Mut, Besessenheit, Performance-Power

Zum Tod des Rockstars Meat Loaf

Von all den Fernseh-, Film- und Popstars, die in den letzten Jahren mental abdrifteten, gehörte Meat Loaf zu jenen, denen man es am wenigsten übelnahm. Zur Erinnerung: Marvin Lee Aday, so sein bürgerlicher Name, war nicht nur überzeugter Republikaner und Donald-Trump-Fan, ja sogar guter Donald-Trump-Freund, sondern auch Klimaschwurbler. Anfang 2020 behauptete er in einem Interview, den Klimawandel gebe es gar nicht, und bezeichnete Aktivistin Greta Thunberg als gehirngewaschen. Starker Tobak, eigentlich. Und doch musste man eher mitleidig schmunzeln, als sich ernsthaft zu empören. Warum? Weil Meat Loafs große Zeit lange vorbei war, weil er kein leichtes Leben, keine einfache Karriere hatte – und weil er zum Schluss eher wie eine Witzfigur rüberkam. Wenn dagegen Eric Clapton und Van Morrison auf unangenehme Weise über Corona und übers Impfen schwadronieren, und das auch noch in ihren Songs, wenn Xavier Naidoo finstere Verschwörungstheorien vertritt oder Schauspielstars bei fragwürdigen Propagandavideos mitmachen, gefriert einem schon mal das Blut in den Adern.

Die Frage, ob man Meat Loafs Musik vor dem Hintergrund seiner dubiosen Äußerungen heute noch höre dürfe, lässt sich ähnlich leicht beantworten wie dieselbe Frage mit Blick auf Michael Jackson – den „King of Pop“ hatten in seinen letzten Lebensjahren ernstzunehmende Vorwürfe des Kindesmissbrauchs begleitet: Die Hits dieser Künstler sind regelrechte Klassiker und grundsätzlich frei von kontroversen Gedanken oder Statements – zudem haben an ihnen ganze Heerscharen an Kreativen mitgewirkt, die man durch eine Ächtung von Songs unfairerweise mitbestrafen würde. Die großen Erfolge von Michael Jackson und Meat Loaf werden nach wie vor häufig im Radio gespielt, und niemand beschwert sich. Hier haben Sender und Hörerschaften offenbar stillschweigende Vereinbarungen getroffen. Durch schweißtreibende Konzerte, auch im Rahmen der Sendung „Rockpalast“, oder teils selbstironische Auftritte in Kultfilmen wie The Rocky Horror Picture Show und Roadie sorgte Meat Loaf zusätzlich für Bilder, die in Erinnerung blieben, zu guter Letzt unterstrich er, dass man es mit Mut und Besessenheit, Stimme und unglaublicher Performance-Power auch als eher unansehnlicher Typ zum globalen Superstar bringen kann.

Der frühe Tod der Mutter, die Abneigung des Vaters, der den kleinen Marvin als „Hackbraten“ schmähte, die Verwandlung dieser Demütigung in die positive Energie eines zugkräftigen Bühnennamens, der vorübergehende Verlust der Stimme nach den ersten großen Erfolgen, Alkohol- und Drogenexzesse, Geldsorgen, Rechtsstreitigkeiten – all das beherrscht die aktuellen Meldungen über Meat Loaf. Aber welche Stellung nimmt sein musikalisches Werk in der Pophistorie ein? Schon auf seinem erfolgreichen Debütalbum Bat Out of Hell (1977) hatte der schillernde Texaner gemeinsam mit dem 2021 verstorbenen Texter, Komponisten, Arrangeur und Pianisten Jim Steinman neue Maßstäbe in der Rockästhetik gesetzt. Natürlich hatte es auch damals schon eine als „Art Rock“ bezeichnete Spielart gegeben, die sich durch überlange, musikalisch vertrackte Songs und eine gewisse Ernsthaftigkeit auszeichnete. Aber Steinman und Meat Loaf war es gelungen, ihre aufwendig produzierten mehrteiligen Kunstsong-Epen so massentauglich zu gestalten, dass sie – wenn auch teilweise in gekürzten Versionen – regelmäßig Spitzenplätze in den Singlecharts erreichten. Wo sich Art-Rock-Künstler um kompositorische wie spieltechnische Finessen und um eine irgendwie „authentische“ Expressivität bemühten, setzten Steinman und Meat Loaf das manisch-wuchtige Image und die grotesk-pathetische Bühnenperformance des Frontmanns in Worte, Klang und Musik um. Heraus kamen monumentale 5- bis 12-Minuten-Stücke, die unter ihrem orchestralen Bombast und den schrillen, die Schwelle zum Kitsch meist deutlich überschreitenden Texten nicht etwa zusammenbrachen, sondern erst richtig aufblühten. Liebe, Hass, Wut, Angst, Trauer, Euphorie – es ging um überlebensgroße Gefühle, bevorzugt die von Teenagern. Mit der LP Bat Out of Hell entfaltete der Begriff „Schmachtfetzen“ im modernen Song eine neue Dimension.

Die 1993 erschienene LP Bat Out of Hell II: Back Into Hell leitete ein großartiges Meat-Loaf-Comeback ein und verstand sich, der Titel sagt es, als eine Art Fortsetzung des erfolgreichen Debütalbums. Mit I’d Do Anything for Love (But I Won’t Do That) enthält sie den bis heute erfolgreichsten Song des Künstlers. Es ist ein Hit, der bis heute für Gesprächsstoff sorgt. Weil sich Fans immer wieder gern verhören und das Stück auf schrägste Weise durchleuchten, was für die seltsamsten Interpretationen sorgt. In anderen Worten: Der gelegentliche Umgang mit diesem Klassiker bewegt sich so offensichtlich in der Grauzone zwischen übertriebenem Songverstehen und interpretatorischer Gewaltanwendung, dass er einen Platz in der Liste der größten Pop-Songmissverständnisse verdient. „And I would do anything for love“, beteuert Meat Loaf – und hängt hier und da ein entschiedenes „but I won’t do that“ an, mit Betonung auf „that“. Und dieses „that“ sorgt chronisch für Verwirrung. „Irgendwie verstehe ich nicht, was um Himmels willen er nie für die Liebe tun würde!“, fragt beispielsweise ein Nutzer des Internetportals „www.wer-weiss-was.de“: „Er läuft bis zur Hölle und zurück, und sonstige verrückte Sachen. (…) Er steigert sich derart rein, dass ich mir schon die fürchterlichsten Sachen vorstelle …“ Und auch in anderen Foren liefern Witzbolde und ernsthaft Suchende die bizarrsten Antworten.

In I’d Do Anything for Love (But I Won’t Do That) wird Meat-Loaf-typisch geschmachtet, was das Zeug hält, ganze zwölf Minuten und eine Sekunde lang. Die ersten drei Viertel des Songs gehören einem jungen Mann, der eigentlich nichts weiter tut, als einer Angebeteten seine Liebe zu gestehen – wobei deutlich durchklingt, dass er endlich mit ihr schlafen möchte. Dabei lässt er immer wieder einfließen, dass er alles für die Liebste tun würde, und zwar uneingeschränkt. Zum Beispiel würde er einmal in die Hölle gehen und auch wieder zurück. Gleichzeitig beteuert er, ebenfalls durch verschiedenste Beispiele untermauert, dass er nichts tun würde, was sein sinnliches Erleben schmälern oder sein Ziel unterbinden könnte. Das hört sich dann zu Beginn des Songs etwa so an: „And I would do anything for love / I’d run right into hell and back / I would do anything for love / I’ll never lie to you and that’s a fact / But I’ll never forget the way you feel right now / Oh no – no way / I would do anything for love / But I won’t do that / I won’t do that.“ Zwei schlichtweg parallel nebeneinander herlaufende Argumentationsstränge bilden hier also die grundlegende Textstruktur: zum einen die an die Geliebte gerichtete Beteuerung, alles für seine Liebe zu tun, und zum anderen, völlig losgelöst davon, die eher an sich selbst gerichtete Beteuerung, zu keinem Zeitpunkt von seinem eigenem Glücksanspruch, insbesondere seinem Streben nach körperlichen Sensationen, nach Euphorie, Ekstase abzulassen. „I won’t do that“ – für die eben zitierte Songstelle heißt das: „Ich werde nie vergessen, wie du dich jetzt in diesem Moment anfühlst.“

So geht das schier endlos weiter, bis im letzten Drittel die Angebetete auftritt und nun ihrerseits prüfende Fragen stellt, die sich auch als versteckte Forderungen, wenn nicht gar als Bedingungen interpretieren lassen. Zu diesen immer absurder klingenden Bedingungen gehört sogar, sie mit Weihwasser abzuspritzen, falls ihr die Hitze, die Erregung, zu Kopf steigt: „Will ya hose me down with holy water – if I get too hot?“ Und was macht unser erregter junger Held? Beteuert, weil er endlich zum Zug kommen will, nicht minder pathetisch und vehement: „I can do that!“ Doch dann errichtet die Angebetete noch eine letzte rhetorische Barriere und konfrontiert ihn mit einem Totschlagargument: Nach einer Weile, so sagt sie ihm klagend ins Gesicht, wirst du all das vergessen, unsere Liebe nur als mittsommerliches Zwischenspiel betrachten und einfach weiterziehen: „After a while you’ll forget everything / It was a brief interlude and a midsummer night’s fling / And you’ll see that it’s time to move on.“ Und nun muss unser kopfloser Liebhaber ganz schnell schalten, wenn ihm nicht sämtliche Felle davonschwimmen sollen. Das heißt, er muss umgehend dementieren. Und zum Glück kriegt er die Kurve: „I won’t do that!“, beteuert er ein wenig entrüstet, „I won’t do that!“ – „Nein, ich werde nichts vergessen, und ich werde nicht einfach weiterziehen!“

Auch dieses Prinzip wird nun diverse Male durchexerziert. Die Frage nach der Bedeutung von „I won’t do that“ lässt sich also auf zwei verschiedene Weisen beantworten: In den ersten acht Minuten verneint „I won’t do that“ das Aus-den-Augen-Verlieren des eigentlichen Ziels, und im abschließenden Dialog mit der Geliebten schmettert „I won’t do that“ deren Vorwürfe und Unterstellungen ab. In beiden Fällen gibt es jeweils unmittelbar vorher eine Textstelle, auf die sich „I won’t do that“ konkret bezieht. Und im Versprechen, die Geliebte nicht zu enttäuschen, ist der junge Mann am Ende zumindest auf der sprachlichen Ebene vollends auf Kurs gebracht. Jetzt, da die Sache geklärt scheint, kann der Song in Frieden mit der noch einmal wiederholten Gesamtformel schließen: „Anything for love / I would do anything for love / I would do anything for love / But I won’t do that.“ Nach zwölf Minuten fällt der Song buchstäblich in sich zusammen, er endet zart und leise. Haben sie oder haben sie nicht?, so darf man sich ungeduldig fragen. Hat der junge Mann nun bekommen, was er wollte, oder wird er geläutert weiter warten? Die Antworten bleiben dem Publikum überlassen. Warum aber noch heute User in Chatforen wie „www.songfacts.com“ spekulieren, „that“ stehe für „niemals betrügen“, für „den Freund der Angebeteten ermorden“ oder gar für „Oralsex“, bleibt eins der letzten Rätsel der Menschheit.

Solche Songs ließen sich mit verschiedenen Gastsängerinnen wie kleine Theaterszenen auf der Konzertbühne realisieren – auch in dieser Hinsicht setzte Meat Loaf bei seinen Liveshows Maßstäbe. Am 20. Januar ist der einst so charismatische Rockstar viel zu früh im Kreise seiner Familie verstorben, die Todesursache ist bisher nicht bekannt. Meat Loaf wurde 74 Jahre alt. Einige seiner Platten sind längst vergessen, und sein Trump-freundliches Klimageschwurbel wird schnell vergessen sein. Jene Über- Songs aber, die er im Verbund mit Jim Steinman produzierte, werden für immer in Erinnerung bleiben.

