Zufällige Songbekanntschaft: Rufus Wainwright

Und, wo haben Sie sich kennengelernt? Im Gute-Laune-Morgenradio nach dem Aufwachen? Auf einer Party bei Freunden, in einer schicken Playlist? Oder ganz selbstvergessen beim Stöbern in iTunes? Es sind ja die unterschiedlichsten Anlässe und Momente, die einen auf einen neuen Song, einen neuen Künstler aufmerksam werden lassen. Bei Rufus und uns war es noch einmal anders: Vor ein paar Tagen haben wir ganz zufällig nur ein paar Meter voneinander entfernt gesessen – wir im Publikum, er am Klavier. Und ich meine wirklich zufällig. Denn den Namen Rufus Wainwright hatten wir zwar schon einmal gehört, aber seine Songs waren uns bis dahin so gut wie unbekannt, das müssen wir zu unserer Schande gestehen. Die Tickets für sein Konzert in der Hamburger Elbphilharmonie waren tatsächlich ein Geschenk von Freunden, genauer gesagt von Brigitta, Horst, Elke und Stephan. Und wenn man in diesen Tagen Tickets für die „Elphi“ bekommt, dann denkt man nicht „Oh Gott, was soll das denn?“ – nein, man denkt und jubiliert „Wow, super!“, egal ob ein Symphonieorchester, ein Knabenchor oder Helene Fischer dort spielt. Das neue Konzerthaus selbst ist schon ein Ereignis, alle wollen hin, aber nur wenige haben Karten. Weshalb man sowohl im Vorfeld als auch hinterher dezent damit angibt: „Ach ja, wir sind/wir waren am Freitag in der Elphi.“ Anerkennende Blicke bis hin zum Schulterklopfen sowie neugierige Nachfragen sind garantiert.

Satte vier Stunden hatte Brigitta seinerzeit angestanden, um diverse Karten für die Elphi zu ergattern, und für uns hatte sie sich eben Rufus Wainwright ausgedacht. Ein Songwriterkonzert für den Songblogger und seinen Sannenschein, das machte absolut Sinn. Und wahrscheinlich war sie davon ausgegangen, dass wir diesen Künstler längst kannten und schätzten. Nein, taten wir nicht. Tun wir aber jetzt. Denn nach spektakulärem Aufstieg durch futuristische Korridore, einem Besuch der großzügigen Außenterrassen und diversen Fotoaufnahmen vom imposanten Großen Saal wusste unsere neue Songbekanntschaft Rufus Wainwright durchaus zu überzeugen. „For those of you who don’t know me, who only came to see the room“, sagte er süffisant gleich zu Beginn, „let me tell you a few things about myself …“ Da fühlten wir uns gleich unmittelbar angesprochen, auch wenn wir im Vorfeld natürlich schon ein wenig recherchiert hatten. Der Mann hat auf jeden Fall Humor. Aber er hat ganz sicher auch viele Fans. Das war nicht nur an den Reaktionen der Konzertbesucher, sondern auch an der Vielzahl an schwulen und lesbischen Paaren zu erkennen, die Rufus Wainwright als bekennender Schwuler mit seinen Songs traditionell zieht.

Im Lauf des Abends äußerte er sich erfreut über die Einführung der „Homoehe“ in Deutschland und begrüßte Teile seiner eigenen Familie und der seines Ehemanns, des Theaterproduzenten Jörn Weisbrodt. Offenbar saßen sie im Publikum – es gab, wenn wir es richtig verstanden haben, diverse Jubiläen zu feiern. Einen Song sang Rufus Wainwright acappella, gänzlich unplugged, und war dabei sicher auch auf den Plätzen in den obersten Rängen prima zu hören. Ansonsten begleitete er seinen Gesang selbst am Klavier – oder ließ sich von einem Meister seines Fachs begleiten, der hin und wieder für ein paar Songs auf die Bühne kam: Mark Hummel, schon etwas betagter Pianist, Dirigent, Komponist und Arrangeur aus Los Angeles mit reichlich Broadway- und Las-Vegas-Erfahrung. Als scheinbar strenger Bühnenpartner mit dem kleinen Schalk im Nacken sorgte er durch sensibles Klavierspiel und eine unnachahmbar dezente Körpersprache für den einen oder anderen Schmunzler.

Wainwright wiederum produzierte Lacher, als er für seine Schwiegereltern den Song How Long Has This Been Going On spielte oder folgende kleine Tony-Bennett-Anekdote erzählte: Einmal durfte er tatsächlich vor dem großen amerikanischen Crooner einen von dessen Songs spielen. Bennett hörte andächtig zu, gab hinterher Standing Ovations – „and then was taken to the hospital.“ Unfreiwillig komisch der Moment, als sich das Mikrofon selbstständig machte, Wainwright hinterhersang und dann doch abbrechen musste. Oder der nicht weiter schlimme Klavierpatzer, den der Künstler ganz entspannt zu einer Hommage an die Elphi umfunktionierte: „Oh my god, you can really hear every mistake here …“

Aber natürlich war das kein Stand-up-Comedy-Abend, sondern die alles in allem recht ernste, intensive Konzertveranstaltung eines gestandenen Künstlers, der sich ganz im Widerspruch zu den jugendlichen Hipsterporträts in der Tour-Ankündigung mit angegrautem Vollbart präsentierte. Klassiker der Musical- und Schwulen-Ikone Judy Garland wurden ebenso interpretiert wie das eine oder andere Stück aus dem American Songbook, zwei, drei Sonettvertonungen, die Wainwright für Robert Wilson erstellt hatte, und Auszüge aus seiner eigenen Oper Prima Donna. John Lennons Across the Universe folgte auf einen verhaltenen, aber klaren Kommentar zu Donald Trump – neben dem unvermeidlichen Hallelujah von Leonard Cohen einer der Höhepunkte des Konzerts. Besondere Bedeutung erhält diese Hallelujah-Version durch die Tatsache, dass Leonard Cohens Tochter Lorca die (Leih-)Mutter von Wainwrights kleiner Tochter Viva Katherine ist. Die Cohens und die Wainwrights, das nur nebenbei, stammen aus Kanada. Wainwrights Vater ist der Songwriter Loudon (Rufus spricht ihn „Lauden“) Wainwrigt III., seine Mutter war die Sängerin Kate McGarrigle, die einst zusammen mit ihrer Schwester Anna ein in Kanada berühmtes Folk-Duo bildete. Auch Rufus’ Schwester Martha singt. Zusammen mit ihrer Mutter und Judy Garlands Tochter Lorna Luft gaben die Wainwright-Geschwister 2006 mal ein Konzert in der New Yorker Carnegie-Hall, zu Ehren von Judy Garland. So schließen sich die Kreise …

Am meisten beeindruckten uns an diesem Abend aber die „Hits“ von Wainwrights Songwriter-Alben, allen voran Going to a Town – auf dem Album Release the Stars mit kompletter Rockband eingespielt. Die markante Zeile „I’m so tired of America“ fanden nach Erscheinen des Songs im Jahr 2007 einige Fans etwas platt und offensichtlich – doch klingt sie heute, zehn Jahre später, aktueller denn je. Das Song-Ich kündigt an, in eine schon mal niedergebrannte und entwürdigte Stadt zu gehen, womit New York nach dem 11. September, aber auch Berlin gemeint sein kann, wo das Album aufgenommen wurde. Der Sprecher insistiert, dass er amerikamüde sei, schließlich habe das Land seine Sympathien verspielt („You took advantage of a world that loved you well“) und er selbst ein Leben zu leben („I’ve got a life to lead“). Jetzt gilt es, alleine nach Hause zu finden. Eine Klage, die schon ein bisschen auf den heutigen Songwriter-Geheimtipp Father John Misty vorausweist. Und eine Klage, die seltsam berührt.

