Kaum zu glauben: Die kanadische Band SAGA hatte ich in den letzten Jahrzehnten komplett vergessen. Und ich meine wirklich: komplett. Bis sie sich für einen Zwischenstopp in Bad Vilbel ankündigte. Nach mehreren überraschenden Hörsessions und einem feinen Konzert ist alles wieder da. Und das ist gut so.
Kennen Sie Jason Bourne? Das ist der Kino-Actionheld, der schwer verletzt und ohne Erinnerung aus dem Mittelmeer gefischt wird und seine Identität wiederentdecken muss. Unter anderem findet er heraus, dass er Teil eines Geheimprojekts der CIA war. Was das mit „tedaboutsongs“ zu tun hat? Nun, zumindest mit Blick auf die Musik habe ich mich zuletzt tatsächlich ein bisschen wie Jason Bourne gefühlt. Ich hatte es lange vergessen und musste neu entdecken: Ich war mal Fan von SAGA.
Es fing damit an, dass vor einiger Zeit Wind Him Up, SAGAs großer Hit von 1981, wieder verstärkt im Radio gespielt wurde. Hatte ich schon mal gehört, gefiel mir. Meine Frau sagte, sie fände SAGA gut, und als es hieß, die kanadische Band komme mal wieder zu Konzerten nach Deutschland, erkundigten wir uns nach Karten: paarunfünfzig Euro das Stück – bei den aktuellen Preisen ein echtes Schnäppchen. Uns war klar: So jung und so günstig kommen SAGA und wir nicht mehr zusammen. Also entschieden wir uns für einen Besuch des Konzerts in Bad Vilbel.
Ich fand kein einziges SAGA-Album in meinem Plattenregal, keinen einzigen SAGA-Song in meiner iTunes-Mediathek … und abgesehen von Wind Him Up, diesem vermeintlichen One-Hit-Wonder, nicht den Hauch einer Spur in meinem Gedächtnis. Schlimmer noch: Phasenweise verwechselte ich die Band sogar mit einer anderen Band aus Toronto, nämlich Rush. Und die waren bei aller Virtuosität immer etwas anstrengend gewesen. Dem SAGA-Konzert sah ich daher mit einer gewissen Neugier entgegen, der Bereitschaft, mich mal wieder überraschen zu lassen. Bis wir eines launigen Abends auf die schöne Idee kamen, uns via YouTube auf das Konzert in Bad Vilbel einzustimmen. Beim ersten Stück, das wir hörten, klingelte noch nichts. Doch dann fügten sich die Puzzlestücke immer rascher zusammen. Wie bei Jason Bourne kehrte Schritt für Schritt die Erinnerung zurück. Plötzlich konnte ich komplizierte Breaks auf der Tischplatte mitvollziehen, per Luftgitarre und imaginiertem Keyboard schwindelerregende Soli und Doppelsoli „mitspielen“, den einen oder anderen Refrain mitsingen. Es war erstaunlich: Ich kannte ziemlich viel von SAGA. Und ich mochte es.
Es dauerte dann noch ein paar Tage, bis ich in etwa zuordnen konnte, wann und in welchem persönlichen Umfeld ich mit SAGA in Berührung gekommen war. Wer damals all die Alben besessen hatte, weiß ich nicht mehr, aber offenbar hatten wir in besagter Clique das Zeug zusammen rauf und runter gehört, vermutlich habe ich sogar mal Audiocassetten mit Songs oder Alben von SAGA gehabt. Der Grund für meinen kleinen Amnesieschub? Unklar. Vielleicht liegt es am persönlichen Lebensweg, am Weltgeschehen und an dem, was an aufregender Musik bis heute dazugekommen ist. Da blendet man Details von früher irgendwann aus.
Die große Zeit von SAGA waren die späten Siebziger- bis frühen Neunzigerjahre. Es war die Zeit, in der die Popmusik immer neue Genres, Stile und Substile hervorbrachte, von Punk, Wave und Indierock, Gothic-Rock und Metal über Synthipop und Ambient/Electronica bis hin zu Techno, Trance und House, Drum and Bass, Nu Soul und Rap. SAGA atmeten den Geist von großen Siebziger-Rock- und Artrock-Bands wie Blue Öyster Cult, Wishbone Ash, Genesis, Gentle Giant oder Emerson, Lake & Palmer, kamen aber aufgeräumter, graziler und mit modernerem Sound, etwa Moog-Bass und Synthi-Drums, daher. Gleich mehrere Bandmitglieder, inklusive Frontmann Michael Sadler, waren tastenerprobt, bald gaben ihnen angesagte Topproduzenten wie Rupert Hine den letzten Schliff. Und gerade Michael Sadler hatte einen smarten New-Romantic-Posterboy-Appeal, man schaue sich im Netz kursierende Live-Auftritte aus den Achtzigern an. Wer also aufwendig produzierte Power-Acts wie Foreigner, Toto, Duran Duran oder die eleganten Waverocker The Fixx liebte und es hin und wieder etwas vertrackter, sinfonischer brauchte, wurde von SAGA bestens bedient. So sehr ich auf all die gitarrenorientierten und vollelektronischen Strömungen der damaligen Zeit abfuhr, ich hatte und habe immer auch ein Faible für diesen fein produzierten hochästhetischen Kunstbombast, der Staunen macht und gleichzeitig berührt.
Und jetzt habe ich auch noch die Songtexte von SAGA für mich entdeckt. Damals hatten die spektakulär verspielte Musik und das Fantasy-Artwork der Albumcovers einfach von ihnen abgelenkt. Doch neulich, bei entspannter Neubewertung, fiel mir auf, dass sich auch und gerade die größten SAGA-Hits nicht etwa mit Elfen, Schwertern oder Science-Fiction-Motiven auseinandersetzen, sondern mit sehr ernsten Themen wie Sucht und seelischen Krisen. Jener Protagonist etwa, der da wie aufgezogen durch besagten Hit Wind Him Up geistert, ist der Spiel- und Alkoholsucht erlegen: „Once he starts it’s hard to stop …“ Hinter Humble Stance mit seinen trügerischen Schunkel-Folk-Passagen mag man einen Aufruf zur Demut vermuten, tatsächlich aber geht es darum, dass wer sich klein macht im Leben und zu viel Demut, zu viel Angst zeigt, nicht weit kommen wird: „That humble stance and timid glance makes your world turn so slow / You know, you gotta know / There‘s no one going to help you.“ Wo das hymnische On the Loose im ersten Moment an losgelöstes Feiern und grenzenloses Selbstbewusstsein denken lässt, geraten in Wahrheit Menschen aus dem Gleichgewicht. Zitat: „I see the problem start / I watch the tension grow / I see you keeping it to yourself / And then instead of reaching conclusions / I see you reaching for something else.” Und dann der ernüchternde Refrain: „Noone could stop you now / Tonight you’re on the loose.“ Das etwas ruhigere Stück Time’s Up wiederum warnt davor, tagträumend Chancen zu vertun, und Tired Worldbeschwört eine düstere Endzeitstimmung herauf – nur weil die Menschheit unfähig war, die Welt zu retten. Sänger Michael Sadler litt lange Jahre unter Alkoholsucht, die Band erlebte viele Höhen und Tiefen. Wer weiß, wie viel davon in die Lyrics eingeflossen ist. Insofern sind die von hartgesottenen Indie- und Underground-Fans gern belächelten „Schöngeister“ SAGA mehr Rock ’n’ Roll als manche ihrer scheinbar „taffen“ Kollegen.
Zu den frühen Mitgliedern der Band gehören neben Sadler der Keyboarder Jim Gilmour und der Gitarrist Ian Crichton. Letzterer hatte sich vor der aktuellen Tour das Bein gebrochen. Prompt übernahm der 2018 eingestiegene Bassist Dusty Chesterfield, ein wahres Saiten-Wunderkind, die Gitarrenparts, und es wurde ein neuer Mitstreiter für die vier Saiten engagiert, sein Name ist allerdings nirgendwo im Netz zu finden. Sadler selbst hatte erst vor kurzem aufgrund einer Krebserkrankung operiert werden müssen. Ein Wunder also, dass SAGA diese Tour überhaupt durchziehen können – und ein Beispiel für Willen, Disziplin und Durchhaltevermögen, für Profitum und Flexibilität sowieso. Sadler, inzwischen ein hagerer Kahlkopf mit Rauschebart, ist am 5. Juli 70 geworden. In Bad Vilbel scherzte er zwischen den Songs mit dem deutlich jüngeren Dusty Chesterfield übers Altern. „Du musst lächeln und es ertragen“, gab er sinngemäß zu Protokoll. Die richtige Einstellung. Die Band hatte ihre ersten großen Erfolge in den Niederlanden und in Deutschland, nicht zuletzt hier war ihre Erfolgsgeschichte gestartet. Toll, dass Sadler dafür dem Publikum dankte, sogar mit Ausführungen auf Deutsch.
Und so gab es genügend Gründe, die Band bei ihrem Auftritt in Bad Vilbel zu feiern. Auch wenn Sadler nicht mehr jeden Gesangspart so kraftvoll beherrschte wie damals und der Sound hin und wieder etwas unausgeglichen wirkte, entwickelte das Quintett über zwei Stunden hinweg eine enorme Spielfreude. Die Hits und Bandklassiker, auf die man gehofft hatte, wurden gespielt. Jüngere Fans dürften sich über ein mehrminütiges Schlagzeugsolo von Mike Thorne gewundert haben, so etwas war im letzten Jahrtausend mal angesagt und Bestandteil jeder ordentlichen Rockshow. Die älteren Besucher wiederum, natürlich deutlich in der Überzahl, hatten Verständnis für den einen oder anderen ausufernden Instrumentalteil und unauffällige kleine Auszeiten Sadlers: So konnte sich der Frontmann schonen und bekam immer wieder Gelegenheit, Kraft zu schöpfen. Am Ende des regulären Sets wie nach der ersten Zugabe Wind Him Up gab es Standing Ovations, und die musste man den wackeren Kämpfern einfach gönnen. Wohl nicht ohne Grund lautet das Tourmotto „It Never Ends“.