Teile dieses Beitrags erschienen bereits 2017 in meinem Sachbuch:

I Don’t Like Mondays
Die 66 größten Songmissverständnisse

ISBN: 978-3-8062-3485-5
(WBG/THEISS)

Der Selbstermächtigungsirrtum

Immer wieder werden erotisch aufgeladene Hochglanz-Musikvideos von R&B- und Rap-Künstlerinnen als feministische Geste, als weibliches Empowerment gefeiert. Natürlich sind diese Videos schick und sexy anzusehen. Aber was die Deutung als emanzipatorische Statements betrifft, scheint es etlichen Rezensent:innen die Sinne vernebelt zu haben. Das zeigt auch die Diskussion um WAP, den Sommer-„Skandalsong“ von Cardi B. und Megan Thee Stallion.

Afghanische Mädchen, die Skateboard fahren. Saudische Frauen, die sich schon vor der verhaltenen Legalisierung 2019 trauten, ein Auto zu steuern. Türkische Frauen, die ihr Kopftuch ablegen. Die Kunstaktivistinnen von Pussy Riot, die im Kampf gegen das System Putin und die orthodoxe Kirche sogar die Verurteilung zu Arbeitslager in Kauf nehmen. Die Gründerinnen von #metoo. Die Frauen von Belarus, im friedlichen Protest gegen Diktator Lukaschenko … All diese Initiativen stehen für weibliches „Empowerment“, formulieren Botschaften mit politischer Sprengkraft. Es sind wichtige Initiativen, die höchsten Respekt verdienen – auch wegen des unglaublichen Muts, den diese Frauen in patriarchalisch-repressiven Umfeldern aufbringen. Word!

Ja, das Popuniversum mag ein weniger gefährliches, leichter zu bearbeitendes Umfeld sein als der vom Existenzkampf geprägte graue Alltag. Dennoch setzen auch hier Frauen seit Jahrzehnten immer wieder kraftvolle, Respekt gebietende  Zeichen, ob sie nun weißer Hautfarbe oder „People of Color“ sind, ob sie Joan Baez oder Lydia Lunch, Lady Gaga oder Kate Tempest heißen, Aretha Franklin oder M.I.A., Missy Elliott oder Janelle Monae. Vor diesem Hintergrund mutet es besonders grotesk an, dass seit geraumer Zeit alle paar Monate ein neuer freizügiger Song, ein neues offenherziges Video einer schwarzen oder Latina-Rapperin als emanzipatorisches Statement, als Inbegriff des weiblichen Empowerment gefeiert wird. Um nicht missverstanden zu werden: Harter Hip-Hop von Frauen, gleich welcher Herkunft, ist schon an sich ein selbstbewusstes Statement – oft unterhaltsam und ein wohltuendes Gegengewicht zum Macho-Gangster-Rap männlicher Kollegen. Dass aber ausgerechnet immer solche Werke in den Empowerment-Himmel gehoben werden, in denen die Künstlerinnen als prollige Sexgöttinnen auftreten, mutet schon etwas schizo an.

Königskobra statt Gartenschlange

Der Aufreger des Sommers in dieser Hinsicht war ein Song und Hochglanzvideo der amerikanischen Rapperinnen Cardi B. und Megan Thee Stallion. Die Rede ist von WAP – das steht für „Wet-Ass Pussy“, zu Deutsch: „Nassarsch-Muschi“. Im Song rappen die beiden Protagonistinnen über einem eher eintönigen Beat von ihrer Lust auf Sex und ihrer eigenen Verführungskraft, dazu feiern sie erotische Rollenspielchen, das hoffentlich große Geld des Mannes und diverse Körperflüssigkeiten, von Spucke über  Scheidensekret bis Sperma. Das alles wird eindeutig zweideutig bis hochgradig explizit formuliert – die Kerle, die bitte megacool sein und keine Gartenschlange, sondern eine Königskobra in der Hose haben sollen, mögen doch bitte Eimer und Wischmop mitbringen, wenn sie ihren großen Truck in der kleinen Garage ihrer Partnerin parken wollen. Ja, es geht zur Sache, aber neu ist das alles nicht. Schon das häufig von Frauen getragene Genre des „dirty blues“ im frühen 20. Jahrhundert lebte von diesem lustvoll-obszönen Spiel mit der Sprache, im Hip-Hop der Gegenwart ist es ohnehin gang und gäbe.

Das Video zu WAP zeigt Cardi B. und Megan Thee Stallion, wie sie staunend, kichernd, als Geisha-artig tippelnde Barbiepuppen ein Fantasieschloss erkunden. Und man interpretiert sicher nicht über, wenn man in diesem Schloss ein Sinnbild für den weiblichen Körper erkennt. In jedem Raum wartet eine Überraschung, es wimmelt – ja, ja – von Schlangen und Raubkatzen, ein Raum steht gar unter Wasser, und immer wieder bewegen sich die beiden „Heldinnen“ allein, zu zweit oder mit anderen Frauen in diesen Räumen, twerkend, fummelnd oder einladend sich räkelnd in lasziven Posen.

„Es sind Huren im Haus“

Ganz offenbar geht es hier um neue Heldinnen, die den eigenen Körper und die eigene Lust entdecken, die Männern sagen, was sie wollen, und bei allem ganz in Einklang mit sich selbst sind. Auch wenn der Blick auf das Geld und das Auto des willig gebenden Sexpartners den Eindruck etwas trübt. Das ist, keine Frage, schön und sexy anzusehen – und ein bisschen offensive Haltung der Gesellschaft, den Männern gegenüber kann sicher nicht schaden. Doch dass vor allem das Video, das die Protagonistinnen zu dem wohl ironisch gemeinten wiederkehrenden Sprachsample „There’s some whores in this house“, „Es sind Huren im Haus“, mit Wildtieren assoziiert und als dauergeile Sexmaschinen inszeniert, selbst von gestandenen deutschen Rockkritikern als höchst gelungenes feministisches Statement promotet wird, kann schon Kopfschütteln verursachen. So ist für „Süddeutsche“-Autor Joachim Hentschel „die bodenlose Versautheit von ‚WAP’ die transgressive Utopie der Stunde.“ Und „Zeit“-Kollege Jens Balzer kommt angeregt zu dem Schluss: „Wir sehen hier mithin nichts anderes als eine vollendete Emanzipation.“

Rumms, das sitzt! Vor allem drei Aspekte sind es, die die Verfechter der weiblichen Selbstermächtigungsthese am WAP-Song und am WAP-Video feiern:

– dass die Protagonistinnen beim Geschlechtsakt das Sitzen auf dem Mann, also die dominante Pose präferieren;

– dass ihre Körperflüssigkeiten konservative, verklemmte Männer verschrecken;

– und dass im Video die Männer abwesend seien, was gleichbedeutend sei mit dem Feiern weiblicher Autonomie.

Hentschel hebt zusätzlich die „Kunstkleider von Nicolas Jebran und Thierry Mugler“ hervor und ist regelrecht ergriffen davon, „dass im Diskurs über Song und Video wirklich alles zusammendiffundiert ist, was derzeit an Hashtags und kulturellen Topoi umherfliegt: Gender- und Hautfarbenpolitik, Cancel Culture, kulturelle Aneignung, der US-Wahlkampf, sogar Hygienefragen.“ Und Balzer zitiert „Gynäkologinnen, die den Song feiern, weil er jungen Mädchen ein positives Verhältnis zu ihrer Körperlichkeit und auch zur Masturbation vermittle.“

Wer dominiert beim Ponyreiten?

Junge, Junge, das provoziert Widerspruch. „Frau sitzt oben“, das ist doch eine ganz normale Sexstellung – die man machtpolitisch aufladen kann, aber nicht machtpolitisch aufladen muss. Und es gibt Songs aus der männliche Perspektive, die Frauen exakt zu dieser Stellung einladen, ohne damit irgendein Machtgefüge zu verändern. Man denke nur an den R&B-Künstler Ginuwine und die folgenden Zeilen aus seinem One-Hit-Wonder Pony von 1996:  „… if I have the chance / The things I would do to you / You and your body / Every single portion / Send chills up and down your spine / Juices flowing down your thigh / If you’re horny lets do it, ride it, my pony / My saddle’s waiting, come and jump on it.“ Die Einladung zum „Ponyreiten“ enthält hier mit Sicherheit keine Geste der Unterwerfung des Mannes unter den Willen der Frau. Und, ganz nebenbei, Körperflüssigkeiten, die an Schenkeln hinabrinnen, werden in Pony auch schon ausgiebig zelebriert. Klar geht es in WAP besonders feucht-fröhlich zu, aber wenn Gynäkologinnen ausgerechnet diesen Song als Lehrstück für junge Frauen heranziehen wollen, die eine gesunde Einstellung zu ihrer Körperlichkeit und zur Masturbation entwickeln sollen, dann ist Vorsicht angebracht. Genauso wie die Frage, ob Amerika – Heimat einer riesigen Sex- und Pornoindustrie, Land der „American Pie“-Filme, des „Hustler“-Magazins und der „Spring Break“-Exzesse – hier noch alle Tassen im Schrank hat.

Ein Lehrstück für Masturbation dürfte WAP aber vor allem für einsame Jungs und Männer sein, die nun nicht mehr auf Pornowebsites zur Triebabfuhr ausweichen müssen, sondern ganz unverfänglich ein Musikvideo als Vorlage nutzen können. Denn seien wir ehrlich: Wie Cardi B. und Megan Thee Stallion in sexy Outfits durch das Schloss geistern, wie sie ihre bebenden Brüste und Hintern in die Kamera halten, sich die Lippen lecken und gegenseitig liebkosen, das bedient schlicht und einfach den hetero-männlichen Blick. Dass ihre Klamotten, die so auch aus einem Beate-Uhse-Katalog oder einem Fetischladen stammen könnten, von Thierry Mugler und Nicolas Jebran designt wurden, macht die Sache nicht kunstvoller, schon gar nicht besser. „Für männliche Betrachter ist es hier kaum möglich, die Brüste und Hintern irgendwie auf sich zu beziehen, diesen Sex persönlich zu nehmen“, schreibt Joachim Hentschel, und man fragt sich, auf welchem Planeten der Autor lebt. Als ob man irgendwelche Körperteile persönlich auf sich selbst beziehen müsste, um Spaß mit einem Heftchen oder Filmchen zu haben.

