Pop dreht frei

(1) Den ganzen Planeten mit einem Warnhinweis versehen!

Fanatiker, Populisten, Egoisten und Verschwörungstheoretiker bestimmen die Schlagzeilen. Das gilt nicht nur in Politik und Gesellschaft, es zeigt sich auch in der Musik. Kritische Schlaglichter auf das Popland USA, wo verunsicherte Bands hektisch ihren Namen ändern und die Rassismusdebatte bizarre Blüten treibt. Wo ein Rap-Vollpfosten Präsident werden will und die Superstars auch nicht mehr sind, was sie mal waren.

Weimar im August 2019: Eine klopapierträchtige Kunstaktion brandmarkt Goethe als Sexisten. Angeklagt sind das machohafte Frauenbild des „Dichterfürsten“ und sein unappetitliches Gedicht vom „Heidenröslein“. Der kleine Anschlag auf Goethes Gartenhaus wird bundesweit kaum wahrgenommen und ansonsten eher belächelt. Tatsächlich ist er nichts gegen das, was nur wenige Monate später Tausende Kilometer entfernt folgen soll. Nach dem Tod des Schwarzen George Floyd, dem im Zuge einer Polizeikontrolle in Minneapolis ein gewalttätiger Polizist minutenlang das Knie in den Hals gedrückt hatte, werden vor allem in Amerika, Belgien und Großbritannien diverse Persönlichkeiten der Geschichte vom Sockel gestoßen, und das im buchstäblichen Sinne. „Black Lives Matter“-Demonstranten attackieren Statuen von Kolonialherren und von Politikern, die für die Unterdrückung der Schwarzen verantwortlich zeichneten, beschmieren sie, köpfen sie oder versenken sie in Flüssen. Columbus und Churchill, selbst die berühmtesten Namen bleiben nicht verschont. Es sind brachiale symbolische Akte, die sich gegen Staatsgewalt und Unterdrückung richten – die unrühmliche Geschichte vergessen machen wollen.

Das Colosseum abreißen. Die Reformation annullieren …

Die Wut kann man gut verstehen. Doch zwangsläufig fragen sich viele, die sich nicht an solchen Denkmalstürzen beteiligen, wo das aufhören soll – was als Nächstes kommt. „So wird Otto Hahn dereinst wegen der Atomforschung verurteilt, Gottlieb Daimler als Mitschuldiger am Klimawandel vom Sockel gestoßen“, spekulierte Thomas Wischnewski im Kontext des kleinen Goethe-Disputs 2019. Wischnewski ist Autor des Onlineportals magdeburg-kompakt.de und spricht von gefährlichen Auslöschungsversuchen. Er warnt: „Die Zurückverurteilung eines zeitgeschichtlichen Geistes trägt faschistoide Züge. (…) Wer die eigene Geschichte umdeutet und abzustreifen versucht, verliert die Fähigkeit, verantwortlich mit ihr umzugehen.“ Seine damaligen Befürchtungen ließen sich heute mühelos ergänzen: Die Reformation wird annulliert, weil Martin Luther im 16. Jahrhundert antisemitische Schriften verfasst hat. Antike Statuen und Stätten, Triumphbögen, das Colosseum werden abgerissen – als Schandmäler für Imperien und Eroberer, die Kontinente in Schutt und Asche legten, andere Menschen versklavten, abschlachteten und abschlachten ließen. Kunstwerke der „Brücke“ werden aus den Museen verbannt, die Maler stehen ja immer wieder unter Pädophilieverdacht. Und Karl May gibt endlich Anlass zu einer Bücherverbrennung, auch sein Werk ist geprägt von rassistischem, kolonialistischem Denken.

Zwei Binsenweisheiten sagen: Der Mensch ist ein widersprüchliches Wesen, mit guten Seiten, aber auch Abgründen, moralischen Untiefen. Und: Der Mensch ist geprägt von der Zeit, der Kultur und den Normen, in denen er sich bewegt, er kann gar nicht anders. Die Grenzen zwischen „einwandfrei“ und „monströs“ sind jederzeit fließend. Nur das absolut Monströse ist klar definiert und gesellschaftlich geächtet – davor jedoch gibt es unendlich viele Graustufen, mit denen man umgehen muss. Manch einer, der Großes getan hat, hat gleichzeitig Dreck am Stecken, erst recht aus historischer Perspektive. Der Weg, sich auch mit den finsteren Aspekten des Lebens auseinandersetzen, Schlüsse daraus zu ziehen und nach Möglichkeiten des Ausgleichs zu suchen, ist in der Regel der bessere. So war es bei der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission, die Verbrechen aus der Zeit der Apartheid aufarbeitete, und so ist es bei der Auseinandersetzung der Bundesrepublik mit der Nazizeit, der kritischen Reflexion der antisemitischen Passagen im Werk Martin Luthers durch die evangelische Kirche. Wenn im Vorfeld des Reformations-Jubiläums 2017 eine protestantische Pastorin und die Kirchenbeauftragte für das Judentum einer Lutherstatue in Hannover symbolisch die Augen verbinden, wenn selbst Vertreter der jüdischen Gemeinde bei aller notwendigen Kritik Luthers revolutionärem Impuls und seiner gelungenen Übersetzung des Alten Testaments aus dem Hebräischen etwas abgewinnen können, dann ist im Sinne einer gemeinsamen Aufarbeitung der Geschichte schon einiges gewonnen.

Darf man Michael Jackson noch im Radio spielen? Auch diese Frage wurde vor nicht allzu langer Zeit angesichts der anhaltenden posthumen Missbrauchsvorwürfe gegen den Superstar hitzig diskutiert. Die Antwort ist längst gefallen, die alltägliche Praxis hat sie gegeben: Ja, man darf Michael Jackson noch im Radio spielen, und ja, man darf ihn auch hören: weil seine Musik nicht im Mindesten Straftatstände erfüllt, weil sie unzähligen Fans viel gegeben hat und immer noch gibt – und weil man letztlich all die Mitwirkenden an Jacksons Kunst, etwa Musiker und Produzenten, durch einen Boykott der Songs ungerechtfertigterweise mitbestrafen würde. An die Verfehlungen des „King of Pop“ muss gleichzeitig erinnert werden dürfen. Weshalb ich es auch unsinnig fände, Filme mit dem wegen sexueller Übergriffe geächteten Ausnahmeschauspieler Kevin Spacey aus dem Verkehr zu ziehen.    

Die Vergangenheit ist so komplex wie die Gegenwart

Wer in einem Abwasch mit den fragwürdigen Aspekten eines Lebenswerks oder einer Epoche gleich das ganze Lebenswerk, die gesamte Epoche aus der kollektiven Erinnerung tilgen will, verleugnet sich selbst und wird vielleicht selbst in hundert Jahren einmal aus der Erinnerung getilgt, wenn Menschen in anderen Kontexten zu neuen Einschätzungen gelangen. Es gibt ja zum Teil schon jetzt unmittelbare Vergeltungsaktionen: So wurden als Reaktion auf die Attacken gegen weiße Kolonialisten-Statuen Gräber ehemaliger Sklaven und Denkmäler schwarzer Autoren geschändet, in Bristol wurde ein schwarzer Musiker durch eine gezielte Auto-Attacke schwer verletzt: Eine sinnlose Spirale der Gewalt kam in Gang, die irgendwann zu Toten führen kann. Ist es das wert? Denkmalentfernungen waren und sind gang und gäbe – meist erfolgen sie bei Regimewechseln, nach Parlamentsbeschlüssen (etwa weil die Objekte als nicht mehr zeitgemäß empfunden werden) oder auf Antrag bestimmter Interessengruppen. Dass eine Initiative von selbsterklärten Aufräumern heute Denkmäler eigenmächtig niederreißt, ist anmaßend. Medienkommentare der letzten Wochen haben Vorschläge formuliert, wie man es besser machen kann: zum Beispiel indem man die umstrittenen Statuen ins Museum stellt, indem man über sie diskutieren und die Öffentlichkeit entscheiden lässt, was mit ihnen geschehen soll, indem man zentrale Gedenkstätten für Kolonialismusopfer einrichtet und/oder indem man neue Denkmäler dagegensetzt. Denkmäler für Demokratiepioniere und Antirassistinnen, mutige Politikerinnen und herausragende Friedensstifter, für konkrete Opfer und die „Black Lives Matter“-Initiative, gern auch für die #metooo-Kampagne oder die „Fridays for Future“-Bewegung, ihre führenden Köpfe. Denn, so die spanische Tageszeitung „El País“: „Die Vergangenheit, die ebenso kompliziert ist wie die Gegenwart und für die es weder endgültige Verurteilung noch Freispruch gibt, steckt auch in diesen Statuen, Denkmälern, Gebäuden.“