(1) Den ganzen Planeten mit einem Warnhinweis versehen!
Fanatiker, Populisten, Egoisten und Verschwörungstheoretiker bestimmen die Schlagzeilen. Das gilt nicht nur in Politik und Gesellschaft, es zeigt sich auch in der Musik. Kritische Schlaglichter auf das Popland USA, wo verunsicherte Bands hektisch ihren Namen ändern und die Rassismusdebatte bizarre Blüten treibt. Wo ein Rap-Vollpfosten Präsident werden will und die Superstars auch nicht mehr sind, was sie mal waren.
Weimar im August 2019: Eine klopapierträchtige Kunstaktion brandmarkt Goethe als Sexisten. Angeklagt sind das machohafte Frauenbild des „Dichterfürsten“ und sein unappetitliches Gedicht vom „Heidenröslein“. Der kleine Anschlag auf Goethes Gartenhaus wird bundesweit kaum wahrgenommen und ansonsten eher belächelt. Tatsächlich ist er nichts gegen das, was nur wenige Monate später Tausende Kilometer entfernt folgen soll. Nach dem Tod des Schwarzen George Floyd, dem im Zuge einer Polizeikontrolle in Minneapolis ein gewalttätiger Polizist minutenlang das Knie in den Hals gedrückt hatte, werden vor allem in Amerika, Belgien und Großbritannien diverse Persönlichkeiten der Geschichte vom Sockel gestoßen, und das im buchstäblichen Sinne. „Black Lives Matter“-Demonstranten attackieren Statuen von Kolonialherren und von Politikern, die für die Unterdrückung der Schwarzen verantwortlich zeichneten, beschmieren sie, köpfen sie oder versenken sie in Flüssen. Columbus und Churchill, selbst die berühmtesten Namen bleiben nicht verschont. Es sind brachiale symbolische Akte, die sich gegen Staatsgewalt und Unterdrückung richten – die unrühmliche Geschichte vergessen machen wollen.
Das Colosseum abreißen. Die Reformation annullieren …
Die Wut kann man gut verstehen. Doch zwangsläufig fragen sich viele, die sich nicht an solchen Denkmalstürzen beteiligen, wo das aufhören soll – was als Nächstes kommt. „So wird Otto Hahn dereinst wegen der Atomforschung verurteilt, Gottlieb Daimler als Mitschuldiger am Klimawandel vom Sockel gestoßen“, spekulierte Thomas Wischnewski im Kontext des kleinen Goethe-Disputs 2019. Wischnewski ist Autor des Onlineportals magdeburg-kompakt.de und spricht von gefährlichen Auslöschungsversuchen. Er warnt: „Die Zurückverurteilung eines zeitgeschichtlichen Geistes trägt faschistoide Züge. (…) Wer die eigene Geschichte umdeutet und abzustreifen versucht, verliert die Fähigkeit, verantwortlich mit ihr umzugehen.“ Seine damaligen Befürchtungen ließen sich heute mühelos ergänzen: Die Reformation wird annulliert, weil Martin Luther im 16. Jahrhundert antisemitische Schriften verfasst hat. Antike Statuen und Stätten, Triumphbögen, das Colosseum werden abgerissen – als Schandmäler für Imperien und Eroberer, die Kontinente in Schutt und Asche legten, andere Menschen versklavten, abschlachteten und abschlachten ließen. Kunstwerke der „Brücke“ werden aus den Museen verbannt, die Maler stehen ja immer wieder unter Pädophilieverdacht. Und Karl May gibt endlich Anlass zu einer Bücherverbrennung, auch sein Werk ist geprägt von rassistischem, kolonialistischem Denken.
Zwei Binsenweisheiten sagen: Der Mensch ist ein widersprüchliches Wesen, mit guten Seiten, aber auch Abgründen, moralischen Untiefen. Und: Der Mensch ist geprägt von der Zeit, der Kultur und den Normen, in denen er sich bewegt, er kann gar nicht anders. Die Grenzen zwischen „einwandfrei“ und „monströs“ sind jederzeit fließend. Nur das absolut Monströse ist klar definiert und gesellschaftlich geächtet – davor jedoch gibt es unendlich viele Graustufen, mit denen man umgehen muss. Manch einer, der Großes getan hat, hat gleichzeitig Dreck am Stecken, erst recht aus historischer Perspektive. Der Weg, sich auch mit den finsteren Aspekten des Lebens auseinandersetzen, Schlüsse daraus zu ziehen und nach Möglichkeiten des Ausgleichs zu suchen, ist in der Regel der bessere. So war es bei der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission, die Verbrechen aus der Zeit der Apartheid aufarbeitete, und so ist es bei der Auseinandersetzung der Bundesrepublik mit der Nazizeit, der kritischen Reflexion der antisemitischen Passagen im Werk Martin Luthers durch die evangelische Kirche. Wenn im Vorfeld des Reformations-Jubiläums 2017 eine protestantische Pastorin und die Kirchenbeauftragte für das Judentum einer Lutherstatue in Hannover symbolisch die Augen verbinden, wenn selbst Vertreter der jüdischen Gemeinde bei aller notwendigen Kritik Luthers revolutionärem Impuls und seiner gelungenen Übersetzung des Alten Testaments aus dem Hebräischen etwas abgewinnen können, dann ist im Sinne einer gemeinsamen Aufarbeitung der Geschichte schon einiges gewonnen.
Darf man Michael Jackson noch im Radio spielen? Auch diese Frage wurde vor nicht allzu langer Zeit angesichts der anhaltenden posthumen Missbrauchsvorwürfe gegen den Superstar hitzig diskutiert. Die Antwort ist längst gefallen, die alltägliche Praxis hat sie gegeben: Ja, man darf Michael Jackson noch im Radio spielen, und ja, man darf ihn auch hören: weil seine Musik nicht im Mindesten Straftatstände erfüllt, weil sie unzähligen Fans viel gegeben hat und immer noch gibt – und weil man letztlich all die Mitwirkenden an Jacksons Kunst, etwa Musiker und Produzenten, durch einen Boykott der Songs ungerechtfertigterweise mitbestrafen würde. An die Verfehlungen des „King of Pop“ muss gleichzeitig erinnert werden dürfen. Weshalb ich es auch unsinnig fände, Filme mit dem wegen sexueller Übergriffe geächteten Ausnahmeschauspieler Kevin Spacey aus dem Verkehr zu ziehen.
Die Vergangenheit ist so komplex wie die Gegenwart
Wer in einem Abwasch mit den fragwürdigen Aspekten eines Lebenswerks oder einer Epoche gleich das ganze Lebenswerk, die gesamte Epoche aus der kollektiven Erinnerung tilgen will, verleugnet sich selbst und wird vielleicht selbst in hundert Jahren einmal aus der Erinnerung getilgt, wenn Menschen in anderen Kontexten zu neuen Einschätzungen gelangen. Es gibt ja zum Teil schon jetzt unmittelbare Vergeltungsaktionen: So wurden als Reaktion auf die Attacken gegen weiße Kolonialisten-Statuen Gräber ehemaliger Sklaven und Denkmäler schwarzer Autoren geschändet, in Bristol wurde ein schwarzer Musiker durch eine gezielte Auto-Attacke schwer verletzt: Eine sinnlose Spirale der Gewalt kam in Gang, die irgendwann zu Toten führen kann. Ist es das wert? Denkmalentfernungen waren und sind gang und gäbe – meist erfolgen sie bei Regimewechseln, nach Parlamentsbeschlüssen (etwa weil die Objekte als nicht mehr zeitgemäß empfunden werden) oder auf Antrag bestimmter Interessengruppen. Dass eine Initiative von selbsterklärten Aufräumern heute Denkmäler eigenmächtig niederreißt, ist anmaßend. Medienkommentare der letzten Wochen haben Vorschläge formuliert, wie man es besser machen kann: zum Beispiel indem man die umstrittenen Statuen ins Museum stellt, indem man über sie diskutieren und die Öffentlichkeit entscheiden lässt, was mit ihnen geschehen soll, indem man zentrale Gedenkstätten für Kolonialismusopfer einrichtet und/oder indem man neue Denkmäler dagegensetzt. Denkmäler für Demokratiepioniere und Antirassistinnen, mutige Politikerinnen und herausragende Friedensstifter, für konkrete Opfer und die „Black Lives Matter“-Initiative, gern auch für die #metooo-Kampagne oder die „Fridays for Future“-Bewegung, ihre führenden Köpfe. Denn, so die spanische Tageszeitung „El País“: „Die Vergangenheit, die ebenso kompliziert ist wie die Gegenwart und für die es weder endgültige Verurteilung noch Freispruch gibt, steckt auch in diesen Statuen, Denkmälern, Gebäuden.“
Stattdessen beugen sich Popstars wütenden Aktivisten und unverblümten „Hatern“, indem sie flugs ihre vermeintlich rassistischen Künstlernamen ändern. Die Rede ist von Lady Antebellum, einem Trio aus Nashville, das 2009 mit der Countryrock-Ballade Need You Now einen Monsterhit landete und jetzt nur noch Lady A heißt; aber auch von den Dixie Chicks, drei grundsätzlich wackeren Texanerinnen, die auf Druck der „Black Lives Matter“-Bewegung zu The Chicks mutierten. Eigentlich kaum zu glauben. Denn die terminologischen Steine des Anstoßes sind bei genauer Betrachtung genauso komplex wie die Geschichte des Kolonialismus – und für viele Bedeutungen offen. Klar, „Antebellum“, lateinisch: „vor dem Krieg“, ist ein feststehender Begriff, der in der amerikanischen Geschichte auf die Zeit vor dem Bürgerkrieg (1861–1865) verweist – die Ära also, in der in den Südstaaten das brutale System der Sklaverei herrschte. Es war auch die Zeit der „Southern Belles“, bürgerlicher Ladies, die, weil ihnen schwarze Sklaven die Arbeit abnahmen, Zeit hatten für Bildung und kulturelle Aktivitäten. Antebellum bezeichnet außerdem einen bestimmten Architekturstil, wie er in den mit Säulen- und Veranden gesäumten Villen der weißen Plantagenbesitzer zum Ausdruck kam – zu besichtigen unter anderem in Quentin Tarantinos Film Django Unchained, vor allem aber im Filmklassiker Vom Winde verweht. Auch dieses Epos, einer der erfolgreichsten Filme aller Zeiten, steht wegen seiner Südstaatenperspektive und der beschönigenden Darstellung der Sklaverei unter kritischer Beobachtung. Was absolut verständlich ist. Dass ihn der Streamingdienst HBO Max aber kurzzeitig aus dem Programm nahm und im Juni mit einem neuen warnenden Vorwort wieder ins Angebot aufnahm, ist weniger nachvollziehbar. Die Vorzüge wie die problematischen Seiten des Werks sind bekannt, auch aus der umfangreichen Sekundärliteratur, eine gewisse Mündigkeit sollte man dem Publikum nicht absprechen. Und natürlich stellt sich bei aller berechtigten Kritik auch hier die Frage: Was kommt als Nächstes? Wo soll das aufhören? Werden jetzt Hunderttausende Filme, Bücher, Gemälde, Opern, Theaterstücke nachträglich mit Warnhinweisen versehen? „Es könnte schmerzhaft sein …“ Mein Vorschlag: Am besten gleich den ganzen Planeten Erde mit einem Warnhinweis versehen!