Peepshow-Ästhetik

Womit wir bei einem der wichtigsten Streitpunkte angelangt sind: der Abwesenheit der Männer. „Sie haben sich zum Tanzen und Schubbern und An-sich-Herumspielen ein paar andere Musikerinnen eingeladen“, schwärmt Jens Balzer von der visuellen WAP-Umsetzung: „Gemeinsam und jede für sich feiern sie ihre Körper und ihre Lust. Männer sind dazu gar nicht vonnöten; sie werden zur Stimulanz nicht gebraucht und nicht mal als sexuelle Objekte.“ Aha, so, so. Und na ja, tatsächlich: Im Video sind keine Männer zu sehen. Aber: In den Lyrics sind sie überpräsent: als taffe Typen, die es den Protagonistinnen blind vor Geilheit besorgen und freiwillig Geld und Auto rausrücken. So entsteht ein seltsamer Bruch zwischen Song und Video. Spitzt man diesen Aspekt ein wenig zu, dann kann man Peepshows als Vergleich heranziehen. Auch dort sind auf der Bühne keine Männer zu sehen, die schauen aus den Kabinen mit den Gucklöchern zu, so wie es sich die Videozuschauer am heimischen Bildschirm gemütlich machen. Die Frage ist nur: Wer würde Peepshows ernsthaft als Institutionen des gelebten Feminismus betrachten, die Sexarbeiterinnen dort als Heldinnen der Selbstermächtigung? Von daher gibt es Extra-Peinlichkeitspunkte, wenn Hentschel die Tanzszenen aus dem WAP-Video mit der Lage der amerikanischen Nation und vor allem mit den „Black Lives Matter“- oder Genderdebatten der letzten Monate kurzschließt, um ihnen eine gesellschaftlich heilende Wirkung zuzuschreiben: „Denn besonders nach den verschiedenen Schreckensbildern der letzten Monate liegt eine geradezu unbändige Kraft im Anblick einer Chorus Line aus schwarzen Frauen, die im knöcheltiefen Wasser tanzen, Stolz und Fleischlichkeit behaupten, das verbindende Element menschlicher Körperausflüsse feiern.“ Als wenn es Revuen aus twerkenden schwarzen Frauen in feuchter Umgebung nie zuvor in einem Musikvideo gegeben hätte, zum Einstieg in die Materie bietet sich Anaconda von Nicki Minaj an.

Es geht auch anders

Das WAP-Video wurde, wie nicht anders zu erwarten, von einem Mann gedreht – von Collin Tilley. Wobei die Künstlerinnen nicht müde werden zu betonen, wie mitbestimmend sie in den Produktionsprozess eingebunden waren. Und so könnte man ein weiteres Mal zuspitzend behaupten: Früher wurden weibliche Popstars von Männern ungefragt als Sexobjekte inszeniert – heute entscheiden sich weibliche Stars sehr selbstbewusst dafür, als Sexobjekte inszeniert zu werden. Ein Video über Körperflüssigkeiten, das erzreaktionäre Männer verschreckt? Geschenkt! Diese erzreaktionären Männer erleiden ja schon einen Herzanfall, wenn sie zwei sich küssende Menschen sehen. Wenn das Feminismus ist, dann habe ich etwas gründlich missverstanden.

Weibliches Empowerment und die Thematisierung von Körperflüssigkeiten, das gibt es natürlich nicht erst seit Cardi B. und ihrem WAP-Video. Echtes Künstlerinnen-Empowerment und wirklich irritierende Einblicke liefern zwei andere Videos, die außerdem musikalisch mehr zu bieten haben als WAP. Das eine ist Bad Guy aus dem Jahr 2019, Billie Eilishs dezent blutige Persiflage auf überkommene Männlichkeitsbilder und erotisch aufgeladene Musikclips. Im Songtext geht es um eine abgründige junge Frau, die ihrer pseudotaffen Muttersöhnchen-Affäre zeigt, wer wirklich die Kontrolle hat.

Das andere ist schon etwas älter und – Achtung! – ganz bestimmt nicht jedermanns Sache. Es stammt aus dem Jahr 2015, ist von Peaches und trägt den Titel Rub. Rub scheint wie als Ohrfeige gemacht für Joachim Hentschel, der sich angesichts von Cardi B.’s WAP zu der poetischen Bemerkung verleiten lässt: „Nein, natürlich wird keine Vulva gezeigt in dem Musikvideo. Und ja, trotzdem glaubt man sie zu sehen, viele sogar. Wenn man ‚WAP’ laufen lässt, den radikalen, sensationellen Hip-Hop-Clip der US-Rapperinnen Cardi B und Megan Thee Stallion, werden die Vulven und Vaginen sogar irgendwie hörbar. Was schon semiotisch bemerkenswert ist.“ In der „uncensored version“ von Rub sind sie einfach explizit zu sehen, die in den Lyrics besungenen „pussies“ – und zwar im Rahmen einer wilden Frauen-Orgie mit Transgender-Touch. An einigen Stellen tritt Transgender-Pornostar Danni Daniels in Aktion, zu wenig blumigen Versen wie: „Can’t talk right now, this chick’s dick is in my mouth …“ Nochmals, nicht falsch verstehen: Sie sollen gerne weitermachen, die Cardi B.s, Nicki Minajs und – ja, auch die – Beyoncés dieser Welt. Es ist ja durchaus spektakulär, was sie machen. Aber man muss uns diese auf Click- und Verkaufszahlen hin optimierten voyeuristischen Hochglanzproduktionen nicht weiter als revolutionäre, gesellschaftsverändernde Kunst verkaufen.

Pop dreht frei

(II) Gegen jede Vernunft

Amerikas Musikgeschehen, das zeigte Teil (I) von „Pop dreht frei“, glänzt durch hilflose Bands und diktatorische Fans, durch Größenwahn und Populismus. Aus Großbritannien sendet ausgerechnet Robbie Williams verstörende Signale. Und auch hierzulande dominieren nicht etwa aufregende Künstler die Schlagzeilen, sondern kleinere und größere Popkatastrophen: von Xavier Naidoo bis zu Düsseldorfs OB, von Manuel Neuer bis zum „Donaulied“. Selbst Rammstein-Frontmann Till Lindemann kriegt keine ordentliche Provokation mehr hin.

Aus Amerika kommt in Sachen Pop zurzeit viel Absurdes. Zum Beispiel von Madonna. Die „Queen of Pop“ a. D. preist nicht nur das umstrittene Malaria-Mittel Hydroxychloroquin als Wundermittel gegen Corona, sondern behauptet auch, dass ein bewährter Impfstoff längst verfügbar sei, jedoch unter Verschluss gehalten werde, damit die Reichen reicher und die Armen ärmer und kranker werden. Da dürfen europäische Superstars natürlich nicht zurückstecken. Und so bemüht sich Robbie Williams redlich, Anlass zur Besorgnis zu geben. Der verrückte Brite hatte sich in der Vergangenheit bereits als Fan von UFOs und Aliens geoutet – jetzt äußerte er in Interviews zumindest Sympathien für den einen oder anderen Verschwörungstheoretiker. Und wies vielsagend darauf hin, dass er die „Pizzagate“-Theorie zumindest für nicht widerlegt halte. Die Pizzagate-Theorie? Richtig: Das war die abstruse Behauptung, aus einer Washingtoner Pizzeria heraus sei ein Kinderpornoring betrieben worden, in den auch die US-Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton verwickelt gewesen sei.

Die tägliche Dosis Geheimwissen

Womit wir direkt nach Deutschland schalten. Zum Beispiel zu Xavier Naidoo. Der einst beliebteste Soulpopper des Landes war schon Monate vor Corona bei großen Teilen der Öffentlichkeit angeeckt: mit antisemitischen Versen in seinen Lyrics, mit kruden Thesen über Ritualmorde an Kindern, mit Redebeiträgen für die sogenannten „Reichsbürger“. Durch den Song Marionetten, den er 2017 gemeinsam mit den Söhnen Mannheims eingespielt hatte, geisterten Pegida-Jargon und eben jene Pizzagate-Theorie. Schon das war starker Tobak. Endgültig in Ungnade aber fiel Naidoo wegen kurzer Video-Posts in sozialen Medien, die mit ausländerfeindlichen Statements und absurden Corona-Theorien erschreckten – dazu passten gemeinsame Aktionen mit dem Vegan-Koch Attila Hildmann. Und der ist bekanntlich bereit, als Märtyrer für seine Wahnvorstellungen zu sterben. Hier noch groß zu kritisieren und zu appellieren, scheint müßig: Typen wie Hildmann und Naidoo muss man als „verloren“ abhaken, die holt man nicht wieder auf den Boden der Vernunft zurück. Eine Theorie besagt, dass wer Verschwörungstheorien anhängt, eine gewisse Unausgeglichenheit, die eigene Bedeutungslosigkeit kompensieren will. Demnach gibt die Gewissheit, über ein Geheimwissen zu verfügen, solchen Menschen das dringend benötigte Gefühl, etwas Besonderes zu sein – sich erleuchtet von der Masse abzuheben. Es scheint wie eine Droge zu sein.

Nur dass dieser Droge neben Hinz und Kunz inzwischen auch Kaliber wie Madonna, Robbie Williams oder Xavier Naidoo verfallen. Sollten Popstars vielleicht doch nur Menschen sein? So wie Politiker auch nur Menschen sind? Auftritt Thomas Geisel, Oberbürgermeister von Düsseldorf: Der machte im Juli 2020 seinem Nachnamen alle Ehre, weil er meinte, ausgerechnet Rapper Farid Bang, dessen Texte er eigentlich „widerwärtig“ findet, als Botschafter einspannen zu müssen. Mit dem Effekt, dass vor allem er selbst eingespannt wurde. Zur Erinnerung: Farid Bang ist der wegen antisemitischer und sexistischer Verse berüchtigte Gangsta-Hip-Hopper, der 2018 zusammen mit Kollegah den „Echo“-Musikpreis zu Fall gebracht hatte. Bang, sicher hocherfreut über den kleinen Popularitätsschub, setzte sich artig für Herrn Geisel vor die Videokamera und bat auf „Sesamstraße“-Niveau – „Hallo Leute, ich zieh euch die Ohren lang, haha!“ – unvernünftige Partypeople, sich doch endlich an die Corona-Beschränkungen zu halten, man gefährde schließlich ältere Menschen und so. Der notorische Regelbrecher als Hüter der Regeln: Was für eine absurde Idee! Die lustlos abgespulte und nur mäßig überzeugenden Ansage des Herrn Bang sorgte vor allem für eines: Dem OB blies von allen Seiten Wind ins Gesicht. Von der Opposition, von entsetzten Bürgern, von jüdischen Verbänden. WDRaktuell war nur eins der vielen Medien, die bundesweit berichteten. Und so kam es, wie es kommen musste: Das Video musste vom Netz.

„Why can’t we all just get along?“

Man stelle sich vor: Wissbegieriges Partyvolk, das sich nachdenklich Farid Bangs Aufklärungsvideo anschaut und dann schuldbewusst nach Hause geht, um einen Kräutertee zu trinken. In seinem hochnotpeinlichen Anbiederungsversuch an die dunkle Seite der Macht erinnerte der hilflose SPD-Mann Geisel an Jack Nicholson und dessen herrliche „Why can’t we all just get along?“-Rede in Tim Burtons clever-satirischem Science-Fiction-Klamauk Mars Attacks. Voll aufgesetzter Gutmütigkeit und Wärme appelliert da der Hollywoodstar als schmierig taktierender US-Präsident an die Vernunft der kleinen grünen Invasoren, die gerade zu ihm vorgedrungen sind. Scheinbar reumütig senken die bösen Marsianer die Köpfe und vergießen ein wunderbares Krokodilstränchen – nur um den Präsidenten im nächsten Moment per Tentakel-Dolchstoß ins Jenseits zu befördern und die Erde weiter genüsslich in Schutt und Asche zu legen.

Nicht wundern würde mich indes, würde Farid Bang bald wieder in gewohnter Manier durch die Gegend pöbeln, einschließlich verbaler Attacken gegen den Düsseldorfer Magistrat. Denn, Bushido hat es vorgemacht, so funktioniert Gangsta-Rap: Immer ambivalent und schwer zu fassen sein, keine Verantwortung übernehmen, das Establishment hinters Licht führen, ständig attackieren. Hauptsache, man bleibt „credible“ bei den Fans, und die Album-Verkaufszahlen stimmen. Für den Düsseldorfer OB jedenfalls war die Sache ein Kommunikations-Super-GAU.