Stattdessen beugen sich Popstars wütenden Aktivisten und unverblümten „Hatern“, indem sie flugs ihre vermeintlich rassistischen Künstlernamen ändern. Die Rede ist von Lady Antebellum, einem Trio aus Nashville, das 2009 mit der Countryrock-Ballade Need You Now einen Monsterhit landete und jetzt nur noch Lady A heißt; aber auch von den Dixie Chicks, drei grundsätzlich wackeren Texanerinnen, die auf Druck der „Black Lives Matter“-Bewegung zu The Chicks mutierten. Eigentlich kaum zu glauben. Denn die terminologischen Steine des Anstoßes sind bei genauer Betrachtung genauso komplex wie die Geschichte des Kolonialismus – und für viele Bedeutungen offen. Klar, „Antebellum“, lateinisch: „vor dem Krieg“, ist ein feststehender Begriff, der in der amerikanischen Geschichte auf die Zeit vor dem Bürgerkrieg (1861–1865) verweist – die Ära also, in der in den Südstaaten das brutale System der Sklaverei herrschte. Es war auch die Zeit der „Southern Belles“, bürgerlicher Ladies, die, weil ihnen schwarze Sklaven die Arbeit abnahmen, Zeit hatten für Bildung und kulturelle Aktivitäten. Antebellum bezeichnet außerdem einen bestimmten Architekturstil, wie er in den mit Säulen- und Veranden gesäumten Villen der weißen Plantagenbesitzer zum Ausdruck kam – zu besichtigen unter anderem in Quentin Tarantinos Film Django Unchained, vor allem aber im Filmklassiker Vom Winde verweht. Auch dieses Epos, einer der erfolgreichsten Filme aller Zeiten, steht wegen seiner Südstaatenperspektive und der beschönigenden Darstellung der Sklaverei unter kritischer Beobachtung. Was absolut verständlich ist. Dass ihn der Streamingdienst HBO Max aber kurzzeitig aus dem Programm nahm und im Juni mit einem neuen warnenden Vorwort wieder ins Angebot aufnahm, ist weniger nachvollziehbar. Die Vorzüge wie die problematischen Seiten des Werks sind bekannt, auch aus der umfangreichen Sekundärliteratur, eine gewisse Mündigkeit sollte man dem Publikum nicht absprechen. Und natürlich stellt sich bei aller berechtigten Kritik auch hier die Frage: Was kommt als Nächstes? Wo soll das aufhören? Werden jetzt Hunderttausende Filme, Bücher, Gemälde, Opern, Theaterstücke nachträglich mit Warnhinweisen versehen? „Es könnte schmerzhaft sein …“ Mein Vorschlag: Am besten gleich den ganzen Planeten Erde mit einem Warnhinweis versehen!

Pop = Schillern + Ambivalenz

Doch das nur nebenbei, zurück zu „Antebellum“. Natürlich ist der Begriff mit der Unterdrückung der Schwarzen verknüpft. Aber eben nicht nur: Er weckt auch Assoziationen von Kitsch und Nostalgie, darüber hinaus hat er etwas Morbides. Denn Antebellum ist eine historische Phase der Dekadenz, die durch den Sieg der Nordstaaten unweigerlich zu Ende ging. Dass gerade Pop in der Lage ist, mit solchen Begrifflichkeiten zu spielen, das Schillernde, Ambivalente in markanten Bezeichnungen zu betonen und entsprechenden Kompositionen noch einmal eine andere Tiefe zu verleihen, zeigt Antebellum, ein Song der kalifornischen Künstlerin Vienna Teng: Sie nutzt den Begriff zur Illustration eines Generationenkonflikts – und läuft nicht im Mindesten Gefahr, für diesen Song boykottiert zu werden.

Warum sich die Band, die bei der Namensgebung vor allem den Architekturstil Antebellum im Blick gehabt haben will, hier dem Vorwurf der Sklavereiverherrlichung gebeugt und fast schon schmerzhaft reumütig den Künstlernamen Lady A angenommen hat, statt souverän den widersprüchlichen Assoziationen ihren Lauf zu lassen, ist mir unbegreiflich. Genauso unbegreiflich wie die plumpe Umbenennung der Dixie Chicks in The Chicks. Als unerträglich, das liegt nahe, wurde in manchen Kreisen der Begriff „Dixie“ empfunden. Im engeren Sinne steht er für die Südstaaten zur Zeit der Sklaverei und weckt bei etlichen Amerikanerinnen und Amerikanern unliebsame Assoziationen. Allerdings sind die Zusammenhänge hier noch deutlich komplizierter als im Falle des Begriffs „Antebellum“. Denn „Dixie“ ist eine ausgerechnet in den Nordstaaten geprägte Bezeichnung und eng verknüpft mit einem Song namens Dixie, auch bekannt als Dixie’s Land oder I Wish I Was In Dixie. Der Ende der 1850er Jahre von Daniel Decatur Emmett geschriebene Song gibt die Sicht eines Schwarzen wieder, der sich nach der Rückkehr zu einem Ort namens Dixie sehnt, und dabei werden sämtliche Klischees über Afroamerikaner bedient. Wofür genau nun der Begriff „Dixie“ steht, wurde nie verlässlich geklärt. Wahlweise ist es das Gelände eines den Schwarzen zugetanen Farmers namens John Dixie in Long Island/New York, die Farm eines nicht ganz so freundlichen Mannes auf Manhattan Island oder die „Mason-Dixon-Line“, die einstige Grenze zwischen Nord- und Südstaaten. Was die Sache noch komplizierter macht: Der Song wurde in den Nord- wie in den Südstaaten gesungen, auch als eine Art Kriegslied, dann jeweils mit entsprechend geändertem Text, es war sogar einer der Lieblingssongs von Abraham Lincoln, der die Südstaaten bezwang und die Sklaverei abschaffte.

Wahr ist aber auch, dass der Song in den Kontext der „Minstrel Shows“ gehört. Diese Musiktheater-Events des 19. Jahrhunderts arbeiteten mit dem heute inkriminierten Mittel des „Blackfacing“: Schwarz angemalte weiße Künstler vermittelten ahnungslosen Nordstaatlern ein naives, klischeebehaftetes Bild von schwarzen Menschen. Und das ist, ganz klar, mit Vorsicht zu „genießen“ und, ja, auch rassistisch, vor allem aus heutiger Perspektive. Obwohl Nordstaatler des 19. Jahrhunderts größtenteils gegen die Barbarei der Sklaverei in den Südstaaten waren, darf man ihr Engagement nicht mit dem heutiger „Black Lives Matter“-Aktivisten verwechseln. Die Nordstaaten „attackierten den Süden für die Ungerechtigkeit der Sklaverei und erschufen gleichzeitig eine idealisierte und romantisierte Welt der Schwarzen auf den Plantagen“, differenziert der Musikexperte Jochen Scheytt. „Sie entwickelten den Typ des wandernden ‚darkies’; ein ehemaliger schwarzer Sklave, der sich in der freien Welt nicht zurechtfindet und sich nach dem idyllischen und sorgenfreien Leben auf der Plantage zurücksehnt.“ In anderen Worten: „Das weiße Publikum, das mit und über den Minstrel Clown lachte, brachte so seine gemischten Gefühle gegenüber der Sklavenfrage zum Ausdruck.“ Und noch eine Funktion schreibt Scheytt den Minstrels zu: Sie benutzten das Blackfacing „auch in der Tradition des klassischen Narren. In der italienischen commedia dell’arte diente die Maske dazu, den dahinter Verborgenen von allen Konventionen und Regeln zu befreien. Er konnte so seine Späße ungehindert treiben und musste keine Konsequenzen fürchten. Durch diese Maske konnten die Minstrels auch ernsthafte Kritik äußern, ohne richtig ernst genommen werden zu müssen.“

Also lässt sich der Begriff „Dixie“ gar nicht per se auf eine barbarische Südstaatentradition festnageln. Er spiegelt eine Zeit, in der die USA ähnlich gespalten waren wie heute, aber vor einem ganz anderen politischen und kulturellen Hintergrund agierten. Man muss die damalige Zeitstimmung nicht gutheißen, aber man kann zumindest versuchen, sie zu beschreiben und zu verstehen. Bob Dylan, ganz gewiss nicht nationalistischer oder menschenfeindlicher Haltungen verdächtig, hat den Song Dixie gecovert, 2003 in der durchgeknallten Musikfilmgroteske Masked and Anonymous – Ironie nicht ausgeschlossen. Vielleicht auch als Anspielung auf The Band? Deren Mitglieder, zeitweise Dylans Begleittruppe, hatten es sogar geschafft, im Song The Night They Drove Old Dixie Down den Schmerz eines Südstaatlers über den verlorenen Krieg und über den Tod des Bruders durch die Hand eines Yankee, eines Nordstaatlers, ernsthaft nachzuempfinden, ohne als rassistische Rednecks beschimpft zu werden. Und die legendäre Country-Jazz-Rock-Band Little Feat aus Kalifornien, einem westamerikanischen Bundesstaat, der im Bürgerkrieg politisch auf der Seite der Nordstaaten stand, nannte einen ihrer bekanntesten Songs Dixie Chicken: Es ist die augenzwinkernde Ode an eine moderne männermordende Kneipen-Southern-Belle, die musikalisch in versöhnlicher Manier Nord- und Südstaatentradition vermischt.

Dixieland-Jazz? Du meine Güte …

Nach eben diesem Song und Albumtitel haben sich die Dixie Chicks benannt – und in der Folge alles andere als politisch konservative Haltungen vertreten. Im Gegenteil: Als einstige Lieblinge der Country-Community, gefeiert für das Verschmelzen von Country und Mainstream-Pop, mussten sie 2003 diverse Shitstorms und einen veritablen Karriereknick verkraften, nachdem sie bei einem Konzert in London US-Präsident George W. Bush und die Irak-Invasion kritisiert hatten. Zunächst entschuldigten sie sich, was wiederum Bush-kritische Fans der Band erzürnte, dann aber standen sie weiter zu ihrer Haltung und kämpften sich auf die Erfolgsspur zurück, nicht ohne regelmäßig dezidiert ihre Meinung zu kontroversen Themen zu äußern. 

