Mut, Besessenheit, Performance-Power

Zum Tod des Rockstars Meat Loaf

Von all den Fernseh-, Film- und Popstars, die in den letzten Jahren mental abdrifteten, gehörte Meat Loaf zu jenen, denen man es am wenigsten übelnahm. Zur Erinnerung: Marvin Lee Aday, so sein bürgerlicher Name, war nicht nur überzeugter Republikaner und Donald-Trump-Fan, ja sogar guter Donald-Trump-Freund, sondern auch Klimaschwurbler. Anfang 2020 behauptete er in einem Interview, den Klimawandel gebe es gar nicht, und bezeichnete Aktivistin Greta Thunberg als gehirngewaschen. Starker Tobak, eigentlich. Und doch musste man eher mitleidig schmunzeln, als sich ernsthaft zu empören. Warum? Weil Meat Loafs große Zeit lange vorbei war, weil er kein leichtes Leben, keine einfache Karriere hatte – und weil er zum Schluss eher wie eine Witzfigur rüberkam. Wenn dagegen Eric Clapton und Van Morrison auf unangenehme Weise über Corona und übers Impfen schwadronieren, und das auch noch in ihren Songs, wenn Xavier Naidoo finstere Verschwörungstheorien vertritt oder Schauspielstars bei fragwürdigen Propagandavideos mitmachen, gefriert einem schon mal das Blut in den Adern.

Die Frage, ob man Meat Loafs Musik vor dem Hintergrund seiner dubiosen Äußerungen heute noch höre dürfe, lässt sich ähnlich leicht beantworten wie dieselbe Frage mit Blick auf Michael Jackson – den „King of Pop“ hatten in seinen letzten Lebensjahren ernstzunehmende Vorwürfe des Kindesmissbrauchs begleitet: Die Hits dieser Künstler sind regelrechte Klassiker und grundsätzlich frei von kontroversen Gedanken oder Statements – zudem haben an ihnen ganze Heerscharen an Kreativen mitgewirkt, die man durch eine Ächtung von Songs unfairerweise mitbestrafen würde. Die großen Erfolge von Michael Jackson und Meat Loaf werden nach wie vor häufig im Radio gespielt, und niemand beschwert sich. Hier haben Sender und Hörerschaften offenbar stillschweigende Vereinbarungen getroffen. Durch schweißtreibende Konzerte, auch im Rahmen der Sendung „Rockpalast“, oder teils selbstironische Auftritte in Kultfilmen wie The Rocky Horror Picture Show und Roadie sorgte Meat Loaf zusätzlich für Bilder, die in Erinnerung blieben, zu guter Letzt unterstrich er, dass man es mit Mut und Besessenheit, Stimme und unglaublicher Performance-Power auch als eher unansehnlicher Typ zum globalen Superstar bringen kann.

Der frühe Tod der Mutter, die Abneigung des Vaters, der den kleinen Marvin als „Hackbraten“ schmähte, die Verwandlung dieser Demütigung in die positive Energie eines zugkräftigen Bühnennamens, der vorübergehende Verlust der Stimme nach den ersten großen Erfolgen, Alkohol- und Drogenexzesse, Geldsorgen, Rechtsstreitigkeiten – all das beherrscht die aktuellen Meldungen über Meat Loaf. Aber welche Stellung nimmt sein musikalisches Werk in der Pophistorie ein? Schon auf seinem erfolgreichen Debütalbum Bat Out of Hell (1977) hatte der schillernde Texaner gemeinsam mit dem 2021 verstorbenen Texter, Komponisten, Arrangeur und Pianisten Jim Steinman neue Maßstäbe in der Rockästhetik gesetzt. Natürlich hatte es auch damals schon eine als „Art Rock“ bezeichnete Spielart gegeben, die sich durch überlange, musikalisch vertrackte Songs und eine gewisse Ernsthaftigkeit auszeichnete. Aber Steinman und Meat Loaf war es gelungen, ihre aufwendig produzierten mehrteiligen Kunstsong-Epen so massentauglich zu gestalten, dass sie – wenn auch teilweise in gekürzten Versionen – regelmäßig Spitzenplätze in den Singlecharts erreichten. Wo sich Art-Rock-Künstler um kompositorische wie spieltechnische Finessen und um eine irgendwie „authentische“ Expressivität bemühten, setzten Steinman und Meat Loaf das manisch-wuchtige Image und die grotesk-pathetische Bühnenperformance des Frontmanns in Worte, Klang und Musik um. Heraus kamen monumentale 5- bis 12-Minuten-Stücke, die unter ihrem orchestralen Bombast und den schrillen, die Schwelle zum Kitsch meist deutlich überschreitenden Texten nicht etwa zusammenbrachen, sondern erst richtig aufblühten. Liebe, Hass, Wut, Angst, Trauer, Euphorie – es ging um überlebensgroße Gefühle, bevorzugt die von Teenagern. Mit der LP Bat Out of Hell entfaltete der Begriff „Schmachtfetzen“ im modernen Song eine neue Dimension.

Die 1993 erschienene LP Bat Out of Hell II: Back Into Hell leitete ein großartiges Meat-Loaf-Comeback ein und verstand sich, der Titel sagt es, als eine Art Fortsetzung des erfolgreichen Debütalbums. Mit I’d Do Anything for Love (But I Won’t Do That) enthält sie den bis heute erfolgreichsten Song des Künstlers. Es ist ein Hit, der bis heute für Gesprächsstoff sorgt. Weil sich Fans immer wieder gern verhören und das Stück auf schrägste Weise durchleuchten, was für die seltsamsten Interpretationen sorgt. In anderen Worten: Der gelegentliche Umgang mit diesem Klassiker bewegt sich so offensichtlich in der Grauzone zwischen übertriebenem Songverstehen und interpretatorischer Gewaltanwendung, dass er einen Platz in der Liste der größten Pop-Songmissverständnisse verdient. „And I would do anything for love“, beteuert Meat Loaf – und hängt hier und da ein entschiedenes „but I won’t do that“ an, mit Betonung auf „that“. Und dieses „that“ sorgt chronisch für Verwirrung. „Irgendwie verstehe ich nicht, was um Himmels willen er nie für die Liebe tun würde!“, fragt beispielsweise ein Nutzer des Internetportals „www.wer-weiss-was.de“: „Er läuft bis zur Hölle und zurück, und sonstige verrückte Sachen. (…) Er steigert sich derart rein, dass ich mir schon die fürchterlichsten Sachen vorstelle …“ Und auch in anderen Foren liefern Witzbolde und ernsthaft Suchende die bizarrsten Antworten.