Den erlebte auch Manuel Neuer, als er im Sommerurlaub mit kroatischen Kollegen und deren Freunden ein beliebtes kroatisches Lied sang, das Fußballfans aus der Region genauso gern schmettern: Du bist schön, eine patriotisch aufgeladene Liebeserklärung an die Heimat, in die sich Medienberichten zufolge Beisitzansprüche auf Gebiete in Bosnien-Herzegowina mischen sollen. Das Lied stammt von der Gruppe Thompson, deren Sänger Marko Perkovic als Ultrarechter gilt und in anderen Songs die faschistische Ustascha-Bewegung verherrlicht. Ein Video der Neuer’schen Gesangseinlage ging viral und brachte den Kapitän der deutschen Fußballnationalmannschaft in ernste Erklärungsnöte. „Songmissverständnis aus Unkenntnis der Sprache“ und „Unwissenheit schützt vor Strafe nicht“, das sind die Schubladen, in die sich der Fall mindestens packen lässt. Ein anschauliches Beispiel für die Fallstricke, die das Internet und soziale Netzwerke selbst unbescholtenen Prominenten nicht vorenthält. Aber auch ein Beleg für die Naivität des Weltklassetorhüters, der glaubhaft versicherte, weder die kroatische Sprache zu beherrschen noch die Hintergründe des Liedes zu kennen. Wobei: Letzteres hat dann doch überrascht. Denn der Ustascha-Gruß und das Absingen des Liedes Du bist schön bei internationalen Fußballturnieren wird schon seit Jahren in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. Gerade vom Kapitän der deutschen Nationalmannschaft, der nun mal wirklich die vielbeschworene Vorbildfunktion erfüllt, hätte man einen besseren Kenntnisstand, mehr Bewusstsein und mehr Reife erwartet. Sei’s drum. Denn was am Ende am meisten beunruhigt, ist etwas ganz anderes – nämlich ein Gedanke, den die „Frankfurter Rundschau“ in einem Bericht über den Fall zitiert: „Auf Twitter schreibt jemand: ‚Das Problem ist nicht Neuer. Das Problem ist, dass es überhaupt kein Problem ist, Thompsons Lieder in Kroatien zu singen.’“ Da ist was dran.

Das Problem, dass problematische Lieder kein Problem sind

Ähnlich lässt sich über den grauslig pathetischen Metal-Kracher Panzermarsch befinden, den sich das ungarische Militär ausgerechnet von der Rechtsrockband Kárpátia schreiben ließ. Die Regierung unter Viktor Orbán sieht darin tatsächlich nicht das geringste Problem. Warum auch?, Kárpátia sind ja in Ungarn recht beliebt. In Deutschland wiederum scheint es mancherorts kaum ein Problem zu sein, ein altes Volkslied ausgerechnet in solchen modernisierten Versionen zu singen, die eindeutig eine Vergewaltigung beschreiben. Die Rede ist vom vielfach aktualisierten Donaulied und Zeilen wie den folgenden: „Einst ging ich am Ufer der Donau entlang, Ohohoholalala / Ein schlafendes Mädchen am Ufer ich fand, Ohohoholalala / Sie hatte die Beine weit von sich gestreckt, Ohohoholalala / Ihr schneeweißer Busen war halb nur bedeckt, Ohohoholalala / Ich machte mich über die Schlafende her, Ohohoholalala / Da hört sie das Rauschen der Donau nicht mehr, Ohohoholalala.“ Das Opfer wird schwanger, und in manchen Versionen macht sich der Täter alsbald aus dem Staub – nicht ohne den Hinweis an die „saublöde Schlampe“, er habe doch einen Gummi benutzt. In der hier zitierten Version des Portals rhoischnoke.de wiederum ruft der Vergewaltiger der Frau am Schluss noch entgegen: „Hier hast du ’nen Heller und geh’ halt nach Haus, Ohohoholalala / Und wasch dir den Schnickschnack mit Kernseife raus, Ohohoholalala.“ Zufriedenes Fazit: „Ich stand auf der Brücke und schwenkte den Hut, Ohohoholalala / Ade, junge Maid, ja die Nummer war gut …“

Die abgewandelten Versionen sind veritable Bierzelt-Hits und werden von Befürwortern gern mit dem Verweis auf die Tradition verteidigt. Nur: Von Tradition kann hier gar keine Rede sein. Denn in seinen frühen Versionen kreist das Lied eben nicht um eine Vergewaltigung, sondern um eine mal mehr, mal weniger zart entflammende Liebe. Und selbst eine aktuelle Schenkelklopf-Schlagerversion von Mickie Krause erzählt von einvernehmlichem Sex. So heißt es bei Krause nach den Eingangsversen halbwegs verträglich: „Da wachte sie auf und sie sagte: ‚Komm her’, Ohohoholalala. / Wir hörten das Rauschen der Donau nicht mehr, Ohohoholalala.“ Natürlich ist auch diese Version nicht die eleganteste, zumal der männliche Sprecher die Frau im Anschluss sitzen lässt; aber – jo mei, Ohohoholalala – in Bierzelten darf es gern etwas rauer zugehen, und ganz so realitätsfern ist das Ende vom Lied ja nun auch wieder nicht. Männer sind eben Schweine. Mit Den Ärzten könnte man sogar sagen: Trau ihnen nicht, mein Kind …

Insofern ist bei Herrn Krause Entwarnung angezeigt – bei „Ich machte mich über die Schlafende her“ jedoch nicht! Absolut nachvollziehbar, dass Passauer Studenten eine Petition starteten, die ein kritisches Nachdenken über die Vergewaltigungsversionen des Liedes und ihre Verwendung in Bierzelten forderte. Selbst mit Blick auf Kunstfiguren und Rollen-Ichs sind die in Richtung Übergriff getunten Textversionen verwerflich. Vor 60 Jahren gab es mal einen Überraschungsschlager, der triefende Seemanns- und Rotlichtromantik mit handfesten Fantasien von Übergriffen im Wald und sogar im Publikum mischte. Er hieß Laila, stammte von den niederländischen Regento Stars und ließ Frontmann Bruno Majcherek etwa folgenden Schwachsinn radebrechen: „Stellen Sie sich vor, meine Damen und Herren, ich wär einen wilden Räuber. Stellen Sie sich vor, Sie liefen ganz allein rum im Wald, ich tät rufen von ‚Hände hoch, oder ich schieße sie!’ Wäre das nicht wunderbar? Fühlen Sie jetzt, meine Herren, dass die Damen vollkommen willenlos sind geworden, denn bei der zweiten Strophe hat sich schon eine ganze Menge junge Damen in dem Sekt- und Schnapstrinken verschluckt.“ Und weiter: „In der magisch hellen Tropennacht / Vor dem Frauenhaus in Algiers / Hat ein dunkles Auge ihm zugelacht / Dem kranken bleichen Legionär.“ Damals, 1960, mag es noch halbwegs „normal“ gewesen sein, sich auf die Schenkel zu klopfen (die Herren) und verschämt mitzuklatschen (die Damen). Dass aber heute, im 21. Jahrhundert, Frauen und – in der Mehrheit – Männer den „modernen“ Vergewaltigungstext des Donaulieds bierselig in einem Feierkontext mitgrölen, sollte sich eigentlich von selbst verbieten.

Klopapier aufs Gartenhaus? Es ist etwas komplizierter …

Womit sich der Kreis zu Goethes Gedicht vom „Heidenröslein“ schließt, gegen das zu Beginn von Teil (I) dieses Beitrags mit einer Klopapieraktion protestiert wurde. Bei Goethe kommt ebenfalls ein Jüngling eher zufällig vorbei („Sah ein Knab’ ein Röslein steh’n …“), dann heißt es unverblümt blumig: „Und der wilde Knabe brach / ’s Röslein auf der Heiden / Röslein wehrte sich und stach / Half ihm doch kein Weh und Ach, / Mußt’ es eben leiden.“ Verschiedene Deutungen dieses Gedichts heben auf die poetische Verarbeitung einer enttäuschten Liebe ab – als habe der Knabe dem verliebten Heidenröslein das Herz gebrochen. Als Bezugspunkt im wirklichen Leben wird dazu gern die Affäre zwischen Goethe und Friederike Brion bemüht – ein leidenschaftliches Techtelmechtel, das der Dichterfürst per Brief beendet hatte. Friederike soll schwer verliebt gewesen sein und auch ihrerseits einen tiefen Eindruck bei Goethe hinterlassen, ihn sozusagen „gestochen“ haben. Doch im Kampf um diese Liebe (sie „wehrte sich“ gegen das Verlassenwerden) war sie letztlich unterlegen.

Das ist die biografisch motivierte Interpretation. Nur kommen Gedichte selten mit einem Beipackzettel inklusive Lebenslauf und Psychogramm ihres Urhebers daher. Und für gewöhnlich überdauern sie die Zeiten, erst recht wenn Goethe der Verfasser ist. Weshalb sich einer weniger informierten Leser-/Hörerschaft von heute ganz andere Fragen stellen. Etwa: Wieso will der Knabe das Heidenröslein brechen? Was genau ist mit „brechen“ gemeint, und was soll die kraftstrotzende Ankündigung? Wie anders kann Rösleins Ansage „Ich steche dich“ zu verstehen sein denn als „Ich weigere mich, ich sage Nein“? Und klingt das Fazit „Mußt’ es eben leiden“ nicht unglaublich zynisch? Rücksichtslos? Gewalttätig? Und so lässt sich hier – frei nach dem Motto „Trau nie dem Autor, trau nur seiner Erzählung“ – durchaus auch auf eine Vergewaltigung schließen. Deshalb fragen konsequente Kritiker des Goethe’schen Frauenbilds erzürnt: Erzählt das Gedicht vom Heidenröslein von einvernehmlichem Sex? Klare Antwort: Nein. Also lasst uns Klopapierrollen auf Goethes Gartenhaus werfen! Aber muss man denn wegen des Heidenrösleins gleich das ganze Werk, die ganze Dichterperson verdammen? Ebenfalls: Nein. Denn dafür ist, wir haben’s gesehen, die Angelegenheit zu kompliziert. 

Wer Lindemann verteidigt, läuft Gefahr, selbst als Nazi, Sexist oder Dumpfbacke beschimpft zu werden

Einfacher, eindeutiger zu beurteilen ist der geschilderte Sachverhalt in Wenn du schläfst, einem aktuellen „Skandal“-Gedicht von Rammstein-Sänger Till Lindemann. Ist es Zufall, dass Wenn du schläfst an Goethes ambivalenten Text, aber auch an die weniger korrekten Versionen des Donaulieds erinnert? Hier ein paar Auszüge: „Ich schlafe gerne mit dir, wenn du schläfst. Wenn du dich überhaupt nicht regst.  (…) Schlaf gerne mit dir, wenn du träumst. Und genau so soll das sein (…) Etwas Rohypnol im Wein (etwas Rohypnol ins Glas). Kannst dich gar nicht mehr bewegen. Und du schläfst, es ist ein Segen.“ In diesem Fall gibt es keinen Zweifel: Wenn du schläfst kreist um die Vergewaltigung einer bewusstlos gemachten Frau. Ja ist denn dieser Lindemann noch zu retten? Die Feuilleton-Wellen schlugen hoch. Erbitterten Kritikern und dem Vorwurf, der Text würde sexuelle Gewalt gegen Frauen propagieren, hielt Lindemanns Verlag Kiepenheuer & Witsch zu Recht entgegen: Das Ich im Text ist nicht mit dem Ich Till Lindemanns gleichzusetzen, der Autor schlüpft hier bewusst in die Rolle eines Mannes, der etwas zutiefst Verwerfliches tut. Schon klar. Und trotzdem darf man fragen: Warum in aller Welt veröffentlicht der Rammstein-Frontmann so einen Text? Und warum gerade in diesen Zeiten? Um zu offenbaren, wie krank manche Männer ticken? Um flirtfreudigen Partygängerinnen zu mahnen, ihre Drinks nicht aus den Augen zu lassen? Oder einfach nur um zu provozieren?

