Immer Ärger mit Laila

Würden sich Bierzelt-, Skihütten und Ballermann-Fans genauso euphorisch für Frieden, Soziales und Klimaschutz engagieren, wie sie feiern und tumbe Songs über Komasaufen, Komasex und Bordellbesuche mitgrölen, die Welt wäre vielleicht eine bessere. Klar kann man diese Art von „Partykultur“ kritisieren, aber man muss sie wohl letztlich ertragen. Das gilt auch für den unerwartet angefeindeten Charts-Stürmer Layla, der als aktueller Fetenhit erstaunlich harmlos formuliert, dazu noch entlarvend ehrlich ist. Eine andere Song-Laila war da weitaus fragwürdiger, und das schon vor 62 Jahren …

Es war 1984, da besang Schlagerstar Roland Kaiser eine sinnenfrohe Dame namens Joana, mit der ein schüchterner Mann einen leidenschaftlichen One-Night-Stand erlebt. In schlagertypisch verklemmt-verblümter Manier klang das so: „Wie ein Stich ins Herz traf mich dein Blick, und ich sah, für mich gab’s kein Zurück. Und dein Wunsch flog mir entgegen, doch er machte mich verlegen – ein Gefühl, das längst verloren schien.“ Im Refrain heißt es: „Joana, geboren, um Liebe zu geben, verbotene Träume erleben – ohne Fragen an den Morgen danach.“ Wie süß. Zwölf Jahre später veröffentlichte Steffen Peter Haas, besser bekannt als Peter Wackel, eine halbwegs originalgetreue Coverversion des Songs, die eigentlich nur etwas druckvoller klang, aber doch ein entscheidendes Element hinzufügte: In die langen Pausen zwischen den Refrainversen shoutete Christian Cabala alias Chris Tuxi ein paar harte Mitgröl-Ansagen an die Titelheldin. Und das klang nun so: „Joana (Du geile Sau!), geboren, um Liebe zu geben (Du Luder!), verbotene Träume erleben (Du Drecksau!) – ohne Fragen an den Morgen danach.“ Die Coverversion wurde ein Riesen-Partyhit, erfolgreich am Ballermann, in Skihütten und Bierzelten, auf Partymeilen.

Song gewordene Entgrenzungs- und Pornofantasien

In einem anderen Song, Kenn nicht deinen Namen – Scheißegal (Besoffen) aus dem Jahr 2009, lässt Peter Wackel seinen „Helden“ mit immer neuen Frauen die Nacht verbringen. Der unglaublich lustige Clou: Hinterher kann er sich – natürlich aus Vollrauschgründen – an keine mehr erinnern. Und, ganz wichtig: Es ist dem Hallodri auch völlig schnuppe. Textauszug: „Ich traf sie an der Bar vom ‚Oberbayern’. Ja, ihr T-Shirt war nass, und wir hatten viel Spaß, gemeinsam zu feiern. Zu mir oder zu dir? Oder am Strand unter die Sterne. Du zeigtest mir den großen Bär, du mochtest mich sehr und ich dich ganz gerne. Doch ich seh sie nie wieder, nie wieder.“ Zum Mitschmettern heißt es dann im Refrain: „Ich weiß leider nicht mehr, wie du aussiehst, kenn nicht deinen Namen, scheißegal! Besoffen!“

Die beiden Wackel-Songs tragen die Kernelemente eines erfolgreichen Bierzelt-, Skihütten- und Ballermann-Hits in sich: eine rustikale Schlüpfrigkeit, mit der auch gern mal harmlose Schlager-Evergreens neu aufgepumpt werden, ein flotter Beat, Anflüge von Stadiongesängen, dazu wenig schmeichelhafte Storys von übermäßigem Alkoholkonsum und beliebigem, fast schon zwanghaftem Sex ohne jede Verpflichtung – es geht um Song gewordene Entgrenzungs- und Pornofantasien, in denen das Gegenüber zum bloßen Objekt degradiert wird. „Geiles“ in allen Facetten, die endlose Partynacht, alle möglichen Getränkenamen und das Fehlen jeglicher Verpflichtungen sind die Schlüsselmotive. Tiefe Gefühle? Fehlanzeige. Und am nächsten Abend geht’s mit dickem Kopf einfach weiter. Es ist ein von Männern dominiertes Haudrauf-Genre, in dem auch die heteromännliche Perspektive dominiert. Wer hätte anderes gedacht!

Alle Partyfrauen auf Linie

Aber hey: Es gibt auch weibliche Ballermann-Stars. Und was machen die? Bestätigen nicht nur den Status quo, sondern liefern auch das perfekte Gegenstück zu den Männermachosongs. So singt 2015 Mia Julia in Mallorca, da bin ich daheim: „Du bist der geilste Ort der Welt, bist unser Leben und alles was zählt. Hier an der Playa sind wir nie allein – Mallorca, da bin ich daheim. Nachts geht hier die Party, am Tag sind wir am Meer, wir feiern ohne Ende, als ob’s das Ende wär. Wir denken nicht zurück, wir denken nicht nach vorn, eins, zwei Bier, drei, vier Korn. Gebor’n, um zu leben, um zu feiern und zu sein, wie wir sind, niemals nüchtern, und wir feiern nie allein. Wir sind super sexy, und wir sind super geil. Denn wir lieben dieses Leben im Mallorcastyle.“ Zwar kommen bei Mia Julia ab und zu ein paar Beziehungsdetails und etwas Liebesleid ins Spiel, dazu feiert sie ein Mindestmaß an Miteinander, doch im Wesentlichen werden auch in ihren Songs viel Promille, die Partynacht und, natürlich, Sex, Sex, Sex beschworen. Als ehemaligem Pornostar nimmt man es ihr ganz besonders ab, wenn sie forsch und hochpoetisch bekennt: „Ich ficke gern, ich, ich ficke gern. Ich fick mich gern auf einen andern Stern.“ Ob ein Song wie Ich f*cke gern (2020) nun female empowerment ist oder einfach nur bestimmte Knöpfe bei den männlichen Partygästen drücken soll, müssen alle Lesenden selbst entscheiden. Nörglern allerdings schallt es gleich schon mal entschieden entgegen: „Ich ficke gerne, also fick dich!“

Zum Mia-Julia-Image passt auch ein kleiner Scherz aus dem Jahr 2016: die Preview einer Coverversion des Songs Die immer lacht von Kerstin Ott, der bereits 2005 veröffentlicht, aber erst 2015 im Remix von Stereoact zum Clubhit wurde. Der hintergründige Originaltext lautet: „Die ist die eine, die immer lacht, die immer lacht, die immer lacht, die immer lacht, oh, die immer lacht. Und nur sie weiß, es ist nicht, wie es scheint. Oh, sie weint, oh, sie weint, sie weint, aber nur, wenn sie alleine ist.“ Bei Mia Julia, Schenkelklopf!, wird daraus der folgende Unsinn: „Ich bin hier und bin immer nackt, bin immer nackt, immer nackt, immer nackt, oh, bin immer nackt. Und ihr wisst, denn es ist so, wie es scheint – komm‘ ich tanz‘, komm‘ ich tanz‘, ich tanz‘, aber nur, wenn ich am Feiern bin.“ In Videos und auf der Bühne tritt „Frohnatur“ Mia Julia dann auf, als sei sie gerade einem ihrer Erotikstreifen entsprungen. Damit präsentiert sie sich exakt als das „geile Luder“, das die männlichen Stars in ihren Songs beschwören. Eher auf Lolita-Charme setzt dagegen Kollegin Frenzy Blitz mit ihren frechen Zöpfen. Mal beschwört sie den Status Jung blöd besoffen (2018), mal fordert sie gut bestückte Kerle. So heißt es, ebenfalls 2018, im „Kracher“ 20 Zentimeter: „Das sind nicht 20 Zentimeter, nie im Leben, kleiner Peter. 20 Zentimeter sind in Wirklichkeit viel größer. Das kannst du echt vergessen, da hast du dich vermessen. Ich sag es kurz und bündig: Bei Kurzen, da verschwind ich.“

Selbstbestätigung fürs Feierkollektiv

Es ist immer wieder faszinierend und irritierend zugleich, wie in Musikvideos und Livemitschnitten neben krebsroten Basecap-Jungs und mittelalten Hüftgold-Casanovas auch grinsende Bikini-Teenies und tiefbraun gebrannte Hausfrauen begeistert mitklatschen, mittanzen, mitgrölen. Und natürlich: Ist doch alles nur ein Riesenspaß, hochgradig selbstironisch, nicht ganz ernst gemeint. Trinkt man sich das Ganze schön, dann kann man tatsächlich der konsequent forcierten Suggestion erliegen, all diese Songs feierten den Exzess gänzlich unschuldig und mit einem charmanten Augenzwinkern. Nüchtern betrachtet aber werden hier aufdringlich gut gelaunt Kontrollverlust und Entgrenzung, Komasaufen und Komasex, ein gesundheitsschädliches und komplett empathieloses Verhalten idealisiert. Jeder und jede benutzt hier jede und jeden. Die Songs sind nicht nur der Soundtrack zum tumben Treiben, sie geben auch die simplen Regeln vor. Am Ende sanktionieren sie diese anspruchsloseste Variante der Party- und Eventkultur als absolut angemessenes Verhalten. Wenn das, was passiert, sogar in Liedern besungen wird und die Hitparaden stürmt, dann darf sich das Feierkollektiv sicher sein, Fun-Avantgarde zu sein – und dass alles gut und schon irgendwie okay ist so, wie es ist. Es ist ein bisschen wie beim Gangsta-Rap: Übelste Botschaften werden als harmloses Entertainment verkauft und konsumiert, Kritik daran gilt als uncool.

Hier kommt Layla

Supercool ist sicher auch das kleine Subgenre des Bordellbesuch-Songs, so wie Layla einer ist. Im diesjährigen Überraschungshit von DJ Robin & Schürze passiert eigentlich nicht viel mehr, als dass ein junger Mann gekobert wird, es mal mit der Prostituierten Layla zu versuchen. „Ich hab nen Puff, und meine Puffmama heißt Layla“, lockt der Koberer den Protagonisten, „sie ist schöner, jünger, geiler, La-la-la …“  Und natürlich wird der junge Mann nicht enttäuscht. Fortan feiert er das „Luder Layla, unsere Layla“ – und das war’s auch schon. Ganz ehrlich: Layla ist strunzdämlich und alles andere als charmant. Aber sprachlich deutlich weniger offensiv als viele verwandte Songs und gleichzeitig auf eine verquere Art entlarvend ehrlich. Denn wo sich Komasaufen, Komasex und übermenschliches Feiern bei allen Nightlife-Bezügen immer noch als Hyperspaß, als humorvoll zugespitzte Fiktion verharmlosen lassen – sind Prostitution und diskrete Bordellbesuche von Männern aus allen Schichten, ob Singles oder in Beziehungen lebend, banale Realität. Partyhits sind hochnotpeinlich, feiern Exzesse und Sexismus, dass es nur so kracht, und bisher hat noch kein Wirt oder Veranstalter einen Partyhit auf seiner Sause verboten – sie kurbeln ja auch den Umsatz an. Ausgerechnet beim Thema Prostitution aber erheben 2022 manche Eventmacher plötzlich den moralischen Zeigefinger und verweisen auf die Ausbeutung der Frau und die häufig nicht ganz freiwillige Erbringung von sexuellen Dienstleistungen, auf Dinge also, die echt nicht okay seien, also auch nicht in Songs thematisiert werden sollten: Layla wird nun in manchen Partylocations untersagt, und das, obwohl – oder gerade weil – ein gewisser Prozentsatz der männlichen Besucher dort einschlägige Erfahrungen im Rotlichtmilieu haben dürfte. Kann nicht sein, was nicht sein darf? Will man ein seriöses Publikum nicht vergraulen? Die Lage ist diffus. Die Peinlichkeiten, die die feiernde Masse durch ausgelassenes Niederbechern und Wegsingen für sich selbst verharmlost, prangern Wirte eben kurz mal an. Doch letztlich auch nur fürs Protokoll, denn die Meute will den Song hören, und die DJs mogeln ihn in irgendeiner trickreichen Version doch ins Programm. Vermutlich auch demnächst beim Oktoberfest. Das alles ist ebenso heuchlerisch wie der Verweis auf saubere volksmusikalische Traditionen, die bewahrt werden sollen – ist doch auch die volksmusikalische Jux- und Gaudimusik seit jeher ebenfalls gespickt mit Schweinigeligkeiten respektive politischen Unkorrektheiten der derbsten Art. Der Rassismusvorwurf, der bei Layla – Achtung: arabischer Name! – schon mal in den Ring geworfen wird, lässt sich dagegen leicht entkräften. Hier dürfte ganz einfach der Reim dominieren: Denn wenn „geil“ und „geiler“ Schlüsselwörter des rustikalen Feiersongs sind und man unbedingt einen weiblichen Vornamen darauf reimen will, dann kommt man an Layla einfach kaum vorbei.

