TV-Serie „Sons of Anarchy“: Peggy Bundy rockt den Mythos

Im deutschen Fernsehen liefen nur die ersten drei Staffeln, in Amerika feiert man schon den 6. Durchgang. Die ersten beiden Staffeln werden hierzulande gerade auf ProSieben Maxx wiederholt, bevor dann irgendwann bei irgendeinem Sender hoffentlich auch die synchronisierte 4. Staffel startet: Die Rede ist von der TV-Serie „Sons of Anarchy“. Das ungewöhnliche Rocker-Epos bietet nicht nur Dramatik und schauspielerische Aha-Erlebnisse, sondern auch rockmusikalische Überraschungen. 

 Wie schafft es Amerika bloß immer wieder, jeglichen Kredit zu verspielen – wenn doch in den Staaten so unglaublich gute, unglaublich erfolgreiche, unglaublich weise Fernsehserien produziert werden? Es sind Serien, die tief in die amerikanische Seele blicken lassen und damit letztlich andeuten, was und wie man es besser machen könnte. Die Rede ist natürlich NICHT von Erfolgsserien wie „CSI“, „Criminal Intent“, „Burn Notice“ oder „The Mentalist“. Die mögen vielleicht unterhaltsam sein, gaukeln aber letztlich dem Publikum nur vor, dass die USA in Gestalt von aufrechten Einzelgenies oder ausgeschlafenen Behörden jederzeit alles Griff haben: ihre Technik, sich selbst, die Feinde im Innern, die Feinde in aller Welt. Denn tatsächlich haben die betreffenden Behörden und Entscheider, wie man täglich in den News verfolgen kann, überhaupt nicht viel im Griff: Sie kapitulieren vor Naturkatastrophen, Lobbys und Terroristen, unterstützen immer wieder die falschen Regimes, scheinen geleitet von Paranoia, mischen sich konzeptlos in Kriege ein und wirken obendrein zu dumm, ihren Kontrollwahn vor der Weltöffentlichkeit geheim zu halten.

Nein, die Rede ist von Serien wie „Buffy“, „Mad Men“ und den „Sopranos“, „Boston Legal“, „Homeland“ oder „Deadwood“ – Qualitätsserien, die von Ausgrenzung und den Mechanismen der Gewalt, von Macht und Ohnmacht, von Selbstbehauptung und den Bedingungen des Scheiterns, von den Absurditäten und Pervertierungen des amerikanischen Traums, von einer auf Rücksichtslosigkeit, Gier und menschlichen Schwächen gegründeten Nation erzählen. Steile These: Wären solche TV-Serien Pflichtprogramm an amerikanischen Schulen und Universitäten, es gäbe womöglich kein Guantanamo und keine Spähprogramme, keinen „Krieg gegen den Terror“ – und die Waffenlobby hätte wesentlich weniger zu sagen.

