A Star Is Torn

Eine große, tragische Liebesgeschichte, die zur Abwechslung mal im Rock-’n’-Roll-Milieu spielt? Oder ein cooles Rock-’n’-Roll-Epos, das Elemente einer tragischen Liebesgeschichte integriert? Daisy Jones & The Six, der Erfolgsroman von Taylor Jenkins Reid, funktioniert auf beiden Ebenen, peppt das Ganze mit einem ordentlichen Schuss Siebzigerjahre-Nostalgie auf und befeuert nebenbei die ewige These, dass große Kunst vor allem aus Schmerz und Leiden geboren wird. Die Verfilmung der glamourösen Rockstarfiktion als Amazon-Prime-Serie nimmt zwar einige dramaturgische Änderungen vor, setzt die Vorlage aber mehr als kongenial um – und beschert der Welt das reale Musikalbum einer Gruppe, die es gar nicht gibt.

Ende der Siebzigerjahre: Daisy Jones & The Six haben es geschafft – sie sind weltweit gefeierte Rockstars. Doch just auf dem Höhepunkt ihrer Karriere bricht die Band auseinander. Die Fans sind fassungslos. Wie konnte es so weit kommen? Viele Jahre später werden die Bandmitglieder, die nichts mehr miteinander zu tun haben, sowie wichtige Personen aus ihrem Umfeld für eine Dokumentation getrennt voneinander interviewt. Aus all den kleinen Einwürfen, Anekdoten und teils widersprüchlichen Einschätzungen werden opulente Rückblenden – entfalten sich Aufstieg und Fall einer schillernden Band bis hin zu den wahren Gründen für ihre Auflösung. Erst zum Schluss offenbart sich, wer die erhellenden Interviews führt. Es ist eine herzerwärmende Pointe, die eine überraschende neue Perspektive eröffnet.

Von der Romanfiktion zum Serienhit zum Chartserfolg

Jahrzehntelang waren Spielfilme die Königsdisziplin, wenn es um das Erzählen von Geschichten für die Kinoleinwand und Bildschirme aller Art ging. Entgegen allen Behauptungen über die Schnelllebigkeit unserer Zeit und das kontinuierliche Sinken von Aufmerksamkeitsspannen ist jedoch seit geraumer Zeit das üppige Serienformat auf dem Vormarsch. Es eröffnet die Möglichkeit, eine Geschichte plausibel und in mehreren Strängen zu entfalten, Charakteren Tiefe zu verleihen und die positiven wie negativen Dynamiken zwischen den Protagonistinnen und Protagonisten in sämtlichen Facetten auszuloten. Kaum zu glauben, aber die Fans bleiben dran, selbst über sechs bis zehn Folgen und gleich noch über mehrere Staffeln hinweg – wenn sie denn gut gemacht sind. Das gilt auch für Pop-Biopics und -Fiktionen. Schon verschiedenste 90– bis 120-Minuten-Werke krankten bei allem Unterhaltungswert daran, dass  sich das Drehbuch auf wenige zentrale Motive beschränken musste und eine Band, die eben noch reichlich amateurhaft in einem heruntergekommenen Provinzclub zu sehen war, im nächsten Moment von einem großen Festivalpublikum gefeiert wurde, um schon in der übernächsten Einstellung die finalen Zersetzungserscheinungen zu zeigen.

Die Macher der Amazon-Prime-Serie Daisy Jones & The Six haben nicht nur die Vorteile des Serienformats optimal genutzt, sondern auch das Vermarktungspotenzial der Vorlage, des gleichnamigen Erfolgsromans von Taylor Jenkins Reid, konsequent ausgeschöpft. Durch geschickte dramaturgische Eingriffe, eine zündende Besetzung und eine stilvolle Inszenierung haben sie ein mitreißendes Stück Heimkino geschaffen, in das man knapp zehn Stunden lang eintauchen kann; und statt eines konventionellen Soundtrack-Albums, zu dem verschiedene Interpreten die Songs beisteuern, haben sie das fiktive Daisy-Jones-&-The-Six-Album Aurora tatsächlich zum Leben erweckt. Mit dem Ergebnis, dass sich die erfundene Truppe mit ihren Songs wie ein realer Rock-Act in den internationalen Charts tummelt.

Fleetwood Mac (und andere) lassen grüßen

Aus den Rückblenden kristallisieren sich zunächst zwei Erzählstränge heraus. Da sind die Dunne Brothers, eine Band um den gern mal autoritär auftretenden Frontmann Billy Dunne, die irgendwo in Pennsylvania versucht, Fuß zu fassen, größtenteils mit Coverversionen. Und da ist Daisy Jones in Los Angeles, eine unangepasste junge Frau, die sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält, insgeheim aber von einer Karriere als Singer-Songwriterin träumt. Bewegung kommt in die Geschichte, als der renommierte, aber nicht mehr ganz so erfolgreiche Musikproduzent Teddy Price auf Daisy aufmerksam wird und sie unter seine Fittiche nimmt. Währenddessen durchlaufen die Dunne Brothers mehrere Transformationen und begrüßen schließlich die Keyboarderin Karen Sirko als neues Mitglied. Die Band benennt sich um in The Six, schreibt vermehrt eigene Songs und zieht irgendwann nach L.A., um dort den nächsten Karriereschritt zu machen. Eher durch Zufall lernt das schräge Kollektiv, das sich mehr und mehr zusammenrauft, Teddy Price kennen. Und nicht nur das: Es gelingt den Six auch, den einflussreichen Studiomagier von ihren Songs zu überzeugen. Aber etwas fehlt ihnen, so empfindet es der Produzent – womöglich noch etwas textlicher Input, dazu eine starke Frauenstimme. Und weil auch Daisy Jones etwas fehlt, nämlich eine Band, die ihre lyrischen und musikalischen Ideen in künstlerisch noch wertvollere Bahnen lenkt, bringt Teddy Price kurzerhand beide Fraktionen zusammen. Mit der Vorgabe, gemeinsam neue Songs zu schreiben. Ein genialer Move, der eine beispiellose Erfolgsstory in Gang setzt – aber auch ein heilloses emotionales Chaos. 

Wer die Dynamiken innerhalb von Rockbands kennt, wird das eine oder andere Déjà-vu erleben – es gibt etliche gut beobachtete Details und Band-Anekdötchen zum Schmunzeln. Wer eine Vorstellung hat vom Musikbusiness damals und heute, dürfte über mächtige, selbstgefällige Konzern-Plattenbosse in Anzügen, über gewiefte Produzenten- und schrille Managertypen den Kopf schütteln. Wer die Seventies noch mitbekommen hat, wird mit Sicherheit von nostalgischen Gefühlen überkommen, so treffend sind Mode und Lifestyle eingefangen – auch wenn man nicht jede Sex- und Drogeneskapade selbst erlebt haben muss. Wer Fleetwood Mac und ihre Musik zu Rumours-Zeiten mag, wird große Ohren und Augen machen, sind doch Sound, Erscheinungsbild und das eine oder andere biografische Detail zu Daisy Jones & The Six von der legendären britisch-amerikanischen Band inspiriert. Und auch wer einfach nur überlebensgroße Lovestorys mit euphorischen Ups und tragischen Downs liebt, wird bestens bedient.      

Billy Dunne und Daisy Jones sind zwei außergewöhnliche, nicht uneingeschränkt liebenswerte Charaktere – geschundene Seelen, die sich gegenseitig, aber auch dem gemeinsamen Umfeld einiges an Unzumutbarkeiten zumuten. Zwischen den beiden kracht es immer wieder gewaltig, aber kaum jemandem bleibt verborgen, dass es auch mächtig knistert. Billy hat eine kleine Tochter mit seiner Frau Camila. Die begreift die Bandgemeinschaft als verschworene Familie und wirkt wie eine Übermutter ausgleichend, wo immer es nötig wird. Doch auch sie muss damit klarkommen, dass Billy zeitweise dem destruktiven Rock-’n’-Roll-Lifestyle erliegt, dem Alkohol verfällt und nach einer Entziehungskur lange braucht, um in seine Vaterrolle hineinzuwachsen. Die Vibes, die sie später spürt, wenn sie ihren Mann und Daisy Jones zusammen performen sieht, dürfen ihr erst recht nicht gefallen. Und auch sie leistet sich Ausrutscher. Daneben gibt es stille Glücksmomente und rauschhafte Erfolge, eine lange geheim gehaltene Affäre innerhalb der Band, Mitmusiker, die unter mangelnder Wertschätzung leiden, Frust und Abstürze, bis hin zu einer vorübergehenden Auszeit Daisys in Griechenland. Und dann ist da noch – wir kennen das Motiv aus Almost Famous – der Journalist eines einflussreichen Rockmagazins, der die rasant aufstrebenden Stars auf Tour begleitet, um eine große Story zu schreiben. Die Tratschgeschichten und Geheimnisse, die er den aufgewühlten Bandmitgliedern unabhängig voneinander entlockt, sorgen für zusätzlichen Zündstoff im Gefüge. Nur der Drummer – in seiner naiven Unbekümmertheit erinnert er an den notorisch unterschätzten Beatle Ringo Starr – bleibt völlig unbeschadet: Er lernt tatsächlich eine attraktive Hollywoodschauspielerin kennen, gründet mit ihr eine Familie und lebt, so darf man vermuten, glücklich bis ans Ende seiner Tage. Welch ein wunderbares Popklischee – eine Figur, die für regelmäßigen „comic relief“ sorgt und die dramatische Erzählung mit einem Schuss Selbstironie würzt.