Überhaupt, das Klagen. Mal mehr, mal weniger intensiv zieht es sich durch Wainwrights gesamtes Werk, hier und da abgefedert durch Pianokaskaden, rockige Rhythmen, überraschende harmonische Wechsel. Es sind die langen, stehenden, insistierenden Töne, die Wainwright immer wieder singt und die auch aus der heitersten Fremdkomposition eine Elegie machen. Sie nehmen gefangen, wirken aber, und das wäre unser einziger kleiner Kritikpunkt, über zwei volle Konzertstunden hinweg auch ein klein wenig redundant, manchmal anstrengend. Nichtsdestotrotz sind wir glücklich darüber, Elphi-Tickets ausgerechnet für dieses Konzert geschenkt bekommen und so das Werk von Rufus Wainwright näher kennengelernt zu haben. Dass wir die frische Songbeziehung im (natürlich legalen!) Download-Bereich noch etwas vertiefen werden, versteht sich von selbst.



Aktuelle Buchveröffentlichung:

I Don’t Like Mondays – Die 66 größten Songmissverständnisse,
224 Seiten, THEISS,
19,90 Euro

 

Kein liebes Lied von Kraftklub

Große Freude: Mein Buch I Don’t Like Mondays – Die 66 größten Songmissverständnisse findet dank des unermüdlichen Einsatzes meines Agenten und Promoters Günther Wildner reges Interesse. Ein Kapitel darin heißt „Frauenfeindlichkeit geht anders“ und beschäftigt sich unter anderem mit dem Beatles-Song Run for Your Life. Der Sprecher des Songs, ein unberechenbarer, eifersüchtiger Mann, droht seiner Partnerin, sie aufzuspüren und umzubringen, sollte er sie je mit einem anderen Kerl erwischen: „Well, I’d rather see you dead, little girl / Than to be with another man.“ Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass der Liebesrasende seiner Angebeteten da drastische Worte an den Kopf wirft. Weshalb der Song, erschienen 1965, vor allem von feministischen Kreisen als misogyn, als frauenfeindlich, gebrandmarkt wurde.

Dass ich das in der Tat für ein Songmissverständnis halte, habe ich in meinem Buch mit folgenden Argumenten untermauert. Erstens: Es ist ein Lovesong, ein Genresong, der wie viele andere Lovesongs um das Thema Eifersucht kreist und daher auch negative Gefühle wie Wut und Rachegedanken zum Ausdruck bringt. Zweitens: Es spricht eine Art Rollen-Ich, wie man es auch in vielen Songs von Frauen über untreue Männer oder über Nebenbuhlerinnen findet. Man denke nur an Kelis, die die Sprecherin ihres Songs I Hate You Right Now dem Lover androhen lässt, seinen Truck in die Luft zu sprengen, oder auch an Norah Jones, die in Miriam einer Konkurrentin an den Kopf wirft: „I’m gonna smile when I take your life.“ Niemand käme auf die Idee, diesen Songs Männerhass zu unterstellen. Drittens: Die Beatles spiegeln in ihren Songs die unterschiedlichsten menschlichen Gefühle wider, weshalb es in ihrem Repertoire auch die zärtlichsten Liebeslieder, ja wahre Hymnen auf Frauen gibt. Und viertens muss man den Song im Gesamtkontxet des Phänomens „The Beatles“ sehen: Zu keinem Zeitpunkt ihrer Karriere sind John, Paul, George & Ringo als misogyne Dumpfbacken aufgefallen. Im Gegenteil: Sie stehen noch heute für Kreativität, Fantasie, für Love & Peace und andere eher angenehme Dinge im Leben.

Pop lebt von Momentaufnahmen und Schlaglichtern, von Anspielungen und Zitaten – so borgte sich John Lennon den Vers „I’d rather see you dead, little girl“ aus dem Elvis-Song Baby Let’s Play House und drehte die emotionale Schraube noch etwas weiter. Mit demselben Ansatz drehten Frauen wie Nancy Sinatra in ihrer Coverversion von Run for Your Life den Geschlechterspieß einfach um. So dass plötzlich eine eifersüchtige Liebende einen jungen Mann bedrohte: „I’d rather see you dead, little boy …“

Überraschenderweise wiederholt sich die Geschichte nun mit Dein Lied, einem neuen Song der Chemnitzer Band Kraftklub. Es ist eine langsame, getragene Bombastballade, die einen Verlassenen über das Ende einer Beziehung sinnieren lässt. Gefasst und reif klingt dieser gebeutelte Mann in den Strophen, sagt, es sei nun mal so, die Erde drehe sich weiter – und ganz nebenbei erfährt man, dass die Geliebte nun mit seinem besten Freund zusammen ist. Au Backe. Unvermittelt folgt eine ganz konkrete Erinnerung: „Du hast doch ständig gesagt: ,Schreib mir mal ein Lied! / Einfach so, um mir zu zeigen, wie sehr du mich liebst.’“ Bei der anschließenden Ankündigung beschleicht einen eine Ahnung: „Na, dann dreh mal die Anlage auf, geh raus auf den Balkon / Breit die Arme aus und sing zu deinem Song: …“  Tja, und was dann im Refrain folgt, hat in der Szene schon für Aufregung gesorgt. Es sind die Zeilen „Du verdammte Hure, das ist dein Lied / Dein Lied ganz allein.“ Ziemlich starker Tobak, der in der zweiten Strophe und dem zweiten Refrain noch einmal durchgespielt wird und der Band den Vorwurf der Frauenfeindlichkeit eingehandelt hat. Zumal der Begriff „Hure“ gern in Proll- und Gangsterrap-Kreisen und dort gern auch aufrichtig verächtlich gebraucht wird.

Ganz klar: Ich respektiere die Kritik und solche Empfindungen, denn es ist eine provokante Gratwanderung, die Kraftklub da vollziehen. Aber auch hier nehme ich die Band in Schutz, und zwar mit fast denselben Argumenten wie bei den Beatles. Kraftklub sind bisher überhaupt nicht durch misogyne oder anderweitig arschlochhafte Anwandlungen aufgefallen. Im Gegenteil: Sie stehen für einen frischen, energiegeladenen Rap-Rock, der ungemein sprachgewandt und schlagfertig die unterschiedlichsten menschlichen Gefühle beschreibt, Szeneklischees und Musikerkollegen auf die Schippe nimmt, Dumpfbackenmentalität entlarvt, sogar das Leben als erfolgreiche Band hinterfragt und bei alldem nicht mit Selbstironie geizt. Dein Lied macht fast schon altersweise deutlich, dass hinter allen Versuchen, eine Trennung würdevoll und erwachsen über die Bühne zu bringen, doch meist ein maßloses Verletztsein und eine ungeheure Wut stehen. Die Beschimpfung der Verflossenen als „Hure“ bildet als Zitat aus dem Ganster-Rap den größtmöglichen Kontrast zu hypersensiblen, fast allzu versöhnlichen Strophenversen wie: „Wichtig ist, gut auseinanderzugeh’n / Du hast einfach immer recht / Und wichtig ist auch, beide Seiten zu seh’n / War ja auch nicht alles schlecht / Da muss keiner leiden, nur weil wir uns streiten / Das lässt sich ja vermeiden / Keiner der Freunde muss sich entscheiden / Zwischen uns beiden / Wir sind nicht mehr dreizehn.“ Es sind unterschiedliche sprachliche Codes und Gefühlslagen, die hier ganz bewusst aufeinander losgelassen werden. So wie die balladenhaften Strophen mit einem fast schon opernhaften Megaschlager-Refrain samt Großorchester kollidieren. Wenn hier Trennungsschmerz als gaaaaaanz, gaaaaaanz großes Kino mit seltsamen Brüchen inszeniert wird, kann man bei dem eher dämlich herausgeschmetterten „Du Hure“ auch durchaus ins Schmunzeln kommen. Auf solche irritierenden Wirkungen zielt das Lied.