Lindemann hat inzwischen einen Status erreicht, der Rezensenten in ein Dilemma stürzt: Äußert man sich empört über seine Ergüsse, dann lacht er sich eins ins Fäustchen, denn er hat erreicht, was er wollte: hitzige kontroverse Diskussionen. Verteidigt man ihn aber oder mahnt auch nur: „Halb so wild“, dann läuft man unweigerlich Gefahr, selbst als Nazi, Sexist oder Dumpfbacke beschimpft zu werden. Alles schon erlebt. Klar empfinde ich dieses „Gedicht“ als abstoßend, als plump und schon gar nicht als Literatur. Und doch meine ich, man sollte die Kirche im Dorf lassen. Es ist ein Rollenspiel, das letztlich Bezug nimmt auf verstörende Erscheinungen unserer Zeit – auf häusliche Gewalt, auf sexuelle Übergriffe im Nightlife-Kontext, auf sexuelle Übergriffe an sich. So ein „Gedicht“ kann man machen. Man muss es aber nicht machen. Erst recht nicht, wenn das schmerzhafte Thema durch die #metoo-Bewegung, durch Sexismusdebatten und die Aufregung um verschiedenste furchtbare Missbrauchsskandale seit Monaten breit in der Öffentlichkeit verhandelt wird. Da wartet bestimmt niemand auf eine einfallslos-anrüchige Wachrüttelaktion des Herrn Lindemann, der ansonsten durchaus aufregend aufzuregen weiß.

So untermauert auch Wenn du schläfst die These von der momentanen Orientierungslosigkeit des Pop. Pop haut nur noch um sich, Pop verärgert, Pop wird instrumentalisiert. Und das sogar von manchen Fans, auch wenn sie in der Bundesrepublik eher harmlos-naiv vorgehen. So wie ein Student aus Offenbach, der sich tatsächlich dafür einsetzt, die dortige Bismarckstraße neu zu benennen. Und zwar nach einem Sohn der Stadt, dem Gangsta-Rapper Haftbefehl. „Die Zeit“ berichtete Ende Juli in großem Stil, nicht ohne süffisanten Unterton. Der Hintergrund, na klar, sind die „Black Lives Matter“-Proteste, es geht gegen den Kolonialismus, die grausame Unterdrückung fremder ethnischer Gruppen. Natürlich kann man den studentischen Impuls verstehen, und die Umbenennung einer Straße ist tatsächlich besonnener als das Niederreißen einer Statue. Doch was Bismarck, der für die Kolonialisierung in Afrika stand, mit einem kurdischen Rapper zu tun haben soll, bleibt in diesem Fall genauso undurchdacht wie die Frage, warum ausgerechnet jener Haftbefehl eine eigene Straße bekommen soll. Der hessische Hartreimer ist zwar durchaus zu Selbstkritik und Selbstironie fähig, wie nicht nur sein Auftritt im doppelbödig-geschmacklosen Lindemann-Video Mathematik beweist, aber er hat in der Vergangenheit auch schon einigen politisch unkorrekten Unsinn von sich gegeben. Nicht zuletzt schießt er sich gelegentlich schon mal selbst ins Bein, und das wortwörtlich. Da gäbe es bestimmt ein paar Offenbacher, die viel eher eine eigene Straße verdient hätten.

Aber Hauptsache, es wurde ein bisschen Propaganda gemacht, das überbordende Ego bestätigt, grober Unfug als letzte Weisheit proklamiert. Und genau darin ist Pop mit allem, was dazugehört, ein Spiegel unserer Zeit. Einer Zeit, in der Populisten das Zepter schwingen, in der orientierungslose Corona-Skeptiker und Esoteriker keine Probleme damit haben, gemeinsam mit Rechtsnationalen zu demonstrieren, und in der die politisch Verantwortlichen die vielen positiven Perspektiven, die der Lockdown immerhin aufgezeigt hatte, einfach ignorieren. Vielleicht haben Die Ärzte ja recht, wenn sie in Abschied singen: „Los, komm, wir sterben endlich aus, denn das ist besser für die Welt …“

„Echo“ oder: Wie man in den Wald hineinruft …

Über den widersprüchlichen Umgang mit fragwürdigen Entertainern und die seltsame Kluft zwischen Verkaufs- und Radiocharts

Ein Gedanke vorweg: Es ist noch nicht lange her, da engagierten findige Filmproduzenten für actiongeladene Reißer wie 4 Blocks und Nur Gott kann mich richten waschechte Gangsterrapper als Schauspieler und Soundtracklieferanten, um sich anschließend regelrecht ergriffen von der eigenen Genialität zu zeigen. Hochkarätig besetzte Fachjurys und das Feuilleton dankten es ihnen mit nicht minder begeisterter Resonanz – lobten neben der unglaublichen Authentizität der Produktionen auch das darstellerische oder das musikalische Potenzial der teilweise vorbestraften Akteure und überschütteten einige der Macher sogar mit Preisen. Gangster und Rapper wurden hier spektakulär inszeniert und auf dem roten Teppich gefeiert. Nun erhalten Kollegah und Farid Bang, zwei aus ähnlichem Holz wie die Straßenschauspieler und Filmsoundtracker geschnitzte Brachialrapper, trotz an Geschmacklosigkeit kaum zu überbietender Songverse den „Echo“-Medienpreis – und alle sind entrüstet. Die Entrüstung teile ich, aber wie passt das zur vorangegangenen Begeisterung der „Kritik“ über die genannten Film- und Fernsehproduktionen? Im Rahmen einer spannend inszenierten Fiktion lässt man sich diesen dämlichen Machokram offenbar gern gefallen, aber so in echt, aus den Boxen und von der Bühne, wirkt er dann doch irgendwie abstoßend, widerlich. Oder nicht?

Dissing: Brachialrhetorik zwischen derbem Spiel und ernsthafter Haltung

Kollegah und Farid Bang wurden beim „Echo“ gleichermaßen angefeindet und „geehrt“ für Songs wie 0815 mit künstlerisch wertvollen Zeilen wie „Und wegen mir sind sie beim Auftritt bewaffnet / Mein Körper definierter als von Auschwitzinsassen“ oder, gemünzt auf die feministisch wie antifaschistisch engagierte Rocksängerin Jennifer Weist, „Und Jennifer Rostock schwingt nach ’ner Schelle den Kochtopf / Bringt dann die Säcke zum Kompost und blowt den prächtigen Bosscock“. Schon Anfang 2018 hatte Farid Bang im gemeinsam mit Fler aufgenommenen Song AMG nach demselben Prinzip gerappt: „Aus dem Lamborghini zieh’ ich diese Carolin in den Jeep / Und die alte Bitch wird im Wald gefickt wie Aborigines / (…) / Fick Alice Schwarzer mit ’ner Horde schwarzer Alis.“ Schon klar, Gangster- und Battle-Rap lebt von phatten Egos, vom rhetorischen Wettstreit und der größtmöglichen verbalen Schmähung der Kontrahenten, was zu einer endlosen Spirale an sich steigernden Geschmacklosigkeiten führt, bis hin zu menschenfeindlichen Beschimpfungen und Vergewaltigungsfantasien. Die moralische Entrüstung der Öffentlichkeit und hip-hop-ferner Prominenter, die man nicht mag und eben schnell mal übelst mitgedisst hat, ist für die Rapper ein wünschenswerter Begleiteffekt.

Gerade im Hip-Hop sind die Grenzen zwischen rhetorischem Spiel und ernsthaftem Ausdruck einer persönlichen Haltung fließend: Über die Frage, ob Kollegah oder sein Kollege Haftbefehl tatsächlich judenfeindlich gesinnt seien, ob hinter sexistischer Rhetorik, Rape-Lines und „Schwuchtel“-Schmähungen tatsächlich tief empfundene Misogynie und Homophobie stehen, gehen die Meinungen regelmäßig auseinander – zu undurchsichtig-bauernschlau sind das lyrische Rollenspiel und die Öffentlichkeitsarbeit der führenden Genrevertreter. In der Szene lassen sich Gangsterrapper mit ihren überbordenden Song-Egos als die Härtesten, die Krassesten, ja, die Authentischsten feiern – der bestürzten Öffentlichkeit gegenüber aber erklärt man, nachdem man die ersten Entrüstungswellen genossen und gefeiert hat, dass doch alles bloß ein derber Spaß sei. Ein ergänzender feister Verweis auf die Freiheit der Kunst darf selten fehlen. Verteidiger besagter Gangsterrapper verharmlosen gern oder feiern deren Respektlosigkeit als Selbstbehauptungsstrategie – wenn gar nichts mehr hilft, bemühen sie das romantische Bild von rappenden Straßenreportern, die ihren harten Alltag und gesellschaftliche Befindlichkeiten widerspiegeln. Auch seien doch Subversion und Provokation schon immer Markenzeichen, wenn nicht Gütesigeel von Pop gewesen. Medien wie die „Frankfurter Rundschau“ dagegen beklagen den „strukturellen Antisemitismus und Sexismus im Gangsta-Rap“ und sehen im „einheimische Rap nur die Avantgarde einer neuen Rhetorik der Selbstbehauptung, die sich als Hass-Kommunikation in den sozialen Medien breitgemacht und längst auch im Deutschen Bundestag eine Bühne gefunden hat.“ Wo Pop in den Sixties bis Nineties meist gegen die Unterdrückung von Minderheiten und für eine freiere, gerechtere Gesellschaft provozierte, wird heute gegen genau diese Errungenschaften und gegen „political correctness“ polemisiert. Die eher links orientierte Rap-Gruppe Antilopen Gang vergleicht Kollegah sogar mit einem faschistischen Agitator.

Fragwürdige Songs verkaufen sich wie geschnitten Brot – und keiner merkt es

Aber nun zu zwei Entwicklungen der letzten Jahre, die diese Echo-Verleihung wieder eindrucksvoll ins Bewusstsein gebracht hat. Erstens: Unappetitlich bis fragwürdig kontroverse Songs verkaufen sich in Deutschland wie geschnitten Brot. Und zweitens: Ein großer Teil der Öffentlichkeit bekommt davon gar nichts mit – weil dieser große Teil der Öffentlichkeit am ehesten Radio hört und dort meistens ganz andere Musik gespielt wird. Noch einmal zum Mitschreiben: Kollegah und Farid Bang, Rap-Kollegen wie Haftbefehl und Bushido, aber auch Bands wie die Böhsen Onkelz und Frei.wild stehen immer wieder wegen sexistischer und homophober, rassistischer, antisemitischer oder nationalistischer Songelemente in der Kritik. Sie laufen so gut wie nie in Funk und Fernsehen – und sind trotzdem extrem erfolgreich. Der „Echo“-Musikpreis legt jedes Jahr ungewollt den Finger in diese Wunde: Denn er zeichnet nicht etwa herausragende künstlerische Leistungen aus, sondern die Künstler mit den höchsten Verkaufszahlen. Zwar sorgen Fachjurys in den einzelnen Kategorien noch für die eine oder andere Akzentverschiebung, aber nominiert wird nur, wer die meisten Einheiten eines Werkes abgesetzt hat. Und das sind eben immer wieder Acts wie die oben genannten. Fast jedes neue Album der führenden Gangsterrapper und ihrer männerbündlerisch-nationalistisch tönenden Rockkollegen erklimmt unbemerkt binnen kürzester Zeit die Spitze der Offiziellen Deutschen Charts. Die Offiziellen Deutschen Charts, das sind laut Website „die einzig repräsentativen und vom Bundesverband Musikindustrie e.V. lizenzierten Musik-Charts für Deutschland. Sie bilden das ab, was Deutschland hört, streamt, downloadet und kauft. Ermittelt werden sie von GfK Entertainment.“