Die weibliche Perspektive

Wo von Männern geschriebene Rockdramen gern den Rock-’n’-Roll-Lifestyle ins Zentrum rücken und ihre Protagonisten als zerrissene, aber letztlich geniale Lonesome-Hero-Typen aufs Podest heben, legt Daisy Jones & The Six bewusst andere Schwerpunkte: zum Beispiel auf die problematischen Auswirkungen, die dieser Rock-’n’-Roll-Lifestyle und das Ringen zweier Alphatiere auf die Charaktere und ihr Umfeld haben. Die Hauptfiguren sind differenziert gezeichnet, mit großen Stärken, aber auch mit eklatanten Schwächen. Daisy, Camila und Keyboarderin Karen sind gleich drei selbstbewusste Frauen. Einerseits behaupten sie sich in der männerdominierten Rockwelt, andererseits haben sie unter den Bedingungen und Haltungen der damaligen Zeit noch einmal besonders zu leiden. So sind es eben die Frauen, die das Problem einer ungewollten Schwangerschaft und die möglichen Folgen für die angestrebte Karriere für sich selbst regeln müssen. Es ist schmerzhaft, aber gut, dass auch gezeigt wird, wie der einst so coole Frontmann Billy Dunne zunächst nicht in der Lage ist, sein Töchterchen in den Arm zu nehmen und zu seiner Vaterschaft zu stehen. Obwohl Daisy Jones ganz neue Saiten in ihm zum Klingen bringt, bleibt er immer auch seiner Frau Camila in Liebe verbunden. Es ist kompliziert. Und hier spürt man deutlich die Handschrift der Autorin – wie auch der Produzentin Reese Witherspoon, die schon als June Carter im Johnny-Cash-Biopic Walk the Line starke weibliche Akzente setzte.  

Brillante Besetzung

Mindestens ebenso stark ist der schauspielerische Eindruck, den nun Kiley Reough als Daisy Jones hinterlässt. Die Enkelin von Elvis Presley beeindruckt durch eine intensive Mimik, Gestik und Körpersprache und dürfte mit dieser energiegeladenen Rolle nach diversen Kino- und Serienauftritten den endgültigen Durchbruch geschafft haben. Allein wegen ihrer Präsenz lohnt sich das Streamen. Doch auch die übrigen Mitwirkenden überzeugen, allen voran Tribute von Panem-Beau Sam Claflin als vielfach ge- und überforderter Frontmann Billy Dunne. Aus den Stars, die die Band verkörpern, ragt Suki Waterhouse als zielstrebig-kompromisslose Keyboarderin Karen Sirko heraus, daneben glänzen Tom Wright als clever-sensibler Produzent Teddy Price und Timothy Olyphant (er spielte einst den etwas hüftsteifen Sheriff in der famosen Westernserie Deadwood oder den glatzköpfigen Killer Hitman) als durchgeknallter, aber letztlich professioneller, angemessen empathischer Tourmanager Rod Reyes.

Die Besetzung der beiden Hauptfiguren erweist sich auch mit Blick auf die Musik als Glücksgriff. Beide Stars können tatsächlich singen, wobei Sam Claflin die etwas unauffälligere, gelegentlich in Richtung Tom Petty tendierende Stimme hat und Riley Keoughs Vortrag scheinbar mühelos die Fleetwood-Mac-Diva Stevie Nicks, Kate Pierson von den B 52’s und die eine oder andere Country-Ikone zitiert. Überraschend stark und rund klingt es, wenn Claflin und Keough zweistimmig singen und die Songs des fiktiven Albums Aurora lebendig werden lassen. Im Buch hatte Autorin Taylor Jenkins Reid ein paar eigene Lyrics zu den Songs der Band verfasst – es seien aber keine brauchbaren Texte gewesen, räumt sie unumwunden ein, sondern eher Verse, die die Figuren charakterisieren sollten. Mit Reids Einverständnis holten die Serienverantwortlichen dann echte Songwriting-Koryphäen ins Boot, darunter Phoebe Bridgers, Marcus Mumford und sogar Superstar Jackson Browne. Die Fachleute hatten einigermaßen freie Hand und lieferten die Musik samt neuen Lyrics zu den von Claflin und Keough gesungenen Stücken.

Ganz offensichtlich spitzen die neuen Songversionen emotional zu und bringen vor allem die inneren Konflikte der Figuren, die zwischenmenschlichen Reibungen auf den Punkt. Verdichtung, Dramatisierung und Aktualisierung – ähnliche Effekte erzeugen auch die dramaturgischen Änderungen an der literarischen Vorlage: So haben Camila und Billy im Buch gleich mehrere Kinder, in der Serie ist es nur eine Tochter. Camila hat im Roman keine Affäre, in der Serie schon. Und während Daisy in der Vorlage nur Daisy heißt, darf sie Billy gegenüber in der Verfilmung offenbaren, dass sie eigentlich Margaret heißt – ein Moment, der erstmals eine besondere Nähe zwischen beiden Charakteren herstellt. Dass Keyboarderin Karen in der Adaption nicht mehr Amerikanerin, sondern Britin ist, nennt Showrunner Scott Neustadter eine explizite Hommage an die kürzlich verstorbene Fleetwood-Mac-Keyboarderin Christine McVie. Daisys Freundin Simone wiederum, Soulsängerin und aufstrebender Discostar, bekommt in der filmischen Umsetzung eine nach verschiedenen Höhen und Tiefen glückliche lesbische Beziehung angedichtet, als Reverenz an die queere Bewegung. Und als Daisy eine Überdosis erleidet, wird sie, anders als im Roman, von Billy gerettet, von wem auch sonst!

Geniales Pastiche oder: Kunst kommt von Einfühlen

Fast noch intensiver als die Vorlage suggeriert die Serienadaption, dass große Kunst vor allem aus Reibung, aus Schmerz und Leiden entsteht. Zu den besten Momenten der Serie gehören die Szenen, in denen Daisy und Billy gemeinsam komponieren und texten. Sie beharken sich, kritisieren immer wieder die Texte des Gegenübers und zwingen sich gegenseitig zur Nabelschau. Dabei stellen die scheinbar grundverschiedenen Charaktere fest, dass sie in ihrem Schmerz, in ihren unerfüllten Sehnsüchten mehr gemeinsam haben, als ihnen lieb ist. Und schon texten sie bittersüße Verse wie: „If you’re gonna let me down, let me down easy“, „I’m an echo in your shadow / I’m in too deep“ oder „We can make a good thing bad“. „Viel Leid, mehr hervorragende Songs“ – so lautet das Prinzip, und das ist natürlich schon in losen Orientierungspunkten wie der Bandgeschichte von Fleetwood Mac angelegt. Die Gruppe war berühmt für vertrackte Beziehungen und komplizierte zwischenmenschliche Dynamiken, die die Treiber hinter einigen ihrer besten Songs gewesen sein sollen.