Das Video zu Dein Lied, in dem hinter der Band und dem Orchester genüsslich das Markenzeichen von Kraftklub, ein großes K, abgefackelt wird, wurde ebenfalls kritisiert, wegen angeblicher Nazifarbsymbolik. Auch das ist in meinen Augen völliger Unsinn. Es dominieren Rot/Schwarz (vergleiche Bühnenoutfits von Kraftwerk) und das Blau des gigantischen Buchstabens K, und ich kenne kaum eine Band, die mal eben so die Zerstörung ihres eigenen Logos zelebrieren würde. Ist das nicht vielmehr wieder Selbstironie? Kraftklub malen hier übertrieben Schwarz-Weiß, und sie tun es ganz bewusst. Der falschen Idealisierung (der Geliebten/der Band), der selbstverleugnenden Gefühlsduselei keine Chance! Und kann eine Gruppe, die in einem anderen neuen Song, nämlich Fenster, rechten Wutbürgern selbstbewusst rät: „Spring aus dem Fenster für mich / Du kannst was erreichen“, wirklich primitiv misogyn und gemein sein? „SPIEGEL Online“ lobt denn auch das neue Kraftklub-Album Keine Nacht für niemand als Befreiung von Indie-Zwängen, als „libertäres Aufbäumen, ein Feiern von Exzess und Ausgelassenheit, gegen den Drang zu Selbstoptimierung, den Zwang zur Fitness, die Ächtung von Rauchern“. Frontmann Felix Brummer wird mit den Worten zitiert: „Wir denken uns Geschichten aus. Und wenn wir die Perspektive des gebrochenen Ex-Freundes faszinierend finden, dann finden wir die halt faszinierend. Na klar ist das politisch unkorrekt, aber es ist nachvollziehbar, stark und spannend. Finden wir.“ Weshalb es die Band mit Sicherheit auch großartig fände, wenn eine Frauencombo auf den Plan treten würde, um Dein Lied ganz im Stile Nancy Sinatras einer gendertechnischen Bearbeitung zu unterziehen.

„Feindliche Übernahme“ heißt ein weiteres Kapitel in meinem Buch über Songmissverständnisse. Darin geht es auch um den Ärzte-Song Männer sind Schweine. Das Stück, das unter anderem schwanzgesteuerte Aufreißer-Prolls kritisiert, wurde den Künstlern regelrecht weggenommen und mutierte zum Macho-Mitgrölhit am Ballermann. Nicht auszudenken, wenn ganze Cliquen angetrunkener Prolls auf Parties, auf der Wiesn oder bei Konzerten nun auch euphorisiert den Kraftklub-Refrain „Du Hure, das ist dein Lied“ durch die Gegend brüllen. Mit diesem unangenehmen Effekt muss die Band zumindest rechnen. Es sei denn, sie erwartet einen selbstentlarvenden Effekt – oder hat schon längst eine andere Strategie, wie sie eine solche feindliche Übernahme verhindert.



Aktuelle Buchveröffentlichung:

I Don’t Like Mondays – Die 66 größten Songmissverständnisse,
224 Seiten, THEISS,
19,90 Euro

 

„Danke, dass Sie mich ausgewählt haben“

Die aufschlussreiche TV-Dokumentation „Schlagerland“ von Arne Birkenstock

Auf dem deutschen Schlager rumhacken ist müßig – auch wenn er gelegentlich nervt. Größtenteils ist Schlager Genremusik, die ab und zu möglichst sanft aktuelle musikalische Entwicklungen integriert und ansonsten niemandem wehtut. Romantische Liebe und ein bisschen Herzschmerz sind seit eh und je die zentralen Themen, dazu wird meistens Foxtrot oder Discofox getanzt, und gesanglich dominiert ein familientaugliches Timbre. Wem’s gefällt… Es gibt doch weiß Gott wichtigere Themen, über die man sich aufregen kann.

Und dennoch barg „Schlagerland“, die kürzlich ausgestrahlte TV-Dokumentation von Arne Birkenstock, spannende Erkenntnisse. Ohne zu urteilen, ganz nüchtern und in der Grundhaltung neugierig, zeigte sie nicht nur die Anstrengungen des Tingelns altgedienter Schlagerrecken und die harte Arbeit, die der Aufbau eines Nachwuchsstars bedeutet, sondern gab auch interessante Einblicke in das Denken einiger Protagonisten. Dass das Musikgeschäft eine wahre Tortur sein kann, dass Marketingstrategien und die Verpackung, das eiskalte Zurechtdesignen und Platzieren des Endprodukts oftmals wichtiger sind als Inhalte und die Persönlichkeiten der Künstler, wusste man schon aus Pop- und Rockdokumentationen. Was die Beteiligten aber über ihre Arbeit sagen, das machte schon stutzig.

Der Schlager entstand einst aus dem Geist der Operette und erlebte seine erste Blüte in den 1920er und -30er Jahren – in Kabaretts und Revuen. Die Komponisten waren ausgebuffte Profis, und als Texter waren selbst Literaten am Werk. Die Folge: Schlager-Lyrics waren voll Humor und Wortwitz, auch voll beißender Satire. Ringelnatz, Claire Waldoff, Georg Kreisler oderdie Comedian Harmonists waren, um nur einige wenige zu nennen, mehr oder minder erfolgreich aktiv. Nach dem Zweiten Weltkrieg hielt sich der Anspruch vielleicht noch ein Weilchen, aber zusehends verflachte der Schlager. Er wurde einfach seicht. Während andernorts nahtlose Übergänge zu Pop und Rock entstanden, entwickelte sich in Deutschland fast schon ein musikalisches Paralleluniversum: Hier wird bis heute die immer gleiche harmlose Musik produziert, nur ab und zu kommen ein paar neue Gesichter hinzu. Götz Alsmann hat in diesem Zusammenhang einmal festgestellt, der deutsche Schlager habe sich nach dem Zweiten Weltkrieg „selbst entmannt“.