In I’d Do Anything for Love (But I Won’t Do That) wird Meat-Loaf-typisch geschmachtet, was das Zeug hält, ganze zwölf Minuten und eine Sekunde lang. Die ersten drei Viertel des Songs gehören einem jungen Mann, der eigentlich nichts weiter tut, als einer Angebeteten seine Liebe zu gestehen – wobei deutlich durchklingt, dass er endlich mit ihr schlafen möchte. Dabei lässt er immer wieder einfließen, dass er alles für die Liebste tun würde, und zwar uneingeschränkt. Zum Beispiel würde er einmal in die Hölle gehen und auch wieder zurück. Gleichzeitig beteuert er, ebenfalls durch verschiedenste Beispiele untermauert, dass er nichts tun würde, was sein sinnliches Erleben schmälern oder sein Ziel unterbinden könnte. Das hört sich dann zu Beginn des Songs etwa so an: „And I would do anything for love / I’d run right into hell and back / I would do anything for love / I’ll never lie to you and that’s a fact / But I’ll never forget the way you feel right now / Oh no – no way / I would do anything for love / But I won’t do that / I won’t do that.“ Zwei schlichtweg parallel nebeneinander herlaufende Argumentationsstränge bilden hier also die grundlegende Textstruktur: zum einen die an die Geliebte gerichtete Beteuerung, alles für seine Liebe zu tun, und zum anderen, völlig losgelöst davon, die eher an sich selbst gerichtete Beteuerung, zu keinem Zeitpunkt von seinem eigenem Glücksanspruch, insbesondere seinem Streben nach körperlichen Sensationen, nach Euphorie, Ekstase abzulassen. „I won’t do that“ – für die eben zitierte Songstelle heißt das: „Ich werde nie vergessen, wie du dich jetzt in diesem Moment anfühlst.“

So geht das schier endlos weiter, bis im letzten Drittel die Angebetete auftritt und nun ihrerseits prüfende Fragen stellt, die sich auch als versteckte Forderungen, wenn nicht gar als Bedingungen interpretieren lassen. Zu diesen immer absurder klingenden Bedingungen gehört sogar, sie mit Weihwasser abzuspritzen, falls ihr die Hitze, die Erregung, zu Kopf steigt: „Will ya hose me down with holy water – if I get too hot?“ Und was macht unser erregter junger Held? Beteuert, weil er endlich zum Zug kommen will, nicht minder pathetisch und vehement: „I can do that!“ Doch dann errichtet die Angebetete noch eine letzte rhetorische Barriere und konfrontiert ihn mit einem Totschlagargument: Nach einer Weile, so sagt sie ihm klagend ins Gesicht, wirst du all das vergessen, unsere Liebe nur als mittsommerliches Zwischenspiel betrachten und einfach weiterziehen: „After a while you’ll forget everything / It was a brief interlude and a midsummer night’s fling / And you’ll see that it’s time to move on.“ Und nun muss unser kopfloser Liebhaber ganz schnell schalten, wenn ihm nicht sämtliche Felle davonschwimmen sollen. Das heißt, er muss umgehend dementieren. Und zum Glück kriegt er die Kurve: „I won’t do that!“, beteuert er ein wenig entrüstet, „I won’t do that!“ – „Nein, ich werde nichts vergessen, und ich werde nicht einfach weiterziehen!“

Auch dieses Prinzip wird nun diverse Male durchexerziert. Die Frage nach der Bedeutung von „I won’t do that“ lässt sich also auf zwei verschiedene Weisen beantworten: In den ersten acht Minuten verneint „I won’t do that“ das Aus-den-Augen-Verlieren des eigentlichen Ziels, und im abschließenden Dialog mit der Geliebten schmettert „I won’t do that“ deren Vorwürfe und Unterstellungen ab. In beiden Fällen gibt es jeweils unmittelbar vorher eine Textstelle, auf die sich „I won’t do that“ konkret bezieht. Und im Versprechen, die Geliebte nicht zu enttäuschen, ist der junge Mann am Ende zumindest auf der sprachlichen Ebene vollends auf Kurs gebracht. Jetzt, da die Sache geklärt scheint, kann der Song in Frieden mit der noch einmal wiederholten Gesamtformel schließen: „Anything for love / I would do anything for love / I would do anything for love / But I won’t do that.“ Nach zwölf Minuten fällt der Song buchstäblich in sich zusammen, er endet zart und leise. Haben sie oder haben sie nicht?, so darf man sich ungeduldig fragen. Hat der junge Mann nun bekommen, was er wollte, oder wird er geläutert weiter warten? Die Antworten bleiben dem Publikum überlassen. Warum aber noch heute User in Chatforen wie „www.songfacts.com“ spekulieren, „that“ stehe für „niemals betrügen“, für „den Freund der Angebeteten ermorden“ oder gar für „Oralsex“, bleibt eins der letzten Rätsel der Menschheit.

Solche Songs ließen sich mit verschiedenen Gastsängerinnen wie kleine Theaterszenen auf der Konzertbühne realisieren – auch in dieser Hinsicht setzte Meat Loaf bei seinen Liveshows Maßstäbe. Am 20. Januar ist der einst so charismatische Rockstar viel zu früh im Kreise seiner Familie verstorben, die Todesursache ist bisher nicht bekannt. Meat Loaf wurde 74 Jahre alt. Einige seiner Platten sind längst vergessen, und sein Trump-freundliches Klimageschwurbel wird schnell vergessen sein. Jene Über- Songs aber, die er im Verbund mit Jim Steinman produzierte, werden für immer in Erinnerung bleiben.

