Furore, der Tournee mit einer All-Star-Band, zu der auch Joan Baez, Roger McQuinn und Emmylou Harris gehörten. Teil des Programms war der 1975 eingespielte Dylan-Song Hurricane. Der thematisierte den Fall des wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilten schwarzen Ex-Boxers Rubin „Hurricane“ Carter. Minutiös deckten Dylans Lyrics die Schwachstellen der Anklage auf und untermauerten die These vom rassistisch motivierten Fehlurteil. Der Erfolg des Songs führte zu einer Neuaufnahme der Ermittlungen und – in dritter Instanz – zum Freispruch Carters. Welches literarische Werk kann solch eine Wirkung für sich beanspruchen?

  1. Bob Dylan ist ein kreativer Grenzgänger, der nicht nur Genregrenzen, sondern auch literarische Konventionen sprengt.

Was? Ein schnöder Songwriter bekommt den Literaturnobelpreis? Falsch! Dylan ist nicht nur Songwriter, sondern Literat durch und durch. Zusätzlich zu seinen Songs schreibt er Lyrik, die er nicht vertont (berühmt: seine 11 Outlined Epitaphs), aber auch Prosatexte. Damals verschrien, heute ein Szeneklassiker: Sein Prosaband Tarantula, in dem er mit Sprache musiziert und spannende Bezüge zur Tradition der Symbolisten herstellt. Mit selbst verfassten Stücken dieser Art erhob er zudem die Plattenhüllentexte, die sogenannten „liner notes“, zur literarischen Kunstform.

  1. Bob Dylans Lyrics haben Pop- und Rocksongs für literarische Komplexität geöffnet.

Witzig, clever, intelligent und anspruchsvoll waren Songtexte auch schon vor Bob Dylan. Doch mit seinen Songs wurden Lyrics Literatur. Langpoeme von epischem Ausmaß, ungewöhnliche Perspektiven und Darstellungsformen, grandiose Bilder, zentnerschwere Metaphern, Allegorie, Bewusstseinsstrom und dramatische Inszenierung – all das fand sich plötzlich auch im Rock- und Popkontext wieder. Mit Bob Dylan wurde Hippiemusik erwachsen.

  1. Eins von vielen prägenden Dylan’sches Stilmitteln: die Parade mythischer Figuren

Einstein, Nero, Kain und Abel, Ophelia, Romeo, Cinderella – Dylans Song Desolation Row lässt eine Fülle realer und fiktiver Personen und Figuren in einer apokalyptischen Szenerie vor dem geistigen Auge des Hörers vorüberziehen. Ähnlich verfährt der im selben Jahr erschienene Song Highway 61 Revisited. Don McLean griff die innovative Technik 1971 in seinem Song American Pie auf und landete damit einen Welthit. Und auch Bruce Springsteen (Spirit in the Night, 1973) versuchte sich hin und wieder an dieser lyrischen Form. Keiner aber beherrschte sie so verstörend wie der Meister selbst.

  1. Im Spiel mit Texten und Kontexten ist Bob Dylan unschlagbar.

Schon als Interpret traditioneller Folksongs verstand es Dylan, Außenseiterballaden politische Sprengkraft zu verleihen. Es kam darauf an, in welchem Kontext man sie vortrug. Zu Beginn seiner Karriere kanzelten Kritiker seine Songs als mit Musik untermalte Lesegedichte ab – heute feiern Laudatoren die Tatsache, dass Dylan-Texte ohne die Musik nicht denkbar seien. Dasselbe gilt für die stimmliche Interpretation. Bei Livekonzerten versetzt der Künstler immer wieder Fans in Verzückung wie in Rage, indem er seine von Studioaufnahmen bekannten „Hits“ in völlig andere musikalische Arrangements kleidet, sie völlig anders intoniert und so nicht nur mit Erwartungen bricht, sondern auch neue Bedeutungsebenen erschließt. Nicht selten verändert er dabei spontan auch einzelne Verse und Strophen – als Reaktion auf aktuelle Anlässe. Dass Texte in verschiedenen musikalischen und gesellschaftlichen Kontexten Anlass zu reizvollen Spielen bieten, versteht kaum jemand so gut wie Dylan. Er nutzt Möglichkeiten, die reine Printautoren nicht haben.