Zugespitzt kann man sagen: Wir haben es mit zwei Parallelwelten zu tun. Auf der einen Seite die öffentlich ausgestrahlte Musik des gesellschaftlichen Mainstreams zwischen Schlager, Achtziger-, Klassikrock und Klassik-Radio, die den (Arbeits-)Alltag vieler Menschen durchdringt, dazu die eine oder andere geschmäcklerische Abend- oder Wochenendspezialsendung für fortgeschrittene „music lovers“ – und auf der anderen Seite der nicht minder erfolgreiche kontroverse Kram, den „die Kids“ und eingeschworene Szenen hören, wenn sie unter sich sind. Ich erinnere mich an Prä-Internetzeiten, in denen vieles von dem, was in den Verkaufscharts oben rangierte, auch „on air“ zu hören war und gerade deshalb gekauft wurde: Das Radio bot damals ein weitaus größeres Spektrum, es vermittelte zwischen Künstlern und Fans. Heute dagegen scheinen das Radio und die Airplay Charts eine eigene Welt zu repräsentieren, die mit dem, was „da draußen“ gekauft und privat gehört wird, nur noch in Teilen zu tun hat …

Formatradio-Charts vs. Verkaufscharts, Oldschool Media vs. Social Media

Dafür gibt es verschiedene Erklärungen. Eine liefert der Jugendschutz, der dafür sorgt, dass Umstrittenes gar nicht oder nur zu späten Sendezeiten ausgestrahlt werden darf. Einen umstrittenen Song beispielsweise von Bushido tagsüber zu spielen, kann also juristischen Ärger für den Sender bedeuten. Kein Wunder, dass sich die Programme auf Unproblematisches konzentrieren. Hinzu kommt, dass die meisten Radiosender heute ein ganz spezielles Profil entwickelt haben und ihr Programm dementprechend ausrichten – um eine größtmögliche Zielgruppe samt Marketingeffekt zu erreichen. Die Rede ist von Genresendern, vor allem aber vom Formatradio, das seit den 1980er Jahren mit dem Siegeszug der Privatsender immer größere Bedeutung gewonnen hat. Kennzeichen dieses Formatradios sind die Spezialisierung auf einzelne, meist angenehme, gängige Genres für verschiedene Alters- und Fangruppen, die Orientierung an potenziellen Werbekunden und eine begrenzte Zahl an „rotierenden“ Titeln. Kritiker sprechen abschätzig von „Dudelfunk“. Das schließt Sendungen zu den Offiziellen Deutschen Charts nicht aus, aber dann werden eben auch nur solche Titel aus den Offiziellen Deutschen Charts gespielt, die zum jeweiligen gefälligen „Format“ des Senders passen. Konkret: Ein Schlagersender greift sich aus den Verkaufscharts natürlich nur den neuen Hit von Helene Fischer heraus – und nicht den Nummer-eins-Disstrack von Kollegah. Die Folge: Wo das Radio früher Hits noch wirklich „machte“, spielt es sie heute nur noch. Das wirklich kontroverse Zeug aber hat längst andere Kanäle gefunden.

Welche Kanäle das sind, darüber herrscht unter Experten Einigkeit: das Internet und die sozialen Medien. Dort kommunizieren die Künstler intensiv mit ihren Fans. Und weil es immer schwieriger wird, Aufmerksamkeit zu erregen, dreht sich die „künstlerische“ Eskalationsspirale immer schneller. Facebook, Youtube, Instagram: Je extremer die Posts, desto erfolgreichler die Künstler, Grenzüberschreitung als Marketingstrategie. Wer am effektivsten provoziert und schockiert, vielleicht sogar auf dem Index der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien zu landen droht, setzt besonders viele Einheiten eines Songs oder Albums ab. Und wird dann beim „Echo“-Spektakel dafür ausgezeichnet. Weil vor ein paar Jahren hervorragende Verkaufszahlen plötzlich die fragwürdige Band Frei.wild in die „Echo“-Nominierungslisten spülte, wurde flugs ein Ethikrat gegründet, der über die Nominierung entscheiden sollte. Auch wegen Protesten anderer Musiker wurden Frei.wild damals wieder ausgeladen. 2018 nun ließen Kollegah und Farid Bang den „Echo“-Ethikrat erneut zusammenkommen – und wurden letztlich als unbedenklich zugelassen. Prompt gewannen sie in ihrer Kategorie den Preis. Bands wie die Toten Hosen und jüdische Verbände protestierten scharf.

„Echo“: Fluch und Segen zugleich

Die „Echo“-Preisverleihung ist Fluch und Segen zugleich. Fluch, weil sie auf die eklatante Kluft zwischen Radiocharts und Verkaufscharts aufmerksam macht, künstlerisch Herausragendes schon von Struktur und Anlage her ignoriert und im schlimmsten Fall wirklich fragwürdige Musiker auszeichnet, beinahe auszeichnen muss. Segen, weil sie die erschreckende Beliebtheit grenzwertiger Songs in Deutschland offenbart und die dringend notwendige Diskussion darüber anstößt. Denn das bloße Sanktionieren und Ausgrenzen der betreffenden „Künstler“ bringt letztlich nichts, wie nicht nur „Spiegel Online“ feststellt. Dass der „Echo“-Ethikrat Kollegah und Farid Bang zuließ und sie in ihrem scheinheiligen Pochen auf künstlerische Freiheit bestätigte, ist in meinen Augen eine Fehlentscheidung, und das hat nichts mit Zensurwahn zu tun. Aber dass der Ethikrat überhaupt zusammenkam und die empörten Reaktionen auf die Preisverleihung die Rapper in die Defensive zwangen, hat mir gefallen. Genauer hinhören, engagiert diskutieren und fragwürdige Musiker mit ihren fragwürdigen Songinhalten öffentlich konfrontieren, das ist der Weg. Das öffnet vielleicht auch einigen „Konsumenten“ die Augen: Extremes Dissing im Hip-Hop mag einst innovativ, undergroundig, pure Lust am Skandal oder eine legitime Verarbeitung sozialer Benachteiligung gewesen sein – heute aber ist es oftmals nicht nur zum Selbstzweck verkommen, sondern spiegelt mitunter auch zynisch echte in der Gesellschaft vorhandene niedere Emotionen und Ressentimens wider. Solche Haltungen sind ebenso wie sektiererische Blut- und Boden-Romantik problematische Erscheinungen, die mit keinem Positivpreis der Welt belohnt werden können.

Was erschreckend viele Menschen in die Parlamente wählen, muss noch lange nicht politisch wertvoll sein

Das heißt: Ein Mindestmaß an Kriterien für künstlerische Qualität und ethische Korrektheit müsste der „Echo“ seinen Preisverleihungen schon zugrunde legen. Dumpfes Dissen und nationalistische Gesänge gehören eben nicht dazu, und sollten die Verkaufszahlen auch noch so hoch sein. Dass diese Verkaufszahlen so hoch sind, bleibt natürlich genauso ein Problem wie der Erfolg rechtspopulistischer politischer Parteien, die sich vor allem über Ausgrenzung und überkommene Männer- und Frauenbilder definieren. Auch hier gilt: Was erschreckend viele Menschen in die Parlamente wählen, muss noch lange nicht politisch wertvoll sein. Auf fatale Weise passen die umstrittenen Bands eben doch in diese turbulenten Zeiten mit ihrem konservativen Backlash, ihren Fake News, ihrer sozialen Kälte, ihren durchgeknallten Staatslenkern und „white collar crimes“, der gnadenlosen Interessenvertretung durch Super-Egos und der Unterdrückung, ja Verhöhnung von Schwächeren. Dafür sollten neue Lösungen gefunden werden, die nicht mit Zensur zu verwechseln sind. Nein, es geht um Aufklärung, um Diskussion, um mutige Konfrontation, um die klare Botschaft, dass unsere demokratische Gesellschaft bestimmte Dinge nicht duldet. Hier ein paar Lösungsvorschläge:

– Rügen statt indizieren: Klar, Straftatbestände müssen verfolgt und sanktioniert werden. Aber was nützen Verbote in der Grauzone zwischen Überschreitung von Geschmacksgrenzen und tatsächlicher „hate music“ – erst recht wenn alles im Internet frei verfügbar ist? Wären offizielle Rügen – vergleichbar den Rügen des Presserats – vielleicht ein Instrument für Organisationen wie die Bundesprüfstelle, die verschiedene Fallgruppen für Grenzverletzungen entwickelt hat? Möglicherweise in Zusammenarbeit mit dem Kulturrat, der eintritt für die Freiheit der Kunst, für gute Kulturpolitik, für Bildung, Werte, Integration?
– Mehr öffentliche Debatte: Der Echo-Ethikrat ist grundsätzlich ein guter Schritt. Wichtig sind auch kritische Veranstaltungen wie die Hip-Hop-Konferenz „Sex Money Respect“, die 2017 in Frankfurt am Main stattfand. Und wünschenswert wäre eine intensivierte Öffentlichkeitsarbeit der beteiligten Akteure. All das würde aufmerksam machen auf Problemlagen und signalisieren: Die Gesellschaft hört nicht weg!
– Wächterpreis der Musikpresse: Die Stiftung „Freiheit der Presse“ vergibt regelmäßig den Wächterpreis der Tagespresse an „couragierte Reporter“, die in „Wahrnehmung von staatsbürgerlichen Rechten“ Missstände aufdecken – unter den vielen Themen sind auch Fundamentalismus, Rassismus und Rechtsradikalismus. Was, wenn auch die Musikpresse häufiger als bisher nicht nur über die tollsten, coolsten, spektakulärsten Bands und Interpreten berichten würde, sondern auch über grenzwertige Künstler, antidemokratische Subkulturen, problematische kulturelle Strömungen? Ein Branchenpreis könnte motivierend wirken.

– Ein durchlässigeres Formatradio: Gegen schlechten Hip-Hop hilft nur guter Hip-Hop, heißt es hin und wieder in Szenekreisen. Allgemeiner gesagt: Gegen schlechte, fragwürdige Musik hilft nur gute, engagierte Musik. Und die sollte auch im Radio wieder stärker vertreten sein, nicht nur auf kaum beachteten Sendeplatznischen. Zumal auch engagierter Songs nicht selten so etwas wie Hitpotenzial haben. Natürlich spielt auch das Formatradio gute Musik, ich höre selber gern und viel Formatradio. Aber es ist in der Regel das Gefällige und Geschmäcklerische. Was spricht dagegen, in vorsichtigen Dosen auch Conscious und Queer Rap, politischen Rock oder intelligente Dance-Musik, kurz: unterrepräsentierte Qualitätsmusik, ins Tages-Formatprogramm zu integrieren?
– Negativpreise: Die Musikbranche überschlägt sich vor Positivauszeichnungen. Wo aber bleiben die – mahnenden oder augenzwinkernden – Negativpreise, wie man sie aus der Filmindustrie und anderen Branchen kennt? Nicht nur für die schlechteste Musikproduktion, sondern auch für den fragwürdigsten, den geschmacklosesten Song?
– Dumpfe Songbotschaften konterkarieren: Schwule Mädchen von Fettes Brot, Hengstin von Jennifer Rostock, Rap-Parodien von Jan Böhmermann oder Carolin Kebekus – es gibt gute Rap-Songs, die hirnlose Hip-Hopper mit ihren eigenen Waffen schlagen. Ich wünsche mir mehr davon – und dass diese Produktionen auch im Radio laufen.
– Mehr Dialog mit Internetanbietern und Providern: Sie sind es, die fragwürdige Songinhalte unkontrolliert zirkulieren lassen. Es wäre ein Dialog, in den sich Musikindustrie und Musikpresse mit eigenen Akzenten einschalten könnten.
– Gesellschaft besser, gerechter machen: Es klang bereits an: Vielleicht kriegt ja jede Gesellschaft die Songs, die sie verdient. Daraus lässt sich die zuspitzende These ableiten: Bessere, gerechtere Gesellschaft – bessere Musik. Beziehungsweise: Bessere Gesellschaft – weniger „hate music“.