Der „Große Kunst aus großem Schmerz“-Gedanke wird auch heute noch immer wieder gern vorgebracht und standardmäßig untermauert durch Verweise auf Vincent Van Gogh und Edvard Munch, Joseph Beuys und Hermann Nitsch. Hinzu kommen Thesen wie: Positive Gefühle muss man nur genießen, negative Gefühle muss man verarbeiten – weshalb letztere mehr und interessanteres Material für künstlerisches Schaffen liefern. Das alles mag für diverse Kreative und ihre Werke gelten, verallgemeinern aber lässt es sich nicht. Es wäre auch etwas unfair gegenüber Happy, Walking On Sunshine, Girls Just Want to Have Fun, Don’t Worry – Be Happy und anderen Evergreens der Glückseligkeit. Sie scheinen nicht mal im Ansatz aus großem Schmerz geboren und besitzen dennoch einen unbestreitbaren künstlerischen Wert, zumindest für den Autor dieser Zeilen. Zu guter Letzt kann man den Daisy Jones-Roman selbst und – mehr noch – die Serienadaption als Belege weiterer Antriebsquellen für große Kunst nennen. Autorin Taylor Jenkins Reid verfügt ganz einfach über ein unglaubliches Können, das hatte sie in ihren zuvor erschienenen Romanen bewiesen. Dann kam ihr die nächste Idee, doch in der Folge musste sie erst einmal gründlich recherchieren – zu Musik und Songwriting, zu den Biografien berühmter Bands und ganz allgemein zu den Siebzigern. Die Lust am Fabulieren und am Feilen, aber auch viel Geduld führten schließlich zu einer mitreißenden Geschichte über die Kraft der Liebe und die Kraft der Musik. Die Macher hinter der Serienadaption und dem Musik gewordenen fiktiven Album Aurora wiederum agierten im Rahmen einer großangelegten Ensemble-Produktion noch etwas mehr auf der Metaebene. Mit viel Hirn und Händchen manipulierten und ergänzten sie die literarische Vorlage, setzten eine professionelle Filmproduktionsmaschinerie in Gang, gaben gleichzeitig passende Songs in Auftrag. Das Ergebnis ist ein geniales Pastiche rund um ein paar Siebzigerjahre-Rockstars, die große Kunst aus großem Leiden schaffen. Davon, dass die Serienverantwortlichen und ihre Dienstleistenden selbst kongenial gelitten hätten, ist eher nicht auszugehen.

Unter der Oberfläche

Shallow von Lady Gaga & Bradley Cooper ist tatsächlich ein verdammt gelungener Song. Auch wenn – oder gerade weil – er leiseste Anklänge an einige andere große Songwriter-Hits enthält.

Es gibt Songs, die hört man zum ersten Mal – und doch meint man, sie schon seit Jahren zu kennen. Das kann ein unschönes Gefühl sein, etwa wenn das, was man hört, wenig eigenständig und vor allem schamlos abgekupfert klingt. Es kann aber auch ein aufregendes Gefühl sein. Zum Beispiel dann, wenn das, was man hört, auf angenehme Weise an gleich mehrere andere Songs erinnert, ohne dass man auf Anhieb sagen könnte, um welche Songs es sich handelt. Die Songwriterin oder der Songwriter hat – ob bewusst oder intuitiv – verschiedene Einflüsse so verarbeitet, dass etwas völlig Individuelles entstanden ist, in dem das Altbekannte aber wohlig bis nostalgisch nach-, an- und mitklingt. Weil sich die Einflüsse elegant und fast schon organisch zu einem neuen Ganzen zusammenfügen, ist man als Hörer tagelang mit der wunderbar quälenden Frage beschäftigt: Verdammt, an wen oder was erinnert mich dieser Sound, diese Stimmung, diese Melodie, diese Akkordfolge bloß?

Aktuell geht es mir so mit Shallow, dem von Lady Gaga und Bradley Cooper gesungenen Hit aus dem Film A Star Is Born. Geschrieben von Lady Gaga, Andrew Wyatt, Anthony Rossomando und Mark Ronson, hat das Stück verschiedene hochkarätige Auszeichnungen, zuletzt den Oscar für den besten Filmsong eingeheimst. Shallow ist überpräsent im Radio und in den (sozialen) Medien, dazu gibt’s Spekulationen, ob die Gaga-Lady vielleicht was mit Coopers Bradley hat – was sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht hat. Man kommt an der Nummer einfach nicht vorbei. Aber das ist nicht der Grund, warum man das Gefühl haben kann, den Song schon jahrelang zu kennen. Es ist zunächst das Modell Promi-Schmacht-Duett, mit dem man selten etwas falsch macht. Und dann ist es die Art, wie die akustische Gitarre zum Einsatz kommt. Die Gesamtstimmung des Songs. Es sind ein paar markante Akkordfolgen im Refrain. Und es ist die Melodieführung im Strophenteil.

Ich mag mich irren und man darf mir gerne widersprechen, aber hier sind die vier Songs, die Shallow in meinem Unterbewussten nachhallen lässt. Wie gesagt: Ich will gerade NICHT auf die Plagiatsthematik hinaus, im Gegenteil: Das Beste und Markanteste aus verschiedenen Hits herauszufiltern und dezent zu einem neuen harmonischen Ganzen zusammenzufügen, das viele Hörerinnen und Hörer berührt, halte ich für große Songkunst. Extreme hieß eine amerikanische Band, die um 1990 mit dem besinnlichen Liebeslied More Than Words einen Welthit hatte. Es ist weniger die Melodie als die Gesamtstimmung, die mich an Shallow erinnert – und natürlich die Art und Weise, wie die akustische Gitarre gezupft und geschllagen wird.

An Only You von Yazoo, und hier besonders an den Refrain mit den Zeilen „All I needed was the love you gave / All I needed for another day / And all I ever knew / Only you“, erinnern mich ein paar Akkordfolgen von Lady Gaga & Bradley Cooper. Auch Selena Gomez hat den Evergreen Only You gecovert, und in ihrer unaufgeregten Elektronikversion kommen die feinen Harmonien sehr gut zur Geltung.

Was die Gesamtstimmung, aber auch Elemente der Melodieführung betrifft, fiel mir irgendwann noch der alte Kansas-Gassenhauer Dust in the Wind ein. In Shallow wurde er – zugegeben – womöglich nur ganz entfernt verwurstet, und dabei doch weitaus gelungener als in einer aufdringlich-notorischen Teeklame aus den Neunzigerjahren.

Die intensivsten Anklänge meine ich jedoch an einen Song der schwedischen Band The Cardigans aus dem Jahr 2003 zu hören. And Then You Kissed Me heißt er, verbindet das große Gefühl der Liebe mit dem hässlichen Thema der häuslichen Gewalt und ist bei allen unschönen Details … einfach anrührend. Ich weiß nicht, wie es anderen geht, aber wenn nach dem seltsamen Orgelintro akustische Gitarre und Gesang einsetzen, dann klingt das für mich schon wie eine melodische Blaupause für den ersten Songteil von Shallow.

Alle genannten Songs sind natürlich in sich völlig anders gestrickt, kommen von woanders her und entwickeln sich woanders hin. Dennoch sind es ihre leicht verwischten Spuren, die Shallow in meinen Ohren so vertraut und so zwingend klingen lassen. Unter der Oberfläche gibt es einiges zu entdecken, nicht umsonst heißt es im Text mehrdeutig: „We’re far from the shallow now …“ Etwas ganz Eigenständiges schafft der Song dann dadurch, dass er weniger nach dem Strophe-Refrain-Schema funktioniert, sondern sich langsam, aber stetig auf einen dramatischen Höhe- und Schlusspunkt hin steigert.

Lady Gaga gehört zu Recht zu den ganz Großen der Popmusik. Neben cleverem Songwriting sind es Power-Vocals, extravaganter Stil, eine provozierende Ambivalenz samt mehreren Songebenen und immer neue überraschende Häutungen, die sie zum faszinierenden Megastar machen. Ob Dancefloor-Queen oder Country-Lady, Rockröhre oder gefühlvolle Singer-Songwriterin: Was sie auch anstellt, es wirkt in der jeweiligen Phase ungeheuer authentisch und ist doch immer Teil eines schillernden Gesamtkunstwerks aus Überwältigungs-Performance und kraftvoller Musik. Mit dieser Qualität ist sie als gelegentlicher Gaststar eine absolute Bereicherung, selbst für gewiefte Ausnahmemusiker wie Sting.

Der Song als staatsbürgerliche Pflicht

Vor mehr als einem Jahrzehnt rief Neil Young via Song dazu auf, den US-Präsidenten seines Amtes zu entheben. Ein Gedanke, den 2019 immer mehr Menschen teilen.