Verschiedene Vorgängerinnen

Und doch verweisen DJ Robin & Schürze mit ihrem Song – ob unbewusst oder in voller Absicht – auf gleich mehrere Vorgängerinnen. Zum Beispiel auf die Leila (mit „ei“) aus einem Stück von Adolf Dauber und Fritz Löhner-Beda, geschrieben 1928. In diesem uralten Tango will ein Schmachtender „heute Nacht“ seine Leila endlich wiederseh’n, ihre „schlanken braunen Glieder seh’n“. Und er bittet sie: „Für diese Nacht erwähle mich, küsse mich, quäle mich!“ – nicht mehr und nicht weniger. Auf diesem Original bauten Joachim Dauber und Georg von Breda Jahre später ihr Tangolied Laila auf: Nun handelte es von einem liebeskranken Legionär, der eine weitere Nacht mit seiner Lieblingsprostituierten verbringen will: „In der magisch hellen Tropennacht / Vor dem Frauenhaus in Algiers / Hat ein dunkles Auge angelacht / Den armen bleichen Legionär …“ Und dann der altbekannte Refrain: „Laila, heute Nacht will ich dich wiederseh’n / Laila, deine schlanken braunen Glieder seh’n …“ Das Lied beschwört eine triefende Seemanns- und Rotlichtromantik, an der sich damals aber niemand störte.

Doch 1960 traten die Regento Stars aus den Niederlanden auf den Plan, und nun wurde es problematisch. Die Band nahm den Song in Amsterdam als Debüt-Single für das kleine Label Tivoli auf und landeten in der Heimat einen Überraschungshit. Vertreter der Firma Philips stießen erstmals im Raum Aachen auf die Platte, „wo Grenzjäger das ‚Laila’-Lied als attraktives Souvenir einer Hollandfahrt in die Bundesrepublik einschmuggelten“, wie es in Medienberichten heißt. Philips übernahm Laila ins deutsche Programm und manövrierte sich damit in einen Skandal. Denn als wären die bekannten Lyrics nicht schon bescheuert genug, wurde in einer gesprochenen Passage auch noch ein fremder Liedtext verwurstet, nämlich der zum „Romantischen Tango“ Stellen sie sich vor, ich bin ein wilder Räuber.Autor: Peter Igelhoff. Der Fairness halber muss man konstatieren: Schon Igelhoffs Lyrics sind nicht ohne. Aber sie wurden vom Künstler ironisch-süffisant, fast satirisch präsentiert. Da trifft ein Mann auf weiter Flur, in der Natur, eine Frau, die nur vielleicht wie er auf der Suche nach Abenteuern ist. Seine Ansprache im Refrain ist, vorsichtig gesagt, offensiv: „Stellen Sie sich vor, ich bin ein wilder Räuber“, heißt es da, „Und Sie gehen nachts allein im Wald! / Stellen Sie sich vor, ich raub’ auch schöne Weiber / Wird es Ihnen da nicht heiß und kalt? / Stellen Sie sich vor, ich ruf’ jetzt: ‚Hände hoch!’, / Und ich küss’ Sie tausendmal und mehr!“ Au weia! Natürlich hat der Sprecher einen bissigen Kommentar zu den Männern seiner Zeit im Sinn: „Hätten Sie nicht gern, wenn die Herrn / Doch ein wenig wilder wär’n?“ Und doch verwundert, wie spaßig-nett hier ein sexueller Übergriff verkauft wird.

Regento Stars – ihre Laila hat es in sich

In der Laila-Version der Regento Stars greift Sänger Bruno Majcherek eben jenen Wilder Räuber-Text auf und kommt schnell zur Sache. Gleich nach dem ersten Refrain gibt er den radebrechenden Conferencier, beginnt mit der von Igelhoff geklauten „Hände hoch!“-Mär – und gibt ihr schon nach wenigen Zeilen einen seltsamen neuen Dreh. Ganz und gar nicht süffisant, sondern bestens gelaunt, in Herrenwitz-Manier, heißt es da: „Stellen Sie sich vor, meine Damen und Herren, ich wär einen wilden Räuber. Stellen Sie sich vor, Sie liefen ganz allein rum im Wald, ich tät rufen von ‚Hände hoch, oder ich schieße sie!’ Wäre das nicht wunderbar? Fühlen Sie jetzt, meine Herren, dass die Damen vollkommen willenlos sind geworden, denn bei der zweiten Strophe hat sich schon eine ganze Menge junge Damen in dem Sekt- und Schnapstrinken verschluckt …“ Und dann geht’s weiter mit dem altbekannten Legionär, der einmal mehr heißblütig fleht: „Küsse mich, quäle mich!“ Es ist eine krude Collage aus Anzüglichkeiten: Angriffe auf einsame Frauen im Wald; Frauen, die den sexuellen Übergriff am Ende auch noch prickelnd finden; Legionäre, die sich nach Sex mit einer Prostituierten sehnen; und – last but not least – ein unappetitlich vielsagender Hinweis an die Herren im Publikum: Die berauschten Damen an ihrer Seite seien inzwischen willenlos geworden. Oh Mann …

Auch weil hier gleich mehrere Ichs zusammengeworfen wurden und eine einheitliche Stimme nicht zu vernehmen ist, fällte der UfaTon-Verlagsleiter Rudolf Förster das vernichtende Urteil: „Weder der Text noch die Musik, noch das Arrangement, noch die Aufnahme, noch die Interpretation sind richtig. An dieser Platte stimmt nichts, außer, daß sie rund ist und schwarz.“ Heftige Reaktionen aber provozierte Laila von den Regento Stars primär wegen seiner sexuellen Anspielungen. Interessant ist die damalige Bewertung, die sich vor allem an der mutmaßlichen Freizügigkeit der Schilderungen und an der unziemlichen Beziehung der Protagonisten rieb. „Besonders die Springer-Presse schäumte, und auch die Moralwächter aus Kirche und Gesellschaft waren bereits hochrot angelaufen: Wie kann man die Liebe zu einer Hure besingen?“, fasst Gebhard Roese 2009 in seinem „Blog.wortwechsler.de“ zusammen. „Die Entrüstung der Presse- und Rundfunkkritiker schlug solche Wogen, dass die Philips in einer Presse-Verlautbarung mit der Begründung, es handele sich bei Laila um einen ‚Scherzartikel’, von ihrem Produkt abrücken musste.“

Die Folgen lagen auf der Hand: Deutsche Rundfunksender weigerten sich, die Platte zu spielen, und zeitweise war das Lied hierzulande verboten, vom Streit um Tantiemen-Ansprüche verschiedener Urheber ganz zu schweigen. Klar, dass das Machwerk erst recht ein Hit wurde. Was aus heutiger Sicht noch immer verblüfft, ist die Tatsache, dass sich insgesamt nur wenige Kritiker an den massiven sexuellen Übergriffen störten, die im Text empfohlen werden. Selbst der Essayband Musik & Zensur feiert Laila als noch sinnenfrohen Song, der „im Namen der wirtschaftswunderlichen Prüderie und Lustfeindlichkeit zensiert wurde.“ Zu verklemmten Fifties- und „Herrenwitz“-Zeiten mögen sich schmierige Möchtegern-Charmeure jovial gegenseitig auf die Schultern geklopft und etliche Damen verschämt Beifall geklatscht haben. Heute aber stünde so ein Unsinn als sexistisches Machwerk am Pranger, und zwar in den sozialen Medien. Zum Beispiel unter Hashtags wie #aufschrei und #MeToo.   

Tatsächliche rote Linien

Dagegen ist Layla von DJ Robin & Schürze nicht mehr als ein dummes, fades Witzchen. Kaum vorstellbar, dass sich Prostituierte verletzt fühlen könnten, das Ding ist einfach zu banal und im Kern sowieso nur ein endloses La-la-la. Hinzu kommt, dass Layla im Musikvideo von einem Mann gespielt wird, und das ist nun fast schon wieder sophisticated – als denkbare Anspielung auf den alten Kinks-Hit Lola. Trotzdem gut, dass das der einzige mögliche Brückenschlag zur britischen Popkultur bleibt. Hätten Robin und Schürze per Zitat oder Anspielung auch noch Eric Claptons Sehnsuchtsklassiker Layla in den Skandal hineingezogen, so mancher Rockliebhaber wäre wohl endgültig vom Glauben abgefallen.

An den Regento Stars aber, wie auch an fiesen modernen Bierzeltvarianten des Donaulieds, die aus einer einvernehmlichen amourösen Begegnung am Flussufer das mit hämischen Kommentaren versehene Vergewaltigen und Schwängern einer schlafenden Frau machen, lässt sich festmachen, wo tatsächlich rote Linien überschritten werden, die einen Boykott oder ein Aufführungsverbot rechtfertigen. Den Rest der Party-, Skihütten- und Ballermann-Songs muss man als tiefstmögliches Entertainment-Niveau schlichtweg ertragen. Wenn man diesen Teil der Massenkultur (Layla hielt sich wochenlang an der Spitze der deutschen Single-Charts) verbieten wollte, dann müsste man konsequent auch Prostitution verbieten – und die gesamte, obendrein CO2-emissionsintensive Ballermannkultur gleich mit. Und anschließend auch … Oje, aber wo sollte das dann noch hinführen?

Deshalb ist klar: Solche Verbote können und werden nicht erfolgen. Für empfindsamere und weniger Ballermann-affine Kulturfans heißt es also: Zähne zusammenbeißen und durch, zumal wir weitaus drängendere Probleme in Deutschland und der Welt haben. Nur als politische Partei sollte man sich nicht mit Songs wie Layla schmücken, das kann tatsächlich ins Auge gehen. So geschehen bei der Jungen Union (JU) Hessen, die im Juni ihre Landestagung mit Layla beschallte, ein Video davon ging viral. Das Ganze wirkte mehr als peinlich, der Spott war groß. Privat kann der politische Nachwuchs ja nach Belieben feiern, doch auf einer offiziellen Parteiveranstaltung ist er zu politischer Korrektheit verpflichtet. Schließlich präsentieren sich dort die Problemlösenden von morgen – und die muss eine Gesellschaft ernst nehmen können. Die JU-Verantwortlichen waren natürlich nicht die ersten Politiker:innen, die über den unüberlegten Einsatz von Songs gestolpert sind. Aber das ist wieder eine andere Geschichte.

Grüner geigen

Ebony and Ivory? Ein nicht ganz makelloser Antirassismus-Song … Gedanken zum Musikinstrumentenbau und zur ersten vegan zertifizierten Violine

Musik und Tierwelt: zwei Bereiche, die auf den ersten Blick kaum etwas miteinander zu tun haben. Auf den zweiten Blick aber kommt man ins Nachdenken. Denn traditionell wird beim Musikinstrumentenbau häufig auf Materialien von – getöteten, ausgeschlachteten – Tieren zurückgegriffen: Trommeln sind mit Tierhäuten bespannt oder mit Tierfellen überzogen, in Mundstücken findet sich Schildpatt von Schildkrötenpanzern. Akustische Gitarren verwenden für den Sattel, auf dem die Saiten aufliegen, Knochen von Rindern, und Violinensaiten bestehen aus getrocknetem Darm. Die Bögen bespannt man wiederum mit Rosshaar, dessen Gewinnung schonend, von lebenden Pferden erfolgen, aber auch mit Qualen verbunden sein kann. Ganz zu schweigen vom Knochenleim, der vielfach beim Zusammenfügen der Instrumententeile verwendet wird.