Pop = Schillern + Ambivalenz
Doch das nur nebenbei, zurück zu „Antebellum“. Natürlich ist der Begriff mit der Unterdrückung der Schwarzen verknüpft. Aber eben nicht nur: Er weckt auch Assoziationen von Kitsch und Nostalgie, darüber hinaus hat er etwas Morbides. Denn Antebellum ist eine historische Phase der Dekadenz, die durch den Sieg der Nordstaaten unweigerlich zu Ende ging. Dass gerade Pop in der Lage ist, mit solchen Begrifflichkeiten zu spielen, das Schillernde, Ambivalente in markanten Bezeichnungen zu betonen und entsprechenden Kompositionen noch einmal eine andere Tiefe zu verleihen, zeigt Antebellum, ein Song der kalifornischen Künstlerin Vienna Teng: Sie nutzt den Begriff zur Illustration eines Generationenkonflikts – und läuft nicht im Mindesten Gefahr, für diesen Song boykottiert zu werden.
Warum sich die Band, die bei der Namensgebung vor allem den Architekturstil Antebellum im Blick gehabt haben will, hier dem Vorwurf der Sklavereiverherrlichung gebeugt und fast schon schmerzhaft reumütig den Künstlernamen Lady A angenommen hat, statt souverän den widersprüchlichen Assoziationen ihren Lauf zu lassen, ist mir unbegreiflich. Genauso unbegreiflich wie die plumpe Umbenennung der Dixie Chicks in The Chicks. Als unerträglich, das liegt nahe, wurde in manchen Kreisen der Begriff „Dixie“ empfunden. Im engeren Sinne steht er für die Südstaaten zur Zeit der Sklaverei und weckt bei etlichen Amerikanerinnen und Amerikanern unliebsame Assoziationen. Allerdings sind die Zusammenhänge hier noch deutlich komplizierter als im Falle des Begriffs „Antebellum“. Denn „Dixie“ ist eine ausgerechnet in den Nordstaaten geprägte Bezeichnung und eng verknüpft mit einem Song namens Dixie, auch bekannt als Dixie’s Land oder I Wish I Was In Dixie. Der Ende der 1850er Jahre von Daniel Decatur Emmett geschriebene Song gibt die Sicht eines Schwarzen wieder, der sich nach der Rückkehr zu einem Ort namens Dixie sehnt, und dabei werden sämtliche Klischees über Afroamerikaner bedient. Wofür genau nun der Begriff „Dixie“ steht, wurde nie verlässlich geklärt. Wahlweise ist es das Gelände eines den Schwarzen zugetanen Farmers namens John Dixie in Long Island/New York, die Farm eines nicht ganz so freundlichen Mannes auf Manhattan Island oder die „Mason-Dixon-Line“, die einstige Grenze zwischen Nord- und Südstaaten. Was die Sache noch komplizierter macht: Der Song wurde in den Nord- wie in den Südstaaten gesungen, auch als eine Art Kriegslied, dann jeweils mit entsprechend geändertem Text, es war sogar einer der Lieblingssongs von Abraham Lincoln, der die Südstaaten bezwang und die Sklaverei abschaffte.
Wahr ist aber auch, dass der Song in den Kontext der „Minstrel Shows“ gehört. Diese Musiktheater-Events des 19. Jahrhunderts arbeiteten mit dem heute inkriminierten Mittel des „Blackfacing“: Schwarz angemalte weiße Künstler vermittelten ahnungslosen Nordstaatlern ein naives, klischeebehaftetes Bild von schwarzen Menschen. Und das ist, ganz klar, mit Vorsicht zu „genießen“ und, ja, auch rassistisch, vor allem aus heutiger Perspektive. Obwohl Nordstaatler des 19. Jahrhunderts größtenteils gegen die Barbarei der Sklaverei in den Südstaaten waren, darf man ihr Engagement nicht mit dem heutiger „Black Lives Matter“-Aktivisten verwechseln. Die Nordstaaten „attackierten den Süden für die Ungerechtigkeit der Sklaverei und erschufen gleichzeitig eine idealisierte und romantisierte Welt der Schwarzen auf den Plantagen“, differenziert der Musikexperte Jochen Scheytt. „Sie entwickelten den Typ des wandernden ‚darkies’; ein ehemaliger schwarzer Sklave, der sich in der freien Welt nicht zurechtfindet und sich nach dem idyllischen und sorgenfreien Leben auf der Plantage zurücksehnt.“ In anderen Worten: „Das weiße Publikum, das mit und über den Minstrel Clown lachte, brachte so seine gemischten Gefühle gegenüber der Sklavenfrage zum Ausdruck.“ Und noch eine Funktion schreibt Scheytt den Minstrels zu: Sie benutzten das Blackfacing „auch in der Tradition des klassischen Narren. In der italienischen commedia dell’arte diente die Maske dazu, den dahinter Verborgenen von allen Konventionen und Regeln zu befreien. Er konnte so seine Späße ungehindert treiben und musste keine Konsequenzen fürchten. Durch diese Maske konnten die Minstrels auch ernsthafte Kritik äußern, ohne richtig ernst genommen werden zu müssen.“
Also lässt sich der Begriff „Dixie“ gar nicht per se auf eine barbarische Südstaatentradition festnageln. Er spiegelt eine Zeit, in der die USA ähnlich gespalten waren wie heute, aber vor einem ganz anderen politischen und kulturellen Hintergrund agierten. Man muss die damalige Zeitstimmung nicht gutheißen, aber man kann zumindest versuchen, sie zu beschreiben und zu verstehen. Bob Dylan, ganz gewiss nicht nationalistischer oder menschenfeindlicher Haltungen verdächtig, hat den Song Dixie gecovert, 2003 in der durchgeknallten Musikfilmgroteske Masked and Anonymous – Ironie nicht ausgeschlossen. Vielleicht auch als Anspielung auf The Band? Deren Mitglieder, zeitweise Dylans Begleittruppe, hatten es sogar geschafft, im Song The Night They Drove Old Dixie Down den Schmerz eines Südstaatlers über den verlorenen Krieg und über den Tod des Bruders durch die Hand eines Yankee, eines Nordstaatlers, ernsthaft nachzuempfinden, ohne als rassistische Rednecks beschimpft zu werden. Und die legendäre Country-Jazz-Rock-Band Little Feat aus Kalifornien, einem westamerikanischen Bundesstaat, der im Bürgerkrieg politisch auf der Seite der Nordstaaten stand, nannte einen ihrer bekanntesten Songs Dixie Chicken: Es ist die augenzwinkernde Ode an eine moderne männermordende Kneipen-Southern-Belle, die musikalisch in versöhnlicher Manier Nord- und Südstaatentradition vermischt.
Dixieland-Jazz? Du meine Güte …
Nach eben diesem Song und Albumtitel haben sich die Dixie Chicks benannt – und in der Folge alles andere als politisch konservative Haltungen vertreten. Im Gegenteil: Als einstige Lieblinge der Country-Community, gefeiert für das Verschmelzen von Country und Mainstream-Pop, mussten sie 2003 diverse Shitstorms und einen veritablen Karriereknick verkraften, nachdem sie bei einem Konzert in London US-Präsident George W. Bush und die Irak-Invasion kritisiert hatten. Zunächst entschuldigten sie sich, was wiederum Bush-kritische Fans der Band erzürnte, dann aber standen sie weiter zu ihrer Haltung und kämpften sich auf die Erfolgsspur zurück, nicht ohne regelmäßig dezidiert ihre Meinung zu kontroversen Themen zu äußern.
Von daher erstaunt es sehr, dass sich die konflikterprobte Band nun wieder dem Druck politischer Hardliner gebeugt und das Attribut „Dixie“ aus ihrem Namen gestrichen hat. Schließlich ist der Begriff, wie gezeigt, noch facettenreicher als die Bezeichnung „Antebellum“, er weckt widersprüchlichste Assoziationen und steht heute nicht zuletzt auch für die Staaten im Süden der USA an sich. Deren Existenz ist wohl kaum zu leugnen, man kann sie schlecht von der Landkarte kratzen. Und wohl niemand käme jetzt auf die Idee, eine Musikrichtung wie den Dixieland-Jazz auf ewig zu verdammen. Oder doch? Da drängt sich plötzlich ein schlimmer Verdacht auf: Ist die Namensänderung der Band am Ende vielleicht nur einem radikalen stilistischen Wandel geschuldet? Tatsächlich feiert das unter dem Namen The Chicks erschienene brandaktuelle Album Gaslighter kaum noch Country-Elemente, sondern zielt eindeutig auf die Mainstream-Charts. Und doch enthält es wieder durchaus kämpferische Titel: den Song March, March etwa, eine Hymne auf den außerparlamentarischen politischen Aktivismus unserer Zeit, von den „Black Lives Matter“-Protesten bis zur „Fridays for Future“-Bewegung. Der Namenswechsel nur ein PR-Schachzug? Nein, das wäre unter der Würde der gestandenen Musikerinnen.
