Der „This song“-Kniff

„My name is Luka…“, „And my name is Bobby Brown…“, „I love you…“ – in der Regel nehmen wir nicht für bare Münze, was uns die vielen Ichs im Songuniversum erzählen. Es sind fiktive Ichs, mal mehr, mal weniger nah an den Autoren, und sie entwickeln ihre ganz eigenen Geschichten und Gedanken. Der Song öffnet ein Fenster in eine abgeschlossene Welt, er ist wie eine Glaskugel, in die wir hineinschauen – wie eine Wundertüte, deren Inhalt sich über uns ergießt. Gelegentlich aber passiert etwas anderes: Plötzlich rückt der Song selbst in den Fokus, bevorzugt mit den Worten „this song“ – „dieser Song hier“. Und dann wird es spannend. Denn dann pocht der Song an seine Grenzen, versucht er spielerisch, sie zu überwinden. Das in den Lyrics Geschilderte rückt viel näher an den Interpreten heran. Der Text, die Musik scheinen nicht mehr eine eigenständige Fiktion hervorzurufen, sondern öffnen sich zur realen Welt, zumindest zum Show-Ich hin. Sie wirken plötzlich wie eine direkte Botschaft des Interpreten an ein bestimmtes Gegenüber. Dieses Gegenüber, dieses Du, wird aber nie konkret benannt. Und so ergibt sich eine eigenwillige Spannung – die zu übermütigen Spielchen motiviert.

In Don’t Believe A Word, einem alten Gassenhauer der irischen Band Thin Lizzy, beteuert der Sprecher, das angesprochene Du nicht zu lieben, dabei ist er total verliebt. Ein gängiges Motiv im Lovesong, man denke an I’m Not In Love von 10cc oder Ich lieb dich überhaupt nicht mehr von Udo Lindenberg. Doch dann heißt es bei Thin Lizzy: „Don’t believe me if I tell you / That I wrote this song for you / There just might be some other silly pretty girl / I’m singing to.“ Natürlich kann der junge Mann, den man sich beim Hören vorstellt, auch in der Songwelt ein Songschreiber sein. Sein Lied, das womöglich ein echtes, ein bekennendes Liebeslied wäre, würden wir dann aber nicht vernehmen, es bliebe nur kurz erwähnt. Viel näher liegt es doch, „this song“ direkt auf das Musikstück von Thin Lizzy zu beziehen, das man gerade hört. Und das scheint mir auch das zu sein, was bei den meisten Hörerinnen und Hörern unbewusst als Erstes passiert. Damit ist aber die speziell entwickelte Songwelt – die Illusion einer Gesprächssituation oder einer einsamen Monologsituation – durchbrochen. Der Song beschreibt nicht mehr einen fiktiven Jungen, der mit seinen Gefühlen hadert und einem Mädchen dumme Sachen sagt, sondern Musik und Text selbst werden zur direkten Botschaft des Thin-Lizzy-Sängers Phil Lynott an ein konkretes Gegenüber. Oder anders gesagt: Das Song-Ich scheint nicht mehr Teil der Songwelt zu sein, sondern identisch mit demjenigen, der „diesen Song“ zum Besten gibt. Auch wenn die Aussage – „Dieser Song, in dem ich dir sage, dass ich dich nicht liebe, ist nicht für dich“ – etwas verschwurbelt daherkäme. Auf jeden Fall rücken so die Lyrics deutlich in die Nähe des biografischen, zumindest des Show-Ichs.
Aber wer ist das Gegenüber?

Speziell in diesem Song könnte man die kleine, im Ansatz absurde Spielerei schnell auflösen, indem man „this song“ metaphorisch interpretiert – im Sinne von Liebesschwüren oder Liebesgedichten, von Liebesgesäusel, das das Song-Ich an eine Frau in der Songwelt richtet. Denn am Ende handelt es sich auch in Don’t Believe A Word um eine konventionelle, mit Klischees arbeitende Komposition. Im wesentlich eleganteren Stück Your Song von Elton John dagegen wird einem geliebten Du, das natürlich ohne Konturen bleibt, vom Song-Ich in poetischer Manier exakt „dieser Song“ gewidmet: „I know it’s not much but it’s the best I can do / My gift is my song and this one’s for you // And you can tell everybody this is your song / It may be quite simple but now that it’s done / I hope you don’t mind / I hope you don’t mind that I put down in words / How wonderful life is while you’re in the world.“ Auch hier gibt es ein Song-Ich, das sich in der Song-Illusion bewegt, und gleichzeitig ist man geneigt, die Lyrics direkt Elton John zuzuordnen. Besonders ausgeprägt kommt hier aber och die Dynamik zwischen Entertainer und Publikum, zwischen Show-Ich und Fans, ins Spiel. Denn gerade wenn Elton John dieses Lied live vor einer begeisterten Menge spielt, dann klingen etliche der Verse tatsächlich auch wie ein Dankeschön, das der Star mit einnehmender Bescheidenheitsgeste direkt an seine treuen Anhänger richtet.