Offizielles Video

„Let’s impeach the president for lying  / (…) / Who’s the man who hired all the criminals / The White House shadows who hide behind closed doors / They bend the facts to fit with their new stories …“ Das laute Nachdenken über eine Amtsenthebung? Zwielichtige Gestalten im Weißen Haus? Die dreiste Verdrehung eindeutiger Sachverhalte? Kein Zweifel, das müssen Verse aus den letzten zwei Jahren sein – einer Zeit des weltweiten Entsetzens über einen durchgeknallten US-Präsdidenten Donald Trump, der chaotischen, wirren Regierungsbeschlüsse, der brutalst manipulierten „alternativen Fakten“.

Oder?

Mitnichten. Es sind Verse aus dem Jahr 2006, und sie gelten dem US-Präsidenten George „Dabbeljuh“ Bush. Geschrieben und gesungen hat sie Neil Young. Der kontroverse Singer-Songwriter war schon in den Sechzigern als Mitglied der Gruppe Crosby, Stills, Nash & Young gegen den Vietnamkrieg, gegen Polizeigewalt, gegen Rassismus und gleichzeitig für eine neue, freie Gesellschaft eingetreten. Auch als Solokünstler in den 1970er und -80er Jahren hatte er immer wieder Stellung zu den Problemen der USA bezogen. Der Song Let’s Impeach the President findet sich auf dem Young-Album Living With War, mutet an wie der Appell eines Kollektivs an das Kollektiv und richtet sich gegen all die präsidialen Lügen und Entscheidungen, die zum Angriff der „Koalition der Willigen“ auf den Irak und zur immer noch anhaltenden weltweiten Krise, zu guter Letzt auch zum Aufstieg des sogenannten „Islamischen Staates“ (IS) geführt hatten.

Abgesetzt werden soll der Präsident laut Songtext aus verschiedensten Gründen: weil der Kriegsbeginn auf einer Falschaussage beruhte – genauer gesagt dem angeblichen Besitz von Massenvernichtungswaffen auf Seiten des Iraks; weil der Präsident seine Macht missbraucht; weil er Menschen grundlos in den Kampf schickt, das Geld mit vollen Händen zum Fenster hinauswirft, einen Überwachungsstaat aufbaut, Gesetze bricht und die USA ohnehin nicht wirklich vor al-Qaida schützen kann; weil er die Nation spaltet; weil er den Schwarzen immer noch keine Gleichberechtigung zubilligt und, und, und. In den beiden Schlussversen, in denen der Präsident seine Hände in Unschuld wäscht, versteckt sich auch eine Anspielung auf die ehemalige Alkoholsucht George W. Bushs – der Präsident sei jetzt natürlich trocken: „Here’s lots of people looking at big trouble / But of course our president is clean.“ 

Geht es nach Neil Young, dann erhebt sich die Masse und macht den von George W. Bush angezettelten Wahnsinn nicht mehr mit. Natürlich ist ein Amtsenthebungsverfahren in den USA sehr kompliziert und kann in mehreren Stufen nur von der Politik umgesetzt werden. Umso drastischer erscheint die ebenso naive wie selbstbewusste Forderung des Songs, der im Grunde nicht den konventionellen Weg gehen will: Das Volk selbst soll unmittelbar und schnell entscheiden. Trotz ihrer Einfachheit wirken die Lyrics individuell und hochaktuell.

„Freedom of Speech“-Tour und Publikumsreaktionen

Mit seinem Album Living With Warund dem Szenehit Let’s Impeach the President ging Neil Young 2006 auf eine Konzerttournee, für die er seine ehmaligen Mitstreiter David Crosby, Stephen Stills und Graham Nash ins Boot holte. Das Motto der Tour erinnerte folgerichtig an das „First Amendment“ der amerikanischen Verfassung, das uneingeschränte Meinungsfreiheit garantiert: „Freedom of Speech“. Die Bühnen-Highlights und das ganze Drumherum bannte Young auf Film und brachte später einen Zusammenschnitt unter dem anspielungsreichen Titel Déjà Vu in die Kinos – so hatte bereits ein Crosby-, Stills-, Nash- & Young-Album aus dem Jahr 1970 geheißen … Konsequent: In dem Film dürfen Konzertbesucher ihre Meinung sagen – die begeisterten Fans ebenso wie die Gegner. Und so dokumentiert Déjà Vu exakt die Spaltung des Landes, die der zentrale Song anprangert: Teile des Publikums buhen, andere jubeln, wütende Konzertbesucher ärgern sich darüber, viel Geld dafür bezahlt zu haben, nur um von Neil Young beschimpft zu werden. Wobei man sich fragt, was sie bei ihrer reaktionären Haltung ausgerechnet zu Fans von Neil Young hat werden lassen. An anderer Stelle ziehen Vietnam-Veteranen Parallelen zwischen „ihrem“ Krieg in den Sixties und dem aktuellen Krieg gegen den Irak – ein „Déjà Vu eben. Der Hauptsong des Albums Living With War hat etwas von einem rockigen Kinderlied. Die simple, plakative Parole „Let’s Impeach the President“ lässt in Zeiten einer sich dramatisch verändernden Weltlage und eines immer unberechenbarer, immer egomanischer werdenden Präsidenten Trump kaum einen Menschen in Amerika, geschweige denn in Europa kalt.

Am 14. März 2019 erscheint bei WBG/THEISS mein neues Buch Provokation! Songs, die für Zündstoff sorg(t)en. Vorgestellt werden rund 70 Songklassiker der letzen hundert Jahre, die zu ihrer Zeit die Gemüter erhitzten und zum Teil noch heute kontrovers diskutiert werden – von Rock Around the Clock bis Relax, von Anarchy in the U.K. bis zum Punk-Gebet, von Rache muss sein bis Stress ohne Grund, von der „British Invasion“ bis zum Echo-Skandal 2018. Den Band ergänzen Betrachtungen zu den wichtigsten Darstellungsformen im Song und Antworten auf 26 Fragen rund um das Thema Songprovokationen. Mit weiteren Texten zum Thema gibt „tedaboutsongs“ einen kleinen Vorgeschmack.

Alles andere als schön – aber unglaublich gut

Sieben Gründe, warum der Literaturnobelpreis für Bob Dylan gerechtfertigt ist

Advertising signs they con
You into thinking you’re the one
That can do what’s never been done
That can win what’s never been won
Meantime life outside goes on
All around you

Bob Dylan, It’s Alright, Ma (I’m Only Bleeding)

Sieben Schönheiten heißt ein Film der in Rom geborenen Regisseurin Lina Wertmüller aus dem Jahr 1976. Er erzählt von einem gestandenen italienischen Macho und Opportunisten, der misstrauisch die Jungfräulichkeit seiner sieben Schwestern bewacht, dann aber während des Zweiten Weltkriegs in deutsche Gefangenschaft gerät und schließlich im KZ landet. Aus purem Überlebenswillen tut er die abscheulichsten Dinge, unter anderem verführt er die grausame KZ-Wärterin und lässt sich zu ihrem Werkzeug machen. Der Film ist alles andere als schön, voll verstörender, entwürdigender Szenen, voll schmutziger Farben und drastischer Schnitte – ich muss sagen: Ich mag ihn nicht. Ich habe den Film seitdem nicht noch einmal gesehen, und ich will ihn auch nicht noch einmal sehen. Nein, Lina Wertmüller ist nicht mein Ding. Und doch muss ich gleichzeitig sagen: Sieben Schönheiten ist ein extrem guter, ein extrem wichtiger Film.

Ähnlich geht es mir mit Bob Dylan. Höre ich ihn singen, rollen sich mir die Fußnägel hoch. Bläst er in seine Mundharmonika, möchte ich schreiend aus dem Zimmer laufen. Etliche seiner Songs empfinde ich als anstrengend bis quälend. Nein, ich bin wirklich kein Bob-Dylan-Freund. Ich mag Bob Dylan einfach nicht. Und weiß gleichzeitig: Der Mann ist gut. Sogar sehr gut. Und eminent wichtig.

