Ich bin nicht Stiller…

Wenn man so will…

Immer wenn ich Ein Kompliment von Sportfreunde Stiller höre, „stolpere“ ich an derselben Stelle im Refrain: „Ich wollte dir nur mal eben sagen, dass du das Größte für mich bist / Und sichergehen, OB du denn dasselbe für mich fühlst…“ Ich stolpere, weil ich von Berufs wegen Korrektor/Lektor und deshalb ziemlich sicher bin, dass es „sichergehen, DASS“, nicht „sichergehen, OB“ heißen muss. Wieso? Ganz einfach: Man überprüft, OB etwas so und so ist – aber man geht oder stellt sicher, DASS etwas so und so ist. Da Ein Kompliment ansonsten ein wirklich wunderschönes Liebeslied ist, stelle ich mir immer wieder die Frage: Haben die „Sportis“, wie sie liebevoll schon auf HR3 und anderen Servicewellen genannt werden, hier einfach nur einen kleinen grammatikalischen Hänger?

Oder haben sie diese sprachlich Irritation sogar ganz bewusst auf das Gesamtbild hin eingebaut? Denn in Phrasen wie „Wenn man so will, bist du das Ziel einer langen Reise…“, „die Perfektion der besten Art und Weise“, „die Schaumkrone der Woge der Begeisterung“ oder „nur mal eben sagen“  offenbart sich ein reichlich unsicheres Song-Ich, das dem angesprochenen Du „irgendwie“ unbeholfen bis ungelenk pathetisch seine Liebe gesteht. In Verbindung mit dem eckig-naiven Gesangsstil ein charmanter Gegenentwurf zu all den zünftig rockenden Macho-Song-Ichs, die voll narzisstischem Selbstbewusstsein ihre Liebe und ihr Begehren in die Welt hinausröhren – da darf es auch mal sprachlich nicht ganz so korrekt formuliert sein…

Ich habe bis heute keine Antwort gefunden und freue mich über weiterhelfende Kommentare.

Überhaupt scheinen die „Sportis“ ein Faible für solche Zwiespältigkeiten zu haben. Auch ihr zweiter Dauerbrenner in den deutschen Serviceradios, Applaus, Applaus, hält für meine Begriffe einige Irritationen parat. In Applaus, Applaus, einem auf den ersten Blick ebenfalls lupenreinen Liebeslied, lobt das Song-Ich die Partnerin oder den Partner dafür, dass sie/er den Sprecher optimal „händelt“: „Ist meine Hand eine Faust, machst du sie wieder auf und legst die deine in meine / Du flüsterst Sätze mit Bedacht durch all den Lärm, als ob sie mein Sextant und Kompass wären.“ Das sind starke Bilder, auf die man als sprachbegeisterter Mensch neidisch werden kann – und die in der zweiten Strophe an Intensität noch getoppt werden: „Ist meine Erde eine Scheibe, machst du sie wieder rund, zeigst mir auf leise Art und Weise, was Weitsicht heißt / Will ich mal wieder mit dem Kopf durch die Wand, legst du mir Helm und Hammer in die Hand.“

Alle Achtung! Und doch horcht bei „Erde“, „Scheibe“ und „rund“ der blöde Lektor in mir wieder auf: Klar, ich verstehe, was gemeint ist: Es geht um Engstirnigkeit und den Blick fürs Ganze, versinnbildlicht durch den Konflikt zwischen der archaischen Haltung, die Erde sei flach, und der neuzeitlichen Erkenntnis, dass sie Erde eine Kugel ist. Aber: „Ist meine Erde eine Scheibe, machst du sie wieder rund“ scheint mir einmal mehr unsauber formuliert, denn auch eine Scheibe kann rund sein! Die „Sportis“ formulieren also nicht wirklich den Gegensatz zwischen einer flachen Erde und einer Welt in Kugelform, sondern erzwingen die Aussage mit Blick auf den Zeilenrhythmus eher ungelenk.