Der „this song“-Kniff durchzieht die ganze Rockgeschichte, von den Beatles (It’s Only A Northern Song) über P.I.L. (This Is Not A Lovesong) bis hin zu Villagers (Becoming A Jackal), Olly Murs (This Song Is About You) und D.R.U.G.S. (If You Think This Song Is About You, It Probably Is). Die berühmte Blaupause für solche Stücke und gleichzeitig die spektakulärste „This song“-Spielerei der jüngeren Liedgeschichte ist natürlich You’re So Vain, 1972 veröffentlicht von der amerikanischen Singer-Songwriterin Carly Simon. Als besonders clever erweisen sich hier die Refrainverse „You’re so vain / You probably think this song is about you“ – „Du bist so eitel / Wahrscheinlich denkst du auch, dieser Song handele von dir“. Impliziert ist natürlich: „Dabei handelt er gar nicht von dir“, so dass nicht aufgelöst werden kann, an wen genau der Song sich richtet. Denn wenn sich jedermann nur fälschlicherweise mit dem Song identifizieren kann, dann wurde er eigentlich für niemand Konkreten oder – andersherum – für alle eitlen Männer dieser Welt geschrieben. Die Lyrics sind die Abrechnung des weiblichen Song-Ichs mit einem ehemaligen Liebhaber, der sich als eitler Fatzke erwies und nur in einer armselig-glamourösen Scheinwelt lebt. Obwohl der text keine Rückschlüsse auf konkrete Personen zulässt, versuchen Kritiker und Fans seit Jahrzehnten herauszufinden, um welchen Mann aus dem persönlichen Umfeld der Sängerin es sich bei dem Du wohl handeln könnte. Und Carly Simon hat die Diskussion zeitweilig selbst gern befeuert. Ich schätze, ein abschließendes Statement wird ausbleiben. Die Enttäuschung läge letztlich in der Erkenntnis der Fiktion.
Die „Extended Version“ dieses Beitrags wie immer auf Faust-Kultur.

Große Ich-Show eines Show-Ichs: Robin Thicke und „Paula“

Wer zum Teufel ist Paula? Die 2000 an einer Überdosis Heroin gestorbene britische TV-Moderatorin Paula Yates? Die amerikanische Hit-Songschreiberin und Choreographin Paula Abdul? Oder die deutsche Sex-Talkerin und -Kolumnistin Paula Lambert? Fakt ist: Paula heißen viele interessante Frauen. Nur will uns der im letzten Jahr mit dem Monsterhit Blurred Lines berühmt gewordene US-Crooner Robin Thicke weismachen, mit Paula sei unmissverständlich seine Noch-Ehefrau Paula Patton gemeint, die sich Anfang dieses Jahres von ihm trennte.

Paula ist der Titel von Thickes neuem Album. Es enthält eine Flut von Selbstkasteiungen und Selbstbezichtigungen, von Entschuldigungen und Beschwörungen gegenüber einem nicht näher gekennzeichneten Du, das unbedingt zurückgewonnen werden soll. Und selten zuvor hat ein Künstler in der Öffentlichkeit so explizit, so aufdringlich und so exzessiv darauf bestanden, dass nur eine bestimmte Person mit dem Du in den Songtexten gemeint sei. Bei Konzerten in den letzten Monaten wurde Thicke nicht müde zu erzählen, wie sehr er unter der Trennung leide, und während seines Auftritts im Rahmen der „BET Awards“ widmete er den Song Forever Love ausdrücklich seiner Frau Paula Patton. Um auch die letzten Zweifler zu überzeugen, wurde gegen Ende der Darbietung sogar noch ein Bild des Paares mit der Überschrift „Paula“ auf eine Leinwand projiziert.

So weit, so eindeutig? Nur bedingt. Denn in sämtlichen Titeln und Lyrics des Albums werden keine konkreten Namen genannt. Und statt eindeutiger „historisch“ festmachbarer Eckdaten werden pausenlos Lovesong-Platitüden, vage Erzählungen und mal mehr, mal weniger fantasielose Bilder aneinandergereiht, die sich auf der Öffentlichkeit bekannt gewordene Begebenheiten aus Thickes Leben beziehen KÖNNEN, aber nicht MÜSSEN. Forever Love, Still Madly Crazy, Get her Back, Love Can Grow Back – heißen so oder ähnlich nicht auch Millionen anderer Hits? Natürlich wäre es unsinnig zu behaupten, dass ein Song niemals mit dem realen Leben und den persönlichen Gefühlen eines Künstlers oder einer Künstlerin zu tun haben kann. Zweifellos inspirieren einschneidende Erfahrungen auch Songwriter zu bewegenden Werken. Aber für gewöhnlich verändern sie in den Lyrics einzelne Details, verschleiern Bezüge, abstrahieren und spitzen den Song auf einen bestimmten Gedanken zu.

Bei Thicke sind es nicht nur die vielen textlichen Klischees, die Zweifel an der „Authentizität“ seiner Songs angebracht erscheinen lassen, sondern gerade die peinlich-obsessiv anmutenden Bemühungen des Sängers, dem Publikum zu erklären, wer mit dem Du in seinen Lyrics gemeint sei. In der Musik nur anzudeuten und die Phrasenmaschine zu füttern, nach außen aber einen unmissverständlichen Bezug herzustellen – das passt für mich nicht recht zusammen. Es riecht vielmehr nach einer Ich-Show, bei der sich das Show-Ich ziemlich weit aus dem Fenster lehnt.