Teile dieses Beitrags erschienen bereits 2017 in meinem Sachbuch:

I Don’t Like Mondays
Die 66 größten Songmissverständnisse

ISBN: 978-3-8062-3485-5
(WBG/THEISS)

Der kontroverse Instant-Rundumschlag

Auch schon wieder ein halbes Jahrhundert her … 1970 veröffentlichten The Guess Who mit American Woman aus Versehen einen provokanten Song.

Die Sixties neigen sich dem Ende zu, da fördert eine ungeplante Bühnenimprovisation einen Welthit zutage. Bei einem Konzert der kanadischen Rockband The Guess Who in der Heimat reißt dem Gitarristen Randy Bachman mitten im Set eine Saite. Dummes Missgeschick, aber nichts Ungewöhnliches bei einem Rockkonzert. Der versierte Musiker, der ein halbes Jahrzehnt später mit der Band Bachman Turner Overdrive noch einen weiteren Superhit, nämlich You Ain’t Seen Nothin’ Yet, landen wird, zieht während der Zwangspause eine neue Saite auf und beginnt, sein Instrument zu stimmen. Gedankenverloren improvisiert er ein Riff, das das Publikum elektrisiert. Haben sich die Fans eben noch unterhalten und um andere Dinge gekümmert, starren sie plötzlich gebannt auf die Bühne und beginnen, die Köpfe im Takt zu wiegen. Bachmans Kollegen reagieren. Erst steigt Drummer Garry Peterson ein, dann Bassist Jim Kale, zum Schluss Sänger Burton Cummings. Mit seiner markanten Reibeisenstimme singt er über dem Dampfhammer-Riff die Zeilen, die ihm als Erstes einfallen: „American woman, stay away from me / American woman, mama let me be / Don’t come hangin’ around my door / I don’t wanna see your face no more…“ Was einem gefeierten Rocksänger eben so in den Sinn kommt … Irgendwann findet die Improvisation unter donnerndem Applaus ein Ende, und die Band weiß: Dieses Stück müssen wir im Kopf behalten. Aber wie? Zum Glück haben die Musiker im Publikum einen Fan entdeckt, der das Ganze mit einem Kassettenrekorder aufgezeichnet hat. Ist das etwa einer dieser verdammten Bootlegger, die ihre Aufnahmen später als teure Schwarzpressungen verhökern? Egal, Mann. Sie sprechen den Fan an, gelangen so an das Band und können später das Grundgerüst des Stücks rekonstruieren. Es müssen nur noch ein paar kompositorische Elemente und verschiedene Textzeilen hinzugefügt werden, dann steht der Song. 1970 wird er unter dem Titel American Woman veröffentlicht, erreicht Platz eins der US-Charts und stürmt in verschiedenen Ländern in die Top 20 und sogar in die Top 10. 

Im simpel gestrickten Text scheint es zunächst um die Absage an eine einzelne nicht näher beschriebene Amerikanerin zu gehen. Sie solle bloß fortbleiben und nicht vor seinem Haus herumhängen, insistiert der Sprecher, er wolle sie nicht mehr sehen und habe Besseres zu tun, als mit ihr alt zu werden – „I got more important things to do / Than spend my time growin’ old with you.“ Hat das Ich eine Liebesbeziehung zu einer Amerikanerin gehabt und möchte diese nun beenden? Ist American Woman ein Trennungslied? Nur bedingt. Denn im weiteren Verlauf des Songs werden die benutzten Sprachbilder allgemeiner, jetzt scheint eher die amerikanische Frau an sich adressiert zu werden. Die solle aufhören, den Ich-Sprecher zu hypnotisieren, und lieber jemand anders blenden: „Coloured lights can hypnotize / Sparkle someone else’s eyes.“ Und dann kommt ein neuer Aspekt ins Spiel: In der Absage an ihre „Kriegsmaschinen“ und „Ghetto-Szenen“ können eigentlich nicht mehr die amerikanischen Frauen an sich, sondern nur die USA als Ganzes gemeint sein: „I don’t need your war machines / I don’t need your ghetto scenes.“ Damit kommen eindeutig Protestsongelemente ins Spiel. Sie machen American Woman – wir schreiben das Jahr 1970 – auch zu einem Lied gegen den Vietnamkrieg und gegen soziale Missstände in den Metropolen der USA.

Allerdings sind diese Protestsongelemente nur schwach ausgebildet, es bleibt bei den zuletzt zitierten beiden Zeilen. Sie strahlen nicht auf den gesamten Text aus. So bringt der Text, der aus einer Improvisation enstanden, dann assoziativ ergänzt und angerundet worden war, mehrere Bedeutungsebenen zusammen, die nur bedingt etwas miteinander zu tun haben. Und das bietet jede Menge Raum für die Deutung. Das Internetportal „Songfacts.com“ zitiert einige Aussagen der Bandmitglieder von The Guess Who, die zumindest etwas Aufschluss geben. Demnach seien sie bei ihren Tourneen in den USA von den dortigen sozialen Problemen, etwa in Chicago, schockiert gewesen und hätten den Eindruck gehabt, Frauen in Amerika würden … hüstel … schneller altern und dadurch gefährlicher wirken („that girls in the States seemed to get older quicker than our girls and that made them, well, dangerous“) – am langen Ende wären ihnen „ihre“ kanadischen Frauen lieber. Diese Haltung macht aus heutiger Sicht wohl eher stutzig, aber sei’s drum. Zudem hätten US-amerikanische Behörden in der Nähe der kanadischen Grenze versucht, die Bandmitglieder einzuberufen und nach Vietnam zu schicken. Unter ihren Fans in Kanada seien auch viele junge US-Amerikaner, die sich abgesetzt hätten, um einer solchen Einberufung zu entgehen.