Eine weitere Irritation, und zwar hinsichtlich des Jargons, erfolgt für mich schließlich in den Refrainversen: „Applaus, Applaus, für deine Art, mich zu begeistern / Hör niemals damit auf! / Ich wünsch mir so sehr, du hörst niemals damit auf / Applaus, Applaus für deine Worte / Mein Herz geht auf, wenn du lachst / Applaus, Applaus für deine Art, mich zu begeistern / Hör niemals damit auf! / Ich wünsch mir so sehr, du hörst niemals damit auf.“

Mal ehrlich: Welcher und welche Liebende würde seinem/ihrem Partner Applaus spenden für seine/ihre Art, mit der geliebten Person umzugehen? Na? Wohl niemand. Applaus spendet man für eine Darbietung von Fremden – als Anerkennung einer Leistung, im Zirkus, im Fußballstadion, auf der politischen Bühne. Aber doch nicht in einer Liebesbeziehung! Was mich irritiert: Bei den „Sportis“ klingt es, als ob sich ein minderbemittelter Typ, der egoistisch seine Bedürfnisse und Triebe auslebt, seine sämtlichen Schwächen und Unzulänglichkeiten pflegt, zufrieden im Sessel zurücklehnt und genüsslich die Bemühungen seiner Lebensgefährtin bewertet. In meinen Ohren ein ziemlicher Schwachkopf.

Insofern stellt sich mir auch hier die Frage, ob es die „Stillers“ ganz einfach nicht so draufhaben mit den sprachlich wirklich runden Texten – denn das musikalische Arrangement von Applaus, Applaus ist an ernsthafter Romantik und Hymnenhaftigkeit eigentlich kaum zu überbieten; oder ob sie ganz bewusst einen unsicheren, selbstverliebten Beziehungskasper sprechen lassen, um ihn – in Form eines Rollen-Ichs – auf gewisse Weise bloßzustellen. Das hätte ja was.. Oder ob ich mir – wie meine Lebensgefährtin meint, die beide Songs mit gutem Recht einfach nur schön und gefühlvoll findet – schlichtweg zu viele unsinnige Gedanken mache…

Auch hier gilt: Ich habe bis heute keine Antwort gefunden und freue mich über weiterhelfende Kommentare.

Fest steht: Sowohl in Ein Kompliment als auch in Applaus, Applaus operieren die Sportfreunde Stiller mit Codes und Zeichensystemen, die letztlich nicht wirklich eindeutig sind. Was die „Sportis“ als Urheber sich bei diesem und jenem Song gedacht haben, haben sie nicht mittransportiert – sie haben Leerstellen gelassen; und was beim Publikum ankommt, das ist von der jeweiligen Gefühlslage, dem musikalischen Vorwissen und der Sozialisation einer jeden Hörerin, eines jeden Hörers abhängig.

Mit der Art und Weise, wie sprachliche und musikalische Codes funktionieren, wie wir einen Song im Wesentlichen wahrnehmen, beschäftigt sich auch der aktuelle Essay meiner Reihe „What have they done to my song?“ auf Faust-Kultur, nachzulesen unter: http://faustkultur.de/1327-0-Behrendt-What-have-they-done-to-my-Song-VII.html#.Uh_U1LzBI7A

Rihanna: Liebe, maskiert

Wer spricht im Song? Glaubt man einigen Kritikern, dann spricht auf Rihannas überraschend interessantem neuem Album Unapologetical niemand anders als die Künstlerin selbst – etwa über die schmerzhafte Beziehung zu ihrem Ex Chris Brown. Brown ist der Schwachkopf, der seine damalige Freundin 2009 krankenhausreif prügelte. Seit Monaten sieht man die beiden wieder öfter zusammen, Brown singt auf Unapologetical sogar ein Duett mit Rihanna. Da muss doch „alles autobiografisch“ sein!