Im Video zur Single Get Her Back sieht man den Künstler als buchstäblich geprügelten Helden mit blutiger Nase, immer wieder eingeblendet wird eine junge Frau, die Paula Patton ein bisschen ähnlich sieht. Aber: Es ist nicht Paula Patton, womit auch das in den Songlyrics angesprochene Du an Kontur verliert. Hinzu kommt, dass die Videopartnerin in Get Her Back vor allem das ist, was Frauen in so gut wie allen Robin-Thicke-Videos sind: attraktive Hingucker, die den Sänger als begehrenswerten Mann erscheinen lassen und zur Schaffung einer schwülen Softsex-Atmosphäre beitragen. Gerade das Schenkelklopfer-Video zu Blurred Lines mit seiner genüsslichen Zurschaustellung nackter Models hat in dieser Hinsicht ja neue Maßstäbe gesetzt – und schreit damit geradezu nach einer Parodie.

Bezeichnend vor diesem Hintergrund erscheint mir die Art und Weise, wie Herr Thicke seine Ehefrau in früheren Videos eingesetzt hat. Tatsächlich ist Paula Patton mehrmals in der weiblichen „Hauptrolle“ zu sehen, in Lost Without U oder in Love After War. Und in beiden Kurzfilmen tut sie nicht mehr und nicht weniger als das, was die namenlosen Frauen in den anderen Videos ihres Mannes tun: in Reizwäsche posieren, schmusen und auch sonst vollen Körpereinsatz leisten, um Erotik zu beschwören. Alles folgt in erster Linie einer „Sex sells“-Strategie: Hier nach irgendwelchen autobiografischen Bezügen zu suchen, wäre einfach lächerlich. Während Patton in Lost Without U keine namentliche Nennung erfährt, wird sie in Love After War explizit eingeführt, allerdings auf höchst überraschende Weise. Da gibt es nämlich ein bedeutungsschwangeres Intro, bestehend aus einem unbestimmten Klangteppich und einem französisch gesprochenen Text, dessen englische Übersezung am unteren Bildrand eingeblendet wird: „This is a very serious film starring the American pop-star Robin Thicke and the stunning young starlet Paula Patton, written and directed by Hype Williams. Albert Einstein once said: ‚Imagination is much more important than knowledge.‘ Imagine with us now, what it’s like to make Love After War.“ Es geht um Fantasie, die wichtiger ist als Wissen. Es geht um einen Film. Es geht um Rollen, die jemand spielt – ganz vage angedeutet wird ein streitendes und sich wieder versöhnendes Paar. In die männliche Rolle schlüpft „der amerikanische Popstar Robin Thicke“, und die weibliche Rolle bekleidet nicht etwa Robin Thickes Ehefrau, sondern das „atemberaubende Starlet“ Paula Patton.

Oha: Die tun ja gar nichts, die wollen nur spielen. Also Alles Fiktion. Und die Gattin bloß ein hübsches Starlet. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Und so stellt sich natürlich die Frage: Wenn es schon in Zeiten, als die private Beziehung noch intakt zu sein schien, in Songs und Videos nur ums Posieren ging, warum sollen wir Robin Thicke dann heute abkaufen, dass er uns mit seinem neuen Album Paula wirklich etwas über sich und seine Gefühle mitteilen will? Thicke ist ein Showman, auch gar kein schlechter wohlgemerkt! Und so vermuten nicht wenige Kritiker hinter den peinlichen Auftritten des Stars einen längst etwas aus dem Ruder gelaufenen PR-Gag zur Paula-Promotion. In diesem Sinne möchte ich meinen Blogpost mit der Schlusspassage aus Anna Kempers wunderbarem Robin-Thicke-Beitrag in der „ZEIT“-Kolumne „Gesellschaftskritik“ vom 1. Juli 2014 beschließen:

„Am Ende wirkt Thickes öffentliches Zukreuzekriechen wie eine inszenierte Marketingkampagne: Die Werbung um seine Frau als Werbung für das Album. Sie glauben, es ist alles noch viel schlimmer? Thicke und seine Frau sind gar nicht getrennt, sondern es ist alles eine große, schmierige Kampagne, um beide berühmter zu machen? Dass Paula Patton ihn bald erhören wird und beide dann ihre Geschichte in Hollywood verfilmen lassen, mit sich selbst in den Hauptrollen? Sie sind so zynisch, wie es die ‚Gesellschaftskritik‘ nie sein könnte. Aber wir haben das Gefühl, wir könnten vielleicht noch einiges von Ihnen lernen.“

Mehr zu der Frage, was dahintersteckt, wenn ein neues Album als „das bisher persönlichste Album“ des Künstlers oder der Künstlerin promotet wird, in meinem neuen Beitrag auf Faust Kultur: http://faustkultur.de/1840-0-Behrendt-What-Have-They-Done-To-My-Song-XIII.html#.U7Q7x6jO47B

Kunstfiguren müssen nicht aufs Klo

Der Helene Fischer geht’s nicht gut. Manchmal versagt schon ihre Stimme, das werden doch nicht Anzeichen eines Burn-outs sein? Der arme Jürgen Marcus – Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben – musste gerade Insolvenz anmelden, weil die bösen Bewohner seines Hauses einfach keine Miete mehr zahlen wollten. Oder Costa Cordalis: Lässt sich regelmäßig die Falten wegspritzen und erlitt erst neulich in Chemnitz einen Schwächeanfall, natürlich auf der Bühne. Wolfgang Petry wiederum, einst schwarzgelockter Meister des Schnauzbarts, Herr der schweißgetränkten Freundschaftsringe, trägt heute kaum noch Haar im Gesicht – oh Schreck! Ein Schatten seiner selbst… und dabei eigentlich viel sympathischer als früher. Sympathischer auch als der durchgeknallte Jürgen Drews, von dessen grenzdebilen Interviews wir erst gar nicht reden wollen.