An dieser Stelle gilt es, „Sons of Anarchy“ würdigen. Wer die Mafia-Serie „The Sopranos“ und die leider unvollendet gebliebene Western-Serie „Deadwood“ schätzte, kommt hier voll auf seine Kosten. Schon weil man ein paar „Deadwood“-Darsteller wiedertrifft. Das Prinzip aller drei Serien: Einblicke in die amerikanische Geschichte und in amerikanische Subkulturen spitzen Alltagserfahrung zu und schaffen eine Art Verfremdungseffekt. Denn im Grunde geht es genau um die Dinge, mit denen sich auch der normalste Mensch in der westlichen Welt von heute herumschlägt – um Familienkonflikte, um die Auseinandersetzung mit ungeliebten Nachbarn, bösen Chefs und Kollegen, um Sorgen mit dem pubertierenden Nachwuchs, um Visionen, Schicksalsschläge, Scheitern, um die Macht des Geldes, die Folgen der Globalisierung, um Selbstnehauptung. Durch die Übertragung in ungewöhnliche Milieus werden die Zusammenhänge künstlerisch überhöht – das macht sie spannend, interessant und, ja, transparent. Im Mafia-Milieu der Sopranos werden dann Chefs und Mobber auch mal aus dem Weg geräumt, und die Depressionen des nur nach außen starken Bosses Tony Soprano wirken noch anrührender. Wenn sich so ein Kerl seinen Ängsten und einer Therapeutin stellt, dann schafft das vielleicht auch ein überforderter Konzernmanager? In „Deadwood“ werden der tägliche Existenzkampf und das multiethnische Chaos moderner Metropolen am Beispiel der Gründung und Entwicklung einer Goldgräberstadt verhandelt – gelegentliche Gewaltexzesse unterstreichen, wie brutal dieser Existenzkampf und der „Vom Tellerwäscher zum Millionär“-Mythos eigentlich sind. Die Rocker-Saga um den „Sons of Anarchy Motorcycle Club Redwood Original“ (kurz: SAMCRO oder Sam Crow), der hinter der Fassade einer Kfz- und Motorrad-Reparaturwerkstatt nicht nur Waffen- und Drogen-Deals abwickelt, sondern auch mit den Behörden kooperieren und sich rivalisierende Gangs vom Leibe halten muss, erzählt von zerbrochenen Idealen, einem Vater-Sohn-Konflikt und den vielen erzwungenen Kompromissen und unliebsamen Allianzen im Leben. Es ist ein komplexes Netz aus Anhängigkeiten und Schuld, in das sich die Charaktere immer tiefer verstricken…

Warum Rocker? Weil der Rocker etwas Mythisches hat, erst recht in der amerikanischen Kultur. Er steht einerseits für Kraft und Energie, für Freiheit und Abenteuer, andererseits für Gewalt und Verbrechen, für überkommene patriarchalische Strukturen. Nicht nur die Rolling Stones waren erschüttert, als 1969 beim Festival in Altamont die als Sicherheitskräfte eingesetzten Hell’s Angels unter Alkohol- und Drogeneinfluss zunächst Konzertbesucher und Musiker anpöbelten und dann den Schwarzen Meredith Hunter erstachen, der mit einer Pistole herumgefuchtelt hatte. Den tragischen Vorfall behandelt der berühmte Dokumentarfilm Gimme Shelter von Charlotte Zwerin und Albert und David Maysles, in dem sich ein fassungsloser Mick Jagger noch einmal die schrecklichen Bilder ansieht.

Auch der ebenfalls 1969 erschienene Kinoklassiker Easy Rider zelebriert den Zwiespalt: Während Steppenwolf ihr hymnisches Born to Be Wild schmettern, zeigt die Story zwei Rocker als gesellschaftliche Außenseiter, die mit Drogen dealen und im Konflikt mit reaktionären Rednecks den Tod finden. In seinem Song The Angel aus dem Jahr 1973 beschreibt auch Bruce Springsteen den Rocker als brutalen Outlaw, der sich bei aller Faszination, die er mit seinem Lebensstil ausübt, auf einem Trip in den Tod befindet. Er mag auf sinnsuchende Jugendliche einen großen Eindruck machen – eine im positiven Sinne gesellschaftsverändernde Kraft besitzt er nicht. Der große Aufbruch der „nomadic hordes in Volkswagen vans“ geht buchstäblich vorüber an diesem „Todesengel“, der auf seiner stählernen Hure („metal whore“) lieber „Sackgasse“-Schildern folgt.