„Der Longplayer hat es in sich“, schreibt etwa Sabine Metzger für das Portal msn unterhaltung, „Die 24-Jährige verarbeitet hier ihre verkorkste, gewaltbelastete Beziehung mit dem Sängerkollegen Chris Brown ganz offen (…) In ‚No Love Allowed’ erzählt sie zu relaxtem Reggae-Beat und harmlos-verspielter Melodie ziemlich unverblümt von den Misshandlungen, die sie erlebt hat: ‚I was flying til you knocked me to the floor’ (‚Ich flog, bis du mich zu Boden geschlagen hast’).“

Andreas Borcholte schlägt für SPIEGEL Online in dieselbe Kerbe: „Für alle, die den Kopf schütteln über die Frau, die zu ihrem Schläger zurückkehrt, hat Rihanna mit ‚Nobody’s Business’ eine fröhliche Uptempo-Nummer parat, die sie – bam! – mit Chris Brown im Duett singt: ‚You’ll always be my boy, sing it to the world’. Vergeben und vergessen ist jedoch nicht alles, daher rührt wohl der nüchterne Tonfall, der viele ihrer neuen Lieder durchzieht: ‚Your love hit me to the core/ I was fine til you knocked me to the floor’, singt Rihanna in ‚No Love Allowed’, ‚I pray that love don’t hit twice’ heißt es in ‚Love Without Tragedy’.“

Ich meine: Nix „bam!„, nix „hat es in sich“, sondern – zoingggg! – alles Quatsch! Browns Prügelattacke ist doch bald vier Jahre her, und es wurde  – gähn! – schon früheren Rihanna-Songs ein Aufarbeitungsimpuls nachgesagt. Tatsächlich kokettiert die Sängerin hier nur, und zwar mittels handelsüblicher R&B-Lyrics-Klischess. Das Song-Ich ist nicht Rihanna, sondern ein „Gebrauchs-Ich“ – und der Rest ist Standardmetaphorik.

http://www.vevo.com/watch/keri-hilson/knock-you-down/USUV70900883

„Du haust mich um“, das ist selbst im Deutschen eine gängige Formel fürs Verliebtsein, ebenso wie „Das hat mich völlig umgehauen“ eine echte „Niedergeschlagenheit“ bedeuten kann, zum Beispiel wegen einer Trennung. Im modernen R&B-Song wird das teilweise noch drastischer ausgedrückt – da werden aus Amors Pfeilen schon mal Pistolenkugeln. Die von Borcholte auf SPIEGEL Online zitierte Textzeile lautet vollständig: „Like a bullet your love hit me to the core / I was flying ‚til you knocked me to the floor.“ In Knock You Down, einem Song von Keri Hilson und den Rappern Kanye West und Ne-Yo, lässt Ne-Yo seinen Sprecher in ähnlichen Bildern von einer tollen Frau berichten, die ihn mit ihrer Liebe vom Himmel geschossen und seinem bisherigen Leben ein Ende gemacht habe: „Oooh, she shot me out the sky (…) she shot the bullet that ended that life.“ Kanye West, der offenbar den Nebenbuhler verkörpert, packt dessen Eifersucht und Hass in die Worte: „Keep rockin’, and keep knockin’ (…) You see the hate, that they’re servin on a platter“. Und Keri Hilson, als hin und her gerissenes Objekt der Begierde, erinnert sich an die erste Begegnung mit einem der beiden: „And you came in and knocked me on my face“, wohl kaum im Prügelsinn, sondern eher à la: „Du fielst mir sofort ins Auge…“ Später heißt es: „Boy, you came around and you knocked me down“, also  „Du bist aufgetaucht und hast mich umgehau’n.“ Der Refrain schließlich formuliert im Hinblick aufs Verliebtsein, aber auch mit Bezug auf Liebesqualen: „Sometimes love comes around, and it knocks you down…“ – „Manchmal packt dich die Liebe, und du bist total am Boden.“

Solche Verse sind R&B-Standard. Verarbeiten also viele R&B-Stars schlimmste Erfahrungen mit häuslicher Gewalt? Sind das alles Bekannte von Chris Brown? Nö. Viel eher verpacken sie die Aufs und Abs der Liebe, den vielzitierten Kampf der Geschlechter, in die immerselben drastischen Bilder.