Fest steht: Die Schlagerstars von einst und heute beherrschen immer wieder und immer noch klammheimlich die Medien. Und nirgendwo sonst wird die Diskrepanz zwischen dem jahrelang gepflegten Show-Ich, den aufregenden Song-Ichs und den biografischen Ichs, die den tristen Alltag kaum zu meistern vermögen, deutlicher sichtbar als bei ihnen.

Gewissermaßen zu den Vätern dieses Konflikts gehört ein gewisser Gerd Höllerich. Dem  ehemaligen BWL-Studenten sagte man eine große Unausgeglichenheit nach, und sein überraschender Tod im Jahr 1991 war von Selbstmordgerüchten umweht. Zuvor hatte Höllerich als Schnulzensänger „Roy Black“ jahrzehntelang Frauenherzen betört. „Silke Höllerich“, so das Internetlexikon Wikipedia unter Berufung auf ein Buch der Ehefrau, „beschreibt ihren Mann als einen einerseits phasenweise sehr empathischen, liebevollen Menschen, andererseits als paranoiden, geizigen Egozentriker, der seine Frau vor anderen lächerlich machte, sie betrog, keine Beziehung zu seinem Sohn Torsten aufbauen konnte und im Alltag von seiner Familie und seinem Freundeskreis dieselbe Verehrung erwartete wie von seinem Publikum. Zeit seines Lebens soll Roy Black Probleme gehabt haben, die Gratwanderung zwischen seiner Rolle, dem Produkt ,Roy Black’, und seinem privaten Ich, Gerd Höllerich, zu bewältigen.“ Der Filmproduzent Karl Spiehs wird mit folgender Höllerich/Black-Anekdote zitiert: „Er riss gerne Witze über sich selbst, vor allem wenn er sich unglücklich fühlte. Sein Lieblingswitz: ,Wie bekommt man das Gehirn eines Schlagersängers auf Erbsengröße? – Einfach aufblasen!’“

Fischer, Marcus, Petry, Black & Co sind auf der Bühne und in der Öffentlichkeit lediglich Kunstfiguren. Diese Kunstfiguren haben keine Alltagsprobleme. Sie gehen nicht einkaufen, sie kochen nicht. Und sie müssen auch nicht aufs Klo. Genauso wenig wie Kid Rock, Willie Nelson oder Wolf Maahn. Die können sogar in TV-Serien auftreten und dort des Mordes verdächtigt werden, ohne irgendwelchen Schaden zu nehmen. Mehr dazu in „Bata, Michael, Michaela und ich – Wer spricht eigentlich im Song?“, der neuen Folge meiner Essay-Reihe „What have they done to my song?“ auf Faust-Kultur: http://faustkultur.de/1222-0-Behrendt-What-have-they-done-to-my-Song-VI.html#.UdXanFOPqt8

Peter Doherty: Der letzte Bohèmianer

Endlich mal wieder ein Kinoereignis, das polarisiert. Die Rede ist von Confession, Sylvie Verheydes Verfilmung des 1836 erschienenen Romans Confession d’un enfant du siècle von Alfred de Musset. Der melancholische Streifen, der streckenweise an ein Musikvideo mit Offkommentar denken lässt, fiel bei den Filmfestspielen in Cannes durch und wird vor allem von der britischen Presse verrissen. Doch als leiser Kommentar zur Zeit vermag er bei feinfühligeren Kritikern durchaus zu punkten. So vergab das renommierte Fachblatt „epd Film“ satte vier von fünf Sternen und resümierte: „CONFESSION breitet seine ‚Lose-lose’-Situation so lasziv auf der Leinwand aus wie Brigitte ihre Gewänder. Er ist die melancholische Antithese zur Botschaft der Romantic Comedies mit ihrem ‚Topf trifft Deckel’-Optimismus.“

Brigitte, das ist die attraktive Witwe, in die sich der Held Octave verliebt, als er das ausschweifend zügellose Leben, das er aufgrund einer enttäuschten früheren Liebe geführt hat, hinter sich lassen will. Doch auch die neue Liebe wird zerbrechen, nicht zuletzt an der Eifersucht Octaves. Sein Scheitern begreift dieser materiell abgesicherte Zerrissene als symptomatisch für eine ganze Generation. Im Roman, so verraten Literaturwissenschaftler, verarbeitete Autor Alfred de Musset unter anderem seine leidenschaftliche Affäre mit der sozialkritisch-feministischen Schriftstellerin George Sand. Im Film wiederum lädt Regisseurin Sylvie Verheyde Handlung und Figurenkonstellation mit den Image-Konstrukten auf, die ihr illustres Hauptdarstellergespann umgeben.