Verbrechen lohnt sich …

Von Bushido über 4 Blocks bis Nur Gott kann mich richten: Warum ist es plötzlich so schick, rappende Halbwelt-Machos zu Kino- und Serienstars zu machen?

Vanessa Schneider von „puls“, dem jungen Programm des Bayerischen Rundfunks, ist total geflasht: „Abbas, gespielt von Rapper Veysel, und Frederick Lau als Vince haben eine irre Chemie“, freut sich die Autorin im Mai 2017 auf der Website des BR. „Die beiden spielen mit einer Ernsthaftigkeit und Brutalität – ich spüre jeden der ungezügelten Schläge, jeden Blick. Und das ist so ungewohnt, so aufregend, dass ich beim Schauen Schmetterlinge im Bauch hab. Genau wie der Berliner Rapper Massiv gibt Veysel Gelin in ‚4 Blocks’ sein echt beeindruckendes Schauspieldebüt. Er hat seine Rolle auf der Straße gelernt: Wegen Körperverletzung mit Todesfolge hat er drei Jahre im Knast gesessen.“

Aua …

Auch Daniel Krüger vom „Musik Express“ ist trotz kleiner Irritationen total fasziniert vom neuen deutschen TV-Serien-Highlight 4 Blocks: „Ein Choreograph erklärt, wer jetzt gleich wen und wie schlagen soll“, beschreibt er Eindrücke vom Set. „Mehrere Takes werden gedreht, nur ein Darsteller braucht kaum Anweisungen: Veysel saß nämlich wegen Körperverletzung mit Todesfolge im Gefängnis. Gefühlt halten alle Beteiligten kurz den Atem an, sobald der Hüne die jungen Darsteller am Genick packt und durch den Raum schleudert. Dieser Moment ist ‚4 Blocks’ in Reinkultur. Gefilmt wird Fiktion, genährt wird sie von unangenehm viel Wirklichkeit.“ Das Unangenehme fällt aber nicht weiter ins Gewicht, denn schon wenig später schwärmt der Autor von den Straßen Neuköllns, „die durch Drohnenaufnahmen und Farbfilter besonders verführerisch wirken.“ Als wäre ihm doch nicht ganz wohl bei der Sache, dimmt Krüger die Hoffnung auf eine baldige zweite Staffel und seine Begeisterung am Schluss ein wenig herunter: „Statisten und Nebendarsteller der Serie kommen zusammen auf ein hübsches Vorstrafenregister. Kunstnebel und Rapsongs erinnern aber daran, dass das, was hier gedreht wird, am Ende doch Entertainment und keine erhellende Doku sein soll.“

Unterhaltung oder grausame Realität?

Na, was denn nun: Wirklichkeit oder Fiktion? Entertainment oder Doku? Genau in dieser Spannung liegt in meinen Augen das Befremdliche an 4 Blocks: Einerseits beansprucht die Serie ein ungewöhnliches Maß an Authentizität, das ihr von der Kritik auch fasziniert bescheinigt wird; andererseits versucht man sich genau von dieser Authentizität immer wieder zu distanzieren. Denn sonst müssten die Macher genauer erklären, wieso sie Ex- und Nochkriminellen den Weg ins Filmgeschäft ebnen, um eine faszinierende Gangsterwelt aus der Innenperspektive zu zeigen, die Gangster auch als Sympathieträger etabliert. Und Fans müssten sich intensivere Gedanken darüber machen, wieso sie eigentlich „Schmetterlinge im Bauch“ haben, wenn ihnen so viel ernsthafte Gansterbrutalität von Leinwand und Bildschirm entgegenschlägt. Wie gesagt: Neben Rapper Veysel ist auch der einschlägig bekannte Massiv in 4 Blocks mit von der Partie, jener reimende Körperverletzer, der 2008 als erster Rapper in Deutschland Opfer eines Attentats mit Schusswaffe wurde. Noch heute hört man hin und wieder das Gerücht, Massiv habe damals den Vorfall selbst inszeniert, um seine Musik zu promoten. Mit Gzuz, einem Mitglied der berüchtigten 187 Straßenbande, stieß inzwischen ein weiterer Rapper mit mehrjähriger Hafterfahrung zur gefeierten Darstellerriege von 4 Blocks. Auch er darf sich freuen: Denn das Gangsterepos wird mit einem Fernsehpreis nach dem anderen ausgezeichnet.

Die 4 Blocks-Macher behaupten, sie hätten sich an der amerikanischen Erfolgsserie Die Sopranos orientiert, die ebenfalls Einblicke in einen kriminellen Clan gewährt, einen Mafia-Clan. Nicht umsonst hört auch bei ihnen die Hauptfigur auf den Vornamen Tony. Es gibt für mich aber einen feinen Unterschied zwischen beiden Serien: Die Sopranos spielten damals mit der Doppeldeutigkeit des Begriffs „Familie“ und arbeiteten das Pathologische am Ehrverständnis der Mafia und an katholisch geprägten Vorstellungen wie „Mutter/Heilige/Hure“ heraus. Der tragische „Held“, „Familien“-Vater Tony Soprano, kriegt das brutale Verbrechens-Business, die anstrengende Gattin, seine komplizierten Affären, die heftigst pubertierenden Kinder, die unbeherrschten eigenen Handlanger und die konkurrierenden Clans allmählich nicht mehr auf die Reihe und unterzieht sich einer Psychotherapie. Mafiosi am Rande des Nervenzusammenbruchs – eine höchst groteske Grundidee. So waren Die Sopranos tatsächlich im Kern eine Familienserie, aber eine extrem artifizielle. Der brutale Mafia-Kontext lieferte so etwas wie einen Verfremdungseffekt, mit dem sich Alltagsprobleme überlebensgroß verhandeln ließen. Tony Sirico, der einzige Exkriminelle unter den Darstellern, hatte seine Mafiavergangenheit bereits mehr als ein Vierteljahrhundert zuvor hinter sich gelassen.

4 Blocks dagegen bewegt sich mit der Inszenierung einschlägig bekannter aktueller Szenegrößen gefährlich nah an der Romantisierung des kriminellen Milieus, am nägelkauend-faszinierten Feiern eines Gangster-Lifestyles. Klar, da ist die von Frederick Lau gespielte Figur eines innerlich zerrissenen Undercover-Agenten, und da ist eine weitere besondere Ausgangslage: Der vor dem Krieg geflüchtete libanesische Clan-Chef Tony ist nur deshalb kriminell geworden, weil er auch nach vielen Jahren in Deutschland noch keine Arbeitserlaubnis bekommen hat – und eigentlich will er die Kriminalität hinter sich lassen. Das alles bricht die Faszination ein wenig, macht auch Abgründe deutlich und bringt das Thema der gescheiterten Integration ins Spiel. Aber: Die kriminelle Energie und Kaltblütigkeit, mit der diese „Verzweifelten“ hier ans Werk gehen, sind doch sehr beachtlich. Wenn Migranten angesichts einer mangelhaften deutschen Integrationspolitik automatisch derart kriminell werden müssen – was sagt das über Migranten? Schließlich wird das Zusammenschlagen von unbescholtenen „Hipstern“ fast schon reißerisch-genüsslich inszeniert. Wirklich spannend und beeindruckend finde ich das jedenfalls nicht.

Wenn die Realität das Genre killt

Noch offensichtlicher offenbart sich diese befremdliche Konstellation im aktuellen Kinothriller Nur Gott kann mich richten mit Moritz Bleibtreu in der Hauptrolle. Der harte Gangsterstreifen versteht sich als Genrethriller, er arbeitet mit fast schon ausgelutschten Handlungs- und Gefühlsbausteinen. Als da wären: der todsichere letzte Coup, der gewaltig schiefgeht; die lebenswichtige Operation eines Kindes, für die verzweifelte Eltern eine Unsumme Geld benötigen; Loyalität und Verrat; oder die obligatorische „Spirale der Gewalt“, in der alles endet. Dass es hier mal eine Polizistin ist, die mit Blick aufs benötigte OP-Geld kriminell aktiv wird und so diversen Gangstern in die Quere kommt, überrascht nur kurz, zu abgedroschen wirkt das Schuld- und Sühne-Pathos insgesamt. Auch bei dieser Produktion freuen sich Kritiker über den tollen Look, den die Drehorte Frankfurt und Offenbach lieferten: „Sehr drastisch, aber doch glaubwürdig, wird in dem Film in den Straßen beider Städte ein Schatten-Milieu inszeniert“, lobt das Portal „OP-Online“. Andere Rezensenten überschlagen sich ob der Wucht, mit der hier amerikanische Genreklassiker von Abel Ferrara, Michael Mann oder Martin Scorsese auf deutschem Boden nachempfunden wurden. Fiktion! Thrillerghlight! Mitreißende Filmkunst!

Alles in Ordnung also? Nicht ganz. Denn auch hier sorgen aktuelle Gangsterrapper und echte Gangster für eine merkwürdige „Authentizität“. Als schillernder Nebendarsteller und Lieferant des Filmsoundtracks fungiert etwa Rapper Xatar, dessen Halbweltaktivitäten 2009 die ebenso aufschlussreiche wie erschütternde 3sat-Doku Westside Kanaken schilderte. Auch Xatar hat in seinem Leben schon ordentlich Körper verletzt und saß wegen des hollywoodreifen Überfalls auf einen Geldtransporter im Knast. Zuletzt produzierte er die rappende Ex-Prostituierte Schwesta Ewa, die letztes Jahr wegen Steuerhinterziehung und Körperverletzung verurteilt wurde. Dass sie selber in Frankfurt Frauen zum Anschaffen gezwungen hat, wird vermutet, konnte aber nicht nachgewiesen werden. Auch Schwesta Ewa ist auf dem Soundtrack zu Nur Gott kann mich richten vertreten, und natürlich weilte sie mit ihrem Mentor Xatar auf der Frankfurter Kinopremiere im Metropolis, Blitzlichtgewitter und roter Teppich inklusive. Auf letzterem freute sich Moritz Bleibtreu, der nach zahlreichen Milieu-Rollen fast schon selbst wie ein smarter Gangsterboss wirkt, über einen besonders schönen Effekt seines neuen Films. „Ich bin irre stolz, dass wir es geschafft haben, Leute aus den verschiedensten gesellschaftlichen Milieus zusammenzuführen“, so wird er Ende Januar in der „Frankfurter Rundschau“ zitiert.

Aber was ist eigentlich plötzlich so schick daran, Gangsterrapper und Schwerkriminelle ins Rampenlicht zu rücken, sie zu glamourösen Stars aufzubauen, gern noch mit Mitteln der Filmförderung? Wieso sind Halbweltgrößen auf einmal gesellschaftsfähig? Weshalb werden ihren oftmals stereotypen prolligen Sex-and-Crime-Lyrics weitere Vertriebskanäle eröffnet? Und wozu sollen so unterschiedliche „gesellschaftliche Milieus“ überhaupt zusammengebracht werden? Gegen gutes Genrekino an sich ist ja nichts einzuwenden. Gutes Genrekino spielt kreativ mit den bekannten Handlungsmustern, verhandelt in extremem, verfremdendem Gewand gesellschaftliche Fragen und Probleme. Gutes Genrekino ist packende, erhellende Fiktion. Sobald Genrekino aber mit einem seltsamen Authentizitätsverständnis feiste Milieugrößen einbindet, die sich eigentlich ganz pudelwohl fühlen mit Knarren und all dem, was sie im Alltag tun, dann wird es problematisch. Dann flirtet es verführerisch mit der Halbwelt, biedert sich romantisierend der düsteren Realität an. Es beraubt sich nicht nur seiner dramaturgischen Möglichkeiten, sondern auch seines Zaubers.