Zwei der wenigen Songs, die TATSÄCHLICH häusliche Gewalt thematisieren KÖNNTEN, finden sich ausgerechnet bei den nur scheinbar so lieblichen Cardigans aus Schweden: And Then You Kissed Me aus dem Jahr 2003 und And Then You Kissed Me II von 2005. Auch hier wird die Liebe als unerklärliche romantische Macht, als „powerful force“, beschrieben, die einen umhaut; aber da sind auch Formulierungen wie „halo around my eyes“ („Veilchen um meine Augen“), „black and blue“ (deutsche Entsprechung: „grün und blau“), „You hit me really hard“ („Du hast wirklich fest zugeschlagen“) in Teil 1 und „It’s a mystery how people behave! / How we long for a life as a slave“ („Es ist unerklärlich, warum sich Menschen so verhalten! / Warum wir uns nach einem Leben in Sklaverei sehnen“) oder „It’s always you, the hardest hitter that I ever knew“ („Es geht für mich immer um Dich, den härtesten Schläger, den ich bisher gekannt habe“) in Teil 2. Solche Worte lassen schon eher darauf schließen, dass Schlimmeres als bei Keri Hilson und Rihanna zur Sprache kommt: eine verhängnisvolle Paardynamik, eine Frau, die von ihrem schlagenden Mann nicht loskommt. Cardigans-Sängerin Nina Persson hat laut Songfacts.com die „Häusliche Gewalt“-Ebene in den Songs bestätigt und gleichzeitig eingeräumt, dass sie selbst von so etwas glücklicherweise noch nie betroffen gewesen sei.

Bleibt das Duett Nobody’s Business, das Rihanna auf Unapologetical gemeinsam mit Chris Brown singt. Klar, man demonstriert, dass man wieder aufeinander zugekommen ist, sogar gemeinsam Musik macht. Aber präsentiert Rihanna auf demselben Album nicht auch Duette mit Eminem, David Guetta oder Mikky Ekko? Solche Duette gehören ebenfalls zum R&B-Business. In Nobody’s Business schmachtet sich ein Liebespaar mit denselben Worten gegenseitig an. Es geht im hiphoptypischen Prahl- und Statussymboleerwähn-Stil um gemeinsame Autofahrten in Nobelkarossen („Let’s make out in this Lexus“), um nicht weniger als die perfekte Liebe und darum, dass man sich gegenseitig den Weg weist („Your love is perfection, please point me in the right direction“). Im übrigen gehe diese Liebe niemanden etwas an, so der Refrain, sie sei eben „nobody’s business“. Sollen die anderen doch reden – denkt sich das nicht jedes Liebespaar? Intensive Nabelschau? Keine Anzeichen. Daran würde auch eine wirkliche neu entflammte Beziehung der beiden Interpreten nichts ändern.

Wer hier unbedingt nach versteckten Hinweisen suchen will, den könnte noch folgende unauffällige Songzeile aus Nobody’s Business interessieren: „A life with you I want, I wonder can we become love’s persona“ – „Ich will ein Leben mit Dir, und ich frage mich, ob wir beide vielleicht die Rolle/Maske der Liebe sein können.“ Ist das ein verunglücktes Sinnbild für: „Wir stehen für die Liebe“? Oder tut hier vielleicht die Liebe nur so, als sei sie das Paar aus dem Song, als sei sie gar Rihanna & Chris Brown? Wenn die Liebe aber nur eine Make trägt, dann nimmt sie das Publikum gewaltig auf den Arm…

Xavas-Kontroverse: Sind die Vorwürfe berechtigt?