Von daher erstaunt es sehr, dass sich die konflikterprobte Band nun wieder dem Druck politischer Hardliner gebeugt und das Attribut „Dixie“ aus ihrem Namen gestrichen hat. Schließlich ist der Begriff, wie gezeigt, noch facettenreicher als die Bezeichnung „Antebellum“, er weckt widersprüchlichste Assoziationen und steht heute nicht zuletzt auch für die Staaten im Süden der USA an sich. Deren Existenz ist wohl kaum zu leugnen, man kann sie schlecht von der Landkarte kratzen. Und wohl niemand käme jetzt auf die Idee, eine Musikrichtung wie den Dixieland-Jazz auf ewig zu verdammen. Oder doch? Da drängt sich plötzlich ein schlimmer Verdacht auf: Ist die Namensänderung der Band am Ende vielleicht nur einem radikalen stilistischen Wandel geschuldet? Tatsächlich feiert das unter dem Namen The Chicks erschienene brandaktuelle Album Gaslighter kaum noch Country-Elemente, sondern zielt eindeutig auf die Mainstream-Charts. Und doch enthält es wieder durchaus kämpferische Titel: den Song March, March etwa, eine Hymne auf den außerparlamentarischen politischen Aktivismus unserer Zeit, von den „Black Lives Matter“-Protesten bis zur „Fridays for Future“-Bewegung. Der Namenswechsel nur ein PR-Schachzug? Nein, das wäre unter der Würde der gestandenen Musikerinnen.

Ironie des Schicksals: Als frisch gebackenes Trio Lady A gerieten Lady Antebellum prompt in einen peinlichen Rechtsstreit – und zwar ausgerechnet mit einer schwarzen Blues-Sängerin gleichen Namens. Ganz abgesehen davon, dass jeder Fan und Popexperte weiß, wofür das A einmal stand. Grotesk: Auch die Dixie Chicks mussten sich erst mit den Mitgliedern einer neuseeländischen Sixties-Band namens The Chicks einigen, bevor sie den neuen Namen annehmen konnten. Und firmieren nun unter einem Begriff, den viele Frauen weltweit als abwertend empfinden: Denn „chicks“ bezeichnet spielerisch nicht nur junge Frauen an sich, sondern oftmals auch naive „Häschen“, die ins Beuteschema männlicher Aufreißer passen. Ob das nun wirklich ein Schritt nach vorn war? Zweifel sind angebracht.

Süße Heimat, böse Flagge

Wer tiefer in das Thema eintaucht, stößt dann auch auf das Phänomen des Southern Rock – auf vergangene Kontroversen um Bands wie Lynyrd Skynyrd und den Gebrauch der umstrittenen Südstaaten-Flagge im Rockkontext. Immer wieder standen und stehen die Südstaaten als Heimat des Rassismus in der Kritik, auch in Pop- und Rocksongs: prominent in Southern Man von Neil Young (1971), einer Absage an „den Südstaatler“, der für seine Verbrechen büßen muss. Sweet Home Alabama, der Lynyrd-Skynyrd-Klassiker aus dem Jahr 1973, gilt auch als Antwort auf Southern Man – er schwankt etwas ambivalent zwischen der Verurteilung rassistischer Haltungen und stolzer Heimatliebe. Southern Rock ist ein musikalisch aufregender, aber inhaltlich teils irritierender Mix aus konservativen Haltungen und rüdem Rock-’n’-Roll-Lifestyle, sicher auch gespeist vom Trotz gegen ständige Anfeindungen durch „Nordstaaten“-Bands, durch vermeintlich progressive Hippies und politisch korrekte Fans. Dazu gehört das provokante Zeigen der umstrittenen Südstaaten- oder Konföderierten-Flagge aus Bürgerkriegszeiten, eines weiß umrahmten blauen Schragenkreuzes auf rotem Grund, bedeckt mit dreizehn weißen Sternen. Molly Hatchet schmückten sich mit der „bösen“ Flagge – ebenso wie Lynyrd Skynyrd und der Republikaner-Freund und Waffennarr Kid Rock, dessen Hit All Summer Long (2007) nichts anderes ist als eine Ode an Sweet Home Alabama. Tom Petty setzte1985 die Konföderierten-Flagge auf seiner Southern Accents-Tour ein, entschuldigte sich aber dafür und bezeichnete die Sache glaubwürdig als Fehltritt. Die schwarzen Rapper Ludicrous und Lil John wiederum machten mit der Südstaaten-Flagge kurzen Prozess: Sie brandmarkten sie als Zeichen der Unterdrückung, Lil John setzte sie folgerichtig spektakulär in Flammen.

Und damit zu Kanye West: Von ihm ist überliefert, dass er einst die Südstaaten-Flagge einfach so mal für sich vereinnahmte – und sie damit symbolisch entwertete. „I took the Confederate flag and made it my flag“, soll er einem Radiosender in L.A. erzählt haben, „It’s my flag now. Now what you gonna do?“ Es wäre eine der geistreicheren Aktionen dieses ansonsten ziemlich tumben, nervigen Zeitgenossen. Zur Erinnerung: Kanye West ist ein schwarzer Rapper, der sich im Musikbusiness ähnlich polternd aufführt wie Donald Trump und gemeinsam mit seiner Frau Kim Kardashian so etwas wie „Die Geissens“ des amerikanischen Hip-Hop gibt. Seine wenigen, aber durchaus vorhandenen genialen Momente, etwa das bizarr vielschichtige Schläfer-Video zum Song Famous, macht er sich regelmäßig durch bekloppte Statements und Aktionen selbst wieder kaputt. Indiskutable PR-Stunts wie ein surreal anmutender Besuch im Weißen Haus, rüpelhafte Ausfälle gegen Kolleginnen wie Taylor Swift und groteske Kritik an der Black Community („400 Jahre Sklaverei? Das klingt für mich nach selbst gewählt“) wurden und werden gern mit einer bipolaren Störung des Künstlers entschuldigt. Nichtsdestotrotz fühlt sich West fit und geeignet für das Amt des US-Präsidenten – die Idee zur Kandidatur soll ihm unter der Dusche gekommen sein. Auweia. Es könnte ein wunderbar cleverer Pop-Gag sein, doch leider steht Schlimmes zu befürchten.

Impf- und Abtreibungsgegner – als wär’s die Mehrheitsmeinung

Als einstiger Trump-Fan hat sich „Ye“ längst von seinem Idol losgesagt und will den Katastrophen-Präsidenten offenbar schon bei der kommenden Wahl im November ablösen – obwohl längst wichtige Fristen für den Eintritt ins Rennen um das Amt verstrichen sind. Im Klartext: West will NICHT nur sein nächstes Album promoten, wie genervte Kollegen vermuteten, nein, er meint es wirklich ernst. Vorübergehende Meldungen, er habe die Kandidatur zurückgezogen, bestätigten sich nicht. Damit, und das ist ein weiterer Bogen zu den vorangegangenen Betrachtungen, agiert dieser kleine Gernegroß ähnlich anmaßend wie die fanatischen Denkmalstürmer: getrieben von lächerlicher Selbstüberschätzung und Egomanie, von schlechtem Stil und Respektlosigkeit gegenüber dem politischen Amt. Ganz zu schweigen von seinen merkwürdigen Ansichten: Als wäre es die Mehrheitsmeinung, beschreibt West sich fröhlich als Abtreibungs- und Impfgegner und bringt als mögliche Vizepräsidentin die völlig unbekannte „biblische Lebensberaterin“ Michelle Tidball ins Spiel. Die hat für Menschen mit psychischen Problemen einen supertollen Therapieansatz parat: „Jeden Tag aufstehen, das Bett und den Abwasch machen, dann geht’s euch besser.“ Das ist, ganz sicher, das Holz, aus dem zukunftsweisende politische Programme geschnitzt sind! Wer mit Blick auf Trump dachte: Schlimmer geht’s nimmer, wird von Kanye West eines Besseren belehrt.

Und so müssen wir konstatieren: Pop in den USA befindet sich in einem bemitleidenswerten Zustand. Stars sind entweder verunsichert oder dumpfbackige Selbstdarsteller, und die Fans versteigen sich in Extreme: auf der einen Seite politisch überkorrekte Fanatiker, auf der anderen gelangweilte Wohlstands-Kids, die in unkorrekten Gangsta-Rappern ihre neuen Helden sehen. Was zählt, sind populistisches Auf-die-Kacke-Hauen und die Machtkeule der übersteigerten „political correctness“ – was fehlt, sind Stil, Eleganz und progressive Durchschlagskraft, ein popspezifischer „moralischer Kompass“ mit entsprechend gefestigter Haltung. Bob Dylan oder Neil Young mögen immer mal neue Alben herausbringen, doch ihre einstige Strahlkraft ist dahin. Und zwei, die es momentan rausreißen könnten, setzen eher eskapistische bis Alibi-Akzente: Taylor Swift, beinahe unantastbarer weißer Superstar mit bisher klaren Meinungen, veröffentlicht im Moment lieber Folklore, ihr ganz persönliches Corona-Album; und Beyoncé, beinahe unantastbarer schwarzer Superstar mit vielfach von den Medien bescheinigter „Black Empowerment“-Botschaft, hat gerade bei Disney das 90-minütige visuelle Album „Black Is King“ veröffentlicht: eine mythisch aufgeladene, glamourös-opulente Ode an „die Bandbreite und Schönheit der schwarzen Abstammung“, die als pathetischer Fantasy-Trip weder mit dem Alltag im 20. Jahrhundert noch mit „Black Lives Matter“ zu tun hat. Black is beautiful? Dem muss man zustimmen. Aber gab’s das nicht schon mal in den Sixties? Selbst aus der schwarzen Szene heraus wird Beyoncés Werk als „kommerzialisierte Afro-Folklore“, als Instrumentalisierung für ihren „Black Capitalism“ kritisiert. Auch das ist bezeichnend.