In „Sons of Anarchy“ wird der Zwiespalt abgearbeitet am Konflikt zwischen dem jungen Jax (Charlie Hunnam) und seinem Ziehvater Clay (Ron Perlman, bekannt aus den Fantasy-Streifen Hellboy und zusammen mit zuletzt im Monster-Fantasy-Blockbuster Pacific Rim besetzt). Jax’ leiblicher Vater ist bereits tot, er war beseelt von der Idee einer hippiehaften, freiheitsliebenden Rocker-/Outlaw-Gemeinschaft. Unter ihrem jetzigen Anführer Clay aber, der gleichwohl seine sensible Seiten hat und an Arthritis leidet, sind die Sons of Anarchy zu einer kriminellen Bande mutiert, was einige Gewaltexzesse nach sich zieht. Diese werden nie um ihrer selbst willen inszeniert, sondern sind plausibel durch den Handlungsverlauf motiviert. Jax bleibt dem Ehrenkodex der Gang verpflichtet, reibt sich aber auch an ihren dunklen Seiten, die er nicht wirklich akzeptieren kann. Der emotional stärkste Moment der dritten Staffel ist der Punkt, an dem er endlich sein entführtes Baby wiederfindet – in Irland, in den Armen eines ahnungslosen jungen Paares, an das der kleine Junge zur Adoption vermittelt wurde. Eigentlich hatte Jax seinen Sohn mit allen Mitteln zurückholen wollen, doch als er das Paar heimlich verfolgt und erkennt, dass die liebevollen Adoptiveltern dem Jungen eine bessere und sicherere, eine bürgerliche Zukunft ermöglichen werden, kann er sein Vorhaben nicht umsetzen. Hilflos wendet er sich ab. Ein folgenschweres Zaudern, denn wenig später werden die unschuldigen und ahnungslosen Adoptiveltern von den Entführern ermordet. Faszinierend ist die Serie nicht, weil sie etwa als Popcorn-TV-Unterhaltung mit flotter Action daherkommt, sondern weil man ständig von den grausamen Verwicklungen erschüttert wird und immer wieder erleichtert ist, dass sich der eigene stramme Alltag dann doch etwas beschaulicher gestaltet.

Eine der großen Überraschungen der Serie ist die Darstellerin von Jax’ Mutter Gemma. Dahinter verbirgt sich keine Geringere als Katey Sagal, Al Bundys Gattin Peggy in der 80er/90er-Jahre-Proll-Erfolgsserie „Eine schrecklich nette Familie“ – einem Fernsehprodukt, das an der Oberfläche in Ballermann-Manier, aber darunter nicht minder weise die Abgründe der amerikanischen Seele auslotete. Wie sie nun die taffe Rocker-Mama spielt, mit unglaublichen Nehmerqualitäten und der Gabe, den wilden Haufen gegen alle Widerstände zusammenzuhalten, das muss man gesehen haben. Aber man muss auch gehört haben, wie Katey Sagal singt. Denn vor ihrer erfolgreichen Karriere als Schauspielerin war sie mal Backgroundsängerin, und zwar für Stars wie Bob Dylan und Bette Midler. Auch unter eigenem Namen hat sie Alben veröffentlicht. Klar, dass sie zum Soundtrack der Serie „Sons of Anarchy“ einige Gesangsparts beigesteuert hat, etwa Coverversionen berühmter Songs wie Son of A Preacherman, Bird on A Wire, Strange Fruit und Ruby Tuesday.

Und der Soundtrack hält noch weitere Überraschungen parat. Zum Beispiel Curtis Stigers. Der bei uns eher als Schmuserocker oder Jazzer bekannte Sänger und Saxofonist singt den kurzen, aber äußerst knackigen Titelsong der Serie, This Life. Als Backing-Band in diesem wie in etlichen weiteren Songs fungieren die eigens zur Serie  gegründeten Forest Rangers. Und auch hier trifft man ein paar altbekannte Hochkaräter wieder. Zum Beispiel den Bassisten Davey Faragher, der schon in Elvis Costellos Begleitband The Imposters die Saiten zupfte, Drummer Brian Macleod, Studiocrack für Sheryl Crow, Grace Slick oder Roger Waters, Gitarrist Dave Kushner, mit Slash und Scott Weiland eine der tragenden Säulen von Velvet Revolver, und Bandleader Bob Thiele Jr. Der Songwriter und Produzent ist der Sohn von Bob Thiele, der einst im Chefsessel des Jazzlabels Impulse! saß, John Coltranes Album A Love Supreme produzierte und als Koautor an Louis Armstrongs Evergreen What A Wonderful World beteiligt war. Neben den Forest Rangers mit ihren illustren Gastsängerinnen und -sängern gibt es auf dem „Sons of Anarchy“-Soundtrack weitere Rock-Acts, Originalsongs und Coverversionen zu entdecken, etwa die somnabule Interpretation des Herman’s-Hermits-Hits No Milk Today durch Joshua James.