Gern würde ich nur über schöne, aufregende, clevere oder anders positiv stimmende Songs schreiben. Aber das Leben ist bekanntlich kein Ponyhof, und so sind Songs auch kein Abenteuerspielplatz. Im Gegenteil: Manchmal bringen sie höchst Unappetitliches zur Sprache, und wenn sie nicht aufpassen, geraten sie dabei ins Kreuzfeuer. Aktuelles Beispiel: Wo sind?, ein Song des Duos Xavier Naidoo und Kool Savas, das unter dem Projektnamen Xavas firmiert und gerade mit der CD Gespaltene Persönlichkeit Chartserfolge feiert. Wo sind? ist ein sogenannter „hidden track“, ein „verstecktes Lied“, das nicht in der Titelliste geführt wird. Auf Vinylschallplatten erklangen „hidden tracks“ manchmal überraschend nach dem letzten offiziellen Song, wenn man schon die Auslaufrille erwartete. Im digitalen Zeitalter ist der „hidden track“ Teil eines anderen Songs: So macht Wo sind? gewissermaßen die Hälfte des Tracks Lied vom Leben aus, dessen Länge mit 7:14 Minuten angegeben wird.

Worum geht’s?

Die Vorwürfe gegen Wo sind? wiegen schwer: Die Jugendorganisation Linksjugend Solid stellte Strafanzeige wegen des Verdachts des Aufrufs zur schweren Körperverletzung und zu Totschlag sowie wegen Volksverhetzung. Die Landesarbeitsgemeinschaft queer.NRW, die gegen Diskriminierung von Schwulen und Lesben kämpft, soll an der Anzeige beteiligt sein.

Gleich vorweg: Ich halte das für völlig überzogen und nicht gerechtfertigt.

Der Song

Um mitreden zu können, habe ich den Verdacht einer cleveren Xavas PR-Aktion ausgeblendet und mir den Song bzw. beide Songs runtergeladen. Und ja, es geht sehr drastisch zur Sache.  Schwerer, dramatischer Beat, unheilvolle Streicher, großes Klagen und Wettern:

Naidoo raunt: „Ich schneid euch jetzt mal die Arme und die Beine ab / Und dann fick ich euch in‘ Arsch so wie ihr’s mit den Kleinen macht / Ich bin nur traurig und nicht wütend trotzdem will ich euch töten / Ihr tötet Kinder und Föten und dir zerquetsch ich die Klöten.“ Oha… Und weiter: „(Gesangsstimme) Ihr habt einfach keine Größe / (Sprechstimme) Und eure kleinen Schwänze nicht im Griff / (Gesangsstimme) Warum liebst du keine Möse? / (Sprechstimme) Weil jeder Mensch doch aus einer ist. (Gesangsstimme) Wo sind unsere Helfer, unsere starken Männer? Wo sind unsere Führer, wo sind sie jetzt? Wo sind unsere Kämpfer, unsere Lebensretter? Unsere Fährtenspührer? Wo sind sie jetzt?“

Dann rappt Kool Savas: „Die Stadt strahlt kaum, sie treffen sich im Keller und rasten aus, zelebrieren den Satan, schrein: ‚Lasst ihn raus! Wir liefern dir ein Opfer gerade nackt im Rausch’. Niemand will drüber reden, wenn die Treibjagd beginnt, zieh’n sie los, um zu wildern, denn ihr Durst ist unstillbar und schreit nach dem Kind. Okkulte Rituale besiegeln den Pakt der Macht. Mit unfassbarer Perversion werden Kinder und Babys abgeschlachtet. Teil einer Loge, …“ etc. pp.

Inspiration für den Song, so Savas und Naidoo, seien Berichte im Fernsehen und aus Fankreisen über tatsächliche Ritualmorde an Kindern. Aber auch sexuellen Missbrauch sprechen sie als Thema an. Die Aufgabenverteilung im Song: Naidoos Sprecher äußert unter anderem die Rachegelüste, der Erzähler des Savas-Parts liefert die Hintergrundinfo.