Ironie des Schicksals: Als frisch gebackenes Trio Lady A gerieten Lady Antebellum prompt in einen peinlichen Rechtsstreit – und zwar ausgerechnet mit einer schwarzen Blues-Sängerin gleichen Namens. Ganz abgesehen davon, dass jeder Fan und Popexperte weiß, wofür das A einmal stand. Grotesk: Auch die Dixie Chicks mussten sich erst mit den Mitgliedern einer neuseeländischen Sixties-Band namens The Chicks einigen, bevor sie den neuen Namen annehmen konnten. Und firmieren nun unter einem Begriff, den viele Frauen weltweit als abwertend empfinden: Denn „chicks“ bezeichnet spielerisch nicht nur junge Frauen an sich, sondern oftmals auch naive „Häschen“, die ins Beuteschema männlicher Aufreißer passen. Ob das nun wirklich ein Schritt nach vorn war? Zweifel sind angebracht.
Süße Heimat, böse Flagge
Wer tiefer in das Thema eintaucht, stößt dann auch auf das Phänomen des Southern Rock – auf vergangene Kontroversen um Bands wie Lynyrd Skynyrd und den Gebrauch der umstrittenen Südstaaten-Flagge im Rockkontext. Immer wieder standen und stehen die Südstaaten als Heimat des Rassismus in der Kritik, auch in Pop- und Rocksongs: prominent in Southern Man von Neil Young (1971), einer Absage an „den Südstaatler“, der für seine Verbrechen büßen muss. Sweet Home Alabama, der Lynyrd-Skynyrd-Klassiker aus dem Jahr 1973, gilt auch als Antwort auf Southern Man – er schwankt etwas ambivalent zwischen der Verurteilung rassistischer Haltungen und stolzer Heimatliebe. Southern Rock ist ein musikalisch aufregender, aber inhaltlich teils irritierender Mix aus konservativen Haltungen und rüdem Rock-’n’-Roll-Lifestyle, sicher auch gespeist vom Trotz gegen ständige Anfeindungen durch „Nordstaaten“-Bands, durch vermeintlich progressive Hippies und politisch korrekte Fans. Dazu gehört das provokante Zeigen der umstrittenen Südstaaten- oder Konföderierten-Flagge aus Bürgerkriegszeiten, eines weiß umrahmten blauen Schragenkreuzes auf rotem Grund, bedeckt mit dreizehn weißen Sternen. Molly Hatchet schmückten sich mit der „bösen“ Flagge – ebenso wie Lynyrd Skynyrd und der Republikaner-Freund und Waffennarr Kid Rock, dessen Hit All Summer Long (2007) nichts anderes ist als eine Ode an Sweet Home Alabama. Tom Petty setzte1985 die Konföderierten-Flagge auf seiner Southern Accents-Tour ein, entschuldigte sich aber dafür und bezeichnete die Sache glaubwürdig als Fehltritt. Die schwarzen Rapper Ludicrous und Lil John wiederum machten mit der Südstaaten-Flagge kurzen Prozess: Sie brandmarkten sie als Zeichen der Unterdrückung, Lil John setzte sie folgerichtig spektakulär in Flammen.
Und damit zu Kanye West: Von ihm ist überliefert, dass er einst die Südstaaten-Flagge einfach so mal für sich vereinnahmte – und sie damit symbolisch entwertete. „I took the Confederate flag and made it my flag“, soll er einem Radiosender in L.A. erzählt haben, „It’s my flag now. Now what you gonna do?“ Es wäre eine der geistreicheren Aktionen dieses ansonsten ziemlich tumben, nervigen Zeitgenossen. Zur Erinnerung: Kanye West ist ein schwarzer Rapper, der sich im Musikbusiness ähnlich polternd aufführt wie Donald Trump und gemeinsam mit seiner Frau Kim Kardashian so etwas wie „Die Geissens“ des amerikanischen Hip-Hop gibt. Seine wenigen, aber durchaus vorhandenen genialen Momente, etwa das bizarr vielschichtige Schläfer-Video zum Song Famous, macht er sich regelmäßig durch bekloppte Statements und Aktionen selbst wieder kaputt. Indiskutable PR-Stunts wie ein surreal anmutender Besuch im Weißen Haus, rüpelhafte Ausfälle gegen Kolleginnen wie Taylor Swift und groteske Kritik an der Black Community („400 Jahre Sklaverei? Das klingt für mich nach selbst gewählt“) wurden und werden gern mit einer bipolaren Störung des Künstlers entschuldigt. Nichtsdestotrotz fühlt sich West fit und geeignet für das Amt des US-Präsidenten – die Idee zur Kandidatur soll ihm unter der Dusche gekommen sein. Auweia. Es könnte ein wunderbar cleverer Pop-Gag sein, doch leider steht Schlimmes zu befürchten.
Impf- und Abtreibungsgegner – als wär’s die Mehrheitsmeinung
Als einstiger Trump-Fan hat sich „Ye“ längst von seinem Idol losgesagt und will den Katastrophen-Präsidenten offenbar schon bei der kommenden Wahl im November ablösen – obwohl längst wichtige Fristen für den Eintritt ins Rennen um das Amt verstrichen sind. Im Klartext: West will NICHT nur sein nächstes Album promoten, wie genervte Kollegen vermuteten, nein, er meint es wirklich ernst. Vorübergehende Meldungen, er habe die Kandidatur zurückgezogen, bestätigten sich nicht. Damit, und das ist ein weiterer Bogen zu den vorangegangenen Betrachtungen, agiert dieser kleine Gernegroß ähnlich anmaßend wie die fanatischen Denkmalstürmer: getrieben von lächerlicher Selbstüberschätzung und Egomanie, von schlechtem Stil und Respektlosigkeit gegenüber dem politischen Amt. Ganz zu schweigen von seinen merkwürdigen Ansichten: Als wäre es die Mehrheitsmeinung, beschreibt West sich fröhlich als Abtreibungs- und Impfgegner und bringt als mögliche Vizepräsidentin die völlig unbekannte „biblische Lebensberaterin“ Michelle Tidball ins Spiel. Die hat für Menschen mit psychischen Problemen einen supertollen Therapieansatz parat: „Jeden Tag aufstehen, das Bett und den Abwasch machen, dann geht’s euch besser.“ Das ist, ganz sicher, das Holz, aus dem zukunftsweisende politische Programme geschnitzt sind! Wer mit Blick auf Trump dachte: Schlimmer geht’s nimmer, wird von Kanye West eines Besseren belehrt.
Und so müssen wir konstatieren: Pop in den USA befindet sich in einem bemitleidenswerten Zustand. Stars sind entweder verunsichert oder dumpfbackige Selbstdarsteller, und die Fans versteigen sich in Extreme: auf der einen Seite politisch überkorrekte Fanatiker, auf der anderen gelangweilte Wohlstands-Kids, die in unkorrekten Gangsta-Rappern ihre neuen Helden sehen. Was zählt, sind populistisches Auf-die-Kacke-Hauen und die Machtkeule der übersteigerten „political correctness“ – was fehlt, sind Stil, Eleganz und progressive Durchschlagskraft, ein popspezifischer „moralischer Kompass“ mit entsprechend gefestigter Haltung. Bob Dylan oder Neil Young mögen immer mal neue Alben herausbringen, doch ihre einstige Strahlkraft ist dahin. Und zwei, die es momentan rausreißen könnten, setzen eher eskapistische bis Alibi-Akzente: Taylor Swift, beinahe unantastbarer weißer Superstar mit bisher klaren Meinungen, veröffentlicht im Moment lieber Folklore, ihr ganz persönliches Corona-Album; und Beyoncé, beinahe unantastbarer schwarzer Superstar mit vielfach von den Medien bescheinigter „Black Empowerment“-Botschaft, hat gerade bei Disney das 90-minütige visuelle Album „Black Is King“ veröffentlicht: eine mythisch aufgeladene, glamourös-opulente Ode an „die Bandbreite und Schönheit der schwarzen Abstammung“, die als pathetischer Fantasy-Trip weder mit dem Alltag im 20. Jahrhundert noch mit „Black Lives Matter“ zu tun hat. Black is beautiful? Dem muss man zustimmen. Aber gab’s das nicht schon mal in den Sixties? Selbst aus der schwarzen Szene heraus wird Beyoncés Werk als „kommerzialisierte Afro-Folklore“, als Instrumentalisierung für ihren „Black Capitalism“ kritisiert. Auch das ist bezeichnend.
Und jetzt auch noch Madonna
Wenn sich dann noch Madonna zu Wort meldet, kann man fast schon sagen: Gute Nacht! Die ehemals Unantastbare hatte schon zu Beginn der Corona-Krise einen Proteststurm ausgelöst, als sie in einem Video aus ihrer Luxusbadewanne heraus halluzinierte, dass das Virus alle Menschen gleich mache – jetzt preist sie wie Donald Trump das umstrittene Malaria-Mittel Hydroxychloroquin als Wundermittel gegen Corona und behauptet, ein bewährter Impfstoff sei längst verfügbar, werde aber unter Verschluss gehalten, damit die Reichen reicher und die Armen ärmer und kranker werden. Dazu beruft sie sich auf die texanische Ärztin Stella Immanuel, die laut Medienberichten Sex mit bösen Geistern für gynäkologische Probleme verantwortlich macht „und glaubt, dass die US-Regierung von ‚Reptilien’ geführt wird. Des Weiteren ist sie davon überzeugt, die Ehe zwischen Homosexuellen führe dazu, dass Erwachsene Kinder heiraten.“
Es ist traurig, dass die vielen aufregenden Songs und Künstler, die es nach wie vor gibt, kaum gehört werden – und stattdessen die Populisten, Egoisten, Esoteriker die Schlagzeilen dominieren. Pop in den USA ist ein selbstvergessenes Mäandern, hat offenbar sein Timing verloren. Setzt merkwürdige Akzente. Benutzt und wird benutzt – und macht deshalb im Moment nur selten Spaß.
Vor mehr als einem Jahrzehnt rief Neil Young via Song dazu auf, den US-Präsidenten seines Amtes zu entheben. Ein Gedanke, den 2019 immer mehr Menschen teilen.