Kluft zwischen Verkaufs- und Radio-Charts

Die Autoren von 4 Blocks geben bei „business-punk.com“ an, sie hätten ihre Milieu-Geschichte einmal radikaler erzählen wollen, auch um auf Schwächen des deutschen Ausländerrechts aufmerksam zu machen. Nun ja – angesichts der wesentlich älteren Sopranos (1999–2007) und der ebenfalls mit Innenperspektive arbeitenden Rockerserie Sons of Anarchy (2008–2014), deren Grundidee Shakespeare’s Hamlet variiert, scheint mir dieser Ansatz überhaupt nicht mehr so radikal. Ein Grund für den seltsamen Echte-Gangster-im-Film-Trend könnten auch die unglaublichen Erfolge sein, die Gangsterrap nicht nur hierzulande in den Verkaufscharts feiert. Es besteht eine regelrechte Kluft zwischen der mal harmlosen, mal geschmäcklerischen Popmusik, die täglich im Formatradio oder in tollen kleinen Nischenradiosendungen gespielt wird, und dem „harten Zeug“, das die Kids hören, wenn sie unter sich sind. Gangsterrap verkauft sich da wie geschnitten Brot, erzielt regelmäßig Topplatzierungen und -reichweiten, ohne jemals im Radio zu laufen. Die Promotion erfolgt über Youtube und soziale Medien, wo Haftbefehl, Xatar, Massiv und 187 Straßenbande, Farid Bang und zig andere mit ihrem Fließband-Output gefeierte Größen sind, auch bei Kids aus Mittel- und Oberschicht. Apropos Farid Bang. Hier ein paar aktuelle Textzeilen aus dem Song AMG, Anfang 2018 gemeinsam veröffentlicht mit Fler: „Aus dem Lamborghini zieh’ ich diese Carolin in den Jeep / Und die alte Bitch wird im Wald gefickt wie Aborigine (…) Fick Alice Schwarzer mit ’ner Horde schwarzer Alis …“ Yo, Mann, das ist der Stoff, der Fanherzen höher schlagen lässt. Was liegt da näher, als die coolen harten Jungs zusätzlich ins Filmgeschäft zu bringen und sich über Actionstreifen und Krimiserien, aber auch über die dazugehörigen Soundtracks ein Stück vom großen Kuchen abzuschneiden?

Ein weiterer – respektablerer – Faktor könnte Rehabilitation sein. Resozialisierung, das Heimholen in den Schoß der Gesellschaft. Nach dem Motto: Überlasst die gefallenen Engel nicht ihrem Schicksal, holt sie ins Boot. Öffnet ihnen die Tür zu einer bürgerlichen Existenz, zeigt ihnen einen Weg raus aus dem Milieu. Es ist ein bewundernswerter Ansatz, der leider nicht immer funktioniert. Erinnert sei an den ehemaligen Kleinkriminellen Bushido, dem Regisseur Uli Edel und Produzent Bernd Eichinger 2010 mit Zeiten ändern dich schon früh ein Kinodenkmal setzten. Plötzlich war der umstrittene Erfolgsrapper gesellschaftlich rehabilitiert, machte sogar ein Kurzpraktikum im Bundestag. Spitzenpolitiker und andere Prominente ließen sich gern mit dem ehemaligen „bad boy“ ablichten und fühlten sich gleich ein bisschen „taffer“, „gefährlicher“, was teilweise an Peinlichkeit nicht zu überbieten war. Und dann? Brachte Bushido 2013 zusammen mit Rapkollege Shindy den Skandalsong Stress ohne Grund heraus. Textkostprobe: „Halt die Fresse, fick die Presse – Kay, du Bastard, bist jetzt vogelfrei / Du wirst in Berlin in deinen Arsch gefickt wie Wowereit / Yeah, fick die Polizei: LKA, BKA (…) Ich verkloppe blonde Opfer so wie Oli Pocher (…) Und ich will, dass Serkan Tören jetzt ins Gras beißt (…) Ich schieß’ auf Claudia Roth und sie kriegt Löcher wie ein Golfplatz.“ Klar war das genretypisches Dissen, aber doch in einer Respektlosigkeit und Aggressivität formuliert, die vor allem ein Ziel hatte: dem gesellschaftlichen Establishment den Mittelfinger zu zeigen. In einem „ZEIT“-Interview vom Juni 2017 verriet Bushido außerdem, dass er nicht viel vom Grundgesetz halte, nicht wählen gehe und ganz froh über seine umstrittenen Verbindungen zum kriminellen Abou-Chaker-Clan sei. So viel zum Thema Resozialisation, Rehabilitation, Integration.

„Hey, ich deale mit Drogen. Wie cool!“

Auch bei Xatar und Schwesta Ewa bin ich mir nicht sicher, ob sie überhaupt an so etwas wie Rehabilitation oder einer bürgerlichen Existenz interessiert wären. Zu kraftstrotzend-selbstverliebt sind ihr Auftreten, ihre Beats und ihre Texte. Interessant in diesem Zusammenhang war der Hip-Hop-Kongress „Sex, Money & Respect“, der im Dezember letzten Jahres im Frankfurter Mousonturm stattfand. Dort packte die Expertin Tricia Rose die Entwicklung des Gangsta-Rap in ein treffendes Bild: Damals hätten Straßenrapper ihre prekäre Lage so formuliert: „Ich deale mit Drogen, weil ich anders meine Familie nicht ernähren kann.“ Heute dagegen hieße es millionenschwer: „Hey, ich deale mit Drogen! Wie cool!“ Aktuelle Gangsterrapper, so Tricia Rose weiter, hätten 500 verschiedene Begriffe für Frauen parat, und 499 davon seien wenig schmeichelhaft. Xatar & Co gehören für mich in diese zweite Kategorie, sie verkaufen ihr „Gangsta-“ und Milieu-Dasein via Musik als glamourösen, lukrativen Lifestyle, verdienen ordentlich Kohle damit. Der mit billigen Autotune-Effekten lieblos dahingeworfene Titelsong zum Bleibtreu-Film enthält Dumpfbackenzeilen wie „Die Heuchler, sie lachen mir in meine Fresse / Sie kamen zu mir, und sie aßen mein Essen.“ Außerdem heißt es: „Der Richter kann mich zwar verurteilen, aber nur Gott kann mich richten“ oder: „Rotzende Richter auf Weißwein / Was denkst du, wer du bist / Dass du mit dei’m Mundgeruch über meine Existenz urteilst / Für dich ein Verbrecher, doch in meiner Welt / Macht dich ein Coup zum King.“ Natürlich kann man solche Verse genretrunken schwerst biblisch und herrlich schicksalhaft mit Blick auf die Filmhandlung deuten. Darüber hinaus aber lassen sie auch an Bushidos Mittelfinger denken. Botschaft: Eure Werte und Moralvorstellungen sind mir scheißegal! Soziale Härte? Hab ich lange hinter mir. Reue? Spüre ich nicht. Politisches Statement? Bleibt mir fort! Integration? Pah! … Und die Kids sind fasziniert. Labileren unter ihnen könnte das Ganze sogar als attraktives Lebens- und Geschäftsmodell erscheinen.

Gangster sind nur cool, solange man selbst keine in die Fresse kriegt

Nun kann man einmal mehr argumentieren: Ist doch alles nur ein Rollenspiel, überhaupt nicht ernst gemeint. Und genau so scheinheilig argumentieren Gangsterrapper ja häufig auch, wenn sie von den Medien zu ihren Texten befragt werden. Da beschreiben sie sich gerne als engagierte Straßenreporter oder als Künstler, die in fremde Charaktere schlüpfen. Vor den Fans und in der eigenen Community aber zelebrieren sie ihre Songs als authentischen Ausdruck ihres unbesiegbaren Egos, das sich nimmt, was es will, und alle anderen plattmacht. Da ist es dann wieder, das gangsterrapspezifische Changieren zwischen bloßem Entertainment und selbstverliebter Dokumentation der eigenen Haltung – eine clever schillernde, aber irgendwann auch nervende Strategie, die von allen bösen Jungs Bushido am perfektesten kultiviert hat. Sie passt in eine turbulente Zeit, in der gewinnt, wer am rücksichtslosesten bescheißt oder anderen brutal seinen Willen aufzwingt, wer alles aus dem Weg räumt, was ihm nicht passt. Eine Zeit, in der Schauspieler und skrupellose Unternehmer Staatspräsidenten werden, in der Staatspräsidenten zu Diktatoren mutieren. Eine Zeit, in der Topmanager trotz unterirdischer Leistungen gigantische Bonuszahlungen erhalten und gewievte Banker weltweite Finanzkrisen auslösen. In der Autokonzerne trotz großangelegten Betrugs der Verbraucher ihre Umsätze steigern und Lobbys aller Art gnadenlos ihre Interessen durchsetzen.

Vielleicht sind Gangsterrapper und Gangster ein besonders spektakuläres Symbol oder auch ein Spiegel dieser unserer Zeit – sie zeigen, dass man es mit wenig Talent und etwas krimineller Energie sehr weit bringen kann. Die 4 Blocks-Macher, so noch einmal „business-punk.com“, „suchten den Kontakt zu den wichtigen Leuten in der Unterwelt von Berlin-Neukölln“ und schwärmten vom „sehr respektvollen Umgang miteinander“, ja, sie durften sogar die Frauen von Clanmitgliedern interviewen. Wie geil war das denn? Dabei ist es doch so: Gangster sind nur cool, solange man selbst keine in die Fresse bekommt. Dass wir sie in Filmen überhöhen, sie ins Rampenlicht rücken und zu Stars machen, dass ein Redakteur von „VICE.com“ sich zu dem Thrill bemüßigt fühlt, „die Serie mit echten Neuköllner Gangstern zu gucken, eine Art Qualitätskontrolle mit Leuten vom Fach“, das mutet schon ein bisschen schizo an. Oder soll das eine andere Erkenntnis untermauern: dass wir vielleicht alle ein bisschen kriminell sind? Wer weiß … Auf jeden Fall scheint kriminelle Energie heutzutage den Einstieg ins Filmgeschäft zu erleichtern. Dort warten Drehbuchschreiber und Regisseure, die nach entsprechend brisanten Stoffen gieren. Und so zeichnet sich ein Trend ab, der noch weitere einschlägige Highlights hervorbringen könnte: Drahtzieher der Finanzkrise und der Autoabgasschweinereien als gut bezahlte Berater in entsprechenden Hollywood-Aufarbeitungen ihrer „Leistungen“; Guantanamo-Wärter mit Schaupieltalent in einer abgründigen Familienserie; Larry Nassar, die zentrale Figur im Missbrauch über 100 junger US-Turnerinnen, als Nebendarsteller in einem zweiteiligen Dokudrama; der Kannibale von Rothenburg als Off-Sprecher einer hintergründigen Parabel aufs Fressen und Gefressenwerden. Und so weiter und so fort. Ich frage mich ja schon manchmal: Sind wir eigentlich bescheuert? Oder bin ich langsam zu alt für diesen Scheiß?