Insofern freue ich mich aufrichtig, dass ausgerechnet „Dylan“ – er gehört ja zu den Ikonen, deren Vornamen man im Gespräch eigentlich nicht mehr erwähnt – den Literaturnobelpreis 2016 erhalten hat. Und schüttele den Kopf über missgünstige Fachleute wie Trainspotting-Autor Irvine Welsh, der in den Medien mit den bescheuerten Worten zitiert wird: „Ich bin ein Dylan-Fan, aber dies ist ein schlecht durchdachter Nostalgiepreis, herausgerissen aus den ranzigen Prostatas seniler, sabbernder Hippies.“ Lieber Irvine Welsh: Man muss weder Dylan-Fan noch sabbernder Hippie mit ranziger Prostata sein, um diesen Preis als gerechtfertigt anzuerkennen. Und statt nun alle möglichen Dylan-Songs zu posten, irgendwelche suggestiv-bedeutungsschwangeren Songzeilen zu zitieren oder immer wieder allertiefste Anerkennung zu artikulieren, scheint es mir angebracht, wenigstens kurz ein paar Argumente für die außerordentliche literarische Qualität Bob Dylans zu skizzieren. Hier schon mal sieben Gründe, warum der Literaturnobelpreis gerechtfertigt ist – sieben Schönheiten im übertragenen Sinne:

https://vimeo.com/97255051

  1. Bob Dylan gehört zu den wenigen Literaten, die mit einem Text unmittelbar in die Gesellschaft hineinwirkten.      

1975/76, als Lina Wertmüller Sieben Schönheiten drehte, war Dylan bereits ein gefeierter Star und machte mit seiner „Rolling Thunder Review“ Furore, der Tournee mit einer All-Star-Band, zu der auch Joan Baez, Roger McQuinn und Emmylou Harris gehörten. Teil des Programms war der 1975 eingespielte Dylan-Song Hurricane. Der thematisierte den Fall des wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilten schwarzen Ex-Boxers Rubin „Hurricane“ Carter. Minutiös deckten Dylans Lyrics die Schwachstellen der Anklage auf und untermauerten die These vom rassistisch motivierten Fehlurteil. Der Erfolg des Songs führte zu einer Neuaufnahme der Ermittlungen und – in dritter Instanz – zum Freispruch Carters. Welches literarische Werk kann solch eine Wirkung für sich beanspruchen?

  1. Bob Dylan ist ein kreativer Grenzgänger, der nicht nur Genregrenzen, sondern auch literarische Konventionen sprengt.

Was? Ein schnöder Songwriter bekommt den Literaturnobelpreis? Falsch! Dylan ist nicht nur Songwriter, sondern Literat durch und durch. Zusätzlich zu seinen Songs schreibt er Lyrik, die er nicht vertont (berühmt: seine 11 Outlined Epitaphs), aber auch Prosatexte. Damals verschrien, heute ein Szeneklassiker: Sein Prosaband Tarantula, in dem er mit Sprache musiziert und spannende Bezüge zur Tradition der Symbolisten herstellt. Mit selbst verfassten Stücken dieser Art erhob er zudem die Plattenhüllentexte, die sogenannten „liner notes“, zur literarischen Kunstform.

  1. Bob Dylans Lyrics haben Pop- und Rocksongs für literarische Komplexität geöffnet.

Witzig, clever, intelligent und anspruchsvoll waren Songtexte auch schon vor Bob Dylan. Doch mit seinen Songs wurden Lyrics Literatur. Langpoeme von epischem Ausmaß, ungewöhnliche Perspektiven und Darstellungsformen, grandiose Bilder, zentnerschwere Metaphern, Allegorie, Bewusstseinsstrom und dramatische Inszenierung – all das fand sich plötzlich auch im Rock- und Popkontext wieder. Mit Bob Dylan wurde Hippiemusik erwachsen.

  1. Eins von vielen prägenden Dylan’sches Stilmitteln: die Parade mythischer Figuren

Einstein, Nero, Kain und Abel, Ophelia, Romeo, Cinderella – Dylans Song Desolation Row lässt eine Fülle realer und fiktiver Personen und Figuren in einer apokalyptischen Szenerie vor dem geistigen Auge des Hörers vorüberziehen. Ähnlich verfährt der im selben Jahr erschienene Song Highway 61 Revisited. Don McLean griff die innovative Technik 1971 in seinem Song American Pie auf und landete damit einen Welthit. Und auch Bruce Springsteen (Spirit in the Night, 1973) versuchte sich hin und wieder an dieser lyrischen Form. Keiner aber beherrschte sie so verstörend wie der Meister selbst.

  1. Im Spiel mit Texten und Kontexten ist Bob Dylan unschlagbar.

Schon als Interpret traditioneller Folksongs verstand es Dylan, Außenseiterballaden politische Sprengkraft zu verleihen. Es kam darauf an, in welchem Kontext man sie vortrug. Zu Beginn seiner Karriere kanzelten Kritiker seine Songs als mit Musik untermalte Lesegedichte ab – heute feiern Laudatoren die Tatsache, dass Dylan-Texte ohne die Musik nicht denkbar seien. Dasselbe gilt für die stimmliche Interpretation. Bei Livekonzerten versetzt der Künstler immer wieder Fans in Verzückung wie in Rage, indem er seine von Studioaufnahmen bekannten „Hits“ in völlig andere musikalische Arrangements kleidet, sie völlig anders intoniert und so nicht nur mit Erwartungen bricht, sondern auch neue Bedeutungsebenen erschließt. Nicht selten verändert er dabei spontan auch einzelne Verse und Strophen – als Reaktion auf aktuelle Anlässe. Dass Texte in verschiedenen musikalischen und gesellschaftlichen Kontexten Anlass zu reizvollen Spielen bieten, versteht kaum jemand so gut wie Dylan. Er nutzt Möglichkeiten, die reine Printautoren nicht haben.

  1. Dylan – integrer Künstler in einer globalisierten Medienwelt

Literaten heute sind mehr als nur Textlieferanten oder Stimmen ihrer Generation. Literaten heute sind auch Medienpersönlichkeiten, hin und her gerissen zwischen Selbstverwirklichung und den Ansprüchen Dritter, immer in Gefahr, vereinnahmt oder gestürzt zu werden. Bob Dylan gehört zu den wenigen Künstlern, die in diesem gefährlichen Spannungsfeld absolut integer, autark und letztlich ungreifbar geblieben sind. Von Anfang an hat er sich vor keinen Karren spannen lassen, stets noch rechtzeitig die nächste Wende vollzogen, sich immer wieder neu erfunden. Obwohl schon 75, gibt er immer noch wenig von sich preis – bleibt nach wie vor rätselhaft. Die reale Person hinter den Songs und Texten ist komplett abgeschirmt, Fragen nach Authentizität stellt man ihm nicht mehr. Sein Werk steht für sich. Dylan besitzt die volle Kontrolle über seine Medien-Persona, das intelligente Katz-und-Maus-Spiel mit Publikum und Kritik hat er als einer der Ersten seiner Ära zur künstlerischen Strategie erhoben. Todd Haynes hat diese Strategie in seinem Kinofilm I’m Not There auf wunderbare Weise reflektiert. Da wird Dylan gleich von mehreren Schauspielstars verkörpert, unter anderem von Cate Blanchett. So weit muss man es als Künstler erst mal bringen.

  1. Bob Dylan gehört zu den versiertesten Autoren unserer Zeit – mit generationenübergreifender, weltweiter Wirkung.

Verfasser hintergründiger Folk- und Bluessongs. Autor engagierter Protestsongs. Song-Auteur. Symbolist. Singer-Songwriter und Rocker. Christlicher Liedermacher. Postmodernist. Traditionalist. Seismograph gesellschaftlicher Stimmungen … Stillstand kann man vielen Künstlern vorwerfen, nicht aber Bob Dylan. Er hat einen erstaunlichen literarischen Weg hinter sich gebracht, eine immense Vielfalt poetischer Ausdrucksformen verinnerlicht und dabei immer wieder die Grundfragen der menschlichen Existenz behandelt. Dass er damit ein Millionenpublikum rund um den Globus erreicht und begeistert, hat er vielen anderen Topliteraten voraus. Noch immer ruft jedes neue Dylan-Album Heerscharen von Deutern auf den Plan. Zurzeit schaut die Welt einmal mehr besorgt auf die Vereinigten Staaten und zwei umstrittene, angeschlagene Präsidentschaftskandidaten, die sich in einem schmutzigen Wahlkampf gegenseitig zerfleischen. Gerade vor diesem Hintergrund wirkt Dylan als Botschafter eines anderen Amerikas: eines Amerikas, das Menschen- und Bürgerrechte respektiert, Demokratie lebt, andere Kulturen wertschätzt und sich weltpolitisch nicht wie die Axt im Walde geriert.