Und jetzt auch noch Madonna

Wenn sich dann noch Madonna zu Wort meldet, kann man fast schon sagen: Gute Nacht! Die ehemals Unantastbare hatte schon zu Beginn der Corona-Krise einen Proteststurm ausgelöst, als sie in einem Video aus ihrer Luxusbadewanne heraus halluzinierte, dass das Virus alle Menschen gleich mache – jetzt preist sie wie Donald Trump das umstrittene Malaria-Mittel Hydroxychloroquin als Wundermittel gegen Corona und behauptet, ein bewährter Impfstoff sei längst verfügbar, werde aber unter Verschluss gehalten, damit die Reichen reicher und die Armen ärmer und kranker werden. Dazu beruft sie sich auf die texanische Ärztin Stella Immanuel, die laut Medienberichten Sex mit bösen Geistern für gynäkologische Probleme verantwortlich macht „und glaubt, dass die US-Regierung von ‚Reptilien’ geführt wird. Des Weiteren ist sie davon überzeugt, die Ehe zwischen Homosexuellen führe dazu, dass Erwachsene Kinder heiraten.“

Es ist traurig, dass die vielen aufregenden Songs und Künstler, die es nach wie vor gibt, kaum gehört werden – und stattdessen die Populisten, Egoisten, Esoteriker die Schlagzeilen dominieren. Pop in den USA ist ein selbstvergessenes Mäandern, hat offenbar sein Timing verloren. Setzt merkwürdige Akzente. Benutzt und wird benutzt – und macht deshalb im Moment nur selten Spaß.

A Scotsman in New York

David Byrnes wunderbares Buch How Music Works

Es sind nun schon acht Jahre vergangen, seit dieses Buch in der englischen Originalausgabe erschienen ist, aber was soll ich machen: Ich hab’s nun mal jetzt erst für mich entdeckt. Und dieser Blog gibt mir alle Freiheiten: Ich kann darin thematisieren, was immer ich will – und wann ich es will. „To work“ heißt auf Deutsch „arbeiten“, „funktionieren“, auch „klappen“ und „gelingen“, insofern ist „Wie Musik wirkt“, die deutsche Übersetzung des Buchtitels, nicht ganz akkurat. „How Music Works“, die 2012 erschienene Abhandlung des Talking-Heads-Masterminds David Byrne, ist eben keine Wirkungsgeschichte, kein Fabulieren über das, was Musik mit dem Publikum macht, sondern eine Compilation aus Betrachtungen über das Wesen von Musik, über Bedingungen ihrer Produktion, über die Rolle, die die Künstlerpersönlichkeit dabei spielt, über die Funktion von Musik in der Gesellschaft.

Das klingt erst mal sehr abstrakt und hat, das gebe ich gerne zu, auch in mir Vorbehalte geweckt. Aber diese Vorbehalte haben sich beim Lesen rasch zerstreut. Warum? Weil David Byrne sehr unterhaltsam schreibt und dabei immer wieder zum Brüllen komische Spitzen einbaut; weil er auf den Punkt formuliert; weil er hochspannende Informationen präsentiert; und – vor allem – weil er wirklich erhellende Einblicke in seine Arbeit mit den Talking Heads und anderen hochkarätigen Künstlerinnen und Künstlern gewährt. Hier spricht kein Intellektueller im Elfenbeinturm, auch kein selbstverliebtes selbst erklärtes Genie, sondern ein mit reichlich Humor und feiner Ironie gesegneter kreativer Kosmopolit, der völlig unprätentiös von seinem Schaffen, seinen Erlebnissen und seinen beglückenden Erfahrungen mit guter Musik berichtet, ob es sich nun um Rock, Jazz, Wave oder Latin, um Klassik oder Pop, um vermeintliche U- oder mutmaßliche E-Musik handelt, um rituelle, improvisierte oder von Künstlicher Intelligenz hervorgebrachte Musik, um individuelle Songs oder für Musicalproduktionen konzipierte Auftragslieder. Natürlich bekommt man zwischen den Zeilen mit, welche Arten von Musik, welche Künstlerpersönlichkeiten und welche Entwicklungen im Musikbusiness er gut findet und welche weniger – aber stets erweist sich Byrne als Gentleman und begegnet den Phänomenen und Charakteren, über die er schreibt, mit Aufgeschlossenheit und Respekt, notfalls mit einem vielsagenden Augenzwinkern.

Wer hochtrabende postrukturalistisch, marxistisch oder anderweitig ideologisch gefärbte Betrachtungen erwartet, wird hier glücklicherweise ebenso enttäuscht wie ein Publikum, das auf Sex-and-drugs-and-rock-and-roll-Geschichten, auf Anekdoten aus der US-Post-Punk-Szene oder auf peinliche Geständnisse aus Byrnes Privatleben hofft. Byrne hegt eine viel zu große Skepsis gegenüber Rockismen oder gebrochen-genialischen Künstlerseelen und ist auf seinem kreativen Weg viel zu sehr zum Universalgelehrten in Sachen Musik gereift, um sich mit Boulevardkram dieser Art zu beschäftigen. Mit Sicherheit hatte er sehr viel Spaß im „Rockzirkus“, das kann, wer will, aus dem Buch herauslesen; aber vor allem ging (und geht) es ihm um das Entdecken und Erforschen, um ständig neue Erfahrungen, um die Verwirklichung von Ideen und um die Kotrolle über sein eigenes künstlerisches Tun.

So erfahren wir, wie Musik in archaischen Gemeinschaften
funktionierte und wie sie sich über die Jahrhunderte zum Produkt entwickelte; wie
die Orte und Kontexte, in denen Musik aufgeführt wird, ihre Beschaffenheit
bestimmen; oder wie auch Künstlerinnen und Künstler immer nur mit den ihnen zur
Verfügung stehenden Mitteln und Ressourcen arbeiten können, von den eigenen
Fähigkeiten über die verfügbaren technischen Mittel bis hin zu den
Mitstreitern. Natürlich leugnet Byrne nicht, dass individuelle Kompetenzen und
Eingebungen beim Musikmachen eine Rolle spielen – und doch macht er anschaulich
deutlich, dass nicht wir die Musik spielen, sondern dass die Musik zu einem
großen Teil uns spielt. Eine wohltuend realistische Absage an das romantische Konzept
vom genialisch kaputten, visionären Künstler, der aus den Abgründen seiner
Seele Einzigartiges erschafft. Die zum Teil aberwitzige Entwicklung von den
ersten erfolgreichen Schallaufzeichnungen bis zur Entstehung einer Platten- und
Musikindustrie werden ebenso packend veranschaulicht wie die neuerlichen
Umwälzungen, die sich aus der Digitalisierung ergeben haben. Und mittendrin in
all dem Chaos: David Byrne und die Talking Heads, David Byrne und Brian Eno,
David Byrne und Fatboy Slim, David Byrne und die Weltmusiker dieser Welt.

Schon in einem der ersten Kapitel gibt es Betrachtungen zur Arbeit der Talking Heads, und gerade wenn man glaubt, man hätte schon alles Wesentliche zu diesem Thema erfasst, erhält man gegen Ende des Buchs mit ausführlichen Betrachtungen zum Geschehen im und um den legendären New Yorker Club „CBGB’s“ erst das vollständige Bild. „How to Make a Scene“ heißt das schöne Kapitel, in dem Byrne schildert, wie sich in einem abgerissenen Club in einem abgerissenen Viertel New Yorks jene schillernde Szene entwickeln konnte, aus der Tom Verlaine und Television, Blondie, die Patti Smith Group, The Ramones und nicht zuletzt die Talking Heads hervorgingen. Anders als die traditionellen Musikclubs der Stadt, die zum Teil drei verschieden Konzerte etablierter Acts an einem Abend veranstalteten, für die jeweils neu Eintritt gezahlt werden musste(!), ließ sich der Macher des CBGB’s in den 1970ern dazu überreden, ein geringes Eintrittsgeld zu erheben, das die Bands des Abends ausgezahlt bekamen, und ansonsten die Einnahmen aus den Getränken zu kassieren. So wurde der einstige Biker-Club nicht nur zu einer Goldgrube für den Betreiber, sondern auch zu einem unvergleichlichen künstlerischen Experimentierfeld, zu einem zwanglosen Treff, in dem junge, von der Rockgigantomanie à la Eagles und Fleetwood Mac enttäuschte Bands ihre eigenen Vorstellungen einer zeitgemäßen Popmusik präsentieren konnten. Es gab keinen richtigen Backstage-Bereich, auch der Aufbau des Equipments und das Stimmen der Instrumente geschahen vor den Augen des Publikums, die Bühne war eher irgendwo am Rande platziert, die Gäste tranken an der langgezogenen Bar oder spielten Billard, auch waren all die innerlich brennenden Combos nicht unbedingt solidarisch miteinander. Ganz wichtig war ironischerweise, dass niemand gezwungen war, andächtig zu lauschen. Das Lob eines Billard-Spielers, der den ganzen Abend mit dem Rücken zur Band ein paar Kugeln über den Tisch gestoßen hatte, war manchmal das einzige und motivierendste Feedback, das man als Künstler bekam. Byrne unterstreicht diese eher nüchternen Beschreibungen mit wenig glamourösen Fotos und selbst gezeichneten Lageplänen des Clubs – wodurch man einen ziemlich lebendigen Eindruck von dieser Location und ihrer spezifischen Szene erhält, die so mancher erwartungsvolle Schaulustige und Rocktourist entsetzt wieder verließ.