Vor diesem Hintergrund hätte man erwartet, dass die heutigen Protagonisten ihre Arbeit souverän und realistisch einschätzen – als Kunsthandwerk, als Genremusik, als Mitwirken an einem Produkt, das zuverlässig ein stets gleichbleibendes Publikumsbedürfnis bedient. Was die Doku „Schlagerland“ aber offenbart, sind ein gewisses Unbehagen auf der einen und ein erschreckendes Verharmlosen, auch Schönreden auf der anderen Seite. Am vernünftigsten klingt hier noch der Veteran Roland Kaiser. Er greift – als bekennendes SPD-Mitglied und erklärter Pegida-Gegner – indirekt Götz Alsmanns Einschätzung auf und beklagt den Mangel an Realitätsnähe, auch an Gesellschaftskritik im deutschen Schlager. O-Ton Kaiser: „Wir hatten ja, wenn man so will, nach dem Dritten Reich ein ziemliches Kulturloch in Deutschland. Dann hat man sich dem englischen Schlager zugewandt, den man dann eingedeutscht hat. Und irgendwann mal setzte Normalität ein, was unsere Sprache angeht, die ist komplett wieder da. (…) Hier schämt sich keiner mehr zu sagen: Ich höre deutsche Musik. Warum auch? Was mir ein bisschen fehlt am deutschen Schlager, ist Zeitgeist, also textlicher Zeitgeist. In den Fünfziger-, Sechzigerjahren gab es – Jean-Paul Sartre hat mal gesagt, Kunst ist reflektierte Gegenwart – Schlager, die waren das. In Deutschland begann das Wirtschaftswunder, da wurde gesungen: ‚Geh’n Sie mit der Konjunktur!’ Dann kam der Italientrend, da wurde gesungen: „Komm ein bisschen mit nach Italien!“ In Deutschland lief jeden Abend ein Krimi – Krimiserien, Durbridge, Edgar Wallace –, und dann wurde gesungen: ‚Ohne Krimi geht die Mimi nicht ins Bett.’ Das heißt, da wurde das aufgegriffen von den Textern und in Schlagerform gefasst, in Schlager, die nicht unbedingt nur von Liebe sprachen. Und das fehlt mir heute eigentlich komplett. Der Letzte, der das geschafft hat, war Udo Jürgens mit Dieses ehrenwerte Haus. Mit ‚In diesem ehrenwerten Haus’ hat er es geschafft, einen sozialkritischen Aspekt aufzugreifen und hinten die Kurve zu kriegen, zu sagen: ‚Du und ich, wir gehören nicht in dieses ehrenwerte Haus’. Das war Michael Kunze, der den Text geschrieben hat.“

Es folgt eine prima Frage des Interviewers: „Und warum machen Sie’s nicht?“ Aber Kaisers Antwort lautet: „Soll ich Ihnen mal was sagen? Weil: Das ist nicht einfach. Ich bin immer unterwegs und grübele und versuche immer, etwas zu finden, und es ist nicht so leicht. Wenn es so leicht wäre, würde es ja jeder machen. Aber es fehlt mir halt im Schlager.“ Okay… Dabei hätte doch gerade einer wie Roland Kaiser zig Fachleute an der Hand, die ihm über Nacht ein neues Image und etwas mehr Anspruch herbeizaubern könnten. Er bräuchte doch nur mit dem Finger schnippen, und schon stünden gleich mehrere begabte junge Texter-/Komponisten-Teams auf der Matte, die es als wunderbare Herausforderung sehen würden, einen niveauvollen, zeitgeistigen, auch gesellschaftskritischen Schlager für den Grandseigneur der Szene zu schreiben. Die Vermutung liegt nahe: Der Mann hat gar keine Lust auf so etwas, vielleicht will er auch einfach sein Stammpublikum nicht verprellen.

Anders sieht es aus bei Jürgen Drews, dem über 70-jährigen Sonnyboy, der immer noch in jugendlichem Jeans-Outfit von Festival zu Festival zieht, um seinen Oldie Ein Bett im Kornfeld zu trällern. Warum er sich das antue, will der Interviewer wissen, und Drews antwortet: „Weil ich bescheuert bin.“ Aber auch: Weil ein Song wie König von Mallorca „so bescheuert ist, dass es schon wieder geil ist“. Als Pragmatiker und Menschenfreund, so der Offkommentar, denke sich Drews: „Solange es dem Volk Spaß macht, macht es auch ihm Spaß.“ So weit so gut. Aber dann versteigt sich der ewige Strandjunge in einen Rückblick, in dem sich plötzlich alles zu Schlager verklärt: „Ich hab mir auch überlegt: Prostituierst du dich jetzt eigentlich? Wie weit bist du jetzt gegangen? Und ich hab mal in mich hineingehört: Worauf stand ich denn früher? Ich hab zum Beispiel auf Cliff Richard gestanden, auf: ‚Got myself a crying, talkin’, sleepin’, walkin’ livin’ doll’. Also: Das ist ein Schlager! Ich habe im Jazz gespielt – und das machen wir jetzt auch wieder mit der Gruppe: ‚I scream, you scream, everybody wants ice cream…’ Was ist das? ’N Schlager! Das ist wirklich Schlager! Und dann hab ich gemerkt: Drews, du hast gar nicht gemerkt, dass du auf Schlager standest. Du hast bloß so viele Vorurteile dagegen gehabt, dass das alles überlagert hat. Du warst betriebsblind.“ Will heißen: Wenn Pop, Rock und sogar Jazz nichts anderes als Schlager sind, dann arbeitet Drews durchaus in einem anspruchsvollen Genre, ja auf Augenhöhe mit großen Rockstars und mit Jazzkönnern wie Bill Ramsey, am Ende gar mit Vokalgrößen wie Al Jarreau. So kann man sich sein eigenes Künstlerdasein, das manchmal schon ein wenig trist und peinlich anmutet, auch zurechtrücken.

Entlarvend ist die Aussage von Texterin und Komponistin Kristina Bach, maßgeblich verantwortlich für den Helene-Fischer-Superhit Atemlos durch die Nacht: „Der deutsche moderne Schlager ist technoid. Und Techno ist verkappte Marschmusik. Und das liebt der Deutsche.“

Die Haltungsnote eins aber, und zwar im negativen Sinne, geht an Franziska Wiese. Die junge Sängerin und Geigerin ist das hoffnungsvolle Nachwuchstalent, das die Doku auf dem steinigen Weg zum Erfolg begleitet. So naiv kommt sie rüber, dass es beinahe schmerzt, ihr zuzuhören und zuzuschauen. Mit leuchtenden Kinderaugen staunt sie über die schillernde Welt, in die sie da eintauchen darf, lässt sämtliche Maßnahmen zum Produktdesign und zur Optimierung ihrer Performance über sich ergehen und sagt nach einem erfolgreichen Promoauftritt mit ergebungsvollem Augenaufschlag zu Electrola-Boss Jürgen Hellwig: „Danke, dass Sie mich ausgewählt haben.“ Anfangs ist sie noch grell geschminkt und mit Dauerwelle zu sehen, doch kommt das bei den Machern der großen Schlagersendungen nicht an. Die möchten „die Bilderwelt“ von Wieses Songs „authentischer präsentiert“ sehen. Ein herber Schlag. Erst nach einem gründlichen Downsizing in Richtung Natürlichkeit, begleitet von hartem Choreographietraining, schafft sie es doch noch in die große Show. Am Ende – Herzkasper! – darf sie gemeinsam mit Florian Silbereisen auf der Bühne stehen.

Was dem Fass die Krone aufsetzt, sind die Aussagen zu ihrem Anspruch und zur Wirkung ihrer Musik. Franziska Wiese war tatsächlich mal in einer Hartz-IV-Behörde tätig, weil sie immer schon im sozialen Bereich hatte arbeiten wollen, weil sie „Menschen helfen“ wollte. „Aber das war da leider eben nicht so“, stellt sie sehr, sehr traurig fest. „Man bekommt eher den Frust der Menschen ab, will helfen und macht Überstunden und arbeitet, aber es bringt nichts, ich mach’ die Menschen damit nicht glücklich.“ Irgendwann, erzählt Wiese weiter, habe sie nicht mehr geschlafen und viel geweint. Sie habe irgendetwas gesucht, das ihr Halt gibt, und das sei die Musik gewesen. „Das hat sich lange, lange gezogen, aber ich habe immer diesen roten Faden beibehalten und bin dem treu geblieben.“ Und dann fasst die aufstrebende Sängerin etwas verschwurbelt eine seltsame Sehnsucht in Worte: „Es wär vielleicht ganz schön, dass ich genau den Menschen, denen ich damals vielleicht nicht helfen konnte, vielleicht auch sogar ’n bisschen Mut machen kann mit der Musik oder dass die sich denken: (…) Jetzt kann ich mir vielleicht was von ihr kaufen, und dann – mit einem Lied wie Frei oder so – gibt sie mir eben ein bisschen Freiheit zurück oder schenkt mir vielleicht was, was ich damals dieser Person nicht geben konnte.“

Hey, meine Musik sollen Hartz-IV-Empfänger kaufen und dadurch ein bisschen Freiheit zurückgewinnen… Geht’s noch?