„Let’s impeach the president for lying / (…) / Who’s the man who hired all the criminals / The White House shadows who hide behind closed doors / They bend the facts to fit with their new stories …“ Das laute Nachdenken über eine Amtsenthebung? Zwielichtige Gestalten im Weißen Haus? Die dreiste Verdrehung eindeutiger Sachverhalte? Kein Zweifel, das müssen Verse aus den letzten zwei Jahren sein – einer Zeit des weltweiten Entsetzens über einen durchgeknallten US-Präsdidenten Donald Trump, der chaotischen, wirren Regierungsbeschlüsse, der brutalst manipulierten „alternativen Fakten“.
Oder?
Mitnichten. Es sind Verse aus dem Jahr 2006, und sie gelten dem US-Präsidenten George „Dabbeljuh“ Bush. Geschrieben und gesungen hat sie Neil Young. Der kontroverse Singer-Songwriter war schon in den Sechzigern als Mitglied der Gruppe Crosby, Stills, Nash & Young gegen den Vietnamkrieg, gegen Polizeigewalt, gegen Rassismus und gleichzeitig für eine neue, freie Gesellschaft eingetreten. Auch als Solokünstler in den 1970er und -80er Jahren hatte er immer wieder Stellung zu den Problemen der USA bezogen. Der Song Let’s Impeach the President findet sich auf dem Young-Album Living With War, mutet an wie der Appell eines Kollektivs an das Kollektiv und richtet sich gegen all die präsidialen Lügen und Entscheidungen, die zum Angriff der „Koalition der Willigen“ auf den Irak und zur immer noch anhaltenden weltweiten Krise, zu guter Letzt auch zum Aufstieg des sogenannten „Islamischen Staates“ (IS) geführt hatten.
Abgesetzt werden soll der Präsident laut Songtext aus verschiedensten Gründen: weil der Kriegsbeginn auf einer Falschaussage beruhte – genauer gesagt dem angeblichen Besitz von Massenvernichtungswaffen auf Seiten des Iraks; weil der Präsident seine Macht missbraucht; weil er Menschen grundlos in den Kampf schickt, das Geld mit vollen Händen zum Fenster hinauswirft, einen Überwachungsstaat aufbaut, Gesetze bricht und die USA ohnehin nicht wirklich vor al-Qaida schützen kann; weil er die Nation spaltet; weil er den Schwarzen immer noch keine Gleichberechtigung zubilligt und, und, und. In den beiden Schlussversen, in denen der Präsident seine Hände in Unschuld wäscht, versteckt sich auch eine Anspielung auf die ehemalige Alkoholsucht George W. Bushs – der Präsident sei jetzt natürlich trocken: „Here’s lots of people looking at big trouble / But of course our president is clean.“
Geht es nach Neil Young, dann erhebt sich die Masse und macht den von George W. Bush angezettelten Wahnsinn nicht mehr mit. Natürlich ist ein Amtsenthebungsverfahren in den USA sehr kompliziert und kann in mehreren Stufen nur von der Politik umgesetzt werden. Umso drastischer erscheint die ebenso naive wie selbstbewusste Forderung des Songs, der im Grunde nicht den konventionellen Weg gehen will: Das Volk selbst soll unmittelbar und schnell entscheiden. Trotz ihrer Einfachheit wirken die Lyrics individuell und hochaktuell.
Mit seinem Album Living With Warund dem Szenehit Let’s Impeach the President ging Neil Young 2006 auf eine Konzerttournee, für die er seine ehmaligen Mitstreiter David Crosby, Stephen Stills und Graham Nash ins Boot holte. Das Motto der Tour erinnerte folgerichtig an das „First Amendment“ der amerikanischen Verfassung, das uneingeschränte Meinungsfreiheit garantiert: „Freedom of Speech“. Die Bühnen-Highlights und das ganze Drumherum bannte Young auf Film und brachte später einen Zusammenschnitt unter dem anspielungsreichen Titel Déjà Vu in die Kinos – so hatte bereits ein Crosby-, Stills-, Nash- & Young-Album aus dem Jahr 1970 geheißen … Konsequent: In dem Film dürfen Konzertbesucher ihre Meinung sagen – die begeisterten Fans ebenso wie die Gegner. Und so dokumentiert Déjà Vu exakt die Spaltung des Landes, die der zentrale Song anprangert: Teile des Publikums buhen, andere jubeln, wütende Konzertbesucher ärgern sich darüber, viel Geld dafür bezahlt zu haben, nur um von Neil Young beschimpft zu werden. Wobei man sich fragt, was sie bei ihrer reaktionären Haltung ausgerechnet zu Fans von Neil Young hat werden lassen. An anderer Stelle ziehen Vietnam-Veteranen Parallelen zwischen „ihrem“ Krieg in den Sixties und dem aktuellen Krieg gegen den Irak – ein „Déjà Vu eben. Der Hauptsong des Albums Living With War hat etwas von einem rockigen Kinderlied. Die simple, plakative Parole „Let’s Impeach the President“ lässt in Zeiten einer sich dramatisch verändernden Weltlage und eines immer unberechenbarer, immer egomanischer werdenden Präsidenten Trump kaum einen Menschen in Amerika, geschweige denn in Europa kalt.
Am 14. März 2019 erscheint bei WBG/THEISS mein neues Buch Provokation! Songs, die für Zündstoff sorg(t)en. Vorgestellt werden rund 70 Songklassiker der letzen hundert Jahre, die zu ihrer Zeit die Gemüter erhitzten und zum Teil noch heute kontrovers diskutiert werden – von Rock Around the Clock bis Relax, von Anarchy in the U.K. bis zum Punk-Gebet, von Rache muss sein bis Stress ohne Grund, von der „British Invasion“ bis zum Echo-Skandal 2018. Den Band ergänzen Betrachtungen zu den wichtigsten Darstellungsformen im Song und Antworten auf 26 Fragen rund um das Thema Songprovokationen. Mit weiteren Texten zum Thema gibt „tedaboutsongs“ einen kleinen Vorgeschmack.
Sieben Gründe, warum der Literaturnobelpreis für Bob Dylan gerechtfertigt ist
Advertising signs they con
You into thinking you’re the one
That can do what’s never been done
That can win what’s never been won
Meantime life outside goes on
All around you
Bob Dylan, It’s Alright, Ma (I’m Only Bleeding)
Sieben Schönheiten heißt ein Film der in Rom geborenen Regisseurin Lina Wertmüller aus dem Jahr 1976. Er erzählt von einem gestandenen italienischen Macho und Opportunisten, der misstrauisch die Jungfräulichkeit seiner sieben Schwestern bewacht, dann aber während des Zweiten Weltkriegs in deutsche Gefangenschaft gerät und schließlich im KZ landet. Aus purem Überlebenswillen tut er die abscheulichsten Dinge, unter anderem verführt er die grausame KZ-Wärterin und lässt sich zu ihrem Werkzeug machen. Der Film ist alles andere als schön, voll verstörender, entwürdigender Szenen, voll schmutziger Farben und drastischer Schnitte – ich muss sagen: Ich mag ihn nicht. Ich habe den Film seitdem nicht noch einmal gesehen, und ich will ihn auch nicht noch einmal sehen. Nein, Lina Wertmüller ist nicht mein Ding. Und doch muss ich gleichzeitig sagen: Sieben Schönheiten ist ein extrem guter, ein extrem wichtiger Film.
Ähnlich geht es mir mit Bob Dylan. Höre ich ihn singen, rollen sich mir die Fußnägel hoch. Bläst er in seine Mundharmonika, möchte ich schreiend aus dem Zimmer laufen. Etliche seiner Songs empfinde ich als anstrengend bis quälend. Nein, ich bin wirklich kein Bob-Dylan-Freund. Ich mag Bob Dylan einfach nicht. Und weiß gleichzeitig: Der Mann ist gut. Sogar sehr gut. Und eminent wichtig.
Insofern freue ich mich aufrichtig, dass ausgerechnet „Dylan“ – er gehört ja zu den Ikonen, deren Vornamen man im Gespräch eigentlich nicht mehr erwähnt – den Literaturnobelpreis 2016 erhalten hat. Und schüttele den Kopf über missgünstige Fachleute wie Trainspotting-Autor Irvine Welsh, der in den Medien mit den bescheuerten Worten zitiert wird: „Ich bin ein Dylan-Fan, aber dies ist ein schlecht durchdachter Nostalgiepreis, herausgerissen aus den ranzigen Prostatas seniler, sabbernder Hippies.“ Lieber Irvine Welsh: Man muss weder Dylan-Fan noch sabbernder Hippie mit ranziger Prostata sein, um diesen Preis als gerechtfertigt anzuerkennen. Und statt nun alle möglichen Dylan-Songs zu posten, irgendwelche suggestiv-bedeutungsschwangeren Songzeilen zu zitieren oder immer wieder allertiefste Anerkennung zu artikulieren, scheint es mir angebracht, wenigstens kurz ein paar Argumente für die außerordentliche literarische Qualität Bob Dylans zu skizzieren. Hier schon mal sieben Gründe, warum der Literaturnobelpreis gerechtfertigt ist – sieben Schönheiten im übertragenen Sinne:
https://vimeo.com/97255051
Bob Dylan gehört zu den wenigen Literaten, die mit einem Text unmittelbar in die Gesellschaft hineinwirkten.
1975/76, als Lina Wertmüller Sieben Schönheiten drehte, war Dylan bereits ein gefeierter Star und machte mit seiner „Rolling Thunder Review“ Furore, der Tournee mit einer All-Star-Band, zu der auch Joan Baez, Roger McQuinn und Emmylou Harris gehörten. Teil des Programms war der 1975 eingespielte Dylan-Song Hurricane. Der thematisierte den Fall des wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilten schwarzen Ex-Boxers Rubin „Hurricane“ Carter. Minutiös deckten Dylans Lyrics die Schwachstellen der Anklage auf und untermauerten die These vom rassistisch motivierten Fehlurteil. Der Erfolg des Songs führte zu einer Neuaufnahme der Ermittlungen und – in dritter Instanz – zum Freispruch Carters. Welches literarische Werk kann solch eine Wirkung für sich beanspruchen?