  1. Dylan – integrer Künstler in einer globalisierten Medienwelt

Literaten heute sind mehr als nur Textlieferanten oder Stimmen ihrer Generation. Literaten heute sind auch Medienpersönlichkeiten, hin und her gerissen zwischen Selbstverwirklichung und den Ansprüchen Dritter, immer in Gefahr, vereinnahmt oder gestürzt zu werden. Bob Dylan gehört zu den wenigen Künstlern, die in diesem gefährlichen Spannungsfeld absolut integer, autark und letztlich ungreifbar geblieben sind. Von Anfang an hat er sich vor keinen Karren spannen lassen, stets noch rechtzeitig die nächste Wende vollzogen, sich immer wieder neu erfunden. Obwohl schon 75, gibt er immer noch wenig von sich preis – bleibt nach wie vor rätselhaft. Die reale Person hinter den Songs und Texten ist komplett abgeschirmt, Fragen nach Authentizität stellt man ihm nicht mehr. Sein Werk steht für sich. Dylan besitzt die volle Kontrolle über seine Medien-Persona, das intelligente Katz-und-Maus-Spiel mit Publikum und Kritik hat er als einer der Ersten seiner Ära zur künstlerischen Strategie erhoben. Todd Haynes hat diese Strategie in seinem Kinofilm I’m Not There auf wunderbare Weise reflektiert. Da wird Dylan gleich von mehreren Schauspielstars verkörpert, unter anderem von Cate Blanchett. So weit muss man es als Künstler erst mal bringen.

  1. Bob Dylan gehört zu den versiertesten Autoren unserer Zeit – mit generationenübergreifender, weltweiter Wirkung.

Verfasser hintergründiger Folk- und Bluessongs. Autor engagierter Protestsongs. Song-Auteur. Symbolist. Singer-Songwriter und Rocker. Christlicher Liedermacher. Postmodernist. Traditionalist. Seismograph gesellschaftlicher Stimmungen … Stillstand kann man vielen Künstlern vorwerfen, nicht aber Bob Dylan. Er hat einen erstaunlichen literarischen Weg hinter sich gebracht, eine immense Vielfalt poetischer Ausdrucksformen verinnerlicht und dabei immer wieder die Grundfragen der menschlichen Existenz behandelt. Dass er damit ein Millionenpublikum rund um den Globus erreicht und begeistert, hat er vielen anderen Topliteraten voraus. Noch immer ruft jedes neue Dylan-Album Heerscharen von Deutern auf den Plan. Zurzeit schaut die Welt einmal mehr besorgt auf die Vereinigten Staaten und zwei umstrittene, angeschlagene Präsidentschaftskandidaten, die sich in einem schmutzigen Wahlkampf gegenseitig zerfleischen. Gerade vor diesem Hintergrund wirkt Dylan als Botschafter eines anderen Amerikas: eines Amerikas, das Menschen- und Bürgerrechte respektiert, Demokratie lebt, andere Kulturen wertschätzt und sich weltpolitisch nicht wie die Axt im Walde geriert.

Es sind Schönheiten wie diese, die Bob Dylan schon vor Ewigkeiten haben zum Gegenstand des akademischen Diskurses werden lassen. In den 1970er Jahren hatte ich an der Uni das Glück, mich wissenschaftlich nicht nur mit Shakespeare und Goethe, sondern auch mit Pop- und Rocklyrik beschäftigen zu dürfen. Und ich verschweige nicht, dass ich Dylan dabei gern auch mal außen vor gelassen hätte. Doch man kam einfach nicht um ihn herum. Eine wissenschaftliche Arbeit über Songlyrik ohne Bob-Dylan-Kapitel? Wäre bei den Profs glatt durchgefallen! Die Fülle an Sekundärliteratur, die es heute zu Dylans Œvre gibt, dürfte so manchen ambitionierten Autor vor Neid erblassen lassen. Insofern läuft auch die Kritik, da habe irgendein Rocksänger völlig ungerechtfertigt die höchsten Weihen erfahren, absolut ins Leere. Im Gegenteil: Es wurde mal Zeit. Dylan hat sich schon im letzten Jahrtausend einen festen Platz im Kanon der amerikanischen Literatur erarbeitet. So wie auch Rock und Pop längst unseren Alltag durchdringen und bis in die sogenannte Hochkultur hineinwirken. Schön, dass dieses Phänomen 2016 gewürdigt wird. Und was könnte dafür passender sein als der Literaturnobelpreis?