Genauer hingehört

Ich finde den Song weder schön noch herausragend, aber ich verstehe auch die Aufregung nicht. Hier sieben Argumente:

Erstens: In der Literaturwissenschaft hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass das Ich eines poetischen Textes nicht mit dem Ich des Autors gleichzusetzen ist, auch wenn eine Nähe bestehen mag. Das heißt nicht, dass Autoren ihre Sprecher im Gedicht oder Song jeden Unsinn äußern lassen. Um die Aussagen dieser Sprecher letztlich ins rechte Licht zu rücken, bedienen sie sich etwa der Mittel der Satire und der Ironie. Ironie ist im Xavas-Song zwar nicht gegeben, aber es kommt etwas anderes hinzu, nämlich

Zweitens: die Künstler mit ihrem öffentlichen Image und im Lichte ihrer bisherigen Arbeit. Gerade Xavier Naidoo, einem längst im Establishment angekommenen Künstler mit offensichtlichem Migrationshintergrund, vorzuwerfen, er sei Teil eines volksverhetzenden, homophoben Projekts, ist absurd. Viele seiner Songs sind religiös gefärbt, werben für ein friedliches Miteinander. Und wenn man will, dann schwingt auch in Wo sind?  etwas Biblisches mit: das Spiel mit der alttestamentarischen Losung „Auge um Auge, Zahn um Zahn“.

Drittens: Die Produktion des Songs zielt nicht auf den üblichen Naidoo’schen Schöngesang, sondern inszeniert die Stimme in einem raunenden Singsang, zudem technisch verfremdet. Das eröffnet Interpretationsspielraum. So markiert das Song-Ich für mich eher eine Stimme aus dem Unbewussten – den unmittelbaren Impuls, den man verspüren kann, wenn man erfährt oder gar unmittelbar erlebt, dass anderen Menschen oder auch Tieren furchtbare Gewalt angetan wird. Diesen Racheimpuls unreflektiert in den Raum zu stellen, ist irritierend und beunruhigend, aber er erfährt eine ästhetische Bearbeitung und Stilisierung. Es ist die künstlerische Zuspitzung eines Gefühls oder Gedankens, eine Art „eingefrorener Moment“.

Viertens: Die von Naidoo vorgebrachten krassen Aussagen werden im selben Atemzug relativiert. Entscheidend ist hier der Wechsel zwischen Sprechstimme und Gesangsstimme. Die raunende Sprechstimme äußert dumpfe Rachegelüste. Die Singstimme dagegen – Naidoos Stimme, wie man sie kennt – erzählt von Liebe und einer gesunden Sexualität.

Fünftens: Nirgendwo findet ein Aufruf zu irgendetwas statt. Einer der Sprecher im Song gibt einen Hintergrundbericht, der andere bringt eine Vergeltungsfantasie zum Ausdruck. Und: Statt aufzustacheln, fragt der Song nach Leuten, die nicht wegschauen, sondern versuchen, das Problem zu lösen: Wo sind die Helfer, wo die Kämpfer, wo die Führer, das heißt, die politisch Verantwortlichen?

Sechstens: Auch homophobe Äußerungen werden an keiner Stelle gemacht. Es geht nicht etwa um Schwule, sondern um Verbrecher, die sich an Kindern vergehen, an Jungen wie an Mädchen. Das drastische Bild des In-den-Arsch-Fickens ist eher metaphorisch gemeint. Dass Xavier Naidoo und Savas diesen Akt tatsächlich vollziehen würden und wollten, ist schwer vorstellbar. Maßgeblich ist die Vorstellung, den Tätern denselben Schmerz zuzufügen, den sie Kindern zugefügt haben. Das kann auch eine andere grausame Strafe sein. Und der Hinweis, die Täter sollten lieber eine „Möse lieben“, beinhaltet alles andere als eine schwulenfeindliche Aussage. Denn es soll doch nicht der Gegensatz „Sex mit Männern = verwerflich“/“Sex mit Frauen = die Norm“ suggeriert werden. Es geht vielmehr um den Gegensatz „Sexuelle Gewalt gegen Kinder“/“Erfüllte sexuelle Beziehung unter Erwachsenen“, also um das krankhafte Verhalten pädophiler Okkultisten. Der zunächst etwas seltsam anmutende Hinweis auf die gebärende Frau macht da durchaus Sinn, markiert er doch den Unterschied zwischen Kindern und erwachsenen Menschen, zwischen „noch nicht entwickelt“ und „geschlechtsreif“.