Die Songauswahl ist hier und da auf die Folgen abgestimmt, auch die Neuinterpretationen alter Hits entwickeln im Serienkontext zusätzliche Bedeutungsebenen. Und die eigens komponierten aktuellen Songs hantieren gern mit ambivalenten Lyrics. So greift der Titelsong This Life das Zwiespältige des Rockermythos auf und ist gleichzeitig inhaltlich so offen gehalten, dass man sich hier und da auch als Nicht-Son-of-Anarchy damit identifizieren kann: „Ridin’ through this world all alone / God takes your soul, you’re on your own / The crow flies straight, a perfect line / On the devil’s bed until you die.“ Sind wir nicht alle irgendwie auf uns allein gestellt und kämpfen uns durchs Leben?

Es ist schon eine geflügelte Erkenntnis, dass man manche Serienfiguren besser kennt als die eigenen Freunde. Und „Sons of Anarchy“ setzt, wie die „Sopranos“ oder „Deadwood“, zusätzlich auf den gemeinen Trick, uns für unvernünftig, niederträchtig oder kriminell handelnde Charaktere Sympathie empfinden zu lassen. Nichts für zarte Gemüter, aber entdeckenswert – ob auf DVD oder im TV.

ProSieben Mxx, zurzeit mittwochs und donnerstags abends nach 22 Uhr

Kein Sex-Appeal: „Inside Llewyn Davis“, der neue Film der Coen-Brüder

Er singt gut, spielt souverän Gitarre und ist mit Leib und Seele dabei. Er ist cool, hat mit dem Establishment nichts am Hut und trampt ohne festen Wohnsitz durchs Leben. Ein echter Künstler eben, ein Hobo und Bohemien. Nach dem Selbstmord seines Duopartners versucht Llewyn Davis (Oscar Isaac), aus der damals noch kleinen, kaum bekannten New Yorker Folkszene heraus eine Solokarriere zu starten. Doch leider fehlt dem von sich selbst so überzeugten jungen Barden einiges: das Gespür für die richtigen, zielführenden Connections etwa oder auch der Draht zum Publikum und ein gewisser Sex-Appeal – Qualitäten, mit denen eher die befreundeten Folkies Jim und Jean (Justin Timberlake, Carey Mulligan) gesegnet sind. Hinzu kommt, dass Llewyn Davis völlig orientierungs- und verantwortungslos ist. Er kennt nur sich und seine Musik. Mit all den flüchtigen Beziehungen, aus denen auch mal Schwangerschaften resultieren, und verschiedenen Joboptionen weiß er einfach nichts anzufangen. Bietet sich mal die kleine Chance, etwas zu erreichen oder auch nur geradezubiegen, läuft er Gefahr, diese Chance zu versauen.

Llewyn Davis ist ein Mensch, der an den widrigen Umständen, vor allem aber an sich selbst scheitert. Darin ist er ein typischer Coen-Brüder-„Antiheld“ – so wie Inside Llewyn Davis ein typischer Coen-Brothers-Film geworden ist. Schräge Typen und feine Ironie, lakonischer Witz, John Goodman und ein Sinn für absurde Situationen – es ist alles da, was man von Ethan und Noel Coen erwartet, auch wenn die beiden diesmal fast schon Jarmusch-/Kaurismäki-haft minimalistisch vorgehen. Ein Verliererporträt aus den Anfangstagen der Popindustrie, eine Hommage an all diejenigen, die es als Künstler nicht geschafft haben, das ist in Zeiten einer von Superstars und Castingshows, von Einschaltquoten, Klickraten und Umsatzzahlen geprägten globalisierten Unterhaltungsbranche eine feine Geste. Dass man ausgerechnet Teen-Idol und R&B-Superstar Justin Timberlake in die Rolle eines aalglatten Folk-Saubermanns steckt und dass eine Katze, die für all die verpassten oder selbst kaputt gemachten Chancen stehen mag, den teils zynischen Running Gag des Films bestreitet, gehört zu den skurrilen Einfällen, die sich die Coens eigentlich in jedem ihrer Filme leisten und für die man sie so liebt.