Vor diesem Hintergrund entwickelt auch Ebony and Ivory, der im Grunde gut gemeinte Antirassismus-Song von Paul McCartney und Stevie Wonder, einen schalen Beigeschmack. Wenn weißes Elfenbein und schwarzes Ebenholz perfekt harmonieren können auf der Klaviertastatur, so die Versöhnungsbotschaft des Evergreens aus dem Jahr 1982, warum kriegen das nicht auch schwarze und weiße Menschen hin? Der kleine Haken: Das Elfenbein für die weißen Tasten stammte lange Zeit von Elefanten, die häufig auch Opfer von Wilderern geworden waren, und das Ebenholz für die schwarzen Tasten ist zwar kein Tier, dafür ein kostbares Tropenholz, aufgelistet unter den gefährdeten Arten. So beschwören Wonder und McCartney unfreiwillig eine fragwürdige Harmonie. Zur Ehrenrettung der Herren: Sie haben es damals wohl nicht besser gewusst – so wie auch viele Fans, die den Song begeistert mitsummten, einschließlich des Autors dieses Textes. Erst seit Ende der 80er Jahre sind Artenschutzbestimmungen in Kraft, die auch im Musikinstrumentenbau die Verwendung tierischer Materialien und bedrohter Tropenhölzer zumindest einschränken.

Seitdem wird leidenschaftlich an Alternativen geforscht. Und das hat speziell im Geigenbau zur ersten als frei von Tierleidprodukten zertifizierten Geige der Welt geführt. Das Anfang des Jahres von der Vegan Society ausgezeichnete Instrument stammt von dem renommierten Geigenbauer Padraig ó Dubhlaoidh aus dem Hause Hibernian Violins im britischen Malvern, Grafschaft Worcestershire. Für das Futter nahm er gedämpfte Birnen, das Holz färbte er mit dem Saft von Waldbeeren, und beim Bindemittel setzte er unter anderem auf Quellwasser aus der Region. Angeregt wurde Padraig ó Dubhlaoidh während der Corona-Zeit durch nachdenkliche Kundinnen und Kunden, die ihre Violine endlich frei von ethischen Bedenken spielen wollten. Die Auszeichnung der Vegan Society bezieht sich allerdings nur auf den Korpus des Instruments – für Bögen und Saiten gibt es schon länger pflanzliche und andere nichttierische Optionen. Umgerechnet 9.600 Euro kostet das gute Stück, was sich bei steigender Nachfrage jedoch ändern kann. Und natürlich ist Padraig ó Dubhlaoidh nicht der einzige Geigenbauer, der nach veganen Gesichtspunkten arbeitet – sein Werk wurde lediglich als Erstes entsprechend zertifiziert. Unter deutschen Spezialisten wird am häufigsten Jan Meyer in Leipzig genannt.

Ein nicht ganz unwesentlicher Aspekt des nachhaltigen Instrumentenbaus ist natürlich die Frage, ob die Verwendung anderer Materialien zu einem veränderten Klang führt, und wenn ja, ob der Klang gleichwertig oder eher schlechter ist. Hier wird unter Fachleuten leidenschaftlich gestritten. Man darf aber davon ausgehen, dass Spezialisten wie Jan Meyer und Padraig ó Dubhlaoidh vor dem Hintergrund ihrer eigenen hohen Ansprüche schon aus Prinzip nicht mit minderwertiger Ware an die Öffentlichkeit gehen würden. Und dass auch beim Musikhören vieles einfach eine Frage der Gewöhnung ist.

Der Selbstermächtigungsirrtum

Immer wieder werden erotisch aufgeladene Hochglanz-Musikvideos von R&B- und Rap-Künstlerinnen als feministische Geste, als weibliches Empowerment gefeiert. Natürlich sind diese Videos schick und sexy anzusehen. Aber was die Deutung als emanzipatorische Statements betrifft, scheint es etlichen Rezensent:innen die Sinne vernebelt zu haben. Das zeigt auch die Diskussion um WAP, den Sommer-„Skandalsong“ von Cardi B. und Megan Thee Stallion.

Afghanische Mädchen, die Skateboard fahren. Saudische Frauen, die sich schon vor der verhaltenen Legalisierung 2019 trauten, ein Auto zu steuern. Türkische Frauen, die ihr Kopftuch ablegen. Die Kunstaktivistinnen von Pussy Riot, die im Kampf gegen das System Putin und die orthodoxe Kirche sogar die Verurteilung zu Arbeitslager in Kauf nehmen. Die Gründerinnen von #metoo. Die Frauen von Belarus, im friedlichen Protest gegen Diktator Lukaschenko … All diese Initiativen stehen für weibliches „Empowerment“, formulieren Botschaften mit politischer Sprengkraft. Es sind wichtige Initiativen, die höchsten Respekt verdienen – auch wegen des unglaublichen Muts, den diese Frauen in patriarchalisch-repressiven Umfeldern aufbringen. Word!

Ja, das Popuniversum mag ein weniger gefährliches, leichter zu bearbeitendes Umfeld sein als der vom Existenzkampf geprägte graue Alltag. Dennoch setzen auch hier Frauen seit Jahrzehnten immer wieder kraftvolle, Respekt gebietende  Zeichen, ob sie nun weißer Hautfarbe oder „People of Color“ sind, ob sie Joan Baez oder Lydia Lunch, Lady Gaga oder Kate Tempest heißen, Aretha Franklin oder M.I.A., Missy Elliott oder Janelle Monae. Vor diesem Hintergrund mutet es besonders grotesk an, dass seit geraumer Zeit alle paar Monate ein neuer freizügiger Song, ein neues offenherziges Video einer schwarzen oder Latina-Rapperin als emanzipatorisches Statement, als Inbegriff des weiblichen Empowerment gefeiert wird. Um nicht missverstanden zu werden: Harter Hip-Hop von Frauen, gleich welcher Herkunft, ist schon an sich ein selbstbewusstes Statement – oft unterhaltsam und ein wohltuendes Gegengewicht zum Macho-Gangster-Rap männlicher Kollegen. Dass aber ausgerechnet immer solche Werke in den Empowerment-Himmel gehoben werden, in denen die Künstlerinnen als prollige Sexgöttinnen auftreten, mutet schon etwas schizo an.

Königskobra statt Gartenschlange

Der Aufreger des Sommers in dieser Hinsicht war ein Song und Hochglanzvideo der amerikanischen Rapperinnen Cardi B. und Megan Thee Stallion. Die Rede ist von WAP – das steht für „Wet-Ass Pussy“, zu Deutsch: „Nassarsch-Muschi“. Im Song rappen die beiden Protagonistinnen über einem eher eintönigen Beat von ihrer Lust auf Sex und ihrer eigenen Verführungskraft, dazu feiern sie erotische Rollenspielchen, das hoffentlich große Geld des Mannes und diverse Körperflüssigkeiten, von Spucke über  Scheidensekret bis Sperma. Das alles wird eindeutig zweideutig bis hochgradig explizit formuliert – die Kerle, die bitte megacool sein und keine Gartenschlange, sondern eine Königskobra in der Hose haben sollen, mögen doch bitte Eimer und Wischmop mitbringen, wenn sie ihren großen Truck in der kleinen Garage ihrer Partnerin parken wollen. Ja, es geht zur Sache, aber neu ist das alles nicht. Schon das häufig von Frauen getragene Genre des „dirty blues“ im frühen 20. Jahrhundert lebte von diesem lustvoll-obszönen Spiel mit der Sprache, im Hip-Hop der Gegenwart ist es ohnehin gang und gäbe.

Das Video zu WAP zeigt Cardi B. und Megan Thee Stallion, wie sie staunend, kichernd, als Geisha-artig tippelnde Barbiepuppen ein Fantasieschloss erkunden. Und man interpretiert sicher nicht über, wenn man in diesem Schloss ein Sinnbild für den weiblichen Körper erkennt. In jedem Raum wartet eine Überraschung, es wimmelt – ja, ja – von Schlangen und Raubkatzen, ein Raum steht gar unter Wasser, und immer wieder bewegen sich die beiden „Heldinnen“ allein, zu zweit oder mit anderen Frauen in diesen Räumen, twerkend, fummelnd oder einladend sich räkelnd in lasziven Posen.

„Es sind Huren im Haus“

Ganz offenbar geht es hier um neue Heldinnen, die den eigenen Körper und die eigene Lust entdecken, die Männern sagen, was sie wollen, und bei allem ganz in Einklang mit sich selbst sind. Auch wenn der Blick auf das Geld und das Auto des willig gebenden Sexpartners den Eindruck etwas trübt. Das ist, keine Frage, schön und sexy anzusehen – und ein bisschen offensive Haltung der Gesellschaft, den Männern gegenüber kann sicher nicht schaden. Doch dass vor allem das Video, das die Protagonistinnen zu dem wohl ironisch gemeinten wiederkehrenden Sprachsample „There’s some whores in this house“, „Es sind Huren im Haus“, mit Wildtieren assoziiert und als dauergeile Sexmaschinen inszeniert, selbst von gestandenen deutschen Rockkritikern als höchst gelungenes feministisches Statement promotet wird, kann schon Kopfschütteln verursachen. So ist für „Süddeutsche“-Autor Joachim Hentschel „die bodenlose Versautheit von ‚WAP’ die transgressive Utopie der Stunde.“ Und „Zeit“-Kollege Jens Balzer kommt angeregt zu dem Schluss: „Wir sehen hier mithin nichts anderes als eine vollendete Emanzipation.“

Rumms, das sitzt! Vor allem drei Aspekte sind es, die die Verfechter der weiblichen Selbstermächtigungsthese am WAP-Song und am WAP-Video feiern:

– dass die Protagonistinnen beim Geschlechtsakt das Sitzen auf dem Mann, also die dominante Pose präferieren;

– dass ihre Körperflüssigkeiten konservative, verklemmte Männer verschrecken;

– und dass im Video die Männer abwesend seien, was gleichbedeutend sei mit dem Feiern weiblicher Autonomie.

Hentschel hebt zusätzlich die „Kunstkleider von Nicolas Jebran und Thierry Mugler“ hervor und ist regelrecht ergriffen davon, „dass im Diskurs über Song und Video wirklich alles zusammendiffundiert ist, was derzeit an Hashtags und kulturellen Topoi umherfliegt: Gender- und Hautfarbenpolitik, Cancel Culture, kulturelle Aneignung, der US-Wahlkampf, sogar Hygienefragen.“ Und Balzer zitiert „Gynäkologinnen, die den Song feiern, weil er jungen Mädchen ein positives Verhältnis zu ihrer Körperlichkeit und auch zur Masturbation vermittle.“

Wer dominiert beim Ponyreiten?

Junge, Junge, das provoziert Widerspruch. „Frau sitzt oben“, das ist doch eine ganz normale Sexstellung – die man machtpolitisch aufladen kann, aber nicht machtpolitisch aufladen muss. Und es gibt Songs aus der männliche Perspektive, die Frauen exakt zu dieser Stellung einladen, ohne damit irgendein Machtgefüge zu verändern. Man denke nur an den R&B-Künstler Ginuwine und die folgenden Zeilen aus seinem One-Hit-Wonder Pony von 1996:  „… if I have the chance / The things I would do to you / You and your body / Every single portion / Send chills up and down your spine / Juices flowing down your thigh / If you’re horny lets do it, ride it, my pony / My saddle’s waiting, come and jump on it.“ Die Einladung zum „Ponyreiten“ enthält hier mit Sicherheit keine Geste der Unterwerfung des Mannes unter den Willen der Frau. Und, ganz nebenbei, Körperflüssigkeiten, die an Schenkeln hinabrinnen, werden in Pony auch schon ausgiebig zelebriert. Klar geht es in WAP besonders feucht-fröhlich zu, aber wenn Gynäkologinnen ausgerechnet diesen Song als Lehrstück für junge Frauen heranziehen wollen, die eine gesunde Einstellung zu ihrer Körperlichkeit und zur Masturbation entwickeln sollen, dann ist Vorsicht angebracht. Genauso wie die Frage, ob Amerika – Heimat einer riesigen Sex- und Pornoindustrie, Land der „American Pie“-Filme, des „Hustler“-Magazins und der „Spring Break“-Exzesse – hier noch alle Tassen im Schrank hat.