Kontroversen resultieren aus Missverständnissen, Ambivalenzen und gefühlten oder tatsächlichen Provokationen. Gerade American Woman bietet hier mehrere Ansatzpunkte. Wer nur ganz oberflächlich hinhörte und sich vor allem dem mitreißenden Beat des Songs ergab, bekam die Worte „Stay away from me“ nicht mit und empfand den Song sogar als Hymne auf Amerika, zumindest als Hymne auf die amerikanische Frau. Solche Hörer wurden umgehend von Kritikern zurechtgewiesen, die das Stück als frauenfeindlich und chauvinistisch empfanden. Und dann gab es ja noch die kritischen Verse über „war machines“ und „ghetto scenes“, die Kriegsgegner begeisterten, aber Patrioten verärgerten. Irgendwie verschreckten The Guess Who gleich mehrere gesellschaftliche Fraktionen – und mogelten sich vor allem musikalisch durch. Ironischerweise wurde die Band im Juli 1970 eingeladen, ausgerechnet im Weißen Haus für den damaligen US-Präsidenten Richard Nixon zu spielen: Dessen Tochter Tricia war offenbar ein großer Fan, was man verstehen kann: Denn gerade die softeren Songs der Band haben zeitlose Klasse. First Lady Pat Nixon allerdings war sich der amerikakritischen Elemente im Hit American Woman durchaus bewusst. Auch mit Rücksicht auf sie strichen The Guess Who den Song bei ihrem Auftritt im Weißen Haus von der Setlist. Konsequent geht anders …

Am 14. März 2019 erscheint bei WBG/THEISS mein neues Buch Provokation! Songs, die für Zündstoff sorg(t)en. Vorgestellt werden rund 70 Songklassiker der letzen hundert Jahre, die zu ihrer Zeit die Gemüter erhitzten und zum Teil noch heute kontrovers diskutiert werden – von Rock Around the Clock bis Relax, von Anarchy in the U.K. bis zum Punk-Gebet, von Rache muss sein bis Stress ohne Grund, von der „British Invasion“ bis zum Echo-Skandal 2018. Den Band ergänzen Betrachtungen zu den wichtigsten Darstellungsformen im Song und Antworten auf 26 Fragen rund um das Thema Songprovokationen. Mit weiteren Texten zum Thema gibt „tedaboutsongs“ einen kleinen Vorgeschmack.

Von Agathe Bauer zu Taylor Swift

oder „I left my brains down in Africa“: Die wundersame Welt der falsch verstandenen Lyrics

Kennen Sie das? Sie hören einen Song und rätseln über den Wortlaut eines bestimmten Wortes oder einer bestimmten Zeile? Sie könnten schwören, Sie haben da etwas ganz Bestimmtes gehört, aber irgendwie ergibt das, was Sie gehört haben, im Zusammenhang keinen Sinn? Jahre später schauen Sie auf einer Lyrics-Website nach, oder Freunde klären Sie auf. Und siehe da: Sie hatten die entsprechenden Worte, besagten Vers völlig falsch verstanden. Und warum? Weil sie in einer Fremdsprache gesungen wurden, derer Sie nicht ganz mächtig waren; weil die Interpreten wie Til Schweiger genuschelt haben; weil der Gesang einfach verwaschen produziert war; oder weil Sie in einer bestimmten Lebenssituation waren und einfach etwas Bestimmtes hören wollten.

Natürlich kennen Sie das. Und eigentlich kennen wir es alle. So hat sich eine von mir überaus geschätzte Person als junge Schülerin immer wieder gewundert, warum Marius Müller-Westernhagen so leidenschaftlich eine „6c“ beschwor – und erst später spitzgekriegt, dass das männliche Ich des Songs eine Frau einfach Sexy fand. Mir persönlich ging stets eine bestimmte Zeile im Refrain von Olivia Newton-Johns Hit Physical unter die Haut: „Let’s get into physical, let me in and find your heart!“, hörte ich als Jugendlicher gern heraus und war mir hundertprozentig sicher, dass die Worte bei allen erotischen Konnotationen auch noch etwas von Seelenverschmelzen und Romantik vermittelten. Nur um später festzustellen, dass Frau Newton-John doch nur Körper sprechen lassen wollte: „Let’s get into physical, let me hear your body talk…“

Einen zeitlos universellen Verhörer dürfte Kenny Loggins provoziert haben: Noch heute verstehen wohl Millionen Menschen jedes Mal „Oh oooh hard life“ oder „Oh oooh hard light“, wenn sein 1982 erschienener Gassenhauer Welcome to Heartlight erklingt. Zum einen ist das Ding an einzelnen Stellen so nachlässig dahingeworfen, dass man Feinheiten der Aussprache kaum noch heraushört – zum anderen kann sich wahrscheinlich niemand vorstellen, dass es um so etwas wie „Herzlicht“ gehen könnte. Ein „Herzlicht“? Was soll das sein? Liegt ein „hartes Leben“ oder ein „grelles Licht“ nicht viel näher? Wie gesagt: Man versteht, was man verstehen will. Eigentlich geht es auch Herrn Loggins nicht um ein „Herzlicht“, obwohl er tatsächlich „Heartlight“, singt. „Heartlight“ ist einfach der Name einer Schule in Kalifornien, und die wird hier, warum auch immer, überschwänglich gelobt: „I hold the hand / I walk with the teacher / (…) / I know we’ve learned to live together / Here in the Heartlight…“

Um solche Verhörer hat sich längst so etwas wie eine kleine Wissenschaft gebildet. Und die unterscheidet gleich mehrere Verhörer-Kategorien. Bewegen sich das tatsächlich Gesagte und das falsch Gehörte in derselben Sprache, dann hat man es mit einem „Mondegreen“ zu tun. Schon wie es zu diesem Begriff kam, ist eine schöne Geschichte – denn der Begriff „Mondegreen“ ist selbst ein „Mondegreen“: Die amerikanische Autorin Sylvia Wright hatte 1954 in der Zeitschrift „Harper’s“ einen Artikel veröffentlicht, in dem sie sich an Verhörer aus ihrer Kindheit erinnerte. So hatte sie, als ihre Mutter ihr eine schottische Ballade aus dem 18. Jahrhundert vorlas, verstanden, dass man den Earl of Murray samt Lady Mondegreen erschlagen habe: „They hae slain the Earl Amurray, / And Lady Mondegreen.” Tatsächlich aber gab es in dem Schauerstück gar keine Lady Mondegreen – der arme Earl of Murray war nach seinem Tod lediglich ins Gras gelegt worden: „They hae slain the Earl Amurray, / And laid him on the green.“ Und wie das Leben so spült: Der „Harper’s“-Artikel machte „Mondegreen“ zum feststehenden Begriff.