Es lässt sich nicht durchschauen, ob Franziska Wiese hier nur knallhart performt oder ob sie wirklich so naiv ist, wie sie rüberkommt. Auf jeden Fall vermitteln ihre Statements und die von anderen Protagonisten in dieser Doku ein düsteres Bild vom aktuellen Zustand des deutschen Schlagers: weltfremd, überangepasst und fast schon zynisch. Ein bisschen rumhacken auf diesem sonderbaren Phänomen ist vielleicht doch nicht ganz falsch…

 

This song is (not) your song

Wie Lady Gaga beim „Super Bowl“ Donald Trump diskret den Marsch blies

Nur ganz selten haben Songs so wie Bob Dylans Hurricane unmittelbar Einfluss auf das politische Geschehen: Das 1975 eingespielte Stück thematisierte den Fall des wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilten schwarzen Ex-Boxers Rubin „Hurricane“ Carter. Minutiös deckten damals Dylans Lyrics die Schwachstellen der Anklage auf und untermauerten die These vom rassistisch motivierten Fehlurteil. Der Erfolg des Songs führte zu einer Neuaufnahme der Ermittlungen und – in dritter Instanz – zum Freispruch Carters. Respekt! In der Regel aber haben politische Songs natürlich nur eine indirekte Wirkung, ihre Kraft entfaltet sich eher auf der symbolischen Ebene: indem sie konkrete Haltungen formulieren, Stimmungen untermauern, den Soundtrack einer bestimmten Bewegung bilden. Und natürlich spielen dabei oftmals Andeutungen, Zuspitzungen und ein Augenzwinkern eine große Rolle.

Insofern gebührt Lady Gaga, der amerikanischen Pop-Ikone mit Superstarstatus, großes Lob. Denn beim „Super Bowl“, dem weltweit übertragenen Meisterschaftsfinale der US-American-Football-Profis, nutzte sie Anfang Februar 2017 die Halbzeitshow nicht nur für ein Medley ihrer eigenen Hits, sondern auch für ein musikalisch cleveres politisches Statement. In einer kurzen, aber prägnanten Anfangssequenz spannte sie einen Bogen von Irving Berlins patriotischer Hymne God Bless America (1918) zum sogenannten „Pledge of Allegiance“, dem Treuegelöbnis gegenüber Amerika, und platzierte dazwischen ein paar Verse aus Woody Guthries Folk-Klassiker This Land Is Your Land. Wer flüchtig hinhörte, konnte, selbst bei tiefstpatriotischer oder gar fremdenfeindlicher Gesinnung, nichts wirklich Irritierendes heraushören und die Show genießen. Doch wer genauer hinhörte, entdeckte interessante Zusammenhänge, die es in sich hatten. Wenn man so will, stand Berlins God Bless America für Trumps protektionistisches Credo „America first!“, während gerade die Schlussworte des „Pledge of Alliance“ – „one nation under God, indivisible, with liberty and justice for all” – eben jenen Donald Trump daran erinnerten, Freiheit und Gerechtigkeit gegenüber ALLEN Menschen walten zu lassen. Subtext: „Der von dir verhängte Einreisestopp für Muslime, Herr Präsident, ist gegen uramerikanische Werte.“

Das dazwischengeschaltete This Land Is Your Land von Woody Guthrie untermauert diese Lesart, weil es 1940 auch als bittere Replik auf Berlins God Bless America entstanden war. Einen Anstoß für den Song bildeten damals die inneramerikanischen Wirtschaftsflüchtlinge aus der von Dürre geplagten „Dust Bowl“, etwa aus Oklahoma, die an der amerikanischen Westküste alles andere als begeistert aufgenommen wurden. Diese ablehnende Haltung gegenüber Flüchtlingen zeigte Guthrie, einem ausdrücklich im linken politischen Spektrum angesiedelten Sänger, dass Amerika eben kein „land that’s free“, kein „land so fair“ war, wie Berlin es formuliert hatte. Interessant sind die verschiedenen Versionen, in denen das Lied existiert. So besteht, aus welchem Grund auch immer, die berühmte 1947 eingespielte Fassung nur aus drei Strophen. Und diese preisen ausschließlich die Schönheit Amerikas beziehungsweise seine positiven Seiten. Zum Beispiel: „This land is your land, this land is my land / From California to the New York island / From the red wood forest to the Gulf Stream waters / This land was made for you and me.“ Diese Fassung wurde zu so etwas wie einer inoffiziellen Nationalhymne.

Es gibt aber auch eine 1944 eingespielte Fassung, die weitere Strophen enthält – und in diesen Strophen formuliert Guthrie beißende Sozialkritik. Zum Beispiel geht es um Menschen, die hungernd vor dem Sozialamt stehen („I seen my people as they stood there hungry“), was die fassungslose Frage provoziert: „Is this land made for you and me?“ Ein so schönes, großes Land wie Amerika, so lässt sich interpretieren, sollte eigentlich frei von Ausgrenzung sein und jedem Menschen ein gutes Leben ermöglichen. Eine Schande, dass es hier Menschen gibt, die nichts zu essen haben. In einer weiteren Strophe kommt das Song-Ich auf seiner Reise durch Amerika an ein Schild mit der Aufschrift „Betreten verboten“. Es folgt der messerscharfe Schluss: Wer von der anderen Seite auf das Schild zuläuft, für den gibt es keine Beschränkungen – und das, so der Text, solle doch für alle gelten: „As I went walking I saw a sign there / And on the sign it said ‚No Trespassing’ / But on the other side it didn’t say nothing / That side was made for you and me.“ Diese Argumentation wird schließlich – Achtung! – mit dem Bild einer großen Mauer wiederholt: „There was a big high wall there that tried to stop me / The sign was painted, it said private property / But on the back side it didn’t say nothing / That side was made for you and me.“ Wer da gerade in der heutigen Zeit mal nicht an Trumps Pläne für eine Grenzmauer zu Mexiko denkt…

Natürlich konnte Lady Gaga This Land Is Your Land ausgerechnet beim Super Bowl nicht mit den sozialkritischen Strophen singen, es hätte das Event gesprengt. Aber der Kontext, in den sie das Lied im Rahmen ihrer Halbzeitpausen-Show einbettete, sprach Bände. Zwischen den Zeilen kamen Fragen auf: Kann ein Lied, das die Schönheit eines riesigen Landes besingt und obendrein betont, dass dieses riesige Land einfach allen Menschen gehöre, auch von allen Menschen gesungen werden? Die unausgesprochene Antwort: Wohl eher nicht. Denn wenn ein solches Lied von Anhängern der unterschwellig rassistisch und antisozial argumentierenden amerikanischen Tea-Party-Bewegung angestimmt wird oder den Soundtrack zu Veranstaltungen der ultrakonservativen National Organization for Marriages bildet, die gegen die gleichgeschlechtliche Ehe agitiert, dann ist das ein Widerspruch in sich. Zeilen wie „This land was made for you and me“ klingen dann angesichts der sie begleitenden Ausgrenzungsrhetorik einfach nur zynisch. Und sie passen auch überhaupt nicht zu einer menschenfeindlichen Haltung, wie ein Präsident Donald Trump sie 2017 an den Tag legt.