Ein Lehrstück für Masturbation dürfte WAP aber vor allem für einsame Jungs und Männer sein, die nun nicht mehr auf Pornowebsites zur Triebabfuhr ausweichen müssen, sondern ganz unverfänglich ein Musikvideo als Vorlage nutzen können. Denn seien wir ehrlich: Wie Cardi B. und Megan Thee Stallion in sexy Outfits durch das Schloss geistern, wie sie ihre bebenden Brüste und Hintern in die Kamera halten, sich die Lippen lecken und gegenseitig liebkosen, das bedient schlicht und einfach den hetero-männlichen Blick. Dass ihre Klamotten, die so auch aus einem Beate-Uhse-Katalog oder einem Fetischladen stammen könnten, von Thierry Mugler und Nicolas Jebran designt wurden, macht die Sache nicht kunstvoller, schon gar nicht besser. „Für männliche Betrachter ist es hier kaum möglich, die Brüste und Hintern irgendwie auf sich zu beziehen, diesen Sex persönlich zu nehmen“, schreibt Joachim Hentschel, und man fragt sich, auf welchem Planeten der Autor lebt. Als ob man irgendwelche Körperteile persönlich auf sich selbst beziehen müsste, um Spaß mit einem Heftchen oder Filmchen zu haben.

Peepshow-Ästhetik

Womit wir bei einem der wichtigsten Streitpunkte angelangt sind: der Abwesenheit der Männer. „Sie haben sich zum Tanzen und Schubbern und An-sich-Herumspielen ein paar andere Musikerinnen eingeladen“, schwärmt Jens Balzer von der visuellen WAP-Umsetzung: „Gemeinsam und jede für sich feiern sie ihre Körper und ihre Lust. Männer sind dazu gar nicht vonnöten; sie werden zur Stimulanz nicht gebraucht und nicht mal als sexuelle Objekte.“ Aha, so, so. Und na ja, tatsächlich: Im Video sind keine Männer zu sehen. Aber: In den Lyrics sind sie überpräsent: als taffe Typen, die es den Protagonistinnen blind vor Geilheit besorgen und freiwillig Geld und Auto rausrücken. So entsteht ein seltsamer Bruch zwischen Song und Video. Spitzt man diesen Aspekt ein wenig zu, dann kann man Peepshows als Vergleich heranziehen. Auch dort sind auf der Bühne keine Männer zu sehen, die schauen aus den Kabinen mit den Gucklöchern zu, so wie es sich die Videozuschauer am heimischen Bildschirm gemütlich machen. Die Frage ist nur: Wer würde Peepshows ernsthaft als Institutionen des gelebten Feminismus betrachten, die Sexarbeiterinnen dort als Heldinnen der Selbstermächtigung? Von daher gibt es Extra-Peinlichkeitspunkte, wenn Hentschel die Tanzszenen aus dem WAP-Video mit der Lage der amerikanischen Nation und vor allem mit den „Black Lives Matter“- oder Genderdebatten der letzten Monate kurzschließt, um ihnen eine gesellschaftlich heilende Wirkung zuzuschreiben: „Denn besonders nach den verschiedenen Schreckensbildern der letzten Monate liegt eine geradezu unbändige Kraft im Anblick einer Chorus Line aus schwarzen Frauen, die im knöcheltiefen Wasser tanzen, Stolz und Fleischlichkeit behaupten, das verbindende Element menschlicher Körperausflüsse feiern.“ Als wenn es Revuen aus twerkenden schwarzen Frauen in feuchter Umgebung nie zuvor in einem Musikvideo gegeben hätte, zum Einstieg in die Materie bietet sich Anaconda von Nicki Minaj an.

Es geht auch anders

Das WAP-Video wurde, wie nicht anders zu erwarten, von einem Mann gedreht – von Collin Tilley. Wobei die Künstlerinnen nicht müde werden zu betonen, wie mitbestimmend sie in den Produktionsprozess eingebunden waren. Und so könnte man ein weiteres Mal zuspitzend behaupten: Früher wurden weibliche Popstars von Männern ungefragt als Sexobjekte inszeniert – heute entscheiden sich weibliche Stars sehr selbstbewusst dafür, als Sexobjekte inszeniert zu werden. Ein Video über Körperflüssigkeiten, das erzreaktionäre Männer verschreckt? Geschenkt! Diese erzreaktionären Männer erleiden ja schon einen Herzanfall, wenn sie zwei sich küssende Menschen sehen. Wenn das Feminismus ist, dann habe ich etwas gründlich missverstanden.

Weibliches Empowerment und die Thematisierung von Körperflüssigkeiten, das gibt es natürlich nicht erst seit Cardi B. und ihrem WAP-Video. Echtes Künstlerinnen-Empowerment und wirklich irritierende Einblicke liefern zwei andere Videos, die außerdem musikalisch mehr zu bieten haben als WAP. Das eine ist Bad Guy aus dem Jahr 2019, Billie Eilishs dezent blutige Persiflage auf überkommene Männlichkeitsbilder und erotisch aufgeladene Musikclips. Im Songtext geht es um eine abgründige junge Frau, die ihrer pseudotaffen Muttersöhnchen-Affäre zeigt, wer wirklich die Kontrolle hat.

Das andere ist schon etwas älter und – Achtung! – ganz bestimmt nicht jedermanns Sache. Es stammt aus dem Jahr 2015, ist von Peaches und trägt den Titel Rub. Rub scheint wie als Ohrfeige gemacht für Joachim Hentschel, der sich angesichts von Cardi B.’s WAP zu der poetischen Bemerkung verleiten lässt: „Nein, natürlich wird keine Vulva gezeigt in dem Musikvideo. Und ja, trotzdem glaubt man sie zu sehen, viele sogar. Wenn man ‚WAP’ laufen lässt, den radikalen, sensationellen Hip-Hop-Clip der US-Rapperinnen Cardi B und Megan Thee Stallion, werden die Vulven und Vaginen sogar irgendwie hörbar. Was schon semiotisch bemerkenswert ist.“ In der „uncensored version“ von Rub sind sie einfach explizit zu sehen, die in den Lyrics besungenen „pussies“ – und zwar im Rahmen einer wilden Frauen-Orgie mit Transgender-Touch. An einigen Stellen tritt Transgender-Pornostar Danni Daniels in Aktion, zu wenig blumigen Versen wie: „Can’t talk right now, this chick’s dick is in my mouth …“ Nochmals, nicht falsch verstehen: Sie sollen gerne weitermachen, die Cardi B.s, Nicki Minajs und – ja, auch die – Beyoncés dieser Welt. Es ist ja durchaus spektakulär, was sie machen. Aber man muss uns diese auf Click- und Verkaufszahlen hin optimierten voyeuristischen Hochglanzproduktionen nicht weiter als revolutionäre, gesellschaftsverändernde Kunst verkaufen.

Pop dreht frei

(II) Gegen jede Vernunft

Amerikas Musikgeschehen, das zeigte Teil (I) von „Pop dreht frei“, glänzt durch hilflose Bands und diktatorische Fans, durch Größenwahn und Populismus. Aus Großbritannien sendet ausgerechnet Robbie Williams verstörende Signale. Und auch hierzulande dominieren nicht etwa aufregende Künstler die Schlagzeilen, sondern kleinere und größere Popkatastrophen: von Xavier Naidoo bis zu Düsseldorfs OB, von Manuel Neuer bis zum „Donaulied“. Selbst Rammstein-Frontmann Till Lindemann kriegt keine ordentliche Provokation mehr hin.

Aus Amerika kommt in Sachen Pop zurzeit viel Absurdes. Zum Beispiel von Madonna. Die „Queen of Pop“ a. D. preist nicht nur das umstrittene Malaria-Mittel Hydroxychloroquin als Wundermittel gegen Corona, sondern behauptet auch, dass ein bewährter Impfstoff längst verfügbar sei, jedoch unter Verschluss gehalten werde, damit die Reichen reicher und die Armen ärmer und kranker werden. Da dürfen europäische Superstars natürlich nicht zurückstecken. Und so bemüht sich Robbie Williams redlich, Anlass zur Besorgnis zu geben. Der verrückte Brite hatte sich in der Vergangenheit bereits als Fan von UFOs und Aliens geoutet – jetzt äußerte er in Interviews zumindest Sympathien für den einen oder anderen Verschwörungstheoretiker. Und wies vielsagend darauf hin, dass er die „Pizzagate“-Theorie zumindest für nicht widerlegt halte. Die Pizzagate-Theorie? Richtig: Das war die abstruse Behauptung, aus einer Washingtoner Pizzeria heraus sei ein Kinderpornoring betrieben worden, in den auch die US-Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton verwickelt gewesen sei.

Die tägliche Dosis Geheimwissen

Womit wir direkt nach Deutschland schalten. Zum Beispiel zu Xavier Naidoo. Der einst beliebteste Soulpopper des Landes war schon Monate vor Corona bei großen Teilen der Öffentlichkeit angeeckt: mit antisemitischen Versen in seinen Lyrics, mit kruden Thesen über Ritualmorde an Kindern, mit Redebeiträgen für die sogenannten „Reichsbürger“. Durch den Song Marionetten, den er 2017 gemeinsam mit den Söhnen Mannheims eingespielt hatte, geisterten Pegida-Jargon und eben jene Pizzagate-Theorie. Schon das war starker Tobak. Endgültig in Ungnade aber fiel Naidoo wegen kurzer Video-Posts in sozialen Medien, die mit ausländerfeindlichen Statements und absurden Corona-Theorien erschreckten – dazu passten gemeinsame Aktionen mit dem Vegan-Koch Attila Hildmann. Und der ist bekanntlich bereit, als Märtyrer für seine Wahnvorstellungen zu sterben. Hier noch groß zu kritisieren und zu appellieren, scheint müßig: Typen wie Hildmann und Naidoo muss man als „verloren“ abhaken, die holt man nicht wieder auf den Boden der Vernunft zurück. Eine Theorie besagt, dass wer Verschwörungstheorien anhängt, eine gewisse Unausgeglichenheit, die eigene Bedeutungslosigkeit kompensieren will. Demnach gibt die Gewissheit, über ein Geheimwissen zu verfügen, solchen Menschen das dringend benötigte Gefühl, etwas Besonderes zu sein – sich erleuchtet von der Masse abzuheben. Es scheint wie eine Droge zu sein.

Nur dass dieser Droge neben Hinz und Kunz inzwischen auch Kaliber wie Madonna, Robbie Williams oder Xavier Naidoo verfallen. Sollten Popstars vielleicht doch nur Menschen sein? So wie Politiker auch nur Menschen sind? Auftritt Thomas Geisel, Oberbürgermeister von Düsseldorf: Der machte im Juli 2020 seinem Nachnamen alle Ehre, weil er meinte, ausgerechnet Rapper Farid Bang, dessen Texte er eigentlich „widerwärtig“ findet, als Botschafter einspannen zu müssen. Mit dem Effekt, dass vor allem er selbst eingespannt wurde. Zur Erinnerung: Farid Bang ist der wegen antisemitischer und sexistischer Verse berüchtigte Gangsta-Hip-Hopper, der 2018 zusammen mit Kollegah den „Echo“-Musikpreis zu Fall gebracht hatte. Bang, sicher hocherfreut über den kleinen Popularitätsschub, setzte sich artig für Herrn Geisel vor die Videokamera und bat auf „Sesamstraße“-Niveau – „Hallo Leute, ich zieh euch die Ohren lang, haha!“ – unvernünftige Partypeople, sich doch endlich an die Corona-Beschränkungen zu halten, man gefährde schließlich ältere Menschen und so. Der notorische Regelbrecher als Hüter der Regeln: Was für eine absurde Idee! Die lustlos abgespulte und nur mäßig überzeugenden Ansage des Herrn Bang sorgte vor allem für eines: Dem OB blies von allen Seiten Wind ins Gesicht. Von der Opposition, von entsetzten Bürgern, von jüdischen Verbänden. WDRaktuell war nur eins der vielen Medien, die bundesweit berichteten. Und so kam es, wie es kommen musste: Das Video musste vom Netz.