Es sind Schönheiten wie diese, die Bob Dylan schon vor Ewigkeiten haben zum Gegenstand des akademischen Diskurses werden lassen. In den 1970er Jahren hatte ich an der Uni das Glück, mich wissenschaftlich nicht nur mit Shakespeare und Goethe, sondern auch mit Pop- und Rocklyrik beschäftigen zu dürfen. Und ich verschweige nicht, dass ich Dylan dabei gern auch mal außen vor gelassen hätte. Doch man kam einfach nicht um ihn herum. Eine wissenschaftliche Arbeit über Songlyrik ohne Bob-Dylan-Kapitel? Wäre bei den Profs glatt durchgefallen! Die Fülle an Sekundärliteratur, die es heute zu Dylans Œvre gibt, dürfte so manchen ambitionierten Autor vor Neid erblassen lassen. Insofern läuft auch die Kritik, da habe irgendein Rocksänger völlig ungerechtfertigt die höchsten Weihen erfahren, absolut ins Leere. Im Gegenteil: Es wurde mal Zeit. Dylan hat sich schon im letzten Jahrtausend einen festen Platz im Kanon der amerikanischen Literatur erarbeitet. So wie auch Rock und Pop längst unseren Alltag durchdringen und bis in die sogenannte Hochkultur hineinwirken. Schön, dass dieses Phänomen 2016 gewürdigt wird. Und was könnte dafür passender sein als der Literaturnobelpreis?

 

 

 

 

Null Null Blabla

Um Himmels willen, von was singen die da bloß? Schräge Bilder und sinnfreier Text, gelegentlich überraschende Tiefe: die Bond-Songs

Kennen Sie Kissy Suzuki? Plenty O’Toole? Vielleicht May Day? Oder Xenia Onatopp? Alles „sprechende“ Namen sogenannter „Gespielinnen“ eines gewissen Herrn Bond, James Bond. Dessen Familienname – deutsch etwa: Verbindung, Verpflichtung, Anleihe – ist zwar ebenfalls recht gesprächig, aber lange nicht so verräterisch chauvinistisch wie die Namen seiner unzähligen „Girls“. Nun steht die Marke James Bond ja seit jeher für comichaft überdrehten Action-Unsinn, für ein ziemlich plumpes, aber oftmals spektakuläres Dumme-Jungs-Spiel mit Abenteuerfantasien und Rollenklischees, weshalb man schon immer ein Auge zugedrückt hat, mal mehr, mal weniger bereitwillig. Doch irgendwann waren die sprechenden Frauennamen – nicht zuletzt wegen der erfolgreichen Emanzipationsbewegung seit den 1970er Jahren – wohl auch den Bond-Machern selbst so peinlich, dass sie mehr und mehr darauf verzichteten. Nur in Ein Quantum Trost schmuggelte sich 2008 noch mal eine Dame namens Strawberry Fields ins Figurenaufgebot, um ein lustvolles Früchtepflücken im Gebüsch zu suggerieren. Die wahren „Höhepunkte“ in der Bond-Girl-Galerie lieferten natürlich Pussy Galore („Galore“ heißt „in rauen Mengen“), Honey Rider (was ihrer Darstellerin Ursula Andress den Kalauer „Ursula Un-Dress“ auf den Hals hetzte) und eine gewisse Octopussy – womit wir allmählich zum Thema kommen: den Bond-Songs.

Denn es gehört zu den ungeschriebenen Gesetzen der Marke, dass der Filmtitel auch in den Songlyrics auftauchen soll. Und bei Octopussy von 1983 fand genau das NICHT statt. Auch aus heutiger Sicht scheint es schier unmöglich, zu einem Thriller mit Massen-Appeal einen halbwegs akzeptablen Themensong zu schreiben, der um einen bescheuerten Begriff wie Octopussy kreist. Da braucht es schon die Rrrriot-Girl-Bewegung und eine respektlose Frauenband wie die Lunachicks, der irgendwann im ausgehenden 20. Jahrhundert das Kunststück gelang, mit „Oct Oct Ocxtopusssssyyyyyy!“ ein schlüpfriges achtarmiges „monster of love“ zu besingen. Ob das damals auch als Kommentar zum britischen Geheimagentenmacho gedacht war? Auf jeden Fall hieß der Titelsong zum James-Bond-Film Octopussy dann völlig unglamourös All Time High, wurde von Rita Coolidge dahingehaucht und handelte eher einfallslos und agentenunspezifisch von der großen Liebe, die überraschend aufgetaucht war, um dem Song-Ich fortan ein Dauer-Hoch zu bescheren.

Ganz MI6 träumt von der Liebe: Bond-Songs sind meist Lovesongs

Eine weitere Ausnahme von der Regel bietet der aktuelle Bond-Song von Sam Smith. Und das, obwohl man mit dem Filmtitel Spectre – deutsch: Phantom, Gespenst – textlich sicher eine ganze Menge hätte anstellen können. Stattdessen kommt in Writing’s on the Wall ein Ich zu Wort, das ein Leben lang vor seiner Vergangenheit weggerannt ist und sich jetzt endlich stellen muss: Ein Sturm zieht auf, so die unheilvollen Vorzeichen, und der Sprecher muss alles riskieren – in der Hoffnung, dass das angesprochene Du, das er liebt, ihn auffängt. Großes Gefühlskino also, durch interessanten Falsettgesang gepimpt, und doch vollgepackt mit textlichen Klischees, vom Weglaufen über das Alles-Riskieren bis hin zum biblischen Menetekel. Wem nicht wirklich etwas einfällt, so lautet offenbar die Devise, der lässt lieber den Filmtitel ganz aus den Lyrics heraus, als so schräge Bilder zu servieren wie Shirley-Bassey im Themensong zum James-Bond-Film um das Space-Shuttle Moonraker. Da schmachtet ein Ich nach der geliebten Person und beschreibt sich, nun ja, natürlich nicht als Raumgleiter, aber als eine Art Mondsegel auf der Suche nach seinem Traum aus Gold („like a moonraker in search of his dream of gold“) – stets wissend, dass dieser Traum wahr werden wird: „Just like the moonraker knows his dream will come true one day.“ Dass das Mondsegel ein selten geführtes Segel auf Schiffen und hier im Songtext plötzlich männlichen Geschlechts ist, macht das Ganze etwas bizarr: Um was geht es hier eigentlich?, fragt man sich unwillkürlich. Und wer schmachtet nach wem?

Was All Time High, Writing’s on the Wall und Moonraker eint: Es sind alles mal mehr, mal weniger ambivalent gehaltene Lovesongs, denen man nur mit viel Fantasie einen Bezug zum jeweiligen Bond-Film oder zu einzelnen Charakteren unterstellen kann. In der Regel funktionieren sie eigenständig, auch wenn man gelegentlich den Eindruck hat, dass die Textverantwortlichen nicht ganz bei der Sache oder durch die eine oder andere halluzinogene Substanz benebelt waren. Liebeslieder bilden das Gros der Bond-Songs, und zwar in allen Facetten. In From Russia With Love (deutscher Filmtitel: Liebesgrüße aus Moskau) fliegt ein reumütiger Mann aus Russland der spät erkannten großen Liebe entgegen – immer in der Hoffnung, dass sie ihn noch will. Matt Monro croont das Ganze angenehm sinatraesk. In Carly Simons Nobody Does It Better beschwört eine schwer Verliebte nicht mehr und weniger als das, was der Songtitel sagt – und murkst sinnfrei, aber doch noch irgendwie den Filmtitel Der Spion, der mich liebte hinein: „But like heaven above me / The spy who loved me / Is keeping all my secrets safe tonight.“ Nur mit ganz viel Fantasie kann man aus solchen Zeilen den Liebesschwur eines Bond-Girls heraushören. Sheena Easton besingt in For Your Eyes Only (deutscher Filmtitel: In tödlicher Mission) einen wunderbaren Lover, der ganz tief in die Partnerin hineinschaut. Ist auch völlig logisch, denn im Film geht es ja um einen Steuercomputer für Atomraketen… Etwas spektakulärer laden Garbage ihren Song The World Is Not Enough auf: Da fordert ein mit allen Wassern gewaschenes Ich, das heilen, täuschen, küssen, töten kann, sein Gegenstück auf, mit ihm zusammen die Welt aus den Angeln zu heben – wenn es denn stark genug sei und sich traue: „And if you’re strong enough / Together we can take the world apart, my love.“ Dazu gibt’s das wohl beste, weil fieseste Bond-Songvideo mit Sängerin Shirley Manson als Doppelgänger-Android, der eine Starsängerin ausschaltet, ihren Platz auf der Bühne einer Gala einnimmt und dank intergierter Bombe die ganze Veranstaltung in die Luft sprengt. Die Welt aus den Angeln heben – das kann natürlich auch die Absicht von Bösewichtern sein. Aber genauso ist es eine klassische Lovesong-Metapher. Die besitzergreifende, fast schon Stalker-Züge aufweisende Lovesong-Variante bietet dagegen Gladys Knight mit Licence to Kill: Denk ja nicht, dass du mir entkommen kannst, heißt es da, und ich werde jeden umbringen, der sich zwischen uns drängt: „Please don’t bet that you’ll ever escape me once I get my sights on you / I got a license to kill and you know I’m going straight for you heart / Got a licence to kill anyone who tries to tear us apart…“ Wer würde da widerstehen?