Schade nur, dass das begnadete Regiegespann seine erfundene Geschichte diesmal in einer ganz bestimmten Zeit und einem ganz bestimmten engen kulturellen Kontext verankert hat. Das weckt natürlich Erwartungen, gerade bei Musikliebhabern und -historikern. Und hier enttäuscht der Film auf ganzer Linie. Ein paar Liveszenen aus dem nachempfundenen berühmten „Gaslight“-Café, die Klamotten von damals, ein paar winterliche New Yorker Straßenzüge, die an das Plattencover von The Freewheelin’ Bob Dylan erinnern, und ein Auftritt von F. Murray Abraham als Managerguru Grossman reichen nicht, um hier echte Sixties-Szeneatmosphäre heraufzubeschwören. Ein Gefühl von „Ja, so könnte es damals gewesen sein“ stellt sich beim Anschauen des Films nicht ein, das Ganze wirkt trist und unterkühlt, fast schon emotionslos und eher holzschnittartig zusammengestellt. Der Jazz und die Beat-Poesie waren weitere künstlerische Strömungen, die die damalige Zeit oder zumindestens den kulturellen Underground bestimmten, ebenso Blues, Rockabilly und Rock ’n’ Roll. Blues, Rockabilly und Rock ’n’ Roll aber kommen in Inside Llewyn Davis überhaupt nicht vor, und Jazz und Beat-Poesie begegnen dem Helden wie dem Zuschauer lediglich als Klischees – auf einer Jack Kerouacs On the Road zitierenden bizarren Autofahrt von New York nach Chicago. John Goodman spielt da den exzentrischen Jazzmusiker Roland Turner, der sich symbolträchtig von einem – ho, ho – alles andere als eloquenten Beatdichter namens Johnny Five (Garrett Hedlund) chauffieren lässt und seine ganze Verachtung für das substanzlose Folkgenre artikuliert. Natürlich ist das witzig, Lacher sind garantiert, aber mit Blick auf die Zeitgeschichte handelt es sich letztlich um nicht mehr als billige Parodien. So wie auch Llewyn Davis am langen Ende eher peinlich wirkt und nur noch Kopfschütteln hervorruft.

Wirklich eintauchen in die Welt von damals wollen die Coen-Brüder nicht, und echtes Mitgefühl für ihren Protagonisten haben sie auch nicht. Dass gegen Ende des Films der damals noch unbekannte Bob Dylan lediglich im Bildhintergrund(!) die Bühne betritt und dann quasi aus dem Off vor sich hinnölt, ist zwar ein weiterer netter Gag, deutet aber auch an, was für ein spannendes Werk Inside Llewyn Davis hätte werden können, wenn sich die Coens ernsthaft mit der damaligen Szene auseinandergesetzt hätten. Es hätte ja gar keine moralinsauere Tragödie, sondern durchaus ein echter Coen-Brothers-Film werden können – so wie ihr atmosphärischer Streifen O Brother, Where Art Thou aus dem Jahr 2000, der gekonnt das Artifizielle mit echtem Zeitkolorit und wahrer Liebe zur Musik verbindet. Oder wie Woody Allens furiose fiktive Musikerbiografie Sweet and Lowdown, in der Sean Penn einen an Django Reinhardt angelehnten Gitarristen gibt. So bleibt Inside Llewyn Davis eine routinierte Fingerübung, ein kleines zynisches Kammerspiel – ein großer Coen-Brothers-Film ist es nicht. Es fehlen der Draht zum Publikum und ein gewisser Sex-Appeal. Der Soundtrack allerdings ist ganz ok.      