„Why can’t we all just get along?“

Man stelle sich vor: Wissbegieriges Partyvolk, das sich nachdenklich Farid Bangs Aufklärungsvideo anschaut und dann schuldbewusst nach Hause geht, um einen Kräutertee zu trinken. In seinem hochnotpeinlichen Anbiederungsversuch an die dunkle Seite der Macht erinnerte der hilflose SPD-Mann Geisel an Jack Nicholson und dessen herrliche „Why can’t we all just get along?“-Rede in Tim Burtons clever-satirischem Science-Fiction-Klamauk Mars Attacks. Voll aufgesetzter Gutmütigkeit und Wärme appelliert da der Hollywoodstar als schmierig taktierender US-Präsident an die Vernunft der kleinen grünen Invasoren, die gerade zu ihm vorgedrungen sind. Scheinbar reumütig senken die bösen Marsianer die Köpfe und vergießen ein wunderbares Krokodilstränchen – nur um den Präsidenten im nächsten Moment per Tentakel-Dolchstoß ins Jenseits zu befördern und die Erde weiter genüsslich in Schutt und Asche zu legen.

Nicht wundern würde mich indes, würde Farid Bang bald wieder in gewohnter Manier durch die Gegend pöbeln, einschließlich verbaler Attacken gegen den Düsseldorfer Magistrat. Denn, Bushido hat es vorgemacht, so funktioniert Gangsta-Rap: Immer ambivalent und schwer zu fassen sein, keine Verantwortung übernehmen, das Establishment hinters Licht führen, ständig attackieren. Hauptsache, man bleibt „credible“ bei den Fans, und die Album-Verkaufszahlen stimmen. Für den Düsseldorfer OB jedenfalls war die Sache ein Kommunikations-Super-GAU.

Den erlebte auch Manuel Neuer, als er im Sommerurlaub mit kroatischen Kollegen und deren Freunden ein beliebtes kroatisches Lied sang, das Fußballfans aus der Region genauso gern schmettern: Du bist schön, eine patriotisch aufgeladene Liebeserklärung an die Heimat, in die sich Medienberichten zufolge Beisitzansprüche auf Gebiete in Bosnien-Herzegowina mischen sollen. Das Lied stammt von der Gruppe Thompson, deren Sänger Marko Perkovic als Ultrarechter gilt und in anderen Songs die faschistische Ustascha-Bewegung verherrlicht. Ein Video der Neuer’schen Gesangseinlage ging viral und brachte den Kapitän der deutschen Fußballnationalmannschaft in ernste Erklärungsnöte. „Songmissverständnis aus Unkenntnis der Sprache“ und „Unwissenheit schützt vor Strafe nicht“, das sind die Schubladen, in die sich der Fall mindestens packen lässt. Ein anschauliches Beispiel für die Fallstricke, die das Internet und soziale Netzwerke selbst unbescholtenen Prominenten nicht vorenthält. Aber auch ein Beleg für die Naivität des Weltklassetorhüters, der glaubhaft versicherte, weder die kroatische Sprache zu beherrschen noch die Hintergründe des Liedes zu kennen. Wobei: Letzteres hat dann doch überrascht. Denn der Ustascha-Gruß und das Absingen des Liedes Du bist schön bei internationalen Fußballturnieren wird schon seit Jahren in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. Gerade vom Kapitän der deutschen Nationalmannschaft, der nun mal wirklich die vielbeschworene Vorbildfunktion erfüllt, hätte man einen besseren Kenntnisstand, mehr Bewusstsein und mehr Reife erwartet. Sei’s drum. Denn was am Ende am meisten beunruhigt, ist etwas ganz anderes – nämlich ein Gedanke, den die „Frankfurter Rundschau“ in einem Bericht über den Fall zitiert: „Auf Twitter schreibt jemand: ‚Das Problem ist nicht Neuer. Das Problem ist, dass es überhaupt kein Problem ist, Thompsons Lieder in Kroatien zu singen.’“ Da ist was dran.

Das Problem, dass problematische Lieder kein Problem sind

Ähnlich lässt sich über den grauslig pathetischen Metal-Kracher Panzermarsch befinden, den sich das ungarische Militär ausgerechnet von der Rechtsrockband Kárpátia schreiben ließ. Die Regierung unter Viktor Orbán sieht darin tatsächlich nicht das geringste Problem. Warum auch?, Kárpátia sind ja in Ungarn recht beliebt. In Deutschland wiederum scheint es mancherorts kaum ein Problem zu sein, ein altes Volkslied ausgerechnet in solchen modernisierten Versionen zu singen, die eindeutig eine Vergewaltigung beschreiben. Die Rede ist vom vielfach aktualisierten Donaulied und Zeilen wie den folgenden: „Einst ging ich am Ufer der Donau entlang, Ohohoholalala / Ein schlafendes Mädchen am Ufer ich fand, Ohohoholalala / Sie hatte die Beine weit von sich gestreckt, Ohohoholalala / Ihr schneeweißer Busen war halb nur bedeckt, Ohohoholalala / Ich machte mich über die Schlafende her, Ohohoholalala / Da hört sie das Rauschen der Donau nicht mehr, Ohohoholalala.“ Das Opfer wird schwanger, und in manchen Versionen macht sich der Täter alsbald aus dem Staub – nicht ohne den Hinweis an die „saublöde Schlampe“, er habe doch einen Gummi benutzt. In der hier zitierten Version des Portals rhoischnoke.de wiederum ruft der Vergewaltiger der Frau am Schluss noch entgegen: „Hier hast du ’nen Heller und geh’ halt nach Haus, Ohohoholalala / Und wasch dir den Schnickschnack mit Kernseife raus, Ohohoholalala.“ Zufriedenes Fazit: „Ich stand auf der Brücke und schwenkte den Hut, Ohohoholalala / Ade, junge Maid, ja die Nummer war gut …“

Die abgewandelten Versionen sind veritable Bierzelt-Hits und werden von Befürwortern gern mit dem Verweis auf die Tradition verteidigt. Nur: Von Tradition kann hier gar keine Rede sein. Denn in seinen frühen Versionen kreist das Lied eben nicht um eine Vergewaltigung, sondern um eine mal mehr, mal weniger zart entflammende Liebe. Und selbst eine aktuelle Schenkelklopf-Schlagerversion von Mickie Krause erzählt von einvernehmlichem Sex. So heißt es bei Krause nach den Eingangsversen halbwegs verträglich: „Da wachte sie auf und sie sagte: ‚Komm her’, Ohohoholalala. / Wir hörten das Rauschen der Donau nicht mehr, Ohohoholalala.“ Natürlich ist auch diese Version nicht die eleganteste, zumal der männliche Sprecher die Frau im Anschluss sitzen lässt; aber – jo mei, Ohohoholalala – in Bierzelten darf es gern etwas rauer zugehen, und ganz so realitätsfern ist das Ende vom Lied ja nun auch wieder nicht. Männer sind eben Schweine. Mit Den Ärzten könnte man sogar sagen: Trau ihnen nicht, mein Kind …

Insofern ist bei Herrn Krause Entwarnung angezeigt – bei „Ich machte mich über die Schlafende her“ jedoch nicht! Absolut nachvollziehbar, dass Passauer Studenten eine Petition starteten, die ein kritisches Nachdenken über die Vergewaltigungsversionen des Liedes und ihre Verwendung in Bierzelten forderte. Selbst mit Blick auf Kunstfiguren und Rollen-Ichs sind die in Richtung Übergriff getunten Textversionen verwerflich. Vor 60 Jahren gab es mal einen Überraschungsschlager, der triefende Seemanns- und Rotlichtromantik mit handfesten Fantasien von Übergriffen im Wald und sogar im Publikum mischte. Er hieß Laila, stammte von den niederländischen Regento Stars und ließ Frontmann Bruno Majcherek etwa folgenden Schwachsinn radebrechen: „Stellen Sie sich vor, meine Damen und Herren, ich wär einen wilden Räuber. Stellen Sie sich vor, Sie liefen ganz allein rum im Wald, ich tät rufen von ‚Hände hoch, oder ich schieße sie!’ Wäre das nicht wunderbar? Fühlen Sie jetzt, meine Herren, dass die Damen vollkommen willenlos sind geworden, denn bei der zweiten Strophe hat sich schon eine ganze Menge junge Damen in dem Sekt- und Schnapstrinken verschluckt.“ Und weiter: „In der magisch hellen Tropennacht / Vor dem Frauenhaus in Algiers / Hat ein dunkles Auge ihm zugelacht / Dem kranken bleichen Legionär.“ Damals, 1960, mag es noch halbwegs „normal“ gewesen sein, sich auf die Schenkel zu klopfen (die Herren) und verschämt mitzuklatschen (die Damen). Dass aber heute, im 21. Jahrhundert, Frauen und – in der Mehrheit – Männer den „modernen“ Vergewaltigungstext des Donaulieds bierselig in einem Feierkontext mitgrölen, sollte sich eigentlich von selbst verbieten.

Klopapier aufs Gartenhaus? Es ist etwas komplizierter …

Womit sich der Kreis zu Goethes Gedicht vom „Heidenröslein“ schließt, gegen das zu Beginn von Teil (I) dieses Beitrags mit einer Klopapieraktion protestiert wurde. Bei Goethe kommt ebenfalls ein Jüngling eher zufällig vorbei („Sah ein Knab’ ein Röslein steh’n …“), dann heißt es unverblümt blumig: „Und der wilde Knabe brach / ’s Röslein auf der Heiden / Röslein wehrte sich und stach / Half ihm doch kein Weh und Ach, / Mußt’ es eben leiden.“ Verschiedene Deutungen dieses Gedichts heben auf die poetische Verarbeitung einer enttäuschten Liebe ab – als habe der Knabe dem verliebten Heidenröslein das Herz gebrochen. Als Bezugspunkt im wirklichen Leben wird dazu gern die Affäre zwischen Goethe und Friederike Brion bemüht – ein leidenschaftliches Techtelmechtel, das der Dichterfürst per Brief beendet hatte. Friederike soll schwer verliebt gewesen sein und auch ihrerseits einen tiefen Eindruck bei Goethe hinterlassen, ihn sozusagen „gestochen“ haben. Doch im Kampf um diese Liebe (sie „wehrte sich“ gegen das Verlassenwerden) war sie letztlich unterlegen.

Das ist die biografisch motivierte Interpretation. Nur kommen Gedichte selten mit einem Beipackzettel inklusive Lebenslauf und Psychogramm ihres Urhebers daher. Und für gewöhnlich überdauern sie die Zeiten, erst recht wenn Goethe der Verfasser ist. Weshalb sich einer weniger informierten Leser-/Hörerschaft von heute ganz andere Fragen stellen. Etwa: Wieso will der Knabe das Heidenröslein brechen? Was genau ist mit „brechen“ gemeint, und was soll die kraftstrotzende Ankündigung? Wie anders kann Rösleins Ansage „Ich steche dich“ zu verstehen sein denn als „Ich weigere mich, ich sage Nein“? Und klingt das Fazit „Mußt’ es eben leiden“ nicht unglaublich zynisch? Rücksichtslos? Gewalttätig? Und so lässt sich hier – frei nach dem Motto „Trau nie dem Autor, trau nur seiner Erzählung“ – durchaus auch auf eine Vergewaltigung schließen. Deshalb fragen konsequente Kritiker des Goethe’schen Frauenbilds erzürnt: Erzählt das Gedicht vom Heidenröslein von einvernehmlichem Sex? Klare Antwort: Nein. Also lasst uns Klopapierrollen auf Goethes Gartenhaus werfen! Aber muss man denn wegen des Heidenrösleins gleich das ganze Werk, die ganze Dichterperson verdammen? Ebenfalls: Nein. Denn dafür ist, wir haben’s gesehen, die Angelegenheit zu kompliziert. 