Glanz und Donner: Wenn der Song dann doch mal was mit dem Film zu tun hat

Nur ganz wenige Bond-Songs versuchen, einen konkreten Bezug zum jeweiligen Film oder einzelnen Protagonisten herzustellen. Bestes und gelungenstes Beispiel: Shirley Basseys Goldfinger – ein Stück, das auch musikalisch einen gewissen Standard setzte. Der Text warnt vor Goldfinger, dem Mann mit dem Midas-Touch, und mahnt vor allem junge Damen, ihm nicht ins Netz zu gehen. Textlich klingt die berühmte Szene an, in der der Bösewicht seine Assistentin bestraft, in dem er sie mit Goldfarbe überziehen und qualvoll ersticken lässt: „For a golden girl knows when he’s kissed her / It’s the kiss of death from Mister Goldfinger.“ Ebenfalls Shirley Bassey gibt in Diamonds Are Forever (deutscher Filmtitel: Diamantenfieber) eine eiskalte Luxusdame, die mit sich selber spricht: Sie brauche nur Diamanten, um glücklich zu sein – die Edelsteine würden ihr niemals wehtun und immer leuchten, ganz im Gegensatz zu den erbärmlichen Männern in ihrem Leben. Es ist die zynische Version von Marilyn Monroes Diamonds Are A Girl’s Best Friend, die hier den Thriller-Ton setzt. Ähnlich wie Goldfinger fungiert Lulus The Man With the Golden Gun (Der Mann mit dem goldenen Colt) als Warnung vor dem gülden bewaffneten Oberschurken, und auch Thunderball (Fireball) von Tom Jones lässt sich zur Operation „Thunderball“ in Beziehung setzen, mit der im Film zwei gestohlene Nuklearsprengköpfe zurückerobert werden sollen. Zumindest zu James Bond als Teil dieser Operation. Denn die Lyrics beschreiben einen Mann, der handelt – einen Siegertypen, der niemals aufgibt, der ohne Reue Herzen bricht und im Kampf für die richtige Sache zuschlägt wie ein Feuerball: „Any woman he wants he’ll get / He will break any heart without regret. / His days of asking are all gone / His fight goes on and on and on, / But he thinks that the fight is worth it all, / So he strikes like Thunderball.“

Echt toll und bewundernswert, so ein Mann, der ohne Reue Herzen bricht. Wahrscheinlich ist hier derselbe Haudraufagent gemeint, der im wohl untypischsten, weil sehr rockigen Bond-Song als Rächer seinem Widersacher entgegenruft: Du weißt, wer ich bin! You Know My Name heißt das Stück zum Film Casino Royale, in dem Chris Cornell, Exchef der Grungerocker Soundgarden, den Protagonisten seinem Widersacher übelst drohen lässt: Ich bin kaltblütig, na los, bewaffne dich, denn niemand hier wird dich retten, bist du bereit zu sterben? Und so weiter, und so fort… Der Filmtitel fällt auch hier nicht, aber der Songtitel spielt auf die Schlussszene des Films an, in der Bond sein „Mein Name ist Bond, James Bond“-Sprüchlein aufsagt, und das Glücksspiel samt Schummeln und Bloßstellen des Gegenspielers klingt an in Zeilen wie: „The odds will betray you / And I will replace you.“ Seltsamerweise kommt dann James Bond, erstmals verkörpert von Daniel Craig, im Film bei aller Härte etwas verletzlicher und zerrissener rüber als in den Dampfhammer-Lyrics von Herrn Cornell, kurz vor Schluss trauert er sogar um eine Frau.

Äußerst elegant hat sich Adele mit ihrem gleichnamigen Song zum Bond-Film Skyfall aus der Affäre gezogen. Nicht nur musikalisch knüpft das hochdramatische Stück an Songmeilensteine der Serie an – auch textlich gelingt eine spektakuläre mehrdeutige Kombination aus Filmbezug und Lovesongmetaphorik. „Skyfall“ ist im Film der Name eines Landsitzes, wo es zum schicksalhaften Showdown mit dem Oberschurken kommt. „We will stand tall / Face it all together / At Skyfall“, heißt es denn auch bei Adele, die dem Song- und Filmtitel gleichzeitig noch das Schicksalhafte abgewinnt, das Bild des einstürzenden Himmels. Denn die Protagonisten wollen dann aufrecht auf Gut Skyfall ihrem Schicksal trotzen, wenn das Firmament über ihnen zusammenbricht: „Let the sky fall / When it crumbles / We will stand tall…“ Der Rest des Songs vereint düstere Bilder von bebender Erde und gesprengten Herzen, von kollidierenden Welten, Dunkelheit. Man kann vieles frei hineininterpretieren, aber auch Bond als Sprecher erkennen. Das fängt schon beim Eröffnungsvers „This is the end“ an, der sich nicht nur auf das Ende einer Beziehung, sondern auch auf Bonds vermeintlichen Tod am Anfang des Films wie auf den Tod von Bonds Ersatzmutter M im Finale beziehen lässt. „I’ve drowned and dreamt this moment“ scheint klar auf Null Null Siebens Sturz von einem Zug ins Meer gemünzt, und nicht nur im Film wird klar, dass der Agent bei allem aufopferungsvollen Kampf stets sein eigenes Ding machen, sein Herz verschließen wird: „You may have my number, you can take my name / But you’ll never have my heart.“ Intensiver hatte sich bisher kaum ein Bond-Song mit der Filmhandlung auseinandergesetzt.

Der Spion, den ich siebte: Der Bond-Song als künstlerisches Freispiel

Von den schicksalhaften Begegnungen ist es nur ein kleiner Schritt zu einer dritten Kategorie von Bond-Songs: dem totalen Freispiel. Für diese Stücke scheint zu gelten: Je durchgeknallter, desto besser. Ästhetisch ein Kopp und ein Arsch sind hier die Songs von Duran Duran zu A View to A Kill (Im Angesicht des Todes) und von a-ha zu The Living Daylights (Der Hauch des Todes). Zwei Mal hoffnungslos überproduziertes neuromantisches Achtzigerjahre-Brett, was das Vergnügen aber in keinster Weise schmälert. Und hey, sind nicht auch die Originalfilmtitel schon ziemlich prätentiös formuliert? Textlich geht es jeweils um… ja um was eigentlich?! Bei Duran Duran trifft man sich mit der Aussicht auf den Tod, es gibt geheime Pläne, geheime Orte, und irgendwann, es ist ja alles so aufregend, tanzt man zusammen ins Feuer, weil – man braucht ja nur einen tödlichen Kuss: „Until we dance into the fire / The fatal kiss is all we need.“ Und bei a-ha? Da lässt sich irgendein Schuldbeladener irgendwohin fahren („Hey driver, where are we going?“) und hofft, dass die Nacht, die Dunkelheit, ewig anhält. Seine Erkenntnis: Das Leben zeigt sich in der Art und Weise, wie wir sterben – „The living’s in the way we die.“

Aha!