Peter Doherty: Der letzte Bohèmianer

Endlich mal wieder ein Kinoereignis, das polarisiert. Die Rede ist von Confession, Sylvie Verheydes Verfilmung des 1836 erschienenen Romans Confession d’un enfant du siècle von Alfred de Musset. Der melancholische Streifen, der streckenweise an ein Musikvideo mit Offkommentar denken lässt, fiel bei den Filmfestspielen in Cannes durch und wird vor allem von der britischen Presse verrissen. Doch als leiser Kommentar zur Zeit vermag er bei feinfühligeren Kritikern durchaus zu punkten. So vergab das renommierte Fachblatt „epd Film“ satte vier von fünf Sternen und resümierte: „CONFESSION breitet seine ‚Lose-lose’-Situation so lasziv auf der Leinwand aus wie Brigitte ihre Gewänder. Er ist die melancholische Antithese zur Botschaft der Romantic Comedies mit ihrem ‚Topf trifft Deckel’-Optimismus.“

Brigitte, das ist die attraktive Witwe, in die sich der Held Octave verliebt, als er das ausschweifend zügellose Leben, das er aufgrund einer enttäuschten früheren Liebe geführt hat, hinter sich lassen will. Doch auch die neue Liebe wird zerbrechen, nicht zuletzt an der Eifersucht Octaves. Sein Scheitern begreift dieser materiell abgesicherte Zerrissene als symptomatisch für eine ganze Generation. Im Roman, so verraten Literaturwissenschaftler, verarbeitete Autor Alfred de Musset unter anderem seine leidenschaftliche Affäre mit der sozialkritisch-feministischen Schriftstellerin George Sand. Im Film wiederum lädt Regisseurin Sylvie Verheyde Handlung und Figurenkonstellation mit den Image-Konstrukten auf, die ihr illustres Hauptdarstellergespann umgeben.

Brigitte wird gespielt von Charlotte Gainsbourg, der Tochter von Chansonnier Serge Gainsbourg und Schauspielerin Jane Birkin. Gemeinsam hatten Jane und Serge einst den Skandalsong Je t’aime in die Charts gestöhnt. Tochter Charlotte wurde später bekannt mit provokanten Filmen über Inzest und Dreiecksbeziehungen, im Jahr 2009 schockten sie und ihr Kollege Willem Dafoe in Lars von Triers äußerst drastischem Drama Antichrist. Die große Überraschung in Confession aber ist der britische Songwriter Peter Doherty. Schon wenn er, der sich früher „Pete“ nannte, seinem Vornamen wieder das „R“ hinzufügt, überschlägt sich die Presse angewidert bis verzückt. Der Mittdreißiger (Jahrgang 1979) hat Stil, inspirierte viele junge Briten durch seine extravaganten Anzüge und Hüte und machte jüngst als Designer für das Pariser Kultmodelabel The Kooples Furore. Dandys wie Oscar Wilde gehören zu seinen illustren Vorbildern. Aber Doherty verschreckt auch durch die Zuschaustellung seelischer Abgründe. Da gibt es jahrelange Drogenexzesse, seltsam abwesend-fahrige Interviews und irritierende Kunstwerke, mit dem eigenen drogenverseuchten Blut gemalt. Da kursieren Geschichten über wilde WGs und Einbrüche in die Wohnung von Freunden, die an die Eklats französischer Schriftstellergenies des 19. Jahrhunderts erinnern. Doherty hat zwei uneheliche Kinder und geriet regelmäßig durch vertrackte On-and-off-Affären in die Schlagzeilen, unter anderem mit Supermodel Kate Moss und – wie noch gar nicht allzu lang bekannt ist – mit der 2011 an einer Alkoholvergiftung gestorbenen Sängerin Amy Winehouse.