Wer Lindemann verteidigt, läuft Gefahr, selbst als Nazi, Sexist oder Dumpfbacke beschimpft zu werden

Einfacher, eindeutiger zu beurteilen ist der geschilderte Sachverhalt in Wenn du schläfst, einem aktuellen „Skandal“-Gedicht von Rammstein-Sänger Till Lindemann. Ist es Zufall, dass Wenn du schläfst an Goethes ambivalenten Text, aber auch an die weniger korrekten Versionen des Donaulieds erinnert? Hier ein paar Auszüge: „Ich schlafe gerne mit dir, wenn du schläfst. Wenn du dich überhaupt nicht regst.  (…) Schlaf gerne mit dir, wenn du träumst. Und genau so soll das sein (…) Etwas Rohypnol im Wein (etwas Rohypnol ins Glas). Kannst dich gar nicht mehr bewegen. Und du schläfst, es ist ein Segen.“ In diesem Fall gibt es keinen Zweifel: Wenn du schläfst kreist um die Vergewaltigung einer bewusstlos gemachten Frau. Ja ist denn dieser Lindemann noch zu retten? Die Feuilleton-Wellen schlugen hoch. Erbitterten Kritikern und dem Vorwurf, der Text würde sexuelle Gewalt gegen Frauen propagieren, hielt Lindemanns Verlag Kiepenheuer & Witsch zu Recht entgegen: Das Ich im Text ist nicht mit dem Ich Till Lindemanns gleichzusetzen, der Autor schlüpft hier bewusst in die Rolle eines Mannes, der etwas zutiefst Verwerfliches tut. Schon klar. Und trotzdem darf man fragen: Warum in aller Welt veröffentlicht der Rammstein-Frontmann so einen Text? Und warum gerade in diesen Zeiten? Um zu offenbaren, wie krank manche Männer ticken? Um flirtfreudigen Partygängerinnen zu mahnen, ihre Drinks nicht aus den Augen zu lassen? Oder einfach nur um zu provozieren?

Lindemann hat inzwischen einen Status erreicht, der Rezensenten in ein Dilemma stürzt: Äußert man sich empört über seine Ergüsse, dann lacht er sich eins ins Fäustchen, denn er hat erreicht, was er wollte: hitzige kontroverse Diskussionen. Verteidigt man ihn aber oder mahnt auch nur: „Halb so wild“, dann läuft man unweigerlich Gefahr, selbst als Nazi, Sexist oder Dumpfbacke beschimpft zu werden. Alles schon erlebt. Klar empfinde ich dieses „Gedicht“ als abstoßend, als plump und schon gar nicht als Literatur. Und doch meine ich, man sollte die Kirche im Dorf lassen. Es ist ein Rollenspiel, das letztlich Bezug nimmt auf verstörende Erscheinungen unserer Zeit – auf häusliche Gewalt, auf sexuelle Übergriffe im Nightlife-Kontext, auf sexuelle Übergriffe an sich. So ein „Gedicht“ kann man machen. Man muss es aber nicht machen. Erst recht nicht, wenn das schmerzhafte Thema durch die #metoo-Bewegung, durch Sexismusdebatten und die Aufregung um verschiedenste furchtbare Missbrauchsskandale seit Monaten breit in der Öffentlichkeit verhandelt wird. Da wartet bestimmt niemand auf eine einfallslos-anrüchige Wachrüttelaktion des Herrn Lindemann, der ansonsten durchaus aufregend aufzuregen weiß.

So untermauert auch Wenn du schläfst die These von der momentanen Orientierungslosigkeit des Pop. Pop haut nur noch um sich, Pop verärgert, Pop wird instrumentalisiert. Und das sogar von manchen Fans, auch wenn sie in der Bundesrepublik eher harmlos-naiv vorgehen. So wie ein Student aus Offenbach, der sich tatsächlich dafür einsetzt, die dortige Bismarckstraße neu zu benennen. Und zwar nach einem Sohn der Stadt, dem Gangsta-Rapper Haftbefehl. „Die Zeit“ berichtete Ende Juli in großem Stil, nicht ohne süffisanten Unterton. Der Hintergrund, na klar, sind die „Black Lives Matter“-Proteste, es geht gegen den Kolonialismus, die grausame Unterdrückung fremder ethnischer Gruppen. Natürlich kann man den studentischen Impuls verstehen, und die Umbenennung einer Straße ist tatsächlich besonnener als das Niederreißen einer Statue. Doch was Bismarck, der für die Kolonialisierung in Afrika stand, mit einem kurdischen Rapper zu tun haben soll, bleibt in diesem Fall genauso undurchdacht wie die Frage, warum ausgerechnet jener Haftbefehl eine eigene Straße bekommen soll. Der hessische Hartreimer ist zwar durchaus zu Selbstkritik und Selbstironie fähig, wie nicht nur sein Auftritt im doppelbödig-geschmacklosen Lindemann-Video Mathematik beweist, aber er hat in der Vergangenheit auch schon einigen politisch unkorrekten Unsinn von sich gegeben. Nicht zuletzt schießt er sich gelegentlich schon mal selbst ins Bein, und das wortwörtlich. Da gäbe es bestimmt ein paar Offenbacher, die viel eher eine eigene Straße verdient hätten.

Aber Hauptsache, es wurde ein bisschen Propaganda gemacht, das überbordende Ego bestätigt, grober Unfug als letzte Weisheit proklamiert. Und genau darin ist Pop mit allem, was dazugehört, ein Spiegel unserer Zeit. Einer Zeit, in der Populisten das Zepter schwingen, in der orientierungslose Corona-Skeptiker und Esoteriker keine Probleme damit haben, gemeinsam mit Rechtsnationalen zu demonstrieren, und in der die politisch Verantwortlichen die vielen positiven Perspektiven, die der Lockdown immerhin aufgezeigt hatte, einfach ignorieren. Vielleicht haben Die Ärzte ja recht, wenn sie in Abschied singen: „Los, komm, wir sterben endlich aus, denn das ist besser für die Welt …“

Pop dreht frei

(1) Den ganzen Planeten mit einem Warnhinweis versehen!

Fanatiker, Populisten, Egoisten und Verschwörungstheoretiker bestimmen die Schlagzeilen. Das gilt nicht nur in Politik und Gesellschaft, es zeigt sich auch in der Musik. Kritische Schlaglichter auf das Popland USA, wo verunsicherte Bands hektisch ihren Namen ändern und die Rassismusdebatte bizarre Blüten treibt. Wo ein Rap-Vollpfosten Präsident werden will und die Superstars auch nicht mehr sind, was sie mal waren.

Weimar im August 2019: Eine klopapierträchtige Kunstaktion brandmarkt Goethe als Sexisten. Angeklagt sind das machohafte Frauenbild des „Dichterfürsten“ und sein unappetitliches Gedicht vom „Heidenröslein“. Der kleine Anschlag auf Goethes Gartenhaus wird bundesweit kaum wahrgenommen und ansonsten eher belächelt. Tatsächlich ist er nichts gegen das, was nur wenige Monate später Tausende Kilometer entfernt folgen soll. Nach dem Tod des Schwarzen George Floyd, dem im Zuge einer Polizeikontrolle in Minneapolis ein gewalttätiger Polizist minutenlang das Knie in den Hals gedrückt hatte, werden vor allem in Amerika, Belgien und Großbritannien diverse Persönlichkeiten der Geschichte vom Sockel gestoßen, und das im buchstäblichen Sinne. „Black Lives Matter“-Demonstranten attackieren Statuen von Kolonialherren und von Politikern, die für die Unterdrückung der Schwarzen verantwortlich zeichneten, beschmieren sie, köpfen sie oder versenken sie in Flüssen. Columbus und Churchill, selbst die berühmtesten Namen bleiben nicht verschont. Es sind brachiale symbolische Akte, die sich gegen Staatsgewalt und Unterdrückung richten – die unrühmliche Geschichte vergessen machen wollen.

Das Colosseum abreißen. Die Reformation annullieren …

Die Wut kann man gut verstehen. Doch zwangsläufig fragen sich viele, die sich nicht an solchen Denkmalstürzen beteiligen, wo das aufhören soll – was als Nächstes kommt. „So wird Otto Hahn dereinst wegen der Atomforschung verurteilt, Gottlieb Daimler als Mitschuldiger am Klimawandel vom Sockel gestoßen“, spekulierte Thomas Wischnewski im Kontext des kleinen Goethe-Disputs 2019. Wischnewski ist Autor des Onlineportals magdeburg-kompakt.de und spricht von gefährlichen Auslöschungsversuchen. Er warnt: „Die Zurückverurteilung eines zeitgeschichtlichen Geistes trägt faschistoide Züge. (…) Wer die eigene Geschichte umdeutet und abzustreifen versucht, verliert die Fähigkeit, verantwortlich mit ihr umzugehen.“ Seine damaligen Befürchtungen ließen sich heute mühelos ergänzen: Die Reformation wird annulliert, weil Martin Luther im 16. Jahrhundert antisemitische Schriften verfasst hat. Antike Statuen und Stätten, Triumphbögen, das Colosseum werden abgerissen – als Schandmäler für Imperien und Eroberer, die Kontinente in Schutt und Asche legten, andere Menschen versklavten, abschlachteten und abschlachten ließen. Kunstwerke der „Brücke“ werden aus den Museen verbannt, die Maler stehen ja immer wieder unter Pädophilieverdacht. Und Karl May gibt endlich Anlass zu einer Bücherverbrennung, auch sein Werk ist geprägt von rassistischem, kolonialistischem Denken.

Zwei Binsenweisheiten sagen: Der Mensch ist ein widersprüchliches Wesen, mit guten Seiten, aber auch Abgründen, moralischen Untiefen. Und: Der Mensch ist geprägt von der Zeit, der Kultur und den Normen, in denen er sich bewegt, er kann gar nicht anders. Die Grenzen zwischen „einwandfrei“ und „monströs“ sind jederzeit fließend. Nur das absolut Monströse ist klar definiert und gesellschaftlich geächtet – davor jedoch gibt es unendlich viele Graustufen, mit denen man umgehen muss. Manch einer, der Großes getan hat, hat gleichzeitig Dreck am Stecken, erst recht aus historischer Perspektive. Der Weg, sich auch mit den finsteren Aspekten des Lebens auseinandersetzen, Schlüsse daraus zu ziehen und nach Möglichkeiten des Ausgleichs zu suchen, ist in der Regel der bessere. So war es bei der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission, die Verbrechen aus der Zeit der Apartheid aufarbeitete, und so ist es bei der Auseinandersetzung der Bundesrepublik mit der Nazizeit, der kritischen Reflexion der antisemitischen Passagen im Werk Martin Luthers durch die evangelische Kirche. Wenn im Vorfeld des Reformations-Jubiläums 2017 eine protestantische Pastorin und die Kirchenbeauftragte für das Judentum einer Lutherstatue in Hannover symbolisch die Augen verbinden, wenn selbst Vertreter der jüdischen Gemeinde bei aller notwendigen Kritik Luthers revolutionärem Impuls und seiner gelungenen Übersetzung des Alten Testaments aus dem Hebräischen etwas abgewinnen können, dann ist im Sinne einer gemeinsamen Aufarbeitung der Geschichte schon einiges gewonnen.

Darf man Michael Jackson noch im Radio spielen? Auch diese Frage wurde vor nicht allzu langer Zeit angesichts der anhaltenden posthumen Missbrauchsvorwürfe gegen den Superstar hitzig diskutiert. Die Antwort ist längst gefallen, die alltägliche Praxis hat sie gegeben: Ja, man darf Michael Jackson noch im Radio spielen, und ja, man darf ihn auch hören: weil seine Musik nicht im Mindesten Straftatstände erfüllt, weil sie unzähligen Fans viel gegeben hat und immer noch gibt – und weil man letztlich all die Mitwirkenden an Jacksons Kunst, etwa Musiker und Produzenten, durch einen Boykott der Songs ungerechtfertigterweise mitbestrafen würde. An die Verfehlungen des „King of Pop“ muss gleichzeitig erinnert werden dürfen. Weshalb ich es auch unsinnig fände, Filme mit dem wegen sexueller Übergriffe geächteten Ausnahmeschauspieler Kevin Spacey aus dem Verkehr zu ziehen.    