Brigitte wird gespielt von Charlotte Gainsbourg, der Tochter von Chansonnier Serge Gainsbourg und Schauspielerin Jane Birkin. Gemeinsam hatten Jane und Serge einst den Skandalsong Je t’aime in die Charts gestöhnt. Tochter Charlotte wurde später bekannt mit provokanten Filmen über Inzest und Dreiecksbeziehungen, im Jahr 2009 schockten sie und ihr Kollege Willem Dafoe in Lars von Triers äußerst drastischem Drama Antichrist. Die große Überraschung in Confession aber ist der britische Songwriter Peter Doherty. Schon wenn er, der sich früher „Pete“ nannte, seinem Vornamen wieder das „R“ hinzufügt, überschlägt sich die Presse angewidert bis verzückt. Der Mittdreißiger (Jahrgang 1979) hat Stil, inspirierte viele junge Briten durch seine extravaganten Anzüge und Hüte und machte jüngst als Designer für das Pariser Kultmodelabel The Kooples Furore. Dandys wie Oscar Wilde gehören zu seinen illustren Vorbildern. Aber Doherty verschreckt auch durch die Zuschaustellung seelischer Abgründe. Da gibt es jahrelange Drogenexzesse, seltsam abwesend-fahrige Interviews und irritierende Kunstwerke, mit dem eigenen drogenverseuchten Blut gemalt. Da kursieren Geschichten über wilde WGs und Einbrüche in die Wohnung von Freunden, die an die Eklats französischer Schriftstellergenies des 19. Jahrhunderts erinnern. Doherty hat zwei uneheliche Kinder und geriet regelmäßig durch vertrackte On-and-off-Affären in die Schlagzeilen, unter anderem mit Supermodel Kate Moss und – wie noch gar nicht allzu lang bekannt ist – mit der 2011 an einer Alkoholvergiftung gestorbenen Sängerin Amy Winehouse.

Dieser Typus des genialisch-kaputten Rockstars, der sich als Libertin und Teil einer Bohème inszeniert, ausschweifend lebt und dabei gern mal Arthur Rimbaud oder Paul Verlaine zitiert, galt eigentlich als ausgestorben, erst recht in Zeiten der Globalisierung und der konsequent durchgeplanten Markenstrategien, auch im Musikgeschäft. Seine „besten Jahre“ hatte diese merkwürdige Spezies in den 1960ern mit Jagger/Richards, Faithfull, Morrison, Hendrix & Co. Sid Vicious, Tom Verlaine & Richard Hell oder auch Patti Smith sorgten 20 Jahre später für eine Wiederbelebung unter veränderten Vorzeichen. Hip-Hop, Britpop, Dance und Techno verwischten die Spuren fast vollends, bis 2002 Doherty und sein annähernd exzentrischer Kumpel Carl Barât mit ihrer Band The Libertines für frischen Wind in der britischen Popszene sorgten. Die Libertines, der Name war Programm, brachten nur zwei Alben zustande, auch weil Freigeist Doherty mehr durch Verhaftungen und Entzugseskapaden als durch Teamgeist glänzte. Schrammelig und krachig, teilweise skizzenhaft klingen diese Alben und sind gleichzeitig eingängig, melodisch, mit Anleihen bei Beat, Folk- und Pubrock. Zwei weitere Alben und die EP The Blinding spielte Doherty ab 2004 mit seiner Band Babyshambles ein, und diese Arbeiten zeugen von einem deutlichen musikalischen Reifungsprozess. Was teilweise nachlässig dahingeworfen und -genölt wirkt, entpuppt sich bei mehrmaligem Hören als harmonisch raffinierter, stilistisch vielfältiger, einfach gefühlvoll. Die Babyshambles-Veröffentlichungen weisen bereits auf das 2009 erschienenen Doherty-Soloalbum Grace/Wastelands voraus, das zu Recht fast durchweg begeisterte Kritiken erhielt.

Doherty ist alles andere als ein Virtuose, aber er entlockt seiner Gitarre einen unter die Haut gehenden Sound. Dazu berührt er mit einer ebenso energischen wie zerbrechlich-zärtlichen Stimme, egal ob er den Ton trifft oder nicht. Die Texte handeln mal nostalgisch von einem idealisierten England („Albion“) und einem paradiesischen Arkadien, mal geben sie sich selbstironisch frankophil (La belle et la bete) oder zitieren spielerisch Klassiker der Dekadenzliteratur (A rebours). Meist aber sind sie schwer zugänglich, was auch ihrer Entstehung unter Drogeneinfluss geschuldet sein mag. Selten ist hier klar, wer „ich“ ist und wer „du“, es werden names gedropt und irgendwelche Begebenheiten zitiert, deren Spuren sich manchmal in veröffentlichte Tagebücher und Schreibversuche zurückverfolgen lassen. So sind es weniger ganze Songs, die im Gedächtnis haften bleiben, als herausstechende einzelne Strophen und Verse:  

Oh my words in your mouth / Are mumbled all about / You’re like a journalist / How you can cut and paste and twist / You’re awful (…) Jack drinks and smokes his cares away /
His heart is in the lonely way / Living in the ruins / Of a castle built on sand    (The Libertines, Tell It to the King)

I said you can have my love for this song go right / But don’t hold it up to the light / Oh loveless, my loveless love    (The Libertines, Anything But Love)

You and I and me and you / What became of the love we knew? / What became of the work class? / Nike, Reebok, Adidas…    (The Libertines, Hooray for the 21st Century)

Happy endings, they still don’t bore me / They, they have a way / A way to make you pay / And to make you toe the line / Though I sever my ties / Because I’m so clever / But clever ain’t wise (…) So what’s the use between death and glory? / I can’t tell between death and glory / New Labour and Tory / Purgatory and happy families    (Babyshambles, Fuck Forever)

Given up trying to explain / I’ll just put it in a song instead    (Babyshambles, Carry on Up the Morning)

Oh, you, you’ll soon be up where you belong / But it’s only blood from broken hearts that writes the words to every song    (Babyshambles, I Love You (But You’re Green))

Now tell me, if darkness comes / Then I will sing you a song / And I will love you forever / At least ‚til morning comes    (Pete Doherty, Lady, Don’t Fall Backwards)