Es war hier im CBGB’s, wo Byrne, der mit seinen Bandkollegen in einer WG lebte, nach Jahren des ziellosen Straßenmusikertums und nerdigen Noise-Produzierens im Jugendzimmer seine Ideen von einer neuen Popmusik als „work in progress“ ausprobieren und weiterentwickeln konnte. Da waren die Pop-Art-Bands, die Expressionisten und die posenden Romantiker unter den jungen New Yorker Bands – die Talking Heads wiederum gehörten zu den Konzeptkünstlern und Minimalisten: Genüsslich befreiten sie ihre Musik und Bühnenshows von allem Rock-, Barock- und Kunst-Bombast, kleideten sich wie Otto Normalbürger, sangen von Angst, Psychosen und gestörten Beziehungen und untermauerten das Ganze rhythmisch mit alten Funk- und Soul-Grooves. Verfremdungseffekt Galore, hochartifiziell und doch ungeheuer mitreißend. So entstand jene blassgesichtig-linkische Tanzmusik, die Rocktraditionalisten in den Wahnsinn trieb, aber nachrückende Generationen elektrisierte. Entdeckungsfreudige Künstler, die sie waren, entwickelten sich die Talking Heads rasch weiter, und der weitgereiste Byrne, immer auf der Suche nach neuen künstlerischen Erfahrungen, begann, sein Konzept zu variieren. Er entdeckte Parallelen zwischen den Posen großer Rockstars und den stilisierten Präsentationsformen des traditionellen japanischen Theaters, spürte dem rituellen Charakter afrikanischer Musik nach und passte seine Bühnenkonzepte immer wieder an. Jemand sagte ihm, auf der Bühne müsse alles ein bisschen größer sein als im wirklichen Leben – weshalb er sich im überdimensionierten Anzug präsentierte und nicht nur zu dem bahnbrechenden Album Remain In Light gelangte, sondern auch zu gefeierten Tourneen mit einer polyrhythmisch versierten Funk-Rock-Truppe. Später baute er in seine Shows Informationen darüber ein, wie diese Shows „gemacht“ waren, indem er die einzelnen Bühnen- und Beleuchtungslemente nach und nach auf die Bühne rollen und installieren ließ – eine wunderbare Botschaft auf der Metaebene, die den Zauber der Live-Performance in keinster Weise trübte. Dann folgte die Entdeckung der lateinamerikanischen Musik mit den entsprechenden Song- und Tourkonzepten, und so weiter und so fort.

Ich hatte immer ein GEFÜHL zu den Talking Heads und zu David Byrne, aber nach der Lektüre von How Music Works verstehe ich erstmals wirklich, was hinter dieser Musik und den Konzerten steckte, und zwar ohne dass es die Faszination zerstört. Dasselbe gilt für die geschilderten Details zur Entstehung einiger Songtexte, etwa zu Once In A Lifetime: Selbstverständlich macht David Byrne nicht den Fehler, seine Lyrics bis ins kleinste Detail zu erklären und sich damit festzulegen. Aber er verrät, wie diese teils kryptischen und doch zwingenden Lyrics entstanden sind, und regt dazu an, sich näher mit ihnen zu beschäftigen. Auch hier wird deutlich: Abgesehen von Auftragslyrics für ein Musical, die bestimmte Funktionen innerhalb eines Gesamtswerks zu erfüllen hatten, waren die Songtexte auch den Entstehungsbedingungen im Proberaum oder im Studio geschuldet, den Voraussetzungen, die man vorher festgelegt hatte oder die sich einfach irgendwie ergaben. Mr. Spock, der eigentlich gar nicht hierhergehört, würde sagen: Faszinierend!

Gibt es weniger gelungene Passagen in diesem Buch? Nicht wirklich. Auch wenn ich gestehen muss, dass ich zwei Kapitel eher flüchtig gelesen und darin sogar ein paar Seiten übersprungen habe. Das eine, „Business and Finances“, handelt fast schon betriebswirtschaftlich akkurat von Vertragsformen und Kostenplanungen für Tour- und Studioprojekte. Das andere, „Harmonia Mundi“, kreist um das Wesen und den Ursprung von Musik und die teils bizarren philosophischen Konzepte, die die Menschheitsgeschichte dazu hervorgebracht hat. Da wird es beinahe ein wenig esoterisch. Ich bin aber sicher, gerade aufstrebende Musikerinnen und Musiker, die hoffnungsvoll an ihrem Erfolg basteln, werden in „Business and Finances“ wertvolle Hinweise für ein gezieltes wirtschaftliches Produzieren finden und sich deutlich motiviert fühlen, ihre Karriere nicht irgendwelchen Managern und windigen Plattenfirmen anzuvertrauen, sondern sie mutig in die eigenen Hände zu nehmen. „Harmonia Mundi“ wiederum lässt sich, bei allen endlosen Abschweifungen, auf den einen schönen Nenner bringen: Musik ist und bleibt letztlich etwas Geheimnisvolles, dessen Wesen unergründlich ist. Irgendwie scheint Musik von vorneherein im Menschen zu schlummern. Und wie auch immer: Hauptsache, sie berührt und bewegt – nichts anderes zählt.

Gerade als ich hier einmal wieder weiterblättern wollte, erzählte Byrne noch von Kirchenvater Augustinus und seiner Annahme, jeder Mensch würde im Moment des Todes einen göttlichen kosmischen Akkord vernehmen und dazu die letzten Geheimnisse des Universums enthüllt bekommen. Trockener Kommentar von Freigeist Byrne: „very exciting, although just a little late to be of much use.“ Eigentlich nachvollziehbar: Was bringt mir die Erkenntnis der Geheimnisse des Universums, wenn ich im nächsten Moment tot bin? Jene Geheimnisse, die Augustinus gekannt haben soll, seien dann über Jahrhunderte weitergereicht worden, heißt es weiter, seien aber, wie Renaissance-Philosophen einräumten, irgendwann  leider verloren gegangen. Byrnes Fazit: „Oops.“ Es sind staubtrockene Einschübe wie diese, die die Leserin, den Leser bis zuletzt bei der Stange halten. Und dazu anregen, Byrnes spätere Alben American Utopia oder Here Lies Love (mit Gatsängerinnen wie Roisin Murphy, Kate Pierson, Santigold und der unterschätzten Nicole Atkins) noch einmal hervorzukramen.

David Byrne, How Music Works, Edinburgh/London 2012.              

EverGREENs

Gibt es nachhaltige Songs? Wird die Musikbranche irgendwann grün? Und welche Überraschungen halten Umweltsong-Listen bereit?

Mein Kopf ist voller Musik. Mein Kopf ist ein unvollständiges, waberndes Songarchiv. Und nicht ständig, aber doch erschreckend oft greift mein innerer Media-Player irgendwelche Tracks heraus, um sie gnadenlos durch mein Bewusstsein zu schicken. Unaufgefordert. Ohne Rücksicht auf Verluste. Es sind Lieblingssongs aus meiner Jugend, aktuelle Hits oder längst vergessene One-Hit-Wonders, auf die ich durch Zufall wieder gestoßen bin. Aber manchmal auch grässliche Ohrwürmer, die ich einfach nicht mehr loswerde. Linear und komplett, von Anfang bis Ende, spielt mein innerer Media Player diese Songs nur selten ab. Meist ist es immer derselbe Strophenteil, immer dasselbe Intro, derselbe Refrain oder derselbe Instrumentalteil, wieder und wieder, mal kombiniert mit anderen Teilen desselben Songs, mal auch mit Teilen ganz anderer Songs, die plötzlich ins Spiel kommen, weil mein Bewusstsein ähnliche Harmonien und Melodiebögen assoziativ verknüpft. Gedankliche Mash-ups sozusagen. Die Songs, die durch meinen Kopf gehen, begleiten und treiben mich durch den Tag. Ja, sie spenden mir Energie. Und als Songs, die nicht wirklich erklingen, keinen CO2-Fußabdruck in der Welt hinterlassen, aber trotzdem solch eine Energie erzeugen, sind die Songs in meinem Kopf nachhaltig im besten Sinne.

Ich mag den Gedanken – er lässt den Begriff des Evergreens eine ganz neue Bedeutung entfalten. Und doch ist dieser Gedanke völlig unsinnig. Denn irgendwann sind die Songs in meinem Kopf ja tatsächlich erklungen, sie erklingen womöglich auch zukünftig immer wieder. Und, viel gewichtiger: Irgendwann wurden auch diese Songs in einem Tonstudio produziert, über Stunden, Tage, manchmal Wochen und Monate hinweg. Dabei wurde, oje, Strom ohne Ende verbraucht, während Heerscharen von Künstlern, Tonmeistern und Plattenfirmenleuten Müll aller Art produzierten, von zerbeulten Bierdosen und Plastikgeschirr bis zu den Kunststoffverpackungen der Fast-Food-Bringdienste. Chemieträchtige Press- und Brennwerke liefen heiß, um die musikalischen Kunstwerke technisch zu reproduzieren, Papier und Tinte für Plattencover und Booklets wurden verbraucht, Abermillionen Folien für Vinylveröffentlichungen und CD-Hüllen aus Plastik verwendet. Ganz zu schweigen von den CO2-Emissionen, die das anhaltende Streamen dieser Songs verursachte und täglich neu verursacht. Tatsächlich brauchte ich einen Moment, um zu kapieren, warum das Streamen von Musik, von Filmen und Serien so umweltbelastend sein kann. Es ist, na klar, der gewaltige Energieverbrauch, der mit der Verbreitung von Kunstwerken in digitaler Form über gigantische Server einhergeht.