Dieser Typus des genialisch-kaputten Rockstars, der sich als Libertin und Teil einer Bohème inszeniert, ausschweifend lebt und dabei gern mal Arthur Rimbaud oder Paul Verlaine zitiert, galt eigentlich als ausgestorben, erst recht in Zeiten der Globalisierung und der konsequent durchgeplanten Markenstrategien, auch im Musikgeschäft. Seine „besten Jahre“ hatte diese merkwürdige Spezies in den 1960ern mit Jagger/Richards, Faithfull, Morrison, Hendrix & Co. Sid Vicious, Tom Verlaine & Richard Hell oder auch Patti Smith sorgten 20 Jahre später für eine Wiederbelebung unter veränderten Vorzeichen. Hip-Hop, Britpop, Dance und Techno verwischten die Spuren fast vollends, bis 2002 Doherty und sein annähernd exzentrischer Kumpel Carl Barât mit ihrer Band The Libertines für frischen Wind in der britischen Popszene sorgten. Die Libertines, der Name war Programm, brachten nur zwei Alben zustande, auch weil Freigeist Doherty mehr durch Verhaftungen und Entzugseskapaden als durch Teamgeist glänzte. Schrammelig und krachig, teilweise skizzenhaft klingen diese Alben und sind gleichzeitig eingängig, melodisch, mit Anleihen bei Beat, Folk- und Pubrock. Zwei weitere Alben und die EP The Blinding spielte Doherty ab 2004 mit seiner Band Babyshambles ein, und diese Arbeiten zeugen von einem deutlichen musikalischen Reifungsprozess. Was teilweise nachlässig dahingeworfen und -genölt wirkt, entpuppt sich bei mehrmaligem Hören als harmonisch raffinierter, stilistisch vielfältiger, einfach gefühlvoll. Die Babyshambles-Veröffentlichungen weisen bereits auf das 2009 erschienenen Doherty-Soloalbum Grace/Wastelands voraus, das zu Recht fast durchweg begeisterte Kritiken erhielt.

Doherty ist alles andere als ein Virtuose, aber er entlockt seiner Gitarre einen unter die Haut gehenden Sound. Dazu berührt er mit einer ebenso energischen wie zerbrechlich-zärtlichen Stimme, egal ob er den Ton trifft oder nicht. Die Texte handeln mal nostalgisch von einem idealisierten England („Albion“) und einem paradiesischen Arkadien, mal geben sie sich selbstironisch frankophil (La belle et la bete) oder zitieren spielerisch Klassiker der Dekadenzliteratur (A rebours). Meist aber sind sie schwer zugänglich, was auch ihrer Entstehung unter Drogeneinfluss geschuldet sein mag. Selten ist hier klar, wer „ich“ ist und wer „du“, es werden names gedropt und irgendwelche Begebenheiten zitiert, deren Spuren sich manchmal in veröffentlichte Tagebücher und Schreibversuche zurückverfolgen lassen. So sind es weniger ganze Songs, die im Gedächtnis haften bleiben, als herausstechende einzelne Strophen und Verse:  

Oh my words in your mouth / Are mumbled all about / You’re like a journalist / How you can cut and paste and twist / You’re awful (…) Jack drinks and smokes his cares away /
His heart is in the lonely way / Living in the ruins / Of a castle built on sand    (The Libertines, Tell It to the King)

I said you can have my love for this song go right / But don’t hold it up to the light / Oh loveless, my loveless love    (The Libertines, Anything But Love)

You and I and me and you / What became of the love we knew? / What became of the work class? / Nike, Reebok, Adidas…    (The Libertines, Hooray for the 21st Century)

Happy endings, they still don’t bore me / They, they have a way / A way to make you pay / And to make you toe the line / Though I sever my ties / Because I’m so clever / But clever ain’t wise (…) So what’s the use between death and glory? / I can’t tell between death and glory / New Labour and Tory / Purgatory and happy families    (Babyshambles, Fuck Forever)

Given up trying to explain / I’ll just put it in a song instead    (Babyshambles, Carry on Up the Morning)

Oh, you, you’ll soon be up where you belong / But it’s only blood from broken hearts that writes the words to every song    (Babyshambles, I Love You (But You’re Green))

Now tell me, if darkness comes / Then I will sing you a song / And I will love you forever / At least ‚til morning comes    (Pete Doherty, Lady, Don’t Fall Backwards)