Es ist bezeichnend, dass der Song 2009 bei der Inaugurationsfeier des Demokraten Barack Obama im Vortrag durch Bruce Springsteen, Folk-Urgestein Pete Seeger und andere auch mit sozialkritischen Passagen erklingen durfte. In ultrareaktionären Kontexten werden diese Passagen in der Regel geflissentlich ignoriert. Lady Gaga ließ sie ebenfalls weg, brachte sie aber kurz nach der Inauguration Trumps indirekt ins Spiel und wies damit subtil auch auf die dramatische Spaltung der amerikanischen Gesellschaft hin. Anschließend stürzte sie sich theatralisch von der Tribüne. Pop at ist best!

———————————-

Woody Guthries This Land Is Your Land ist auch ein Thema in meinem Mitte März bei THEISS erschienenden Buch I Don’t Like Mondays – Die 66 größten Songmissverständnisse

 

Hauptsache berühmt

Aufreger des Jahres: Kanye Wests Famous-Coup featuring Taylor Swift und Donald Trump

 

Keine Frage, das Jahr 2016 wird als besonderes Jahr in die Musikgeschichte eingehen. Von David Bowie bis Prince, von George Martin bis Leonard Cohen – wohl in keinem anderen Jahr sind so viele Superstars gestorben. Gleichzeitig ist 2016 das Jahr, in dem mit Bob Dylan zum ersten Mal überhaupt ein Singer-Songwriter den Literaturnobelpreis erhalten hat. Aber 2016 kam auch eins der seltsamsten künstlerischen Statements der jüngeren Musikgeschichte heraus. Die Rede ist von Famous, einem Song und einem Video des amerikanischen Rappers Kanye West.

Es gibt mehrere Wege, sich dem Famous-Phänomen zu nähern. Zum Beispiel den über Taylor Swift, die in Song und Video prominent „platziert“ wird. Taylor Swift ist jenes ehemalige Country-Talent, das sich innerhalb weniger Jahre zum internationalen Superstar gemausert hat – heute ist sie in etwa so berühmt wie Lady Gaga und Madonna. Und sie hat so etwas wie ein Markenzeichen entwickelt: Sie geht nicht nur mit etlichen berühmten Musikern und Schauspielern aus, sie kokettiert damit auch in ihren Songs. So war es um 2014 fast schon so weit gekommen, dass Medien ihre zukünftigen Liebhaber ironisch zur Vorsicht mahnten – sonst würden sie womöglich in einem Song der Künstlerin landen. Frei nach dem Motto „Got a long list of ex lovers“ (Zitat aus dem Swift-Song Blank Space, 2014) listen Klatschportale und Musikmagazine mal 10, mal 15, mal 21 Swift-Songs auf, die von ganz konkreten Beziehungen und Affären handeln sollen, wenn auch gern versehen mit dem Hinweis, dass manches nur auf Spekulationen und Beobachtungen beruhe.

Es sind freilich Spekulationen und Beobachtungen, die Taylor Swift oftmals selbst befeuert hat: etwa indem sie zu bestimmten Zeitpunkten entprechende Songs veröffentlichte, gern auch unter Nennung von Vornamen in den Lyrics, oder indem sie Andeutungen und vieldeutige Songzeilen twitterte. Harry Styles von der Boygroup One Direction, Songwriter John Mayer, Schauspieler Jake Gyllenhaal und sein Kollege Taylor Lautner sind nur einige von vielen smarten Herren, die Swift auf die eine oder andere Weise in ihren Songs verwurstet haben soll.

Bei so viel direkter und indirekter Promi-Verarbeitung durch die Künstlerin blieb natürlich lange Zeit eine Frage offen: Wann dreht endlich jemand den Spieß mal um? Wann ist jemand so frei, seinerseits Taylor Swift in einem Song zu „droppen“? Womit wir zu den denkwürdigen Auftritten von Kanye West kommen. Der Rapper, der gemeinsam mit seiner Frau Kim Kardashian so etwas wie „Die Geissens“ des amerikanischen Hip-Hop verkörpert, sorgte 2016, wie schon angedeutet, mit einer rustikalen Swift-Anspielung in seinem Track Famous für einen handfesten Skandal. Um diesen strategischen „move“ zu verstehen, muss man aber noch einmal in die Vergangenheit zurückgehen. Denn er war der Gipfel einer medienwirksamen Fehde, die sich schon einige Jahre lang hingezogen hatte und die beiden Seiten – bei aller öffentlich zur Schau gestellten Wut, Enttäuschung und Angriffslust – „ruhmmäßig“ bestens bekommen war.

„I made that bitch famous“: Kanye Wests unerwartet kunstvoller Kommentar zu Taylor Swift und zum Thema Ruhm

Alles fing an mit den MTV Video Music Awards 2009. Damals hatte der Clip zu Taylor Swifts Song You Belong With Me die Auszeichnung als „Best Female Video“ erhalten, weshalb die überglückliche Künstlerin auf die Bühne gebeten wurde. Doch mitten in ihre Dankesrede platzte Kanye West, riss das Mikro an sich und tat dem überraschten Publikum kund, dass für ihn das ebenfalls nominierte Video zum Song Single Ladies von Beyoncé eins der besten Videos aller Zeiten sei. West wurde umgehend ausgebuht, doch das schadete ihm erstaunlicherweise überhaupt nicht. Im Gegenteil: Jetzt kannte man seinen Namen. Und dass sogar US-Präsident Barack Obama persönlich ihn einen „jackass“, einen „dummen Esel, nannte, dürfte er als Adelung von höchster Stelle empfunden haben.

In der Folge gab der Rüpelrapper den Reumütigen, entschuldigte sich auf den unterschiedlichsten Kanälen und ließ 2010 auch den Swift-Song Innocent über sich ergehen, aus dem Kritiker jede Menge Anspielungen auf den unrühmlichen Vorfall heraushörten. Und so schien die Sache Ende 2010 erledigt. Doch dann polterte West in einem Interview los, das Swift-Album Fearless sei aktuell zu Unrecht mit einem Grammy ausgezeichnet worden, und seine spektakuläre Einlage bei den MTV Music Awards 2009 hätte doch eine gewisse Berechtigung gehabt. Dabei ließ er nicht unerwähnt, dass exakt dieser Skandalauftritt Swift 100 Magazin-Titelbilder und Millionenverkäufe ihrer Alben beschert habe. Eigentlich, so die Botschaft zwischen den Zeilen, habe er, Kanye West, sie erst richtig berühmt gemacht.

Das war starker Tobak. Doch Taylor Swift blieb einmal mehr verhältnismäßig entspannt und hatte sogar die Größe, Kanye West bei den Video Music Awards im August 2015 den „Michael Jackson Video Vanguard Award“ zu überreichen – wobei man sich allmählich fragen durfte, warum die Konflikte der beiden Stars in schöner Regelmäßigkeit rund um irgendwelche publicityträchtigen Preisverleihungen entbrannten. Aber egal. Im Frühjahr 2016 jedenfalls stellte West sein neues Album Life of Pablo vor, und besonders der etwas wirre Track Famous hatte es in sich: Da beteuert eine von Superstar Rihanna „verkörperte“ Frau, dass sie ihren Kerl liebe, aber verstehen könne, dass er frei sein wolle, während ein von Kanye West impersonierter Sprecher nicht nur seinen Ruhm feiert, sondern all die Frauen, die er „hatte“. Die aber seien neidisch, weil sie nicht berühmt seien und nur irgendwelche erfolglosen Männer an ihrer Seite hätten. Hm, waren das die im Hip-Hop üblichen Prahlereien und Männer-/Frauen-Dialoge? Nur bedingt. Denn gleich am Anfang fallen die explosiven Verse: „For all my Southside niggas that know me best / I feel like me and Taylor might still have sex / Why? I made that bitch famous / Goddamn, I made that bitch famous.“ Zu Deutsch: „An all meine Southside-Leute, die mich am besten kennen / Ich hab das Gefühl, ich und Taylor könnten immer noch Sex haben / Warum? Ich habe die Schlampe berühmt gemacht / Gottverdammt, ich habe die Schlampe berühmt gemacht.“ Das knüpfte natürlich direkt an die alte Interview-Äußerung an, West habe Swift 100 Magazin-Titelbilder und Millionenverkäufe beschert.