Kruder geht es eigentlich nicht, so wollte man meinen, doch dann traten Jack White und Alicia Keys auf den Plan, um den zweiten Daniel-Craig-Streifen A Quantum of Solace (Ein Quantum Trost) mit einem Song zu veredeln. Nein, er heißt nicht A Quantum of Solace, sondern Another Way to Die, aber er spielt respektlos mit der Regel „Filmtitel muss in den Lyrics vorkommen“, indem er lediglich das Wort „solace“ (Trost“) irgendwo am Rande einfließen lässt: „Another tricky little gun / giving solace to the one.“ In diesem Zitat deutet sich auch schon das Prinzip des gesamten Textes an. Die Verse collagieren einfach ziemlich zusammenhanglos einen Sack voll Thriller-Klischees und machen sich damit unterschwellig auch über die Bond-Macher lustig, so als wollten sie sagen: Da habt ihr euren Song, Aufgabe erfüllt, wir machen’s dann einfach mal genauso wie ihr: „A door left open / A woman walking by / A drop in the water / A look in the eye / A phone on the table / A man on your side / Someone that you think that you can trust is just another way to die.“ Auch musikalisch ist das Stück etwas gewöhnungsbedürftig: Die beiden schneidenden Gesangsstimmen, der stark perkussive Gesamtcharakter und die verzerrten Sounds dürften gerade für große Teile des Mainstreampublikums eine Herausforderung gewesen sein. Als Alternative-Fan aber durfte man guten Gewissens sagen: Nicht schlecht, Herr Specht!

Das gilt auch für Live and Let Die (deutscher Filmtitel: Leben und sterben lassen) von Paul McCartney und den Wings. Vor allem musikalisch überraschen der Ex-Beatle und seine Band mit einer mehrteiligen Mini-Sinfonie. Und textlich? Ja, textlich scheint sich der alte Rockhaudegen genau wie Jack White und Alicia Keys fast schon einen Spaß aus der Herausforderung Bond-Song zu machen. Sinngemäß singt er da: „Als du jung warst, hieß es für dich leben und leben lassen – doch jetzt lenkst du weinend ein und sagst: Leben und sterben lassen. Aber was soll’s: Du hast ja einen Job zu erledigen, und du musst ihn gut erledigen, also musst du dem andern Typ in den Hintern treten“ – „You gotta give the other fellow hell!“ Das ist britischer Humor und Understatement vom Feinsten.

Kann man solche Respektlosigkeiten noch toppen? Aber ja doch, man kann. Indem man mal eben eine Verbindungslinie von James Bond zu dem Psychoanalytiker Sigmund Freud zieht. So geschehen in Madonnas Songbeitrag zum Film Die Another Day (deutscher Titel: Stirb an einem anderen Tag). „Sigmund Freud, Analyze this!“, heißt es da frech mittendrin, und man fragt sich verwundert, ob man richtig gehört hat. Hier beschreibt das Song-Ich – vielleicht unser liebster Geheimagent, vielleicht eine Gegenspielerin, vielleicht auch Madonna in der Rolle einer Geheimagentin? – lauter seltsame Dinge, die es tun wird. Zusammengefasst etwa: Ich werde aufwachen, küssen, meinen Körper verschließen, das System ins Wanken bringen, den Kreis durchbrechen, das Klischee meiden, mein Ego zerstören und – natürlich! – nicht etwa jetzt, sondern an einem anderen Tag sterben. Alles klar? Im aufwendigen Video dazu kämpfen zwei Versionen Madonnas einen Kampf auf Leben und Tod, die eine ganz in Weiß gekleidet, die andere ganz in Schwarz. Und ein Foto von Bond-Darsteller Pierce Brosnan kriegt ganz nebenbei ein Wurfgeschoss in die Brust… Ist das eine Absage an die Bond-Klischees? Der Impuls, dem angestaubten Agenten einen neuen Dreh zu geben? Vielleicht mit einem weiblichen Bond? Die Unterstellung einer Persönlichkeitsstörung beim obersten Geheimagenten Ihrer Majestät? Oder setzt sich Madonna hier nur mit ihrem eigenen Startum auseinander? Nix Genaues waaß mer net. Aber in seinem prätentiösen Gagatum ist Die Another Day kaum zu überbieten und obendrein so gut anzuhör’n wie anzuschau’n. Die Marke Bond lässt eben auch geniale Ausreißer zu.

Eher cool als genial, aber auch ein Freispiel, das fürs Protokoll, ist der Tina-Turner-Song zum Film GoldenEye. Im Film ist GoldenEye ein Waffensystem, im Song dagegen ist es so etwas wie der Blick des Song-Ichs, das den Racheengel gibt: Ewig zu kurz gekommen, ausgeschlossen und ignoriert, sieht es jetzt den Moment gekommen, um endlich Vergeltung an einem Mann zu üben, der mal als „him“ vorgestellt und mal als „you“ direkt angesprochen wird. Der Plan: diesen Mann mit einem goldenen Blick zu bezirzen und ihn dann mit einem „bitter kiss“ zu Fall zu bringen: „GoldenEye I found his weakness / GoldenEye he’ll do what I please / (…) / It’s a gold and honey trap / I’ve got for you tonight / Revenge it’s a kiss, this time I won’t miss / Now I’ve got you in my sight / With a GoldenEye, Golden, GoldenEye…“ Spricht hier eine heimtückische Mörderin oder doch wieder eine verschmähte Geliebte? Und was, zum Teufel, ist ein goldener Blick? Wahrscheinlich wissen es die Songschreiber selber nicht. Aber Hauptsache, es klingt geheimnisvoll, und, na klar, der Filmtitel wurde platziert!

Welcher ist denn nun der beste?

Nein, es gibt keine Formel für Bond-Songs, aber es gibt gewisse immer wiederkehrende Zutaten, schreiben Adrian Daub und Charles Kronengold in ihrem kürzlich erschienenen Buch The James Bond Songs: Pop Anthems of Late Capitalism (Oxford/New York 2015). Bond-Songs haben die Aufgabe, so die Autoren weiter, für den jeweiligen Film zu werben. Dabei müssen sie einerseits in die aktuellen Top 40 passen und sich andererseits deutlich von ihnen abheben. Daub und Kronengold sind sich sicher: Beim Einstieg in die Charts mischt ein neuer Bond-Song die Gemengelage ordentlich auf, und wenn er wieder raus ist, sind die Charts nicht mehr das, was sie vorher waren. Man ist geneigt, ihnen recht zu geben. Prima zu beobachten war das zuletzt bei Adele und ganz aktuell bei Sam Smith, der die Charts regelrecht stürmte, obwohl die Medien sein Writing’s on the Wall zuvor in Grund und Boden geschrieben hatten. Beide Songs hatten die gewissen Zutaten, die es braucht: dräuendes Orchester und schwindelerregende Melodieführung, dazu eine Prise episches Melodram, ein Hauch Sixties-Krimi-Soundtrack und natürlich die richtige Dosis textliches Gaga, das Ganze kombiniert mit dem Individualstil des vortragenden Stars.

Was die ewige und letztlich doch nur höchst subjektiv zu beantwortende Frage nach dem besten Bond-Song aller Zeiten aufwirft. Für mich persönlich ist es You Only Live Twice von Nancy Sinatra. Der Filmtitel (deutsch: Man lebt nur zweimal) spielt auf die ersten Szenen an, in denen James Bond seinen Tod vortäuscht. Im Song – einem Liebeslied, was sonst? – erfährt der Titel eine ganz andere, überaus romantische Wendung: Das eine Leben ist das, was man täglich hat, und das zweite das, das man in seinen Träumen lebt. So lange, bis sich einer dieser Träume in Gestalt der Liebe manifestiert: „You only live twice or so it seems / One life for yourself and one for your dreams / You drift through the years and life seems tame / Til one dream appears and love is it’s name.“ Natürlich ist diese Liebe, dieses zweite Leben, etwas Fremdes und Gefährliches, und man muss schon einen Preis dafür zahlen, so der Song sinngemäß, aber wenn du zu viel nachdenkst, ist die große Chance vertan. Das bewegt sich clever zwischen Leichtigkeit und Tiefe, zwischen Lebensweisheit und Kitsch und macht einen Riesenspaß. Eigentlich fast zu klug für Null Null Sieben.

Was wird uns der nächste Bond-Song bringen? Wird er ausgetretene Pfade begehen, oder wird er noch einmal ganz neue Akzente setzen? Das Warten hat schon jetzt begonnen.

PS: Wussten Sie, dass es eine ganze Reihe von inoffiziellen Bond-Songs gibt, die am Ende gar nicht genommen wurden? Zum Beispiel von Blondie? Der für mich gelungenste aber stammt von Alice Cooper und wurde mit Blick auf den Film Der Mann mit dem goldenen Colt geschrieben. Textlich sehr simpel gestrickt, sagt Coopers The Man With the Golden Gun nicht mehr aus als: Nimm dich in Acht vor dem Mann mit dem goldenen Colt – du siehst ihn nie, doch er ist hinter dir her. Musikalisch aber lässt es der alte Schockrocker vor allem in der längeren Albumversion bondmäßig ordentlich krachen!