Nur eins scheint klar: Gelingende, andauernde (Liebes-)Beziehungen gibt es in Dohertys Songs nicht. Entweder bleibt Liebe, Zusammensein ein unerfülltes Sehnen, oder die Beteiligten machen sich nach wenigen Glücksmomenten gegenseitig das Leben schwer. Wenn überhaupt, dann hat der eben zitierte Song Fuck Forever so etwas wie programmatischen Charakter: Er drückt Skepsis gegenüber dem Glück aus – verbunden mit der Befürchtung, dass man für jedes Happy End bezahlen muss. Etwas, das genauso für das Meiden von Bindungen gilt. Eine verdammte Zwickmühle. Fast schon defätistisch-nihilistisch mutet das Abstreiten jeglicher Unterschiede zwischen New Labour und den Tories, zwischen glücklichen Familien und dem Fegefeuer an.

Dieses Leiden an der Welt und am menschlichen Miteinander scheint Doherty für die Rolle des unglücklich liebenden Octave in Sylvie Verheydes Confession geradwegs zu prädestinieren. Klar, dass dieser ständig am Abgrund taumelnde Suchende auch Musik zum Film beigesteuert hat. Zum Beispiel den Song Birdcage, den er gemeinsam mit Suzi Martin singt. Das Besondere: Die Lyrics stammen aus dem Nachlass von Amy Winehouse, die hier und da etwas Bohèmehaftes versprüht haben mag, am Ende aber nur noch ein bemitleidenswertes Wrack war. In Birdcage hat sie das Thema der Amour fou auf einen weiteren schönen Zweizeiler gebracht: „We could never be together / I’m too pretty, you’re too clever.“

Einst empfahl sich David Bowie mit seiner Aura des Rockstars vom anderen Stern für Kunstfilme wie Der Mann, der vom Himmel fiel und Horrorfantasien wie Begierde. Sting kultivierte seinen exotischen Stachelpunk-Look als Über-Mod in Quadrophenia oder als Weltraumfiesling im Science-Fiction-Klassiker Dune, und der bodenständige Country-Songwriter Kris Kristofferson füllte als sensibler Tough Guy verschiedenste Charakterrollen aus, zum Beispiel im Westernepos Heaven’s Gate. Kristofferson, Sting oder Bowie mögen die besseren Schauspieler sein, aber auch Dohertys bohèmegefärbter Popstar-Imagetransfer wird genügend Fans ins Kino locken – allen Kritikern zum Trotz, die den Songwriter als dramatisch untalentierten Darsteller brandmarken und mit seinem Aus-der-Zeit-gefallen-Sein nichts anfangen können.

Ja, ja, womöglich sollte man von Peter Doherty keinen Gerauchtwagen kaufen. Auch hat manches von dem, was er tut, etwas Naives, Kokettes, und die Bedeutung seines Beitrags für die Rockmusik ist längst nicht endgültig geklärt. Aber: Mit seinem unkonventionellen Lebenswandel, seinen eigenwilligen Songs und seinen unberechenbaren künstlerischen Moves steht dieser Unvollendete auf spannende Weise im Widerspruch zur vermeintlichen heilen Welt vieler Stars und Sternchen. Er liegt quer zu den gnadenlos durchstrukturierten Powerkarrieren von Rihanna & Co und zu seelenlos-businessorientierten Castingshow-Formaten, von bürgerlichen Normen ganz zu schweigen. Ein gefallener Engel kurz bevor der Himmel einzustürzen droht. Vielleicht sagen das Phänomen Pete Doherty und der Film Confession ja doch etwas über unsere aus den Fugen geratene Zeit. Schaut man sich im Videoclip an, wie selbstgefällig-süffisant und kulturbeflissen arrogant drei saturierte Filmkritiker des britischen „Guardian“ über Confession und vor allem über Peter Doherty herziehen, dann kann man ein wenig nachvollziehen, an welchen gesellschaftlichen Strukturen dieser letzte Bohèmianer unter anderem leidet.

Link zur „Guardian“-Videokritik: http://www.guardian.co.uk/film/video/2012/dec/07/confession-of-a-child-of-the-century-video-review

Kinostart Confession: 20. Juni

 

 

Gemischte Gefühle: Der Fall Lana del Rey

Am 16. Mai startet die Neuverfilmung von F. Scott Fitzgeralds Romanklassiker Der große Gatsby in den deutschen Kinos. Regisseur ist Baz Luhrmann, der 2001 für seinen Musicalfilm Moulin Rouge Stars wie Nicole Kidman und Ewan McGregor zu enervierenden Gesangsdarbietungen animiert hatte. Auch im Großen Gatsby gibt es Musik, aber die scheint insgesamt etwas gelungener zu sein. Auf dem Soundtrack finden sich so coole Namen wie Jack White, The xx, Emeli Sandé und … Lana del Rey.

Lana del Rey? Da war doch was. Für die einen gehört die junge Amerikanerin zu den aufregendsten Popstars momentan, für die anderen ist sie der enttäuschendste Hype der letzten Jahre. Im Sommer 2011 hatte Lana del Rey via Internet massiv auf sich aufmerksam gemacht – mit schwermütigen Songs, einer auffällig tiefen Stimme, einem glamourösen 40er-/50er-Jahre-Styling und nostalgischen Videos, die größtenteils aus alten oder auf alt getrimmten Privatvideo- und Nachrichtenschnipseln bestanden.