Von da an wurde es unübersichtlich. Nicht nur aus dem Swift-Lager kam der Vorwurf, diese Verse gingen dann doch etwas zu weit. Woraufhin West konterte, er hätte mit Swift im Vorfeld der Veröffentlichung gesprochen, und diese hätte sich erfreut darüber gezeigt, dass er sie in einem Song erwähnen wolle – sogar so erfreut, dass sie die Passage explizit genehmigt hätte. Was wiederum Swift zu der Einlassung bewog, sie habe lediglich die Zeile „I feel like me and Taylor might still have sex“ genehmigt – die beleidigende Fortführung „Why? I made that bitch famous“ habe West ihr vorenthalten. Bis Juni 2016 flogen Anschuldigungen und Rechtfertigungen hin und her, wobei Kanye West etwas heuchlerisch darauf hinwies, dass der Begriff „bitch“ im Hip-Hop doch durchaus ein positiv besetzter Begriff, also ein Kompliment sei. Und just als die Fehde langsam abzuflauen schien, ereigneten sich – na so was! – zwei weitere Eskalationsstufen: Erstens überraschte Wests treu sorgende Ehefrau Kim Kardashian, ihrerseits TV-Star, Modeunternehmerin und Dauerthema in der Klatschpresse, die Öffentlichkeit mit der Information, dass ein Mitschnitt des Gesprächs existierte, in dem Swift die umstrittenen Verse aus dem West-Song Famous genehmigt hatte – ein absoluter Affront, der zudem die heikle Frage aufwarf, ob das heimlich Mitschneiden eines Gesprächs überhaupt rechtens gewesen sei. Zweitens veröffentlichte Kanye West am 24. Juni 2016 mit dem Video zum Track Famous den seltsamsten Clip der jüngeren Musikgeschichte. Seltsamst deshalb, weil der von einem Sonnenuntergang und einem Sonnenaufgang umrahmte Hauptteil des 10:37 Minuten langen Streifens aus langsamen, immer wieder Details fokussierenden Kamerafahrten über eine Reihe nackter Menschen besteht, die mal mehr, mal weniger von Laken bedeckt nebeneinander auf einem gigantischen Bett schlafen.

Bildschirmfoto Kanye West, "Famous", vom Videoportal vevo

Bildschirmfoto Kanye West, „Famous“, vom Videoportal vevo

Was neben der provozierenden Ereignislosigkeit und der nicht gerade hochauflösenden Bildqualität an diesem Video irritiert: Bei den schlafenden Nackten handelt es sich nicht etwa um namenlose Models, sondern durchweg um amerikanische Prominente, um „famous people“ sozusagen, aus Politik, Unterhaltung und Kultur. So werden die Republikaner George W. Bush und Donald Trump, „Vogue“-Chefredakteurin Anna Wintour, die Popstars Rihanna und Chris Bown, Kim Kardashians rappender Exmann Ray J, Kanye Wests Exfreundin und Model Amber Rose, die ehemalige Goldmedaillengewinnerin im Zehnkampf und heutige Transsexuelle Caitlyn Jenner sowie Komiker Bill Cosby gezeigt. Mittendrin liegt Kanye West, flankiert von seiner Frau Kim Kardashian und, na wem wohl, Taylor Swift! Sie ist barbusig! Ihr Gesicht ist Kanye West zugewandt, der sich wiederum von ihr ab- und Kim Kardashian zuzuwenden scheint! Krrrrass! Was für ein spektakulärer Effekt – dem bald Erläuterungen und eine gewisse Erleichterung folgen sollten. Denn natürlich sind die im Clip gezeigten Promis nicht echt. Außer bei Kanye West, der am Ende des zentralen Teils den Kopf in die Kamera dreht und die Augen öffnet, und vielleicht noch seiner Gattin handelt es sich bei allen Personen um Wachsfiguren.

Es kam, wie es kommen musste: Heftige Wortgefechte erschütterten Fans und Medien. Bis die Fehde, man kannte inzwischen den Rhythmus aus Hochkochen- und Abkühlenlassen, irgendwann Ende 2016 einmal mehr im Sand verlief. Da stellt sich aus heutiger Sicht natürlich die Frage: Illegal mitgeschnittene Gespräche, Zurschaustellung von Nacktskulpturen – warum hat Taylor Swift ihren Widersacher Kanye West nie verklagt? Und warum haben sich auch die anderen im Famous-Video gezeigten Promis nicht gegen solch eine buchstäbliche „Bloßstellung“ gewehrt, allen voran der als aufbrausend und nachtragend berüchtigte Donald Trump? Ja, die eine oder andere der gezeigten Berühmtheiten soll „not amused“ gewesen sein, während George W. Bush von einem Sprecher verlauten ließ, er fühle sich schlecht getroffen, der echte Mr. Bush sei viel besser in Schuss als das schlaffe Wachsmodell in dem Video. Aber sonst? Die Antwort könnte lauten: Weil das Ganze letztlich ein großangelegtes Spiel zu sein scheint, bei dem jeder und jede am Ende gerne mitspielt. Genau das ist das Zwingende an diesem sonderbaren Video von Kanye West: Es zeigt einerseits, was Promis und VIPs über sich ergehen lassen müssen – wie sie in der Öffentlichkeit zur Schau gestellt und teilweise sogar entblößt werden; andererseits unterstreicht es, wie Promis und VIPs durch genau dieses Zur-Schau-gestellt-Werden und Sich-selbst-zur-Schau-Stellen profitieren: Es steigert ihren Ruhm ins Unermessliche. Selbst schuld, wer dagegen gerichtlich vorgeht. „Bitte überzieht mich mit Klagen“, soll West rund um die Videopräsentation ebenso selbstironisch wie siegessicher erklärt haben. Er wusste, dass ihm letztlich nichts passieren würde – und dass manch anderer Promi alles dafür gegeben hätte, um in diesem Video „auftreten“ zu dürfen.

Bildschirmfoto Andy Warhols "Sleep" vom Videoportal vimeo

Bildschirmfoto Andy Warhol, „Sleep“, vom Videoportal vimeo

Auch dass die dargestellten Promis nichts anderes als Wachsfiguren sind, gehört zur Aussage: Die Berühmtheiten erscheinen als formbare leere Hüllen, auf die wir, die nicht berühmten Menschen im Publikum, unsere Fantasien, unsere Hoffnungen, unsere Aggressionen projizieren. Die suboptimale Bildqualität unterstreicht den Schlüsselloch-Blick, den voyeuristischen Charakter des Streifens. Hinzu kommt, dass das Video künstlerische Vorlagen zitiert. Da ist zum einen der fast sechs Stunden lange Film Sleep von Andy Warhol aus dem Jahr 1963, der nichts anderes tut, als den Beat-Poeten John Giorno beim Schlafen zu zeigen: Es geht um den Prominenten als gewöhnlichen Menschen, um die Berühmtheit in einer Art Stand-by-Modus, um das Unterlaufen von Zuschauererwartungen, das intensive Wahrnehmen von Zeit und um die Entdeckung minimaler Variationen. Zum anderen bezieht sich das Video auf das 2008 entstandene Gemälde Sleep des Künstlers Vincent Desidorio, der dabei nach eigenen Aussagen an „schlummernde Götter“ gedacht haben will. Und so sind auch die „famous people“ im Video von Kanye West schlummernde Götter, die unter unserer Bewunderung zum Leben erwachen.