Das Umweltbewusstsein in der Musikbranche steigt

Soll deswegen weniger Musik produziert und noch weniger Musik gehört werden? Um Himmels willen, nein! Wir brauchen Musik, wir brauchen jede Form von Kunst, sie ist ein wichtiges Lebens- und Demokratie-Elexier. Aber die Musikwelt mit allem, was dazugehört – von der Produktion, Veröffentlichung und Verbreitung von Songs über das Veranstalten von Konzert-Events bis hin zu unserem Fanverhalten – könnte noch viel nachhaltiger ausgerichtet sein. Vielversprechende Ansätze sind natürlich längst zu erkennen. Wer zum Beispiel die Schlagwörter „nachhaltige Tonstudios“ in Internetsuchmaschinen eingibt, findet schon einige Adressen von Musikproduktionsstätten, die ihre Räumlichkeiten mit nachhaltigen Materialien ausgestaltet haben, Ökostrom beziehen, ihre Geschäfte in Zusammenarbeit mit Nachhaltigkeitsbanken abwickeln oder nicht vermeidbare Emissionen durch die Unterstützung von Klimaprojekten kompensieren. Die Superstars von Coldplay wiederum haben Ende letzten Jahres angekündigt, vorerst auf eine Welttournee verzichten zu wollen – und zwar so lange, bis sie eine solche Tournee nachhaltig aufstellen können.

Das ehrt Coldplay ungemein, aber vielleicht hätte die Band sich auch jetzt schon Rat holen können von der Green Music Initiative. Die in Berlin gestartete Organisation aus Künstlern, Umweltverbänden, Forschungsinstituten und Business-Entscheidern veröffentlicht erschreckende Zahlen zu den Treibhausgas-Emissionen der Branche und arbeitet schon seit einem Jahrzehnt daran, das klingende Geschäft grüner zu machen. Die Nutzung erneuerbarer Energien, nachhaltige Verpackungen, der Verzicht auf papierlastige PR-Arbeit, elektronisches Ticketing, regionales Catering, Abfallreduktionsstrategien, nachhaltiges Merchandising und clevere Mobilitätskonzepte für die Reisen von Bands sowie für die An- und Abfahrt von Fans bei Konzerten sind nur einige der vielen Aspekte, die die Green Music Initiative über Kooperationen, Projekte und Informationskampagnen propagiert, um die CO2-Emissionen der Musikbranche deutlich zu reduzieren. Einige legendäre Festivals, von Roskilde bis Wacken, orientieren sich bereits an Nachhaltigkeitskriterien und lassen sich dabei von Initiativen und Agenturen mit dem notwendigen Know-how unterstützen.

Grüne Musikproduktion: Zum Beispiel Fré

Auch Künstler helfen tatkräftig mit. Neben Coldplay gibt es weitere engagierte Acts, die versuchen, ihr musikalisches Schaffen auf ein grünes Fundament zu stellen. Außergewöhnliche Akzente setzt hier zum Beispiel Fré: Das niederländisch-deutsche Art-Pop-Jazz-Quartett produzierte sein 2017 erschienenes Debütalbum Nature’s Songs so umweltfreundlich wie möglich in den Osnabrücker Fattoria-Musica-Studios und achtete bei der Verpackung auf Recycle-Materialien. Auch die Titel des Albums – Grains of Sand, Trees, Bees, The Moon, The Sea, Raindrops oder Ice – kreisten um die Schönheiten und Eigenwilligkeiten der Natur. Die Idee, gemeinsam mit dem „Green Office“ der niederländischen Wageningen University im Rahmen eines Master-Kurses ein nachhaltiges Musikprodukt zu entwickeln, konnte leider nicht realisiert werden. Dennoch setzten die vier ihren Weg fort. „Für unser neues Album WE RISE When We Lift Each Other Up haben wir die Dinge selbst in die Hand genommen und diverse Entscheidungen getroffen, um unseren ökologischen Fußabdruck zu verringern und trotzdem Teil der Musikindustrie zu sein“, sagt Frederike Berendsen, Songwriterin, Sängerin und Multiinstrumentalistin der Band. Gemeint ist etwa „ein Artwork aus 100 Prozent recyceltem Papier, das einen Download-Code enthält statt einer CD oder einer Vinylplatte. So vollziehen wir den Wandel hin zum Digitalen, ohne die Schönheit und Sinnlichkeit eines greifbaren Artworks komplett über den Haufen zu werfen.“ Nur eine kleine Auflage an „physischen Tonträgern“ wird produziert, um das Aufkommen an Plastikverpackungen deutlich zu reduzieren. Merchandising-Artikel werden aus biologisch abbaubaren oder recycelbaren Materialien und nach Fair-Trade-Kriterien produziert – und vieles mehr „Es ist“, so Frederike, „unser persönlicher Ansatz, ein Bewusstsein zu schaffen und verantwortlich in unserer Branche zu agieren.“ Bei so viel ökologischem Engagement sollte natürlich nicht in den Hintergrund geraten, dass Fré tatsächlich fantastische Musik machen.

Von Fré stammt auch der Hinweis auf das spannende „Green Vinyl Records“-Projekt, einen Zusammenschluss von acht holländischen Unternehmen, die ein Verfahren zur Produktion von vinylähnlichen Schallplatten entwickeln – nur dass es sich nicht um Vinyl, sondern um umweltfreundlichere Materialien handelt und dass der auf Injektion beruhende Herstellungsprozess deutlich weniger Energie verbraucht. Nicht nur Fré finden den Ansatz vielversprechend und wünschen ihm viel Erfolg in der Zukunft.

CO2-Fußabdrücke auf der Erde,
motivierende Fußabdrücke auf den Hintern der Fans

Dass Künstler, Veranstalter und sogar Branchenmanager das eigene Tun reflektieren, ist relativ neu – eine Entwicklung erst der letzten Jahre. Ihr Bewusstsein für Umweltthemen aber bringen vor allem Songwriter aus Rock, Pop, Soul und Jazz schon seit Jahrzehnten zu Gehör. Und so haben Tausende von Songs neben einem satten CO2-Fußabdruck auf unserem Planeten auch kräftige motivierende Fußabdrücke auf den Hintern der Fans hinterlassen. Frei nach dem Motto: Arsch huh, tut was gegen die Umweltverschmutzung! Rettet den Planeten! Steht auf gegen Ölbohrungen und das Abholzen des Regenwalds, gegen Fracking, Bergbau, überhaupt den Raubbau an natürlichen Ressourcen, gegen Atomkraft und Plastikmüll, den sauren Regen, die Verunreinigung der Meere!

„Umweltsongs“, „climate change songs“, „Earth Day Songs“ oder „Environmental Playlist“ – die Stichworte, unter denen man sie findet, sind vielfältig: Best-of- und Beinahe-Anspruch-auf-Vollständigkeits-Auflistungen von Songs, die sich mit Umwelt- und Nachhaltigkeitsthemen beschäftigen oder beschäftigen sollen. Manchmal sind diese Songs nicht ganz eindeutig, vermischen Öko-Themen mit Sozialkritik und einer allgemeinen Tirade gegen den Kapitalismus und die Gier des Menschen. Oft aber formieren sie simple Appelle wie Save the Planet (Edgar Winter’s White Trash, 1971) oder konzentrieren sich auf ein konkretes Umweltthema (Crosby and Nash, To the Last Whale, 1975).

Hier ein paar Besonderheiten, die mir beim Durchstöbern solcher Listen aufgefallen sind:

Frühe Umweltsongs im Popkontext finden sich bereits 1927 im Blues, etwa bei Bessie Smith (Backwater Blues) und Blind Lemon Jefferson (Rising High Water Blues). Sie beklagen, was passiert, wenn der Mississippi nach heftigen Regenfällen über seine Ufer tritt und viele Menschen, vor allem Arme, heimatlos macht. Südstaaten-Blues-Interpreten der 1920er bis -40er Jahre besingen außerdem den Baumwollkapselkäfer („boll weevil“), der als Schädling damals zur regelrechten Plage wurde und große wirtschaftliche Krisen verursachte. 

Eine feine Anekdote rankt sich um Motown-Labelboss Berry Gordy, der Mery Mercy Me (The Ecology), einen Song des Soul-Superstars Marvin Gaye aus dem Jahr 1971, für nicht vermarktbar hielt. Die Bedeutung des Wortes Ecology musste man Gordy erst noch mühsam erklären. Mercy Mercy Me (The Ecology) wurde allen Unkenrufen zum Trotz einer von Marvin Gayes größten Erfolgen.

Künstler, von denen man „environmental songs“ eher nicht erwartet hätte, sind die Surf-Ikonen The Beach Boys (Don’t Go Near the Water, 1971), Schwermetaller Ozzy Osbourne (Revelation/Mother Earth, 1980) oder Pop-Prinzessin Miley Cyrus (Wake Up America, 2008).

Mehrfachtäter in Sachen Umweltsongwriting sind Pete Seeger, Bob Dylan, The Kinks, Adrian Belew, Bruce Cockburn, Midnight Oil oder Neil Young, um nur die bekanntesten zu nennen.

Zu den skurrilsten Umweltsongs gehört ganz sicher The Return of the Giant Hogweed. Der Song der britischen Art-Rock-Band Genesis, einmal mehr aus dem Jahr 1971, erzählt vom Riesenbärenklau (alternativer Name: Herkulesstaude), einer Pflanzenart, die ein viktorianischer Forscher aus Russland nach England mitgebracht haben soll, wo sie alles überwucherte und die einheimische Flora und Fauna bedrohte. In bester britischer Gothic-Sonderlingtradition machen Genesis aus der „Ökoschäden durch eingeschleppte Arten“-Story eine auch musikalisch ausufernde Rache- und Gruselmär.