Für einen der bekanntesten jüngeren Mondegreens sorgte Taylor Swift, als sie ihren Song Blank Space veröffentlichte. An einer Stelle hörten Millionen von Fans immer wieder die Phrase „all the lonely Starbucks lovers“ und fragten sich, was ihr Star wohl mit all den einsamen Liebenden einer Kaffeekette am Hut haben könnte. Dabei heißt es in den Lyrics deutlich plausibler: „…got a long list of ex-lovers“ – offensichtlich ein Resultat der vielen Soundeffekte, die man im Studio über Taylor Swifts Stimme gelegt hatte. Wenn man weiß, auf was man hören soll, funktioniert’s kaum noch – aber die Medien waren eine Zeit lang voll davon. Wer dagegen bei Klassiksendungen im Radio statt „Köchelverzeichnis“ immer wieder „Knöchelverzeichnis“ hört, der erliegt einem der bekanntesten Mondegreens innerhalb der deutschen Sprache. Aus dem Verhörer „Der weiße Neger Wumbaba“ (nach „der weiße Nebel wunderbar“ aus dem Abendlied Der Mond ist aufgegangen) haben Axel Hacke und Michael Sowa 2004 gleich ein ganzes „Kleines Handbuch des Verhörens“ gemacht.

Um ein „Soramimi“ dagegen handelt es sich, wenn man in einem englischsprachigen Text eine deutsche Phrase zu hören glaubt. Die am häufigsten zitierten Beispiele sind hier „Agathe Bauer“ – ein Verhörer angesichts der Wucht des SNAP!-Hits I Got the Power – und „Anneliese Braun“, frei missverstanden nach dem Songvers „All the leaves are brown“ aus dem The-Mamas-and-The-Papas-Klassiker California Dreaming. Freilich wird bei all dem gern die Grenze zur – Achtung: weitere Kategorie – mutwilligen Verballhornung überschritten. Wer in Internetsuchmaschinen die Stichworte „misheard lyrics“ eingibt, stößt auf etliche Portale und Videos, die neben Beispielen für „echtes“ falsches Raushören auch jede Menge böswilliger Unterstellungen präsentieren. Schade, dass es dafür nicht so einen schönen Begriff wie „Mondegreen“ oder „Soramimi“ gibt.

Wie auch immer: Es scheint, als sei das bewusste Missverstehen ein Volkssport geworden, und manche Ergebnisse, da darf man auch mal prollig und politisch unkorrekt sein, sind, na ja, einfach witzig. Da wird aus „See that girl, watch that scene, diggin’ the dancing queen“ im ABBA-Klassiker Dancing Queen die Zeile „See that girl, watch her scream, kicking the dancing queen“; aus der nüchternen Feststellung „That’s me in the corner, that’s me in the spotlight“ im Gassenhauer Losing My Religion von R.E.M. die Aufforderung „Let’s pee in the corner, let’s pee in the spotlight“; und aus der salbungsvollen Erkenntnis „I bless the rains down in Africa“ im Toto-Evergreen Africa das bescheuerte Geständnis „I left my brains down in Africa“. „Misheard lyrics“ dürften die am weitesten verbreiteten Songmissverständnisse sein, und der Fantasie scheinen keine Grenzen gesetzt.

Amy authentisch?

Entziehungskur? Ach nö! Aber vielleicht wollte Amy Winehouse in Rehab ja etwas ganz anderes sagen… Gedanken zum Kinostart von Asif Kapadias Dokumentarfilm Amy

Seit Jahrzehnten gibt es zwei entgegengesetzte Meinungen über Songs: Der einen Meinung nach ist ein Song unmittelbarer Ausdruck der persönlichen Empfindungen des Menschen, der ihn geschrieben hat. Der anderen Meinung nach sind Songs etwas Künstliches – etwas, das vor allem von der Bearbeitung, von der Manipulation lebt. Aktuell sieht man beide Meinungen wieder wunderschön aufeinandertreffen. „Das rote Album“ wird die brandneue Songkollektion der deutschen Band Tocotronic genannt, weil sie einfach mit einem leuchtend roten Cover versehen wurde. Rot ist natürlich die Farbe der Liebe, so weiß der Volksmund, und dazu passt ganz vortrefflich, was inzwischen hinreichend in Pressemitteilungen und Medien kolportiert wurde: dass Tocotronic ein Album über die Liebe gemacht haben.

Die Liebe – eins der ganz großen Gefühle. Klarer Fall, folgert augenzwinkernd Nina Sonnenberg, Moderatorin der 3sat-Reihe „Kulturpalast“: Das muss sich Songschreiber Dirk von Lotzow doch direkt von der eigenen Seele geschrieben haben. Also fühlt sie dem Tocotronic-Mann in der „Kulturpalast“-Sendung vom 4. Juli mächtig auf den Zahn. Doch von Lotzow wiegelt ab: „Ich bin niemand als Autor, der aus Situationen heraus schreibt, und deshalb kann ich auch immer schlecht auf diese Fragen antworten: Schreibst du besser, wenn du glücklich bist oder wenn du unglücklich bist? Das ist eigentlich Authentizitätsquatsch!“ Für ihn hat Songschreiben rein gar nichts mit Herzausschütten zu tun: „Es geht ja nicht so sehr darum, was man selber fühlt“, erklärt er, „sondern dass man etwas macht, was bei den Leuten, die es hören, eine ästhetische Erfahrung oder so was auslöst – dass die was dabei fühlen. Was ich selber dabei gefühlt habe, ist ja unerheblich.“