Bob Dylan ist ein kreativer Grenzgänger, der nicht nur Genregrenzen, sondern auch literarische Konventionen sprengt.
Was? Ein schnöder Songwriter bekommt den Literaturnobelpreis? Falsch! Dylan ist nicht nur Songwriter, sondern Literat durch und durch. Zusätzlich zu seinen Songs schreibt er Lyrik, die er nicht vertont (berühmt: seine 11 Outlined Epitaphs), aber auch Prosatexte. Damals verschrien, heute ein Szeneklassiker: Sein Prosaband Tarantula, in dem er mit Sprache musiziert und spannende Bezüge zur Tradition der Symbolisten herstellt. Mit selbst verfassten Stücken dieser Art erhob er zudem die Plattenhüllentexte, die sogenannten „liner notes“, zur literarischen Kunstform.
Bob Dylans Lyrics haben Pop- und Rocksongs für literarische Komplexität geöffnet.
Witzig, clever, intelligent und anspruchsvoll waren Songtexte auch schon vor Bob Dylan. Doch mit seinen Songs wurden Lyrics Literatur. Langpoeme von epischem Ausmaß, ungewöhnliche Perspektiven und Darstellungsformen, grandiose Bilder, zentnerschwere Metaphern, Allegorie, Bewusstseinsstrom und dramatische Inszenierung – all das fand sich plötzlich auch im Rock- und Popkontext wieder. Mit Bob Dylan wurde Hippiemusik erwachsen.
Eins von vielen prägenden Dylan’sches Stilmitteln: die Parade mythischer Figuren
Einstein, Nero, Kain und Abel, Ophelia, Romeo, Cinderella – Dylans Song Desolation Row lässt eine Fülle realer und fiktiver Personen und Figuren in einer apokalyptischen Szenerie vor dem geistigen Auge des Hörers vorüberziehen. Ähnlich verfährt der im selben Jahr erschienene Song Highway 61 Revisited. Don McLean griff die innovative Technik 1971 in seinem Song American Pie auf und landete damit einen Welthit. Und auch Bruce Springsteen (Spirit in the Night, 1973) versuchte sich hin und wieder an dieser lyrischen Form. Keiner aber beherrschte sie so verstörend wie der Meister selbst.
Im Spiel mit Texten und Kontexten ist Bob Dylan unschlagbar.
Schon als Interpret traditioneller Folksongs verstand es Dylan, Außenseiterballaden politische Sprengkraft zu verleihen. Es kam darauf an, in welchem Kontext man sie vortrug. Zu Beginn seiner Karriere kanzelten Kritiker seine Songs als mit Musik untermalte Lesegedichte ab – heute feiern Laudatoren die Tatsache, dass Dylan-Texte ohne die Musik nicht denkbar seien. Dasselbe gilt für die stimmliche Interpretation. Bei Livekonzerten versetzt der Künstler immer wieder Fans in Verzückung wie in Rage, indem er seine von Studioaufnahmen bekannten „Hits“ in völlig andere musikalische Arrangements kleidet, sie völlig anders intoniert und so nicht nur mit Erwartungen bricht, sondern auch neue Bedeutungsebenen erschließt. Nicht selten verändert er dabei spontan auch einzelne Verse und Strophen – als Reaktion auf aktuelle Anlässe. Dass Texte in verschiedenen musikalischen und gesellschaftlichen Kontexten Anlass zu reizvollen Spielen bieten, versteht kaum jemand so gut wie Dylan. Er nutzt Möglichkeiten, die reine Printautoren nicht haben.
Dylan – integrer Künstler in einer globalisierten Medienwelt
Literaten heute sind mehr als nur Textlieferanten oder Stimmen ihrer Generation. Literaten heute sind auch Medienpersönlichkeiten, hin und her gerissen zwischen Selbstverwirklichung und den Ansprüchen Dritter, immer in Gefahr, vereinnahmt oder gestürzt zu werden. Bob Dylan gehört zu den wenigen Künstlern, die in diesem gefährlichen Spannungsfeld absolut integer, autark und letztlich ungreifbar geblieben sind. Von Anfang an hat er sich vor keinen Karren spannen lassen, stets noch rechtzeitig die nächste Wende vollzogen, sich immer wieder neu erfunden. Obwohl schon 75, gibt er immer noch wenig von sich preis – bleibt nach wie vor rätselhaft. Die reale Person hinter den Songs und Texten ist komplett abgeschirmt, Fragen nach Authentizität stellt man ihm nicht mehr. Sein Werk steht für sich. Dylan besitzt die volle Kontrolle über seine Medien-Persona, das intelligente Katz-und-Maus-Spiel mit Publikum und Kritik hat er als einer der Ersten seiner Ära zur künstlerischen Strategie erhoben. Todd Haynes hat diese Strategie in seinem Kinofilm I’m Not There auf wunderbare Weise reflektiert. Da wird Dylan gleich von mehreren Schauspielstars verkörpert, unter anderem von Cate Blanchett. So weit muss man es als Künstler erst mal bringen.
Bob Dylan gehört zu den versiertesten Autoren unserer Zeit – mit generationenübergreifender, weltweiter Wirkung.
Verfasser hintergründiger Folk- und Bluessongs. Autor engagierter Protestsongs. Song-Auteur. Symbolist. Singer-Songwriter und Rocker. Christlicher Liedermacher. Postmodernist. Traditionalist. Seismograph gesellschaftlicher Stimmungen … Stillstand kann man vielen Künstlern vorwerfen, nicht aber Bob Dylan. Er hat einen erstaunlichen literarischen Weg hinter sich gebracht, eine immense Vielfalt poetischer Ausdrucksformen verinnerlicht und dabei immer wieder die Grundfragen der menschlichen Existenz behandelt. Dass er damit ein Millionenpublikum rund um den Globus erreicht und begeistert, hat er vielen anderen Topliteraten voraus. Noch immer ruft jedes neue Dylan-Album Heerscharen von Deutern auf den Plan. Zurzeit schaut die Welt einmal mehr besorgt auf die Vereinigten Staaten und zwei umstrittene, angeschlagene Präsidentschaftskandidaten, die sich in einem schmutzigen Wahlkampf gegenseitig zerfleischen. Gerade vor diesem Hintergrund wirkt Dylan als Botschafter eines anderen Amerikas: eines Amerikas, das Menschen- und Bürgerrechte respektiert, Demokratie lebt, andere Kulturen wertschätzt und sich weltpolitisch nicht wie die Axt im Walde geriert.
Es sind Schönheiten wie diese, die Bob Dylan schon vor Ewigkeiten haben zum Gegenstand des akademischen Diskurses werden lassen. In den 1970er Jahren hatte ich an der Uni das Glück, mich wissenschaftlich nicht nur mit Shakespeare und Goethe, sondern auch mit Pop- und Rocklyrik beschäftigen zu dürfen. Und ich verschweige nicht, dass ich Dylan dabei gern auch mal außen vor gelassen hätte. Doch man kam einfach nicht um ihn herum. Eine wissenschaftliche Arbeit über Songlyrik ohne Bob-Dylan-Kapitel? Wäre bei den Profs glatt durchgefallen! Die Fülle an Sekundärliteratur, die es heute zu Dylans Œvre gibt, dürfte so manchen ambitionierten Autor vor Neid erblassen lassen. Insofern läuft auch die Kritik, da habe irgendein Rocksänger völlig ungerechtfertigt die höchsten Weihen erfahren, absolut ins Leere. Im Gegenteil: Es wurde mal Zeit. Dylan hat sich schon im letzten Jahrtausend einen festen Platz im Kanon der amerikanischen Literatur erarbeitet. So wie auch Rock und Pop längst unseren Alltag durchdringen und bis in die sogenannte Hochkultur hineinwirken. Schön, dass dieses Phänomen 2016 gewürdigt wird. Und was könnte dafür passender sein als der Literaturnobelpreis?
Der Tod ist der beste Vertriebler – das zeigt sich nicht nur an David Bowie, Lemmy Kilmister und womöglich Glenn Frey, damit spielte auch schon Bill Drummond, der Kopf hinter KLF und Ex-Manager der Teardrop Explodes
Es ist schon befremdlich, wenn Stars, die einen über weite Strecken des eigenen Lebens als Idole oder auch als Objekte der Verachtung begleitet haben, plötzlich und allzu früh sterben. Keine Frage: Ein Promitod berührt uns selten derart intensiv wie das Ableben enger Verwandter oder guter Freunde. Aber auch mit ihm bricht einer der Fixpunkte im Alltag unerwartet weg. Die Welt ist anders als zuvor, gleichzeitig kommen Jugenderinnerungen hoch, alte Hoffnungen und Sehnsüchte, schöne Momente, vielleicht der eine oder andere geplatzte Traum. Und nicht zuletzt wird man sich der eigenen Vergänglichkeit bewusst.
Kollektive Trauer als alle verbindendes Trost-Event
Noch befremdlicher als der Promitod aber sind die öffentlichen Reaktionen darauf. Besonders eindrücklich war das nach dem Tod von Mr. Motörhead Lemmy Kilmister Ende Dezember zu beobachten. Schon bizarr, wer plötzlich alles Fan gewesen sein wollte und das Hohelied des brachialen Rock sang. Kerngesunde nette und geerdete Menschen, die man eher im Roxette-Universum verortet hätte, demonstrierten ihre bisher offenbar gut getarnte Taffness und Verruchtheit in wehmütigen Social-Network-Kommentaren, konservative Zeitungen wie die „Welt“ ehrten Kilmister als „edlen Wilden“, und selbst das öffentlich-rechtliche Nachrichtenfernsehen brachte dem Heavy-Metal-Pionier samt seinem Sex-and-Drugs-and-Rock-’n’-Roll-Lifestyle beinahe dieselbe Wertschätzung entgegen wie wenige Wochen zuvor dem verstorbenen Altkanzler Helmut Schmidt. Ganz wichtig in all der Aufregung: das Duzen. Man sprach natürlich vorzugsweise nur von Lemmy – so als sei dieser Lemmy schon immer der beste eigene Kumpel gewesen. Vor dem Hintergrund der alltäglichen Schreckensmeldungen aus Politik und Wirtschaft schien die kollektive Trauer um den Abgang eines Stars, den viele zu seinen Lebzeiten reichlich abgründig fanden und persönlich eher gemieden hätten, zum alle vereinendenden Trost-Event zu werden.