Vielleicht das umfangreichste Subgenre der Umweltsongs und fast schon ein ganz eigenes Genre bilden die Anti-Atomkraft-Songs, die von den Auswirkungen der Atomenergie bis hin zu der Gefahr und den Folgen eines Atomkriegs erzählen. Das groteske Stück Burli, 1987 veröffentlicht von der österreichischen Satire-Band Erste Allgemeine Verunsicherung, kreist um einen behinderten Jungen, dessen Missbildungen aus der Nähe seines Wohnorts zu einem Atomkraftwerk resultieren. In Red Skies Over Paradise beschreibt die britische Band Fischer Z 1981 den Ausbruch eines Atomkriegs. Zwei von vielen Beispielen aus dem „No Nukes“-Universum.

Ein peinliches Lieblingsstück unter den Umweltsongs ist Karl der Käfer, 1983 veröffentlicht von Gänsehaut. Die Band entsprang der Kölner Deutschrock-Formation Satin Whale, ihre Protagonisten, die wie progressiv-bewegte Studienräte anmuteten, waren Musikredakteure. Vom Schreiben hatten sie also durchaus Ahnung. Und doch wirken Zeilen wie diese etwas ungelenk, erst recht aus heutiger Sicht: „Karl ist schon längst nicht mehr hier / Einen Platz für Tiere gibt’s da nicht mehr / Dort, wo Karl einmal zu Hause war / Fahren jetzt Käfer aus Blech und Stahl / Karl der Käfer wurde nicht gefragt / Man hat ihn einfach fortgejagt.“

Zu den visionärsten Umweltsongs gehört … Karl der Käfer von Gänsehaut! Von allen bedrohten Tierarten rückte die Band 1983 ausgerechnet den Käfer in den Fokus ihrer Betrachtung. Heute, fast 40 Jahre später, ist vom großen Insektensterben die Rede.

Ein Umweltsong, über den man streiten kann, ist Love Song to the Earth aus dem Jahr 2015. Zur Pariser Klimakonferenz veröffentlicht, versammelt er Superstars wie Paul McCartney, Sheryl Crow, Bon Jovi, Natasha Bedingfield, Fergie und Leona Lewis, die im Rahmen einer eingängigen Powerballade die Schönheit der Natur besingen. Ein paar der Stars posieren im dazugehörigen Hochglanzvideo in weißer Kleidung (Weiß = Frieden?) an Traumstränden und in idyllischen Naturkulissen – die Einnahmen gingen an die UN-Stiftung und an Friends of the Earth. Was die einen als gelungene Ansprache eines Mainstreampublikums feierten, fanden andere arg schnulzig und nur ansatzweise glaubwürdig. Fragt man heute im Freundeskreis herum, wer den Song noch kennt, erntet man eher Stirnrunzeln und Achselzucken als Nicken und strahlende Augen.

Umweltsongs, die man immer ganz anders verstanden hatte, sind Vamos a la playa (1983) von Righeira und The Future’s So Bright (1986) von Timbuk 3. In Vamos … wird nicht etwa eine entspannte Urlaubsstimmung gefeiert, sondern ein Atomkriegsszenario am Strand beschworen; und The Future’s So Bright beschreibt mitnichten rosige Aussichten, sondern eine atomar verstrahlte Zukunft, in der man nicht nur die Augen schützen muss („The future’s so bright I gotta wear shades“).

Den unmittelbarsten Bogen zur „Fridays for Future“-Bewegung schlugen 2019 die Indierocker von The 1975: Im gleichnamigen Track (The 1975) unterlegten sie einen aufrüttelnden Monolog von Klima-Aktivistin Greta Thunberg mit hypnotischen Ambient-Sounds und versprachen, die Einnahmen aus dem Song an die Organisation Extinction Rebellion zu spenden. Es war schon reichlich kontraproduktiv, dass deren Mitgründer Roger Hallam die Anhänger der auf zivilen Ungehorsam setzenden Bewegung zuletzt durch die Relativierung des Holocausts und andere radikale Ansichten schockte.

Das Umfunktionieren bekannter Lieder zu Umweltsongs geht gern mal in die Hose. Das alte Partisanen- und Antifa-Lied Bella ciao musste schon einige Songmisshandlungen über sich ergehen lassen, zuletzt die sinnfreie Wiederaufbereitung als Dancefloor-Kracher für ein urbanes Partypublikum. Die 2012 mit Menschen aus 180 belgischen Städten realisierte Klimaschutzversion Do It Now – Sing for the Climate verlieh der Melodie zwar etwas mehr Ernsthaftigkeit, wirkte aber arg offensichtlich und trug in seiner kollektiven Gefühlsduseligkeit Züge von Massenmanipulation. Als vor allem im Kita-Kontext vermarkteter Umweltsong Etwas tun schließlich hinterlässt Bella ciao so manchen Musikfan endgültig ratlos: Ist das wirklich noch pädagogisch wertvolle Aufklärungsarbeit oder schon eiskalt kalkuliertes, seelenloses Geschäft?

Ganz fatal wirkte sich das Umtexten des Kinderliedklassikers Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad im Rahmen einer Produktion mit dem WDR-Kinderchor aus. Aus der patenten Oma des Song-Originals, die mit den witzigsten und schlausten Erfindungen glänzt, vor allem aber zum unbeschwerten Mitsingen einlädt, machte das WDR-Team Ende letzten Jahres mir nichts, dir nichts eine „Umweltsau“. Satirisch sollte das Ganze sein – ob auf eine vermeintlich beratungsresistente ältere Generation gemünzt oder sogar auf die jugendliche „Fridays for Future“-Bewegung, die sich ihrerseits unglücklich abschätzig über eben jene ältere Generation geäußert hatte, war leider nicht ersichtlich. Das völlig missglückte Liedprojekt brachte nachvollziehbar gekränkte Senioren, aber auch rechtsgesinnte Wutbürger und Propagandisten gegen den WDR auf, der sich prompt von dem Song und von eigenen Mitarbeitern distanzierte, was wiederum massive Kritik von Medienexperten nach sich zog. Ein Kommunikations-GAU erster Güte.

Wie cool und selbstverständlich nimmt sich dagegen das britische Grundschulprojekt aus, bei dem im Sommer 2019 ein Lehrer aus West Suffolk gemeinsam mit seinen Schülerinnen und Schülern einen um das Thema Nachhaltigkeit kreisenden neuen Text zu Gil Scott-Herons Protestsongklassiker The Revolution Will Not Be Televised erarbeitete. Das Original, ein vertontes Gedicht aus der Zeit um 1970, ruft Afroamerikaner dazu auf, gegen eine von Weißen dominierte Konsum- und Medienwelt zu rebellieren. Das Schulprojekt übertrug die Grundgedanken auf Themen wie Erderwärmung, billigproduzierende Textilunternehmen, Plastikmüll, Artensterben und Politikverdrossenheit – das alles im Kontext der sozialen Medien. Von dem Ergebnis, The Extinction Will Not Be Televised, zeigte sich sogar der berühmte Tierfilmer und Naturforscher Sir David Attenborough begeistert.

Umweltsongs, die – genau gehört – gar keine Umweltsongs sind, tauchen auch in den feinsten Listen auf. Am prominentesten sticht in diesem Zusammenhang Michael Jacksons Earth Song heraus: Der Text kreist zwar um eine weinende Erde („crying earth“), aber die Gründe dafür sind Schlachtfelder und Gräuelstätten („killing fields“), Blutvergießen („the blood we shed“) und im Krieg gestorbene Kinder („children dead from war“). Es geht um die Apathie, die im Meer versinkt („apathy drowning in the seas“), und das Gelobte Land, das man nicht erreichen wird. Das klingt doch eher nach einem Antikriegslied als nach einem Umweltsong.

Auch Doctor, My Eyes von Jackson Browne wird gern genannt, doch auch hier muss man nach einem konkreten Bezug zu Klimaschutzthemen suchen. Im Text des 1972 veröffentlichten Songs geht es sehr allgemein um einen verzweifelten Menschen, der sich einem Arzt anvertraut, weil er zu viele schlimme Dinge in seinem Leben gesehen hat. Kurz: ein Song über das Gefühl des totalen Ausgebranntseins. Von Umweltzerstörung keine Spur.

Godzilla heißt ein Hit der US-Rocker Blue Öyster Cult aus dem Jahr 1977. Klar, im Text heißt es: „History shows again and again / How nature points up the folly of man“, doch das ist eher dem Godzilla-Mythos geschuldet, der das Monster als atomare Mutation charakterisiert. Im Wesentlichen beschreiben Blue Öyster Cult lustvoll, wie die Riesenechse in den Straßen von Tokio wütet, und huldigen bestens gelaunt einer Fantasyfilm-Ikone. Den Musikern hier ein Klimaschutz-Engagement zu unterstellen wäre – bei allem Respekt vor ihren vielen großartigen Songs – ein bisschen zu viel der Ehre.

Achten Sie auf den Menschen im Spiegel!

Apropos Michael Jackson und vermeintliche Umweltsongs: Auch Man in the Mirror, der 1988 veröffentlichte Hit des „King of Pop“, taucht gern in „environmental playlists“ auf. Dabei geht es gar nicht um Klimaschutz, sondern konkret um humanitäres Engagement – um den Einsatz für die Armen und die Hungernden der Welt, die Obdachlosen in den Straßen der Großstädte. Das Video dazu erweitert den Themenkreis um Rassismus und Diktatur. Trotzdem formuliert der Song eine Message, die sich ohne weiteres auch auf die Klimaproblematik übertragen lässt: „I’m gonna make a change … I’m starting with the man in the mirror.“ Will heißen: Engagement bedeutet nicht, auf andere zu zeigen oder nur die Politik zum Handeln zu bewegen. Nein, Engagement bedeutet, im Kleinen, bei sich selbst anzufangen. Kurz: bei dem Menschen, den man jeden Tag im Spiegel sieht.