Aber die Moderatorin lässt nicht locker. „Und trotzdem wirkt das ja alles sehr authentisch, was du schreibst“, hakt sie nach. Und als der Autor ebenso händeringend wie augenrollend nach Worten sucht, fragt sie schelmisch: „Lügst Du uns an?“ Da muss der Tocotronic-Frontmann dann doch mal lachen, und es platzt aus ihm heraus: „Nein, aber das sind Popsongs!“ Was für ihn heißt: „Popmusik ist grundsätzlich nicht authentisch. Das ist ein Kunstprodukt. Das ist eine künstlerische Äußerung, das kann gar nicht so authentisch sein. Ich fände es schon total bescheuert, wenn man ein Album über Liebe machen würde, und es wäre nicht romantisch. Aber es muss ja bei den Leuten, bei den Hörerinnen und Hörern, diese Gefühle auslösen. Und um diese Gefühle auslösen zu können – das ist die Grundidee von Popmusik – muss man die ganz nüchtern behandeln.“

Wham!, das hat gesessen. Welche Meinung über Songs Tocotronic vertreten, dürfte klar sein. Das andere Extrem begegnet uns aktuell in Gestalt von Asif Kapadia. Er ist Filmregisseur, wurde mit einer Dokumentation über den Rennfahrer Ayrton Senna bekannt und bringt jetzt, am 16. Juli, Amy in die deutschen Kinos. Amy ist ein Porträt der 2011 verstorbenen britischen Soulsängerin Amy Winehouse und wird vorab von den Medien hochgelobt. Dem Regisseur soll es um den Punkt gehen, an dem die Karriere des zuletzt von Alkohol und Drogen gebeutelten Stars ins Tragische kippte. In unserem Zusammenhang von Bedeutung ist die Tatsache, dass der Film immer wieder Auszüge aus den Songlyrics von Amy Winehouse einblendet – ganz offenbar weil der Regisseur diese Lyrics als so etwas wie Tagebuchauszüge begreift. So antwortet Kapadia in der Juli-Ausgabe der Zeitschrift „epd film“ auf die Frage, ob die Entscheidung für das Einblenden der Lyrics erst in der Postproduktion fiel: „Oh nein, dazu entschied ich mich ziemlich früh. Denn wer die Texte liest, versteht Amys Leben. Das war wirklich das Einzige, worüber sie geschrieben hat. Viele Fans haben womöglich nie darüber nachgedacht, dass sie all das selbst verfasst hat. Aber alles, was man wissen muss, findet man in ihren Songs. Für einen Moment hatte ich gedacht, dass es vielleicht überflüssig ist, die Lyrics auch tatsächlich einzublenden. Doch sobald man sie weglässt, fängt man als Zuschauer an, den Kopf im Takt der Musik zu bewegen und mehr der Melodie als dem Text zu folgen.“

Nach dieser Auffassung scheint die Musik eines Songs – der Rhythmus und die Melodie, der Sound, die ganze Atmosphäre – nur zweitrangig zu sein und vom Wesentlichen, dem Text als authentischem Gefühlsausdruck, abzulenken. Da möchte man sich beinahe fragen, warum Amy Winehouse nicht einfach nur Gedichte oder einen Lebensbericht veröffentlicht hat… aber egal. Wichtiger ist die Frage, ob man die Songs von Amy Winehouse, und so viele sind es ja nicht, tatsächlich auf so etwas wie ihren autobiografischen Gehalt festlegen, ja reduzieren kann. Ich bin zumindest skeptisch. Schon als Udo Jürgens von seinem Bruder, dem Maler, sang, hatten sich in den scheinbar autobiografischen Textrahmen – sein Bruder ist tatsächlich ein angesehener Maler – kleine Details eingeschlichen, die so gar nicht der Realität entsprachen. Zum Beispiel war in den Lyrics die Rede davon, dass der Bruder Clowns male, dabei malt der Bruder alles, nur keine Clowns. Und so bin ich sicher, dass sich in fast jedem berühmten Lied, dem man eine große Nähe zwischen Song-Ich und biografischem Ich nachsagt, solche kleinen Detailveränderungen festmachen lassen, zumindest aber Verdichtungen und Zuspitzungen eines Gedankens, der weit über das vordergründige Songthema hinausgeht. Das vordergründige Thema ist dann eher so etwas wie ein Ablenkungsmanöver, eine Blendrakete.

Stichwort Rehab – der 2008 mit diversen Auszeichnungen überschüttete Superhit von Amy Winehouse. „They tried to make me go to rehab / But I said ey no, no, no“, heißt es da einprägsam und: „I ain’t got the time / And if my daddy thinks I’m fine / They tried to make me go to rehab / I won’t go, go, go.“ Also: „Sie haben mich gedrängt, einen Entzug zu machen, / aber ich habe gesagt: Nein, Nein, Nein (…) Ich hab keine Zeit, / Und wenn mein Vater denkt, es ist halb so schlimm… / Sie haben mich gedrängt, einen Entzug zu machen, / ich werd nicht geh’n, nein, nein.“ Man musste nur die Medien-Sensationsberichte der Jahre 2007 bis 2010 verfolgen, um zu sehen, wie nah der Text am wirklichen Leben der mit einer Ausnahmestimme gesegneten Interpretin zu rangieren schien. Es ging ganz offensichtlich um deren nicht von der Hand zu weisende Rauschmittelsucht, um peinliche Auftritte im benebelten Zustand, den Vater, der das Problem verharmloste, oder das Management, das wiederholt versucht haben soll, die Künstlerin zu einem Entzug zu bewegen. Nicht nur aktuell bei Asif Kapadia, sondern schon seit Songerscheinen ist in Internetforen und Zeitungsartikeln von einem „autobiografischen Song“ die Rede. Zum Beispiel auf der Website von Jochen Scheytt, der unter der Rubrik „Popsongs und ihre Hintergründe“ erschüttert feststellt, dass sich „die renitente Aussage des Refrains durch den ganzen Song“ ziehe. Nach erschreckenden Statistiken zum Thema Drogenmissbrauch und wenig erhellenden Kommentaren zu den Lyrics kommt Scheytt zu dem Schluss: „Man wünscht sich, dass die Einsicht noch kommen möge. (…) Ich wünsche mir einen Songtext von Amy Winehouse: ‚I really wanna go to rehab, I wanna go, go, go!’“