Ähnlich kurios das Bohei um David Bowie. Sicherlich war die Nachricht von seinem Tod für die Musikwelt und die Fans rund um den Globus eine schlimme Überraschung. Aber wie so mancher Radiomoderator einen ganzen Vormittag lang seiner Bestürzung Ausdruck verlieh und dann doch immer wieder nur Space Oddity und Let’s Dance anmoderierte, hatte schon etwas Peinliches. Posen konnte Bowie einfach besser. Mindestens ebenso peinlich waren die biblischen Überhöhungen, zu denen sich Feuilletonisten weltweit gleich in Scharen hinreißen ließen. Und die Dauerposts in den sozialen Netzwerken, die sich hier und da zu bloßen Nerd-Wettbewerben verselbstständigten, frei nach dem Motto: Wer postet das noch obskurere Song-Fundstück, wer die noch bizarrere Coverversion? Etwas verhaltener verläuft die Reaktion auf den Tod von Eagles-Mitgründer Glenn Frey. Aber auch hier nur allerwärmste Worte, dabei galten die fantastsischen Eagles durchaus mal als Inbegriff des dekadenten Rockstartums. Wie immer gilt: Der Star stirbt – eine plötzlich entstandene Schein-Community feiert sich selbst.
Aus Lemmy Kilmister und Motörhead habe ich mir nie viel gemacht. Den Geschichten um Unmengen von Alkohol und Drogen oder um die Frauen, die „Lemmy“ mit seinem eigenen Sohn „getauscht“ haben soll, konnte ich nichts abgewinnen – ebensowenig wie dem hingekeuchten Räuspergesang, den Songs an sich oder der immensen Lautstärke, in der sie live wohl gespielt wurden. Beeindruckt war ich allerdings von dem einen oder anderen Interview, zum Beispiel vor Jahren in der Zeitschrift „GALORE“, als sich Kilmister als unglaublich scharfsinniger, zynischer Geist entpuppte, der eine klare, konsequente Haltung zum aktuellen Weltgeschehen an den Tag legte. Natürlich sind es diese Unangepasstheit, die Aura des Gefährlichen und ein stolz der Welt entgegengestreckter Mittelfinger, die die Fans bewundern. Kilmister stand für eine verwegene Attitude, die sich der Normalfan selbst kaum zutraute. Das offene Machotum, die Verantwortungslosigkeit und das Maß an Selbstzerstörung, sprich: die persönlichen Tragödien dahinter weden allerdings gerne ausgeblendet. Mit Bowie konnte ich da schon mehr anfangen. Obwohl er – meiner Meinung nach – schon seit vielen Jahren eher zähe CDs mit wenigen Highlights als wirkliche Offenbarungen veröffentlicht hatte. Schwamm drüber, schließlich hat der Mann in den ersten Jahrzehnten seiner Karriere enormen Einfluss auf die Rockmusik ausgeübt und einen ganzen Sack voll moderner Klassiker geschaffen.
Mit unzugänglichen Songs auf Platz eins
Nun würde ich nie auf die Idee kommen, mir – nur weil ein Rockstar gestorben ist – plötzlich seine letzte CD oder, besser noch, all seine Veröffentlichungen zuzulegen. Umso erstaunter bin ich immer wieder, dass sich ausgerechnet der Tod als stärkster Tonträgerumsatzmotor erweist. So schaffte es Bowie ausgerechnet mit einem eher unzugänglichen Werk, dem fast zeitgleich mit seinem Ableben erschienenen Blackstar, erstmals überhaupt auf Platz eins der US-Album-Charts. Und über Motörhead las man staunend, dass nach Lemmy Kilmisters Tod allein in Deutschland drei ihrer Alben in die Charts einstiegen, während sich Ace of Spades, der Motörhead-Song schlechthin, erstmals überhaupt in die Top 100 der Single-Charts lärmte.
Und es gibt noch mehr Beispiele. In seiner Elvis-Presley-Biografie zieht das Internetportal laut.de die folgende Bilanz: „Der König ist tot, lang lebe der König! So klang es am 16. August 1977 wehmütig durch die Medien. Bis dahin hatte Elvis Presley bereits 600 Millionen Tonträger mit seiner Stimme verkauft. Nach dem Todestag kamen in kürzester Zeit noch mal 200 Millionen hinzu und im Jahr 2002 zählt man weltweit 1,6 Milliarden abgesetzte Tonträger.“ Über einen anderen König, den „King of Pop“, heißt es auf Wikipedia: „Resultierend aus seinem Tod verkauften sich weltweit in weniger als einem halben Jahr 29 Millionen Alben von Michael Jackson.“ Zu Österreichs größtem Popstar wiederum weiß dasselbe Portal zu berichten: „Wenige Wochen nach Falcos Tod wurde das Album Out of the Dark (Into the Light) veröffentlicht und entwickelte sich zu einem großen kommerziellen Erfolg. Das Album stieg in Österreich auf Platz 1 ein und blieb drei Monate lang in den Charts; in Deutschland hielt es sich fast ein Jahr in den Top 100. Das Album wurde allein in Deutschland und Österreich zwei Millionen Mal verkauft, die gleichnamige Single über 3,5 Millionen Mal.“ Aber galt das Gleiche auch für die Rockgruppe Queen und ihren Frontmann Freddie Mercury? Na klar doch, wie der „Spiegel“ festhält: „Nach Mercurys Tod vervierfachte sich der Umsatz von Queen-CDs. ‚Bohemian Rhapsody’ landete kurz nach seinem Tod noch einmal auf dem ersten Platz der Charts. Und selbst ein neu gemischtes Mercury-Soloalbum mit alten Flops, die postum mit einem Disko-Beat aufgepeppt worden waren, wurden ein Verkaufshit.“ Selbst im Independent- oder Alternative-Lager greift es verlässlich, das Prinzip vom Tod als bestem Vertriebler. So wurde 1980 nach dem Selbstmord von Ian Curtis, dem Sänger der Band Joy Division, deren wiederveröffentlichte Single Love Will Tear Us Apart zum Welthit. Dass sich auch die Solowerke von Glenn Frey einer plötzlichen Beliebtheit erfreuen werden, steht zu erwarten. Das immergleiche Prinzip: Kaum Bekannte werden berühmt – schon Berühmte werden legendär.
Wo waren all die posthumen Fans zu Lebzeiten des Stars?
Da frage ich mich, wo all die Fans und Tonträgerkäufer zu Lebzeiten der Stars waren, als diese selbst noch etwas von der enormen Zuwendung gehabt hätten. Und ich frage mich, was Stars posthum so unwiderstehlich macht. Ist es der Reiz des Morbiden? Die beruhigende Erkenntnis, dass Idole auch nur Menschen sind und man selbst noch am Leben ist? Feiert man vielleicht den frühen Tod als den unausweichlichen dramatischen Höhepunkt dieses fast schon mythischen Spiels von „Sex and drugs and rock ’n’ roll“, als die Königsdiziplin sozusagen? Oder ist es das Gefühl, ein großes Vermächtnis in Händen zu halten? Spürt man als Fan plötzlich den Atem der Geschichte, wenn das Werk des Verstorbenen in den musealen Status übergeht?
„Bill Drummond said…“
Wie auch immer: Der Mechanismus vom Sensemann als Ruhmes- und Umsatztreiber ist auch den aktiven Künstlern selbst bewusst – mal mehr, mal weniger. Zu den Rockmeistern, die ihn nicht nur explizit, sondern auch sehr fantasievoll thematisiert haben, gehört Bill Drummond. Er stand im Mittelpunkt jener Liverpooler Szene, die Ende der 1970er und in den 1980er Jahren Furore machte. Post Punk und New Wave waren angesagt, und zu den Stars der Stunde zählten Bands wie Echo & The Bunnymen und Teardrop Explodes, deren Mitglieder auch schon zusammen in anderen Bands gespielt hatten. So waren Julian Cope, Kopf der Teardrop Explodes, und Ian McCulloch, sein Gegenstück bei Echo & The Bunnymen, zuvor Mitglieder des Trios The Crucial Tree gewesen. Die „Bunnymen“ und die „Teardrops“ erhielten Plattenverträge bei dem Independent-Label Zoo, dessen Eigentümer David Balfe und besagter Bill Drummond waren. Balfe und Drummond wiederum kannten sich unter anderem von ihrem gemeinsamen Engagement bei der relativ erfolglosen Gruppe Big In Japan und wirkten nun tatkräftig am Geschick ihrer Zoo-Labelschützlinge mit: Balfe als zeitweiliges Mitglied bei den Teardrop Explodes und Drummond als Manager der Teardrop Explodes wie auch der Bunnymen. In den ersten Jahren beider Bands, so heißt es, sollen alle Beteiligten regelmäßig darüber gestritten haben, welche Truppe nun bevorzugt zu promoten sei und wie man ihr am besten zum Erfolg verhelfe – bei aller Freundschaft waren Eifersüchteleien an der Tagesordnung. Ian McCulloch und seine Kollegen stehen noch heute auf der Bühne, die Teardrop Explodes dagegen lösten sich 1983 auf: wegen „persönlicher und musikalischer Differenzen“, wie es so schön heißt. Bill Drummond sollte später zusammen mit Jimmy Cauty durch Kunst-und-Musik-Projekte wie The Timelords, The Justified Ancients of Mu-Mu und, vor allem, The KLF zu Weltruhm gelangen, David Balfe wiederum gründete unter anderem das Plattenlabel Food, auf dem, wen wundert’s?, auch Songs von The KLF erschienen.