Siebtens: Im Song bleibt es nicht einfach beim Ruf nach „dem Führer“ – was mit „Führer“ gemeint ist, wird erklärt: „Helfer“, „Lebensretter“, „Fährtenspürer“…

Verpeilte Künstler?

Dass der Song tatsächlich vor Gericht kommt, kann ich mir nicht vorstellen. Dessen ungeachtet ärgere ich mich aber auch ein wenig über die Künstler: Denn Phrasen wie „Wo sind die Führer?“ werden nun mal mit dem Nationalsozialismus assoziiert und wecken simple Reflexe. Wer sie dort einsetzt, wo man auch von der „Polizei“, von „Kriminologen“ von „politisch Verantwortlichen“ oder auch der „Kanzlerin“ sprechen könnte, ist entweder unterbelichtet oder aber will provozieren und genau diese Volksverhetzungsvorwürfe hervorkitzeln. Das hilft dem eigentlichen Anliegen des Songs genauso wenig wie die Vermischung des Themas „Gewalt gegen Kinder und sexueller Missbrauch von Kindern“ mit dem trendigen Okkultthema „Ritualmord“. Gewalt und sexueller Missbrauch ist ein gesellschaftlich relevantes Problem, für das Lösungen gefunden werden müssen. Ritualmord führt eher in den Bereich der Fiktion, zu Dan Brown und irgendwelchen Verschwörungstheoretikern. Und sollte es doch Ritualmorde geheimbündlerischer Psychopathennetzwerke in Europa geben, dann mutet ein „Ich fick dich in den Arsch“-mäßiger Rachesong wie der von Xavas nachgerade lächerlich an.

Wenn Blogs meine Homepage wären… Zwiespältiger Tim Bendzko

„Hello…“ Hier kommt nicht Lionel Richie, sondern mein erster Eintrag auf tedaboutsongs. Gleich zu Beginn der Hinweis auf eine Serie von längeren Beiträgen zum Thema Songs, die zeitgleich auf dem Kulturportal www.faust-kultur.de startet. Was wäre, wenn das Leben eine Quentin-Tarantino-Film wäre?, so lautet meine Ausgangsfrage dort. Antwort: Dann würden sich nicht nur Gangster, sondern auch Fußballnationalspieler angeregt über Songs austauschen. Zum Beispiel über Bettina von Fettes Brot. Und vielleicht würden dann Songs auch seltener in die Fänge ignoranter PR-Berater geraten. Mehr dazu hier.

Ein weiterer schöner Aufhänger für diesen ersten Blogeintrag: die MTV Europe Music Awards, gestern Abend in Frankfurt. Erfreulich, dass mit Tim Bendzko ein Künstler als Best German Act ausgezeichnet wurde, der deutsch singt und nicht englisch. Der Endzwanziger aus Berlin fuchtelt mal mehr, mal weniger kunstvoll, aber immer spektakulär mit Worten herum und verschafft sich mit eigenwilliger Stimme und eingängigen Melodien Gehör.

Wenn Worte meine Sprache wären heißt einer seiner Hits aus dem Jahr 2011. Er schildert nicht unbedingt tief empfundenen Liebesschmerz, sondern spielt vor allem mit dem altbekannten „Words“-Motiv. Denn das Paradox, dass das Song-Ich ebenso wortreich wie eloquent mitteilt, einfach keine Worte zu finden oder finden zu wollen, um seine Liebe auszudrücken, das gab es in der Songgeschichte schon das eine oder andere Mal. Man denke nur an Words von F. R. David oder Enjoy the Silence von Depeche Mode. Wesentlich Neues fügt Bendzko eigentlich nicht hinzu. Immerhin gelingt es ihm, das altbekannte Motiv nicht nur höchst verschwurbelt zu präsentieren, sondern auch mit einigem Pathos aufzuladen. „Wenn Worte meine Sprache wären“ – auf diesen larmoyanten Unsinn muss man erst einmal kommen. Denn erstens führt sich die Phrase „Wenn Worte meine Sprache wären“ selbst ad absurdum, weil sie ohne Worte nicht existieren würde – und zweitens wirkt sie auch nicht wirklich sauber formuliert. Denn Worte an sich können keine Sprache sein, sondern sind immer nur Bestandteile, Strukturelemente einer Sprache.