Die Songaussage auf die Ablehnung eines Entzugs durch die reale Person Amy Winehouse zu reduzieren, wird dem Stück, wie ich finde, nicht gerecht. Auch macht das Gerede vom autobiografischen Song hier mehr aus dem Ganzen, als es eigentlich ist. Denn Autobiografie ist die Beschreibung des eigenen Lebenslaufs, gespickt mit Reflexionen und persönlichen Einschätzungen – und davon kann in Rehab keine Rede sein. Das Stück ist äußerst redundant – sein Text lebt im Wesentlichen von wenigen ständig wiederholten Versen und ist mitnichten eine reflektierende Aufarbeitung der eigenen Lebensgeschichte oder auch nur eines Teils davon. Zum Beispiel wird weder die Heroinproblematik noch der ebenfalls suchtkranke Ehemann der Sängerin, der sowohl in ihrem Leben als auch in den Berichten der Boulevardmedien keine unwesentliche Rolle spielt, auch nur ansatzweise thematisiert. Wollte man den Lyrics nun unbedingt eine allgemeinere Aussage unterstellen, dann vielleicht die, dass sie eine typische Haltung von Alkoholkranken widerspiegeln: Verleugnung und Verdrängung des Problems.

Aber auch das scheint mir ziemlich weit hergeholt.

Da klingen die abschließenden Verse des Stücks schon etwas aufschlussreicher: „The man said, why’d you think you’re here? / I said, I got no idea / I’m gonna, I’m gonna lose my baby / So I always keep a bottle near.“ Übersetzt: „Der Mann fragte mich: Was glauben Sie, warum Sie hier sind? / Ich sagte: Keine Ahnung / Mein Schatz, mein Schatz wird mich verlassen / Also habe ich immer eine Flasche in Reichweite.“ Einsamkeit ist also der Schlüssel, was durch Zeilen wie: „I don’t never wanna drink again / I just, oooh, I just need a friend“ untermauert wird: „Ich will nie wieder trinken, / ooooh, ich brauche einfach einen Freund.“ Nicht unbedingt um ein konstantes Alkoholproblem geht es also in dem Song, sondern eher um Einsamkeit und um Verlustangst, um Gefühle, die vorübergehend zu exzessivem Alkoholgenuss führen – und die Umgebung des Song-Ichs veranlassen, falsche Schlüsse zu ziehen. Nicht die Entzugsklinik wäre demnach die Lösung, sondern ein Ende der Einsamkeit: Geborgenheit und Nähe.

Aber das ist noch nicht alles: Etwa in der Mitte des Stücks gibt es eine weitere Passage, die die Interpretationsansätze noch einmal in eine ganz andere Richtung treibt: „I’d rather be at home with Ray / I ain’t got 70 days“, heißt es da und: „’Cause there’s nothing, there’s nothing you can teach me / That I can’t learn from Mr. Hathaway.“ – „Ich bleib lieber zu Hause mit Ray / Ich habe keine 70 Tage Zeit / Denn da gibt es nichts, was ihr mir beibringen könnt, / das ich nicht auch von Mr. Hathaway lernen kann.“ Mit Ray und Mr. Hathaway sind vermutlich die schwarzen Soulstars Ray Charles und Donny Hathaway gemeint. Ihnen schreibt das Song-Ich eine Lebenserfahrung und eine Weisheit zu, die keine Schulbildung, keine Therapie, kein Entzug vermitteln können. Ray Charles hatte zwar ein Heroinproblem, das er nach einer Entziehungskur überwand, aber Donny Hathaway litt vor allem an Depressionen und war mehrmals in stationärer psychiatrischer Behandlung, bevor er aus dem Fenster in den Tod sprang. Auch angesichts der Tatsache, dass das Song-Ich einen Entzug ablehnt, während Charles eine solche Kur absolvierte, kann das Suchtthema nicht der Grund für den Hinweis auf Ray und Hathaway sein. Vielmehr scheint es um eine Hommage an die große Zeit der schwarzen Soulmusik und ihre durch sämtliche Höhen und Tiefen des Lebens gegangenen Protagonisten zu gehen. Das unterstreichen der packende Rhythmus des Songs und seine wuchtige Soundproduktion, die den Soul der fünfziger und sechziger Jahre beschwört und ins 21. Jahrhundert hinüberholt.

In dieser Hommage und im Thema Einsamkeit, an dem sich auch die Soulmusik immer wieder auf einzigartige Weise abarbeitet, liegt meiner Meinung nach das eigentliche Zentrum von Rehab. Klar gibt es Themen und Motive, die an das wirkliche Leben der Künstlerin erinnern. Trotzdem geht es nicht in erster Linie um ein persönliches Statement der Privatperson Amy Winehouse, die möglicherweise nicht gewillt ist, dem Druck der Öffentlichkeit nachzugeben und endlich ihre Sucht zu akzeptieren. Nein, in erster Linie geht es um eine Huldigung an den Geist der Soulmusik. Die Aufforderungen an das Song-Ich, eine Entziehungskur zu machen, sind nur ein drastisches Bild für dessen Einsamkeit und für das Unverständnis, das mangelnde Einfühlungsvermögen der Menschen in seiner Umgebung. Damit bilden auch bei Amy Winehouse vereinzelte persönliche, autobiografische Elemente lediglich den Aufhänger für eine übergreifende Songbotschaft, die ganz anders gelagert ist, als es vordergründig erscheinen mag – und als es eine sensationsgierige Öffentlichkeit gerne hätte. Rehab ist kein Authentizitätsquatsch, sondern ein klasse gemachtes Kunstwerk mit mehreren Ebenen. Dirk von Lotzow würde sagen: „Rehab macht etwas, was bei den Leuten, die es hören, eine ästhetische Erfahrung auslöst. Was Amy Winehouse selber dabei gefühlt hat, ist unerheblich.“ Man darf gespannt sein, inwieweit Asif Kapadias Doku Amy auch solchen Songaspekten Rechnung trägt.