Das internationale Feuilleton und fast das gesamte Spektrum der Lifestyle-, Rock- und Pop-Medien waren begeistert: Hier schien so etwas wie ein Konsensstar aufzusteigen – eine superintegre Künstlerpersönlichkeit, die in der Lage war, Kenner und Normalhörer, den kulturellen Mainstream, Alternativeszenen und Undergroundzirkel gleichermaßen zu überzeugen, ach was, zu begeistern.

„Lana“, das erinnert an Hollywood-Diven wie Lana Turner, und der „del Rey“ war einst ein von Ford produziertes Automodell. Schon der Künstlername der als Elizabeth Grant geborenen Sängerin lässt auf etwas Unechtes, Konstruiertes schließen. Nun sind Artifizielles und Manipulation etwas ganz Alltägliches im Showgeschäft und an sich kein Grund, sich von einem Star abzuwenden. Die entscheidenden Fragen aber lauten: Wie viel an Künstlichkeit ist noch akzeptabel? Könnte hinter der Medien-Persona ein halbwegs vernünftiger Mensch stecken? Und: Verbindet sich mit der Konstruktion eine ernstzunehmende Haltung, eine gewichtige, gesellschaftlich relevante Aussage?

Im Falle Lana del Rays schlug die anfängliche Bewunderung der Alternativekreise und Undergroundzirkel nach und nach in Ablehnung um: weil sich die entsprechende Kunstfigur als allzu kühl kalkuliert erwies und das morbid-nostalgische Flair ihrer Songs bald nur noch wie eine „Masche“ wirkte. Ein ernstzunehmender Gegenentwurf zu konventionellen Rollenbildern, eine zukunftsträchtige musikalische Alternative zur Charts-Musik der Zeit sah letztendlich anders aus und hörte sich auch anders an als das Produkt „Lana del Rey“.

Zusammen mit dem Song Video Games und den geschmackvollen Vintage-Videoclips war zunächst eine taffe Künstlerbiografie kolportiert worden, die Lizzy Grant eine Herkunft aus armen Verhältnissen und Kontakte zur Hip-Hop-Kultur bescheinigte. Songs und Videos sollten alle von Lana del Rey selbst konzipiert und produziert worden sein. Das klang interessant und weckte Erwartungen an eine gewichtige künstlerische Aussage, die das Musikmagazin „Rolling Stone“ stellvertretend für viele so umschrieb: „In den düster und schwül aufgeladenen Szenarios bündelt sich das Lebensgefühl einer von Abstiegsängsten und Selbstmitleid gequälten urbanen Mittelschicht.“ Unter solchen Vorzeichen verwunderte es auch niemanden, dass es die Künstlerin – wenn auch von der Redaktion skeptisch beleuchtet – bis aufs Cover der renommierten Szenezeitschrift „SPEX“ schaffte.

Doch schon die Tatsache, dass ihr CD-Debüt ausgerechnet beim Weltkonzern Universal erschien und in Zusammenarbeit mit Starproduzenten wie Guy Chambers (Robbie Williams) oder Eg White (Adele) entstanden war, stieß einigen Kritikern unangenehm auf. Hinzu kamen Zweifel an den in Umlauf gebrachten biografischen Fakten („Ist sie nicht eigentlich Millionärstochter?“), aber auch die verstörende Vermutung, die so sinnlich anmutenden Lippen der Interpretin könnten das Ergebnis einer Schönheits-OP sein. Und solche Schönheits-OPs sind ja eher in gelangweilten High-Society-Kreisen angesagt – in „der Szene“ geht so was ja gar nicht! Immer offensichtlicher erschien Lana del Rey als zurechtgestyltes Püppchen und teils auch als kaputt gemachtes Opfer einer nur an Megaumsätzen interessierten Musikindustrie. „Dauerte es vor einigen Jahrzehnten (oder noch vor einigen Jahren) zumindest noch mehrere Alben, bis aus hoffnungsvollen Nachwuchskünstlern öde Mainstreamveteranen geworden waren, sind die Tage dieser Internet-Hypes – genauso wie ihrer Leidensgenossen, der Castingstars – schon vor dem Erscheinen ihres Debüts gezählt“, schrieb etwa Tara Hillam 29. Januar 2012 auf tageswoche.ch/de: „Es sind im wörtlichen Sinne Totgeburten, ‚Born to Die‘, wie ironischerweise auch der Albumstitel des neusten Hype-Opfers namens Lana del Rey lautet. (…) Als die Zuschauerzahl von ‚Video Games‘ die Millionengrenze überschritt, krallte man sich das Mädchen mit den verdächtig vollen Lippen und schickte sie ins Studio, um ihre Songs zu veredeln. Und: so bald wie möglich auf den Markt zu werfen, bevor der nächste Hype die sensationell somnabule Göre wieder in vergessenheit geraten lassen könnte. (…) Doch damit verwechseln sie (die Musikkonzerne) ihre eigene Marketingmasche mit der Realität, versuchen sie ihre auf dem Reißbrett entstandenen Frankenstein-Konstrukte als ‚lebendige Subkulturvertrter‘ zu verkaufen.“