Die Vergangenheit ist so komplex wie die Gegenwart

Wer in einem Abwasch mit den fragwürdigen Aspekten eines Lebenswerks oder einer Epoche gleich das ganze Lebenswerk, die gesamte Epoche aus der kollektiven Erinnerung tilgen will, verleugnet sich selbst und wird vielleicht selbst in hundert Jahren einmal aus der Erinnerung getilgt, wenn Menschen in anderen Kontexten zu neuen Einschätzungen gelangen. Es gibt ja zum Teil schon jetzt unmittelbare Vergeltungsaktionen: So wurden als Reaktion auf die Attacken gegen weiße Kolonialisten-Statuen Gräber ehemaliger Sklaven und Denkmäler schwarzer Autoren geschändet, in Bristol wurde ein schwarzer Musiker durch eine gezielte Auto-Attacke schwer verletzt: Eine sinnlose Spirale der Gewalt kam in Gang, die irgendwann zu Toten führen kann. Ist es das wert? Denkmalentfernungen waren und sind gang und gäbe – meist erfolgen sie bei Regimewechseln, nach Parlamentsbeschlüssen (etwa weil die Objekte als nicht mehr zeitgemäß empfunden werden) oder auf Antrag bestimmter Interessengruppen. Dass eine Initiative von selbsterklärten Aufräumern heute Denkmäler eigenmächtig niederreißt, ist anmaßend. Medienkommentare der letzten Wochen haben Vorschläge formuliert, wie man es besser machen kann: zum Beispiel indem man die umstrittenen Statuen ins Museum stellt, indem man über sie diskutieren und die Öffentlichkeit entscheiden lässt, was mit ihnen geschehen soll, indem man zentrale Gedenkstätten für Kolonialismusopfer einrichtet und/oder indem man neue Denkmäler dagegensetzt. Denkmäler für Demokratiepioniere und Antirassistinnen, mutige Politikerinnen und herausragende Friedensstifter, für konkrete Opfer und die „Black Lives Matter“-Initiative, gern auch für die #metooo-Kampagne oder die „Fridays for Future“-Bewegung, ihre führenden Köpfe. Denn, so die spanische Tageszeitung „El País“: „Die Vergangenheit, die ebenso kompliziert ist wie die Gegenwart und für die es weder endgültige Verurteilung noch Freispruch gibt, steckt auch in diesen Statuen, Denkmälern, Gebäuden.“

Stattdessen beugen sich Popstars wütenden Aktivisten und unverblümten „Hatern“, indem sie flugs ihre vermeintlich rassistischen Künstlernamen ändern. Die Rede ist von Lady Antebellum, einem Trio aus Nashville, das 2009 mit der Countryrock-Ballade Need You Now einen Monsterhit landete und jetzt nur noch Lady A heißt; aber auch von den Dixie Chicks, drei grundsätzlich wackeren Texanerinnen, die auf Druck der „Black Lives Matter“-Bewegung zu The Chicks mutierten. Eigentlich kaum zu glauben. Denn die terminologischen Steine des Anstoßes sind bei genauer Betrachtung genauso komplex wie die Geschichte des Kolonialismus – und für viele Bedeutungen offen. Klar, „Antebellum“, lateinisch: „vor dem Krieg“, ist ein feststehender Begriff, der in der amerikanischen Geschichte auf die Zeit vor dem Bürgerkrieg (1861–1865) verweist – die Ära also, in der in den Südstaaten das brutale System der Sklaverei herrschte. Es war auch die Zeit der „Southern Belles“, bürgerlicher Ladies, die, weil ihnen schwarze Sklaven die Arbeit abnahmen, Zeit hatten für Bildung und kulturelle Aktivitäten. Antebellum bezeichnet außerdem einen bestimmten Architekturstil, wie er in den mit Säulen- und Veranden gesäumten Villen der weißen Plantagenbesitzer zum Ausdruck kam – zu besichtigen unter anderem in Quentin Tarantinos Film Django Unchained, vor allem aber im Filmklassiker Vom Winde verweht. Auch dieses Epos, einer der erfolgreichsten Filme aller Zeiten, steht wegen seiner Südstaatenperspektive und der beschönigenden Darstellung der Sklaverei unter kritischer Beobachtung. Was absolut verständlich ist. Dass ihn der Streamingdienst HBO Max aber kurzzeitig aus dem Programm nahm und im Juni mit einem neuen warnenden Vorwort wieder ins Angebot aufnahm, ist weniger nachvollziehbar. Die Vorzüge wie die problematischen Seiten des Werks sind bekannt, auch aus der umfangreichen Sekundärliteratur, eine gewisse Mündigkeit sollte man dem Publikum nicht absprechen. Und natürlich stellt sich bei aller berechtigten Kritik auch hier die Frage: Was kommt als Nächstes? Wo soll das aufhören? Werden jetzt Hunderttausende Filme, Bücher, Gemälde, Opern, Theaterstücke nachträglich mit Warnhinweisen versehen? „Es könnte schmerzhaft sein …“ Mein Vorschlag: Am besten gleich den ganzen Planeten Erde mit einem Warnhinweis versehen!

Pop = Schillern + Ambivalenz

Doch das nur nebenbei, zurück zu „Antebellum“. Natürlich ist der Begriff mit der Unterdrückung der Schwarzen verknüpft. Aber eben nicht nur: Er weckt auch Assoziationen von Kitsch und Nostalgie, darüber hinaus hat er etwas Morbides. Denn Antebellum ist eine historische Phase der Dekadenz, die durch den Sieg der Nordstaaten unweigerlich zu Ende ging. Dass gerade Pop in der Lage ist, mit solchen Begrifflichkeiten zu spielen, das Schillernde, Ambivalente in markanten Bezeichnungen zu betonen und entsprechenden Kompositionen noch einmal eine andere Tiefe zu verleihen, zeigt Antebellum, ein Song der kalifornischen Künstlerin Vienna Teng: Sie nutzt den Begriff zur Illustration eines Generationenkonflikts – und läuft nicht im Mindesten Gefahr, für diesen Song boykottiert zu werden.

Warum sich die Band, die bei der Namensgebung vor allem den Architekturstil Antebellum im Blick gehabt haben will, hier dem Vorwurf der Sklavereiverherrlichung gebeugt und fast schon schmerzhaft reumütig den Künstlernamen Lady A angenommen hat, statt souverän den widersprüchlichen Assoziationen ihren Lauf zu lassen, ist mir unbegreiflich. Genauso unbegreiflich wie die plumpe Umbenennung der Dixie Chicks in The Chicks. Als unerträglich, das liegt nahe, wurde in manchen Kreisen der Begriff „Dixie“ empfunden. Im engeren Sinne steht er für die Südstaaten zur Zeit der Sklaverei und weckt bei etlichen Amerikanerinnen und Amerikanern unliebsame Assoziationen. Allerdings sind die Zusammenhänge hier noch deutlich komplizierter als im Falle des Begriffs „Antebellum“. Denn „Dixie“ ist eine ausgerechnet in den Nordstaaten geprägte Bezeichnung und eng verknüpft mit einem Song namens Dixie, auch bekannt als Dixie’s Land oder I Wish I Was In Dixie. Der Ende der 1850er Jahre von Daniel Decatur Emmett geschriebene Song gibt die Sicht eines Schwarzen wieder, der sich nach der Rückkehr zu einem Ort namens Dixie sehnt, und dabei werden sämtliche Klischees über Afroamerikaner bedient. Wofür genau nun der Begriff „Dixie“ steht, wurde nie verlässlich geklärt. Wahlweise ist es das Gelände eines den Schwarzen zugetanen Farmers namens John Dixie in Long Island/New York, die Farm eines nicht ganz so freundlichen Mannes auf Manhattan Island oder die „Mason-Dixon-Line“, die einstige Grenze zwischen Nord- und Südstaaten. Was die Sache noch komplizierter macht: Der Song wurde in den Nord- wie in den Südstaaten gesungen, auch als eine Art Kriegslied, dann jeweils mit entsprechend geändertem Text, es war sogar einer der Lieblingssongs von Abraham Lincoln, der die Südstaaten bezwang und die Sklaverei abschaffte.

Wahr ist aber auch, dass der Song in den Kontext der „Minstrel Shows“ gehört. Diese Musiktheater-Events des 19. Jahrhunderts arbeiteten mit dem heute inkriminierten Mittel des „Blackfacing“: Schwarz angemalte weiße Künstler vermittelten ahnungslosen Nordstaatlern ein naives, klischeebehaftetes Bild von schwarzen Menschen. Und das ist, ganz klar, mit Vorsicht zu „genießen“ und, ja, auch rassistisch, vor allem aus heutiger Perspektive. Obwohl Nordstaatler des 19. Jahrhunderts größtenteils gegen die Barbarei der Sklaverei in den Südstaaten waren, darf man ihr Engagement nicht mit dem heutiger „Black Lives Matter“-Aktivisten verwechseln. Die Nordstaaten „attackierten den Süden für die Ungerechtigkeit der Sklaverei und erschufen gleichzeitig eine idealisierte und romantisierte Welt der Schwarzen auf den Plantagen“, differenziert der Musikexperte Jochen Scheytt. „Sie entwickelten den Typ des wandernden ‚darkies’; ein ehemaliger schwarzer Sklave, der sich in der freien Welt nicht zurechtfindet und sich nach dem idyllischen und sorgenfreien Leben auf der Plantage zurücksehnt.“ In anderen Worten: „Das weiße Publikum, das mit und über den Minstrel Clown lachte, brachte so seine gemischten Gefühle gegenüber der Sklavenfrage zum Ausdruck.“ Und noch eine Funktion schreibt Scheytt den Minstrels zu: Sie benutzten das Blackfacing „auch in der Tradition des klassischen Narren. In der italienischen commedia dell’arte diente die Maske dazu, den dahinter Verborgenen von allen Konventionen und Regeln zu befreien. Er konnte so seine Späße ungehindert treiben und musste keine Konsequenzen fürchten. Durch diese Maske konnten die Minstrels auch ernsthafte Kritik äußern, ohne richtig ernst genommen werden zu müssen.“

Also lässt sich der Begriff „Dixie“ gar nicht per se auf eine barbarische Südstaatentradition festnageln. Er spiegelt eine Zeit, in der die USA ähnlich gespalten waren wie heute, aber vor einem ganz anderen politischen und kulturellen Hintergrund agierten. Man muss die damalige Zeitstimmung nicht gutheißen, aber man kann zumindest versuchen, sie zu beschreiben und zu verstehen. Bob Dylan, ganz gewiss nicht nationalistischer oder menschenfeindlicher Haltungen verdächtig, hat den Song Dixie gecovert, 2003 in der durchgeknallten Musikfilmgroteske Masked and Anonymous – Ironie nicht ausgeschlossen. Vielleicht auch als Anspielung auf The Band? Deren Mitglieder, zeitweise Dylans Begleittruppe, hatten es sogar geschafft, im Song The Night They Drove Old Dixie Down den Schmerz eines Südstaatlers über den verlorenen Krieg und über den Tod des Bruders durch die Hand eines Yankee, eines Nordstaatlers, ernsthaft nachzuempfinden, ohne als rassistische Rednecks beschimpft zu werden. Und die legendäre Country-Jazz-Rock-Band Little Feat aus Kalifornien, einem westamerikanischen Bundesstaat, der im Bürgerkrieg politisch auf der Seite der Nordstaaten stand, nannte einen ihrer bekanntesten Songs Dixie Chicken: Es ist die augenzwinkernde Ode an eine moderne männermordende Kneipen-Southern-Belle, die musikalisch in versöhnlicher Manier Nord- und Südstaatentradition vermischt.