Bildschirmfoto Vincent Desidorios "Sleep" auf www.nytimes.com

Bildschirmfoto Vincent Desidorio, „Sleep“, auf www.nytimes.com

Bei all diesen Schlafenden handelt es sich zudem um Prominente mit besonders großem Hang zur Selbstinszenierung, teilweise auch zum Skandal. Sie haben sich sozusagen selbst zu spektakulären medialen Gottheiten gemacht. Die beiden äußerst nachlässig mit der Wahrheit umgehenden Spitzenpolitiker Bush und Trump, von denen Letzterer auch als Immobilien-Tycoon, als TV-Star und nicht zuletzt als polternder Populist für Aufregung sorgte; der unbeherrschte Rapper Chris Rock, der seine damalige Freundin Rihanna geschlagen hatte; sein großspuriger Kollege Kanye West; die Transsexuelle Caitlynn Jenner; die im Bestseller Der Teufel trägt Prada verewigte streitbare Starmacherin Anna Wintour vom „Vogue“-Magazin; oder der in hohem Alter mit Missbrauchsvorwürfen und Sexskandalen konfrontierte Komiker Bill Cosby – fast jede der hier versammelten Persönlichkeiten ist auf irgendeine Weise schon für sich genommen berühmt-berüchtigt. Aber auch im Verbund betrachtet stehen diese Promis für publikumswirksame, den Bekanntheitsgrad steigernde Kontroversen: Ausgerechnet zwei erzkonservative weiße Vertreter des politischen Establishments finden sich in einem Bett mit schwarzen Showgrößen und Transsexuellen wieder; ausgerechnet die verfehdeten Stars Taylor Swift und Kanye West oder das nach häuslicher Gewalt auseinandergegangene Expaar Rihanna/Chris Brown werden unter demselben Laken wiedervereint; ausgerechnet Kim Kardashian, ihr Ex-Lover Ray J und ihr aktueller Lover Kanye West teilen dasselbe Lager – es ist eine extreme Konstellation, die jede Menge Zündstoff birgt. Aus solchem Stoff ist Ruhm gemacht.

Genauer betrachtet erweist sich das Famous-Video als intelligenter Kommentar zu den Mechanismen des Ruhms. Auf der Metaebene beleuchtet der Clip mit cleveren Anspielungen auf künstlerische Vorbilder, wie Medienstartum entstehen kann und was er für alle Beteiligte bedeutet, die Stars ebenso wie ihr Publikum. Dabei schwingt auch etwas von dem Warhol’schen Gedanken mit, dass ein jeder Mensch seine 15 Minuten Ruhm haben kann, wenn er nur genügend präsent ist oder massiv genug behauptet, ein Star zu sein. Kanye West steigert hier seinen Ruhm, indem er sich mit anderen Berühmtheiten umgibt. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem skandalgetriebenen Ruhm, auf den Mechanismen, mit denen man zum Aufmacher in den Boulevardmedien wird.

Famous ist ein feines kleines Stück Gegenwartskunst. Und betrachtet man Song und Video speziell mit Blick auf Taylor Swift, dann macht Kanye West nicht nur das mit der Künstlerin, was diese mit berühmten Verflossenen aus dem wirklichen Leben macht, sondern zieht auch die Schraube noch einmal kräftig an. Konkret: Er droppt ihren Namen in einem Song, denkt öffentlichkeitswirksam laut über eine sexuelle Begegnung nach – und legt sie obendrein noch nackt neben sich ins Bett. Am Ende schlägt Kanye West Taylor Swift mit ihren eigenen Waffen. Ein aggressiveres Namedropping als Marketingstrategie ist kaum vorstellbar. Mit irgendwelchen „autobiografischen“ Einblicken in Kanye Wests biografisches Ich hat das nicht im Mindesten zu tun.

Epilog: Trump, West und die Folgen

Bei diesen Bemerkungen könnte man es belassen – wenn nicht am 8. November 2016 Donald Trump völlig unerwartet zum Nachfolger von Barack Obama als Präsident der Vereinigten Staaten gewählt worden wäre. Mit Blick auf den Famous-Coup hatte diese Wahl zwei erstaunliche Konsequenzen: Erstens erwies sich das Video plötzlich als geradezu visionär – denn Trump, zur Entstehungszeit des Videos noch umstrittener Kandidat, hatte durch den Wahlsieg tatsächlich denselben Status wie einst sein „Bettnachbar“ George W. Bush erlangt; zum anderen offenbarte sich Kanye West als Bruder Trumps im Geiste. Im Rahmen seiner Konzerttour Mitte November 2016 wetterte er nämlich plötzlich live von der Bühne gegen seine berühmten Musikerkollegen Jay-Z und Beyoncé, die die demokratische Kandidatin Hillary Clinton unterstützt hatten, und feixte, er sei zwar nicht wählen gegangen, hätte aber für Trump gestimmt – auch wenn er die „Black Lives Matter“-Initiative und andere antirassistische Bewegungen wichtig finde. Begründung: Trumps Kampagne, ihr Ansatz, sei „absolut genial“ gewesen, und sie bringe Rassisten endlich dazu, ihr wahres Gesicht zu zeigen. Trotz des halbherzigen Nachsatzes ein echter Abtörner, denn die unverhohlene Bewunderung für den siegreichen Republikaner und die Ausfälle gegen Beyoncé & Co dominierten. Bei seiner Glorifizierung der Trump’schen Wahlkampfstrategie, die auf größtmögliche Provokation, auf Sexismus, Rassismus und Ausgrenzung, kurz: auf die zynische Missachtung demokratischer Grundwerte zielte, ließ sich West nicht aus dem Konzept bringen, auch nicht von empörten Buhrufen aus dem Publikum. Vielmehr toppte er den Skandal noch mit der schon früher mal gemachten Ankündigung, im Jahr 2020 selbst für das Amt des US-Präsidenten kandidieren zu wollen. Was dem respektlos-cleveren Famous-Schachzug dann endgültig den Glamour nahm. In der Rückschau offenbarten sich plötzlich sämtliche widersprüchlichen, verletzenden Äußerungen und Auftritte Wests als Adaption der Trump’schen Populismus-Strategie ins Musikgeschäft und in den Kunstbetrieb: Austeilen, schädigen, Unsinn verbreiten, Zurücknehmen, Nachlegen, Toppen, und das alles ohne Rücksicht auf Verluste. Hauptsache: Ruhm und Quoten, also größtmöglicher Erfolg. Letztlich ein zweifelhafter Spaß, der unter anderem die Frage aufwirft: Sozial engagiert sein, aber ausgerechnet bei dieser Wahl seine Stimme nicht abgeben und schlussendlich noch Trumps Rhetorik gutheißen – kann das wirklich zusammenpassen? Ein Widerspruch, den der Rapper möglicherweise selbst nicht aushalten konnte. Wenige Tage nach seinen Tiraden auf der Konzertbühne musste er die Tour aus gesundheitlichen Gründen abbrechen und kam in ein Krankenhaus. Zur Beobachtung. Nicht wenige wären erfreut gewesen, hätte man ihn für immer dabehalten.