Avantgardistische Kunst- und Marketingstrategien
In seiner Zeit als Manager der Teardrop Explodes wurden Bill Drummond und dem Kopf der Band, Julian Cope, heftige Meinungsverschiedenheiten nachgesagt, die sich zu einer regelrechten Fehde ausgeweitet haben sollen. Was man sich sehr gut vorstellen kann, zeigte doch der auch mit Drogen experimentierende Cope schon früh Züge eines Egomanen und Exzentrikers, während Drummond ein Faible für avantgardistische Kunst- und Marketing-Strategien besaß. Wie ernst es ihm mit seinen eigenwilligen Ideen war, sollte Drummond etwa 1992 beweisen, als er im Namen seiner K-Foundation der frisch gebackenen Turner-Kunstpreisträgerin Rachel Whiteread den mit 40.000 britischen Pfund dotierten Preis für die schlechteste Künstlerin des Jahres verlieh, oder auch ein Jahr später, als er an der öffentlichen Verbrennung von sage und schreibe einer Million Pfund mitwirkte. Die Teardrop Explodes hatten sich trotz anfänglicher Riesenerfolge nie endgültig durchsetzen können, und man darf annehmen, das Drummond dies einem falschen musikalischen Weg und der Entscheidung für die falschen Vermarktungskonzepte zugeschrieben hat.
Bill Drummond Said hieß denn auch prompt ein Song, den Julian Julian Cope 1984, also ein Jahr nach dem Ende der Band, auf seinem Soloalbum Fried veröffentlichte. Es ist ein eingängiger Song, der allerdings einen kryptischen Text aufweist. Mit etwas interpretatorischer Fantasie kann man herauslesen, dass Julian Cope den Manager Drummond für das Ende der Teardrop Explodes verantwortlich macht und ihm obendrein vorsätzliches Handeln unterstellt. Mit seiner eiskalten Erfolgs- und Umsatzorientiertheit habe er das zarte Bandkonstrukt regelrecht erwürgt. Dass das Stück Bill Drummond wirklich verletzt hat, darf man guten Gewissens bezweifeln. Dafür ist es zu unscharf, zu wenig pointiert und letztlich zu wenig aggressiv. Es befeuert eher den Mythos um die Liverpooler Szene der 80er Jahre mit ihren wilden Kreativen, ihren Freigeistern und Exzentrikern, ihren in den Medien immer wieder besungenen „bigger than life“-Figuren.
Warum Julian Cope sterben musste
Ähnliches lässt sich auch über Julian Cope Is Dead sagen, einen Song, der zwei Jahre später, also 1986, von – na wem wohl? – Bill Drummond veröffentlicht wurde. Der charismatische Macher hatte eine Zeit lang als A&R-Manager bei der großen Plattenfirma WEA gearbeitet, jetzt meldete er sich mit dem Soloalbum The Man zurück. Dass Julian Cope Is Dead keine bierernste Abrechnung mit dem einstigen Sänger der Teardrop Explodes ist, zeigt schon die Präsentation. Der Song zitiert musikalisch und gesanglich das Genre des Folksongs, und Drummond, gebürtiger Schotte, trägt auch den Text in schottischem Dialekt, komplett mit rollendem „R“ vor. Das Ganze kommt daher wie ein derbes Trinklied aus alten Zeiten, dessen Autor niemand mehr kennt – was die geschilderten Gedanken und Gefühle augenzwinkernd in den Status des Märchenhaften erhebt: Keine Panik, Leute – alles nur Folklore!
Aber auch der Text klingt nach sehr vielem, nur nicht nach knallhartem Realismus: „Julian Cope is dead, / I shot him in the head“, heißt es erschreckend gut gelaunt zu Beginn, „If he moves some more, / I’ll kill him for sure. / Now, Julian Cope is dead.“ Im Gegensatz zu Bill Drummond Said ist die Perspektive hier eindeutig – es spricht ein einziges Ich, das sich im Lauf des Songs als Julian Copes Manager, also als Bill Drummond, entpuppt.
Ich hab Julian Cope erschossen, behauptet dieser Manager, doch der Sänger scheint nicht wirklich tot zu sein, denn er kann sich noch bewegen. Aber, und das ist das Entscheidende: Für die Öffentlichkeit da draußen weilt Julian Cope nicht mehr unter den Lebenden. Der Rest des Songs erklärt, wie es zu der Tat kam und was der Manager damit bezweckt. Auf den Punkt gebracht: Die Teardrop Explodes waren zwar eine tolle Band (was durch den Einschub „auf ihre eigene kleine Weise“ gleichzeitig wieder zynisch-ironisch relativiert wird), sie hatten mit den (tatsächlich aufgenommenen und veröffentlichten) Titeln Treason, Reward und The Thief of Bagdad auch durchaus ein paar gute Titel im Programm, konnten sich aber nie einen festen Platz in der Rockgeschichte ergattern. Sie waren bloß eine Fußnote. Weshalb der Manager – selbstverständlich auch im Interesse der Künstler – einen cleveren Plan ausbrütete: nämlich den Tod ihres Frontmanns zu fingieren, sie damit größer als die Beatles zu machen und so mit dem Kult um die Band auch die Plattenverkäufe dramatisch zu steigern: „The Teardrops weren’t they great? / In their own wee way. / ‚Treason’, ‚Reward’, ‚The Thief Of Bagdad’, / The Teardrops weren’t they great? // A footnote’s all they’d have got, / In the annals of rock. / Until I got wise, / And hatched up my plan, / A footnote’s all they’d have got. // Jules C. just follow me, / I have your interests at heart. / Now take this knife, / And write to your wife. / Tell her it had to be. / Now Julian said no, / He didn’t want to go. / More records he wanted to make. / But if ?pitch? is your man, / You’ll go with a bang, / Bigger than the Beatles for sure.“
Super Idee: Durch den Tod des Frontmanns „bigger than The Beatles“
Doch der Sänger, der im Rahmen dieses gewagten Marketingplans natürlich auch seine Frau hätte belügen müssen, wollte nicht mitmachen und stattdessen weiter erfolglose Platten produzieren wie bisher. Deshalb griff der Manager tatsächlich zur Pistole und verletzte ihn zumindest so schwer, dass er den Plan nicht zunichte machen konnte. „Now, Julian Cope is dead, / I shot him in the head, / He didn’t understand, / The glory of the plan, / Now, Julian Cope is dead.“ Gegen Ende malt sich Bill Drummond den zukünftigen Erfolg aus: Er hat Platin-Auszeichnungen an der Wand, die es ihm leicht fallen lassen, vor den Nachbarn noch einmal Krokodilstränen zu vergießen und heuchlerisch die guten alten Bandzeiten zu beschwören: „We’ll have platinum records, not gold, / To hang on our walls at home. / When the neighbours come round, / I’ll always break down, / Repeating the stories of old.“ Man darf vermuten, dass der Sänger irgendwo versteckt gehalten wird, denn er wird auch im Finale des Songs noch adressiert. Dort macht sich Drummond über Copes Märtyrergetue, aber auch über die ständig nach Erlöserfiguren suchenden Medien lustig, indem er süffisant darauf hinweist, dass doch erst sein genialer Plan den Sänger tatsächlich zum Märtyrer mache: „But who is this man, / With holes in his hands, / A halo round his head. / That Arab smock, / And golden locks, / It can’t be, it could be, it is!“ Da passt es natürlich prima, dass Julian Copes Initialen J. C. identisch sind mit denen von Jesus Christus: „J. C., please, you’ve got to see, / I was doing what a manager ought. / The records weren’t selling, / And Balfie was drooping, / And Gary had a mortgage to pay.“ Drummonds Fazit: Seine Tat war schlichtweg das, was ein Manager tun muss, wenn Schallplatten sich nicht verkaufen und Bandmitglieder – hier „Balfie“ (= David Balfe) und „Gary“ (= Schlagzeuger Gary Dwyer) – entweder durchhängen oder ihre Hypotheken nicht mehr abzahlen können.
Vom guten Bekannten zum Heiligen
Neben dem Vorwurf, dass Julian Cope einfach kein kommerzielles Gespür habe, nutzt Drummond den Song auch als Vehikel für die Erörterung einer grotesk übersteigerten Vermarktungsstrategie. Und diese fußt natürlich auf der hier schon eingangs erwähnten realen Beobachtung: Sterben Rockstars, dann entsteht eine unglaubliche Dynamik, und der Star beziehungsweise die Band, in der er gespielt hat, verkauft Unmengen Tonträger und DVDs. Drummond selbst erinnert in einem Interview an den ebenfalls schon erwähnten Sänger Ian Curtis. Durch seinen Freitod bescherte er Joy Division auf makabre Weise Weltruhm – und auch die Nachfolgeband, New Order, feierte quasi aus dem Stand international Erfolge. Auf die Frage nach der Bedeutung des Songs Julian Cope Is Dead erzählt Drummond im November 1998 dem Portal intro.de: „Du weißt, wer Ian Curtis ist? Joy Division waren Freunde von uns, und als Ian Curtis starb, wurde er von der Presse zu einer Art Messias aufgebaut. Auch wenn mir immer klar war, dass der Tod eines Popmusikers jenen in etwas anderes verwandelt, war das doch ein besonderes Erlebnis, zu sehen, wie jemand, den man gut gekannt hat, plötzlich ein Heiliger wird. Ich habe dann Mac [Ian McCulloch] vorgeschlagen, seinen Tod zu lancieren, zwei Monate zu verschwinden und zu sehen, was passiert, aber er fand es unfair seiner Familie gegenüber. Im Song wurde das dann zu Julian Cope.“
Wir wissen nicht, ob sich die Anekdote mit Bill Drummond und Ian McCulloch, dem Sänger von Echo & The Bunnymen, tatsächlich so zugetragen hat. Aber es ist natürlich eine nette Story, die sich gut erzählen lässt und zur Mythenbildung um die Liverpooler Szene der frühen 80er Jahre beiträgt. So wie auch Julian Cope Is Dead den von der Fachpresse oft thematisierten Konflikt zwischen Drummond und dem Sänger der Teardrop Explodes auf die Spitze treibt und zur legendären Anekdote hochstilisiert. Ganz nebenbei gibt Drummond einen ironischen Kommentar zu den Mechanismen des Rockgeschäfts ab. Und wer weiß, wie man diesen Song eines Tages bewerten wird, wenn Drummond selbst einmal den Löffel abgibt.