„Lana del Rey gilt zur Zeit als das größte Versprechen der Popmusik. Nun erscheint ihr Debütalbum“, schrieb Jens-Christian Rabe im Januar 2012 auf sueddeutsche.de, um gleich drauf ein ähnlich vernichtendes Fazit zu ziehen: „Doch es ist auch eine erzkonservative Männerphantasie, der ziemlich schnell die Luft ausgeht.“ Rabe sprach pointiert von der „Banalität des Dösens“, und was genau er unter einer erzkonservativen Männefantasie verstand, erklärte er so: „Wir sehen: ein Exemplar aus dem Menschenzoo. Wir hören: eine starke Frau, die so weit sediert wurde, dass sie ihrem Mann nicht mehr gefährlich werden kann.“

Auffällig ist, mit welcher Leidenschaft einige Kritikerinnen und Kritiker die Lana-de-Rey-CD Born to Die verrissen. Das war nicht einfach nüchternes Urteilen oder genüssliches Niedermachen, sondern Ausdruck eines tiefen Verletztseins. All diese Kritikerinnen und Kritiker waren zutiefst enttäuscht, dass man ihnen eine große Verheißung genommen hatte – und wütend auf sich selbst, weil sie einem enormen Hype aufgesessen waren. Fast schon anrührend ist die ellenlange Kritik eines Users im Intenetforum der Zeitschrift „Metal Hammer“ Ende Januar 2012. Der arme Mann beschreibt seine widersprüchlichen Gefühle während des Kaufs der CD bei einem „großen Elektronikfachhändler“ und versucht, in Worte zu fassen, was Lana del Rey und das ganze Bohei um sie ausmacht. Beinahe unter Tränen beschreibt er eine „mediale Tragödie“, die ihn regelrecht fertiggemacht hat.

Ab Frühjahr 2012 stieg Lana del Rey, die selbstverständlich nebenbei modelte, auch noch zum Fashion-Idol auf, und die schlimmsten Kritikerbefürchtungen wurden bestätigt. Unter anderem widmete das britische Modelabel Mulberry der Sängerin eine Damentasche. „Die ‚Del Rey‘, mittlere Größe und kurze Henkel“, vermeldete die Frauenzeitschrift „Amica“ begeistert, „wird es ab Mai unter anderem in Weiß zu kaufen geben.“ Dann machte die schwedische Modekette H&M Lana del Rey zum prominenten Gesicht ihrer Herbst-Winter-Kollektion 2012 und verbreitete die Kampagnenbilder großzügig auf Werbeflächen in ganz Deutschland. Zu guter Letzt warb die geschäftstüchtige Interpretin auch noch für ein neues Modell des Luxuswagenherstellers Jaguar, trat bei der Produktpräsentation auf und steuerte den Song Burning Desire zur Werbekampagne bei. leider wahr: „Lebensgefühl einer von Abstiegsängsten und Selbstmitleid gequälten urbanen Mittelschicht“ geht anders.

Aber mal ehrlich: Verdenken kann man es der cleveren Endzwanzigerin nicht: Sie hat schlichtweg ihre Chance ergriffen und eine Menge Geld verdient. Nur: Als selbstbewusstes Role Model unangepasster junger Frauen, als eigenständige Künstlerin, die einen abgründigen Gegenentwurf zum schönen Schein der Mainstreamkultur liefert und sich selbstbestimmt den Mechanismen einer globalisierten Wirtschaft widersetzt, war Lana del Rey verbrannt. Ein gewichtiger Teil der Kritiker, nämlich der, der über Credibility wacht, war nun endgültig enttäuscht. Inzwischen ist Lana del Rey tatsächlich nur noch ein ganz gewöhnlicher Superstar, eine weitere Stilikone mit netten Songs im Gepäck und lukrativen Werbeverträgen im Visier – ein Mainstreamprodukt zurechtgestylt für eine möglichst breite Masse. Als in Trauer und Melancholie versinkender Hollywood-Vamp mit hohem Nostalgiefaktor funktioniert Elizabeth Grant letztlich nicht anders als Hans Rolf Rippert alias Ivan Rebroff damals mit seiner Kosakenmasche. Und als düster-morbides Mewdienkonstrukt, hinter dem sich letztlich ein gut gelauntes Jetset-Girl verbirgt, ist sie einfach nur die Umkehrung des Prinzips von Künstlern wie Rex Gildo, Roy Black oder Britney Spears, hinter deren „Aufregende heile Welt“-Songs und -Performances sich haltlose, depressive Privatpersonen verbargen.

Und so hielt Jan Wigger im September 2012 auf SPIEGEL Online in einer Besprechung der CD Blackbird von Andrea Schroeder kurz und schmerzlos fest: „‚Blackberry Wine’ ist der düstere Cousin von Lee Hazlewoods ‚Summer Wine’ – und löst in gewisser Weise das Versprechen ein, das Lana del Rey gab und nicht halten konnte.“ Etwa zur selben Zeit begannen User auf der offiziellen Facebook-Seite von H&M, satirische Bilder von sich in den gleichen Posen wie Lana Del Rey hochzuladen – mit dicken Lippen und verpennten Augen, die gelangweilt in die Kamera blicken. Unfeiner kann man als Künstlerin kaum behandelt beziehungsweise entlarvt werden. Auch wenn zu vermuten steht, dass das Elizabeth Grant selbst am allerwenigsten kratzt. Warten wir also ab, was das gerade entstehende nächste Album bringt. Immerhin rücken Credibility-Gurus wie Jack White und Jay-Z nicht wirklich von ihr ab, und auf dem Soundtrack zum neuen Gatsby-Film, der von Selbstbetrug, Verbohrtheit und einer hohlen Luxusscheinwelt erzählt, macht sie sich erst mal nicht schlecht.