Nur eins scheint klar: Gelingende, andauernde (Liebes-)Beziehungen gibt es in Dohertys Songs nicht. Entweder bleibt Liebe, Zusammensein ein unerfülltes Sehnen, oder die Beteiligten machen sich nach wenigen Glücksmomenten gegenseitig das Leben schwer. Wenn überhaupt, dann hat der eben zitierte Song Fuck Forever so etwas wie programmatischen Charakter: Er drückt Skepsis gegenüber dem Glück aus – verbunden mit der Befürchtung, dass man für jedes Happy End bezahlen muss. Etwas, das genauso für das Meiden von Bindungen gilt. Eine verdammte Zwickmühle. Fast schon defätistisch-nihilistisch mutet das Abstreiten jeglicher Unterschiede zwischen New Labour und den Tories, zwischen glücklichen Familien und dem Fegefeuer an.

Dieses Leiden an der Welt und am menschlichen Miteinander scheint Doherty für die Rolle des unglücklich liebenden Octave in Sylvie Verheydes Confession geradwegs zu prädestinieren. Klar, dass dieser ständig am Abgrund taumelnde Suchende auch Musik zum Film beigesteuert hat. Zum Beispiel den Song Birdcage, den er gemeinsam mit Suzi Martin singt. Das Besondere: Die Lyrics stammen aus dem Nachlass von Amy Winehouse, die hier und da etwas Bohèmehaftes versprüht haben mag, am Ende aber nur noch ein bemitleidenswertes Wrack war. In Birdcage hat sie das Thema der Amour fou auf einen weiteren schönen Zweizeiler gebracht: „We could never be together / I’m too pretty, you’re too clever.“

Einst empfahl sich David Bowie mit seiner Aura des Rockstars vom anderen Stern für Kunstfilme wie Der Mann, der vom Himmel fiel und Horrorfantasien wie Begierde. Sting kultivierte seinen exotischen Stachelpunk-Look als Über-Mod in Quadrophenia oder als Weltraumfiesling im Science-Fiction-Klassiker Dune, und der bodenständige Country-Songwriter Kris Kristofferson füllte als sensibler Tough Guy verschiedenste Charakterrollen aus, zum Beispiel im Westernepos Heaven’s Gate. Kristofferson, Sting oder Bowie mögen die besseren Schauspieler sein, aber auch Dohertys bohèmegefärbter Popstar-Imagetransfer wird genügend Fans ins Kino locken – allen Kritikern zum Trotz, die den Songwriter als dramatisch untalentierten Darsteller brandmarken und mit seinem Aus-der-Zeit-gefallen-Sein nichts anfangen können.

Ja, ja, womöglich sollte man von Peter Doherty keinen Gerauchtwagen kaufen. Auch hat manches von dem, was er tut, etwas Naives, Kokettes, und die Bedeutung seines Beitrags für die Rockmusik ist längst nicht endgültig geklärt. Aber: Mit seinem unkonventionellen Lebenswandel, seinen eigenwilligen Songs und seinen unberechenbaren künstlerischen Moves steht dieser Unvollendete auf spannende Weise im Widerspruch zur vermeintlichen heilen Welt vieler Stars und Sternchen. Er liegt quer zu den gnadenlos durchstrukturierten Powerkarrieren von Rihanna & Co und zu seelenlos-businessorientierten Castingshow-Formaten, von bürgerlichen Normen ganz zu schweigen. Ein gefallener Engel kurz bevor der Himmel einzustürzen droht. Vielleicht sagen das Phänomen Pete Doherty und der Film Confession ja doch etwas über unsere aus den Fugen geratene Zeit. Schaut man sich im Videoclip an, wie selbstgefällig-süffisant und kulturbeflissen arrogant drei saturierte Filmkritiker des britischen „Guardian“ über Confession und vor allem über Peter Doherty herziehen, dann kann man ein wenig nachvollziehen, an welchen gesellschaftlichen Strukturen dieser letzte Bohèmianer unter anderem leidet.

Link zur „Guardian“-Videokritik: http://www.guardian.co.uk/film/video/2012/dec/07/confession-of-a-child-of-the-century-video-review

Kinostart Confession: 20. Juni