Dixieland-Jazz? Du meine Güte …

Nach eben diesem Song und Albumtitel haben sich die Dixie Chicks benannt – und in der Folge alles andere als politisch konservative Haltungen vertreten. Im Gegenteil: Als einstige Lieblinge der Country-Community, gefeiert für das Verschmelzen von Country und Mainstream-Pop, mussten sie 2003 diverse Shitstorms und einen veritablen Karriereknick verkraften, nachdem sie bei einem Konzert in London US-Präsident George W. Bush und die Irak-Invasion kritisiert hatten. Zunächst entschuldigten sie sich, was wiederum Bush-kritische Fans der Band erzürnte, dann aber standen sie weiter zu ihrer Haltung und kämpften sich auf die Erfolgsspur zurück, nicht ohne regelmäßig dezidiert ihre Meinung zu kontroversen Themen zu äußern. 

Von daher erstaunt es sehr, dass sich die konflikterprobte Band nun wieder dem Druck politischer Hardliner gebeugt und das Attribut „Dixie“ aus ihrem Namen gestrichen hat. Schließlich ist der Begriff, wie gezeigt, noch facettenreicher als die Bezeichnung „Antebellum“, er weckt widersprüchlichste Assoziationen und steht heute nicht zuletzt auch für die Staaten im Süden der USA an sich. Deren Existenz ist wohl kaum zu leugnen, man kann sie schlecht von der Landkarte kratzen. Und wohl niemand käme jetzt auf die Idee, eine Musikrichtung wie den Dixieland-Jazz auf ewig zu verdammen. Oder doch? Da drängt sich plötzlich ein schlimmer Verdacht auf: Ist die Namensänderung der Band am Ende vielleicht nur einem radikalen stilistischen Wandel geschuldet? Tatsächlich feiert das unter dem Namen The Chicks erschienene brandaktuelle Album Gaslighter kaum noch Country-Elemente, sondern zielt eindeutig auf die Mainstream-Charts. Und doch enthält es wieder durchaus kämpferische Titel: den Song March, March etwa, eine Hymne auf den außerparlamentarischen politischen Aktivismus unserer Zeit, von den „Black Lives Matter“-Protesten bis zur „Fridays for Future“-Bewegung. Der Namenswechsel nur ein PR-Schachzug? Nein, das wäre unter der Würde der gestandenen Musikerinnen.

Ironie des Schicksals: Als frisch gebackenes Trio Lady A gerieten Lady Antebellum prompt in einen peinlichen Rechtsstreit – und zwar ausgerechnet mit einer schwarzen Blues-Sängerin gleichen Namens. Ganz abgesehen davon, dass jeder Fan und Popexperte weiß, wofür das A einmal stand. Grotesk: Auch die Dixie Chicks mussten sich erst mit den Mitgliedern einer neuseeländischen Sixties-Band namens The Chicks einigen, bevor sie den neuen Namen annehmen konnten. Und firmieren nun unter einem Begriff, den viele Frauen weltweit als abwertend empfinden: Denn „chicks“ bezeichnet spielerisch nicht nur junge Frauen an sich, sondern oftmals auch naive „Häschen“, die ins Beuteschema männlicher Aufreißer passen. Ob das nun wirklich ein Schritt nach vorn war? Zweifel sind angebracht.

Süße Heimat, böse Flagge

Wer tiefer in das Thema eintaucht, stößt dann auch auf das Phänomen des Southern Rock – auf vergangene Kontroversen um Bands wie Lynyrd Skynyrd und den Gebrauch der umstrittenen Südstaaten-Flagge im Rockkontext. Immer wieder standen und stehen die Südstaaten als Heimat des Rassismus in der Kritik, auch in Pop- und Rocksongs: prominent in Southern Man von Neil Young (1971), einer Absage an „den Südstaatler“, der für seine Verbrechen büßen muss. Sweet Home Alabama, der Lynyrd-Skynyrd-Klassiker aus dem Jahr 1973, gilt auch als Antwort auf Southern Man – er schwankt etwas ambivalent zwischen der Verurteilung rassistischer Haltungen und stolzer Heimatliebe. Southern Rock ist ein musikalisch aufregender, aber inhaltlich teils irritierender Mix aus konservativen Haltungen und rüdem Rock-’n’-Roll-Lifestyle, sicher auch gespeist vom Trotz gegen ständige Anfeindungen durch „Nordstaaten“-Bands, durch vermeintlich progressive Hippies und politisch korrekte Fans. Dazu gehört das provokante Zeigen der umstrittenen Südstaaten- oder Konföderierten-Flagge aus Bürgerkriegszeiten, eines weiß umrahmten blauen Schragenkreuzes auf rotem Grund, bedeckt mit dreizehn weißen Sternen. Molly Hatchet schmückten sich mit der „bösen“ Flagge – ebenso wie Lynyrd Skynyrd und der Republikaner-Freund und Waffennarr Kid Rock, dessen Hit All Summer Long (2007) nichts anderes ist als eine Ode an Sweet Home Alabama. Tom Petty setzte1985 die Konföderierten-Flagge auf seiner Southern Accents-Tour ein, entschuldigte sich aber dafür und bezeichnete die Sache glaubwürdig als Fehltritt. Die schwarzen Rapper Ludicrous und Lil John wiederum machten mit der Südstaaten-Flagge kurzen Prozess: Sie brandmarkten sie als Zeichen der Unterdrückung, Lil John setzte sie folgerichtig spektakulär in Flammen.

Und damit zu Kanye West: Von ihm ist überliefert, dass er einst die Südstaaten-Flagge einfach so mal für sich vereinnahmte – und sie damit symbolisch entwertete. „I took the Confederate flag and made it my flag“, soll er einem Radiosender in L.A. erzählt haben, „It’s my flag now. Now what you gonna do?“ Es wäre eine der geistreicheren Aktionen dieses ansonsten ziemlich tumben, nervigen Zeitgenossen. Zur Erinnerung: Kanye West ist ein schwarzer Rapper, der sich im Musikbusiness ähnlich polternd aufführt wie Donald Trump und gemeinsam mit seiner Frau Kim Kardashian so etwas wie „Die Geissens“ des amerikanischen Hip-Hop gibt. Seine wenigen, aber durchaus vorhandenen genialen Momente, etwa das bizarr vielschichtige Schläfer-Video zum Song Famous, macht er sich regelmäßig durch bekloppte Statements und Aktionen selbst wieder kaputt. Indiskutable PR-Stunts wie ein surreal anmutender Besuch im Weißen Haus, rüpelhafte Ausfälle gegen Kolleginnen wie Taylor Swift und groteske Kritik an der Black Community („400 Jahre Sklaverei? Das klingt für mich nach selbst gewählt“) wurden und werden gern mit einer bipolaren Störung des Künstlers entschuldigt. Nichtsdestotrotz fühlt sich West fit und geeignet für das Amt des US-Präsidenten – die Idee zur Kandidatur soll ihm unter der Dusche gekommen sein. Auweia. Es könnte ein wunderbar cleverer Pop-Gag sein, doch leider steht Schlimmes zu befürchten.

Impf- und Abtreibungsgegner – als wär’s die Mehrheitsmeinung

Als einstiger Trump-Fan hat sich „Ye“ längst von seinem Idol losgesagt und will den Katastrophen-Präsidenten offenbar schon bei der kommenden Wahl im November ablösen – obwohl längst wichtige Fristen für den Eintritt ins Rennen um das Amt verstrichen sind. Im Klartext: West will NICHT nur sein nächstes Album promoten, wie genervte Kollegen vermuteten, nein, er meint es wirklich ernst. Vorübergehende Meldungen, er habe die Kandidatur zurückgezogen, bestätigten sich nicht. Damit, und das ist ein weiterer Bogen zu den vorangegangenen Betrachtungen, agiert dieser kleine Gernegroß ähnlich anmaßend wie die fanatischen Denkmalstürmer: getrieben von lächerlicher Selbstüberschätzung und Egomanie, von schlechtem Stil und Respektlosigkeit gegenüber dem politischen Amt. Ganz zu schweigen von seinen merkwürdigen Ansichten: Als wäre es die Mehrheitsmeinung, beschreibt West sich fröhlich als Abtreibungs- und Impfgegner und bringt als mögliche Vizepräsidentin die völlig unbekannte „biblische Lebensberaterin“ Michelle Tidball ins Spiel. Die hat für Menschen mit psychischen Problemen einen supertollen Therapieansatz parat: „Jeden Tag aufstehen, das Bett und den Abwasch machen, dann geht’s euch besser.“ Das ist, ganz sicher, das Holz, aus dem zukunftsweisende politische Programme geschnitzt sind! Wer mit Blick auf Trump dachte: Schlimmer geht’s nimmer, wird von Kanye West eines Besseren belehrt.

Und so müssen wir konstatieren: Pop in den USA befindet sich in einem bemitleidenswerten Zustand. Stars sind entweder verunsichert oder dumpfbackige Selbstdarsteller, und die Fans versteigen sich in Extreme: auf der einen Seite politisch überkorrekte Fanatiker, auf der anderen gelangweilte Wohlstands-Kids, die in unkorrekten Gangsta-Rappern ihre neuen Helden sehen. Was zählt, sind populistisches Auf-die-Kacke-Hauen und die Machtkeule der übersteigerten „political correctness“ – was fehlt, sind Stil, Eleganz und progressive Durchschlagskraft, ein popspezifischer „moralischer Kompass“ mit entsprechend gefestigter Haltung. Bob Dylan oder Neil Young mögen immer mal neue Alben herausbringen, doch ihre einstige Strahlkraft ist dahin. Und zwei, die es momentan rausreißen könnten, setzen eher eskapistische bis Alibi-Akzente: Taylor Swift, beinahe unantastbarer weißer Superstar mit bisher klaren Meinungen, veröffentlicht im Moment lieber Folklore, ihr ganz persönliches Corona-Album; und Beyoncé, beinahe unantastbarer schwarzer Superstar mit vielfach von den Medien bescheinigter „Black Empowerment“-Botschaft, hat gerade bei Disney das 90-minütige visuelle Album „Black Is King“ veröffentlicht: eine mythisch aufgeladene, glamourös-opulente Ode an „die Bandbreite und Schönheit der schwarzen Abstammung“, die als pathetischer Fantasy-Trip weder mit dem Alltag im 20. Jahrhundert noch mit „Black Lives Matter“ zu tun hat. Black is beautiful? Dem muss man zustimmen. Aber gab’s das nicht schon mal in den Sixties? Selbst aus der schwarzen Szene heraus wird Beyoncés Werk als „kommerzialisierte Afro-Folklore“, als Instrumentalisierung für ihren „Black Capitalism“ kritisiert. Auch das ist bezeichnend.

Und jetzt auch noch Madonna

Wenn sich dann noch Madonna zu Wort meldet, kann man fast schon sagen: Gute Nacht! Die ehemals Unantastbare hatte schon zu Beginn der Corona-Krise einen Proteststurm ausgelöst, als sie in einem Video aus ihrer Luxusbadewanne heraus halluzinierte, dass das Virus alle Menschen gleich mache – jetzt preist sie wie Donald Trump das umstrittene Malaria-Mittel Hydroxychloroquin als Wundermittel gegen Corona und behauptet, ein bewährter Impfstoff sei längst verfügbar, werde aber unter Verschluss gehalten, damit die Reichen reicher und die Armen ärmer und kranker werden. Dazu beruft sie sich auf die texanische Ärztin Stella Immanuel, die laut Medienberichten Sex mit bösen Geistern für gynäkologische Probleme verantwortlich macht „und glaubt, dass die US-Regierung von ‚Reptilien’ geführt wird. Des Weiteren ist sie davon überzeugt, die Ehe zwischen Homosexuellen führe dazu, dass Erwachsene Kinder heiraten.“

Es ist traurig, dass die vielen aufregenden Songs und Künstler, die es nach wie vor gibt, kaum gehört werden – und stattdessen die Populisten, Egoisten, Esoteriker die Schlagzeilen dominieren. Pop in den USA ist ein selbstvergessenes Mäandern, hat offenbar sein Timing verloren. Setzt merkwürdige Akzente. Benutzt und wird benutzt – und macht deshalb im Moment nur selten Spaß.