Udo Jürgens und der Clown: Auf die kleinen Details kommt es an

Udo Jürgens wird zu Recht gefeiert. Er hatte Charisma, auch Ecken und Kanten, sogar die einen oder anderen Abgründe. Eigentlich logisch, denn Charisma ohne Ecken und Kanten, ohne Abgründe, das gibt es nicht. Und: Udo Jürgens war ein begnadeter Songschreiber. Er verstand es, simplen Schlagern Tiefe zu verleihen – Alltagserfahrungen, die viele Menschen machen, anspruchsvoll, chansonhaft auf den Punkt zu bringen. Udo Jürgens kannte alle Tricks, war versiert auch im Spiel mit autobiografischen Bezügen, sang, als wüsste er ganau, wovon er sang. Und untermauerte so den Eindruck, einige seiner Lieder seien direkt aus dem Leben gegriffen, sogar direkt aus dem eigenen. Der Trick bestand darin, Reales und persönliche Eindrücke ästhetisch zuzuspitzen, sie zu verdichten – dabei aber entscheidende kleine Details zu verändern.

Ein in dieser Hinsicht charmanter, im Ansatz schlitzohriger Udo-Jürgens-Song war für mich immer Mein Bruder ist ein Maler aus dem Jahr 1977. Mal abgesehen davon, dass der Text nicht von Udo Jürgens, sondern von Wolfgang Hofer stammt, bewegt er sich auf den ersten Blick recht nah an der Biografie des erfolgreichen Entertainers: Udo Jürgens heißt mit bürgerlichem Namen Udo Jürgen Bockelmann, und sein Bruder Manfred war tatsächlich auch zur Entstehungszeit des Songs schon ein gefragter Künstler. In den Lyrics vergleicht das Song-Ich seine Leistung als Musiker mit der Leistung des malenden Bruders – und kommt in einem Anflug von Neid zu dem Ergebnis, dass dessen Gemälde aufgrund ihrer Unvergänglichkeit wertvoller seien als die eigenen kurzlebigen musikalischen Kompositionen: „Manchmal komm’ ich so klein mir vor / mit meinen großen Tönen, / die im kleinsten Wind wie blauer Dunst verweh’n. / Und so etwas wie Eifersucht / beginnt in mir zu brennen, / wenn ich dann seine Bilder seh’, so unvergänglich schön.“ Im Refrain stellt das Song-Ich sein Licht ganz deutlich unter den Scheffel, um den Bruder und seine Leistung noch größer erscheinen zu lassen: „Denn mein Bruder ist ein Maler, / und ein Bild von seiner Hand / kann mehr sagen als tausend Melodien. / Ja, mein Bruder ist ein Maler, / ich bin nur ein Musikant, / und in manchen Träumen, da beneid’ ich ihn.“

Nach einer weiteren Strophe, die das Grundthema vertieft, und einem weiteren Refrain bringt das Song-Ich in einem Zwischenteil Beispiele für die Arbeit des Bruders und für die Art, wie seine Werke wirken: „Wenn seine Frau mal traurig ist, / malt er ihr Orchideen / Und seinem Kind, das weint, den Clown, der Lachen schenkt.“ Und hier sind Udo Jürgens und sein Texter Wolfgang Hofer ganz deutlich von den biografischen Fakten abgewichen. Inwiefern? Das erklärt Manfred Bockelmann 2008 in der Dezemberausgabe von „NZZ Folio“, der Zeitschrift der „Neuen Zürcher Zeitung“: „Als das Lied herauskam, fragten alle: ‚Ja, wo ist denn dieser Bruder?’ Ich war damals schon recht erfolgreich und zeigte meine Arbeiten auf der Kunstmesse in Köln, Düsseldorf und Basel, es ging richtig gut los. Nun kam dieses Lied. Es war die Zeit von ‚Griechischer Wein’. Und die Leute dachten, ich male Bilder, so wie Udo singt. Doch das tue ich nicht. Meine Kunst ist anspruchsvoller, das weiss Udo auch. In dem Lied gibt es diese Strophe: ‚Wenn seine Frau mal traurig ist, malt er ihr Orchideen, und seinem Kind, das weint, den Clown, der Lachen schenkt.’ – Ich habe noch nie einen Clown gemalt! Also nein!“

Also wirklich!

Ein Blick auf den Fortgang der Lyrics zeigt, was es mit den offenbar aus der Luft gegriffenen farbenprächtigen Blumen und Spaßmachern auf sich hat. Sie müssen als „bunte“ Elemente herhalten, um zum Finale des Songs überzuleiten: „Er macht das Trübste wieder bunt, / drum kann ich nicht widerstehen“, so weckt diese Überleitung Neugier, „wenn seine Frau mir dann erzählt, was er sich manchmal denkt:…“ Im anschließenden letzten Refrain, der – noch so ein Songwriting-Trick – mit einer überraschenden Schlusswendung aufwartet, wird folgerichtig der malende Bruder zitiert, den, so die Ehefrau, dieselben Gedanken und Gefühle wie das Song-Ich umtreiben, nur aus der entgegengesetzten Perspektive: „Ja, mein Bruder ist ein Sänger, / und ein Lied aus seinem Mund, / das sagt mehr, als manches Bild je sagen kann. / Ja, mein Bruder ist ein Sänger, / und sein Leben ist so bunt, / manchmal fing’ auch ich so gern zu singen an.“

In diesen letzten Versen offenbart sich das eigentliche Zentrum des Songs: Nicht um eine etwaige Rivalität der malenden und singenden Gebrüder Bockelmann im wirklichen Leben geht es, sondern um den universellen Gedanken, dass jeder Mensch ein Talent hat, das ihn auszeichnet – etwas, das andere nicht können. Und dass das, was ein Mensch schafft, jeweils seine ganz eigene Wertigkeit besitzt. So inbrünstig und überzeugend sie auch vorgetragen werden, die Biografien der Gebrüder Bockelmann dienen lediglich als Aufhänger für die Formulierung einer übergreifenden These oder Erkenntnis – und werden mit Blick auf die möglichst effektive Zuspitzung dieser These nach Belieben manipuliert. Das hat Witz, das hat Tiefe, das macht die Könnerschaft des Gespanns Udo Jürgens/Wolfgang Hofer aus. Schade, dass es mehr davon nicht mehr geben wird.