Okay, das Ganze ist natürlich bildlich gemeint, im Sinne von: „Wenn ich mich so ausdrücken könnte, dass ich in jeder Situation die richtigen Worte finde.“ Aber es wirkt eben auch ein wenig schief und überladen. Trotzdem: Die Phrase kommt gut, sie klingt „poetisch“, irgendwie interessant, und sie weckt Neugier: Man bleibt hängen, will wissen, was dahinter steckt. Der Rest der ersten Strophe erschließt sich dann sehr schnell. Das Song-Ich verfügt nicht über ausdrucksstarke, verführerische Worte und kann die geliebte Person immer nur mit Blicken fixieren – es hat Angst, sie anzusprechen: „Wenn Worte meine Sprache wären, / ich hätt dir schon gesagt / in all den schönen Worten, / wie viel mir an dir lag. / Ich kann dich nur ansehen, / weil ich dich wie eine Königin verehr. / Doch ich kann nicht auf dich zugehen, / weil meine Angst den Weg versperrt.“

Auch wenn die Vergangenheitsform im Vers „wie viel mir an dir lag“ dem Reim geschuldet scheint und damit etwas verunglückt wirkt (man darf doch wohl davon ausgehen, dass die Zuneigung auch in der Gegenwart besteht!), bringt Bendzko sein Motiv ganz nett auf den Punkt. Im Refrain wird das Motiv dann noch einmal „wörtlich“ formuliert: „Mir fehlen die Worte, ich / hab die Worte nicht, / dir zu sagen, was ich fühl’. / Ich bin ohne Worte, ich / finde die Worte nicht, / ich hab keine Worte für dich…“

Auf die zweite Strophe und den zweiten Refrain folgt ein Zwischenteil, in dem Bendzko die Lyrics-Maschine noch einmal kräftig befeuert. „Du bist die Erinnerung an Leichtigkeit, / die ich noch nicht gefunden hab“, singt er gleich zu Beginn und stellt damit ein weiteres Paradox in den Raum. Denn erinnern kann man sich nur an etwas, das man einmal gehabt bzw. gekannt hat – nicht aber an etwas, das man noch nicht gefunden hat. Ob hier ein tiefgründiger Philosoph am Werk ist, der bewusst mit Paradoxien arbeitet, oder lediglich ein junger Songwriter, der gute Ansätze zeigt, aber noch ein wenig üben sollte, muss jede Hörerin, jeder Hörer für sich selbst entscheiden. Die übrigen Verse – „(Du bist) der erste Sonnenstrahl / nach langem Regen, / die, die mich zurückholt, / wenn ich mich verloren hab. / Und wenn alles leise ist, / dann ist deine Stimme da“ – sind Zeilen, die auch aus einem Poesiealbum stammen könnten.

Gegen Ende des Songs überrascht Bendzko dann doch noch mit einem kleinen originellen Dreh: „Ich weiß, es dir zu sagen, wär nicht schwer, / wenn Worte meine Sprache wären. / Dir’n Lied zu schreiben, wäre nicht schwer, / wenn Worte meine Sprache wären.“ Bei F. R. David hatte das Ich ebenfalls keine Worte, konnte stattdessen aber ein Lied schreiben, um seine Liebe zum Ausdruck zu bringen: „Well, I’m just a music man / Melodies are so far my best friend.“ Hier dagegen behauptet das Ich, nicht einmal das zu können. Und das ist mit Blick auf den Songautor Tim Bendzko, der – man nehme Nur noch kurz die Welt retten – noch wesentlich schönere, spannendere Lieder als Wenn Worte meine Sprache wären auf Lager hat, natürlich Koketterie in Vollendung.