Sweet Streams Are Made of This

Ein Plattenvertrag, dann Tonträger- und Tournee-Umsätze, schließlich Superstartum? Diese Zeiten sind längst vorbei. Heute wollen sich aufstrebende Musiker immer weniger auf eine vom digitalen Wandel gebeutelte Musikindustrie verlassen. Lieber suchen sie als „unsigned artists“, auf eigene Faust, in den Weiten des Internets ihren Weg – zwischen Aggregatoren und E-Shops, zwischen Webradios und Streamingdiensten. Es ist ein steiniger Weg. Und doch ein faszinierender. Denn ausgerechnet in dieser gnadenlosen Schönen Neuen Musikwelt hegt und pflegt eine globale Künstlergemeinde einen sehr markanten Eighties-Trend unbeirrt weiter: Synthpop & Synthwave. Mittendrin: das deutsche Projekt Buzzing Sound Candy. Einblicke in die Musikproduktion des 21. Jahrhunderts – und in einen aufregenden virtuellen Mikrokosmos.

Unsigned artists“, das sind Künstler ohne „Plattenvertrag“. Künstler, die an kein Tonträger-Label gebunden sind, sich von niemandem per Kontrakt vertreten lassen. Ein Zustand, der wohl auf die überwältigende Mehrheit der Hobby- und Profimusiker zutrifft. Mussten „unsigned artists“ im 20. Jahrhundert noch ein weitgehend unerhörtes Dasein fristen, hat ihnen das digitale Zeitalter schier unendliche Möglichkeiten eröffnet: Heute können selbst produzierte Songs und Tracks ohne Label und komplett in Eigenregie veröffentlicht werden – und zwar im Internet, auf den unterschiedlichsten Plattformen. Das ist, keine Frage, grundsätzlich eine sinnvolle Sache: Denn die Musikkonsumenten von heute kaufen immer weniger klassische Tonträger wie CDs, sondern erwerben ihre Lieblingstitel lieber virtuell als Datenpakete. Oder – und dahin geht der Trend – sie verzichten gleich ganz auf den „Besitz“ von Songs, das heißt, sie streamen ihre Lieblingsmusik nur noch, gegen eine überschaubare Monatsgebühr.

Womit wir auch schon bei den Schattenseiten dieser unendlichen Möglichkeiten sind. Denn gerade „unsigned artists“ befinden sich anno 2019 in einem globalen virtuellen Wettstreit mit unzähligen anderen Künstlern. Sie investieren Unmengen an Liebe, Zeit und Geld in die eigene Musik und die Selbstvermarktung, aber die Chancen, mit ihrer Musik einmal nennenswerte Umsätze zu erzielen, sind gesunken. Sich irgendwo als Band mit einem eigenen Profil zu platzieren, mag vielleicht noch leicht gelingen. Doch um einen größeren Bekanntheitsgrad zu erlangen, muss man verschiedene Hürden nehmen – von Aggregatoren und Streamingdiensten über den Kampf um die Aufnahme in wichtige Playlists bis hin zum Buhlen um die Gunst einflussreicher Webradio-DJs.

Kreatives Pingpong

„Auf nervöse A&R-Typen und windige Vertiebspartner habe ich keine Lust mehr, sie reden einem ständig rein und stellen indiskutable Konditionen in den Raum. Ich ziehe mein Ding lieber alleine durch.“ Sagt Rossi, Komponist, Texter und Soundtüftler von Buzzing Sound Candy. Zur Musik von Buzzing Sound Candy kommen wir noch – zuvor soll es um die Arbeitsweise und die Strategie des deutschen Projekts gehen. Denn die haben so etwas wie Modellcharakter für die „unsigned artists“ von heute. Rossi lebt in Frankfurt am Main, wo er einst als Bassist in Punkbands begann, um dann die Welt der Synthesizer für sich zu entdecken und fortan House- und Electro-Musik zu produzieren. In den letzten Jahren hat er auch als DER AXIOMATOR fantasievolle elektronische Akzente gesetzt. Über Musikerforen und andere Kontakte findet er Gastsängerinnen und -sänger. Und mal trifft man sich in der realen, analogen Welt zum Gedankenaustausch oder gar zum Aufnehmen – mal entwickelt man Songs standesgemäß über eine größere räumliche Distanz hinweg via Hin- und Herschicken von Audiodateien im Internet. Es ist ein kreatives Pingpong. Oft hat Rossi die Tracks schon vorproduziert, mal mit Gesangsmelodie und Text, mal steuern die Gastvokalisten einen eigenen Text, eine eigene Melodie bei. Auf diese Weise wird ein Track immer wieder überarbeitet und um Sounds und Parts ergänzt – so lange, bis die Endversion steht.

Künstlerauswahl per KI?

Schnell haben sich Buzzing Sound Candy, kurz: B.S.C., eine Webrepräsentanz geschaffen, es war wahrscheinlich die leichteste Etappe auf dem künstlerischen Weg. Hier stellt sich das Projekt vor, bietet Audio-Dateien zum Anhören und zum Kauf an, bestimmt die Preise, hat alles selbst im Griff. Auch das Artwork hat Rossi in Eigenregie entwickelt, für das Betreiben der Homepage zahlt er einen überschaubaren Monatsbeitrag. Doch nur mit einem Bandprofil im Internet kommt man nicht weit. Das Ziel muss sein, in allen virtuellen Music-Stores und auf allen relevanten Streamingportalen vertreten zu sein – von iTunes über Amazon Music bis hin zu Spotify & Co. Und wie erreicht man dieses Ziel? Über einen sogenannten Aggregator. Aggregatoren, oft Ableger großer Unternehmen, auch aus der Musikbranche, bilden so etwas wie die Schnittstelle zwischen Künstlern auf der einen und Stores beziehungsweise Streamingdiensten auf der anderen Seite. Sie sorgen dafür, dass die Künstler mit ihrer Musik überall vertreten sind – und halten dafür natürlich die Hand auf. Aber nicht nur das: Sie prüfen die Musik sogar, bis hin zur Zensur. „Der harmlose B.S.C.-Weihnachtssong EMPATHY!, der im Dancegewand für ein fleischloses, vegetarisches Weihnachtsfest plädierte“, erinnert sich Rossi, „wurde von einem deutschen Aggregator vehement abgelehnt, eigentlich ein Skandal!“ Und: „Wer weiß, ob da nicht schon ein paar Algorithmen am Werk waren, die nach Reizwörtern wie ,slaughter‘ oder ,blood‘ gesucht und dann gnadenlos aussortiert haben. Ich denke sowieso, dass wir mit dem Thema Künstliche Intelligenz zukünftig auch im Musikbereich noch unser blaues Wunder erleben.“ Wie auch immer: B.S.C. zogen die Konsequenz und wechselten. Jetzt sind sie bei einem amerikanischen Aggregator, mit dem es keinerlei Probleme gibt.

Immer online

Aber sind mit einem guten Aggregator alle Weichen für eine erfolgreiche Karriere von Buzzing Sound Candy gestellt? Mitnichten. Denn optimal wäre es, in die großen Apple- und Spotify-Playlists mit Millionen von Followern aufgenommen zu werden. „Wer da vertreten ist, erreicht auf einen Schlag zigtausend mehr Hörer, das heißt, er wird auch häufiger gestreamt“, weiß Rossi, „und jeder Stream bringt ein kleines bisschen Geld.“ Aber: „Als unsigned artist kommst du da nicht rein. Um in ,beliebte‘ Playlists von sogenannten ,Music influencers‘ reinzukommen, wird ordentlich Geld verlangt. Da blüht mittlerweile ein großer und unseriöser Markt, das ist allgemein bekannt.“ Pay for a Play – diese Strategie kommt für Buzzing Sound Candy nicht infrage. Weshalb das Projekt seine Musik unermüdlich über soziale Medien wie Twitter und Instagram promotet und versucht, regelmäßig von den weltweiten Internetradiostationen gespielt zu werden, am besten in den Shows renommierter DJs. Solche Internetradios gibt es wie Sand am Meer, und auch hier haben sich je nach Musikgenre Topstationen und Star-DJs etabliert. Wer sich einen ersten Einblick verschaffen möchte, schaue nach bei Mixcloud.com, laut Selbstbeschreibung die „global community for audio culture“. Sie lädt ein, mehr als 15 Millionen Radioshows, DJ-Mixes und Podcasts zu entdecken.

Der PR- und Marketing-Aufwand, um Buzzing Sound Candy in den Webradios der Welt zu platzieren, ist enorm. Die aufwendig erstellten Promopakete schicken B.S.C. an die Radiostationen und DJs, dann muss nachgehakt werden. „Wenn möglich, ist man bei Twitter und Instagram praktisch ,always online’“, wie Rossi erklärt. Die Präsenz in den weltweiten Radioshows „bringt erst mal kein Geld, aber Werbung.“ Und motiviert interessierte Hörer, B.S.C. durch Käufe zu unterstützen. Dasselbe gilt für die Remixes, die angesagte DJs für das Projekt erstellen. Diese DJs, die man natürlich auch erst mal für sich gewinnen muss, haben ihr Publikum – und was sie remixen, erfährt gesteigerte Aufmerksamkeit.

Sind Freunde elektrisch?

Womit wir allmählich das vollständige Bild zusammenhaben: Buzzing Sound Candy betreiben ihre eigene Webrepräsentanz www.buzzingsoundcandy.com und sind über den US-Aggregator DistroKid in den globalen Internet-Music-Stores und Streamingdiensten verfügbar. Musikalisch bewegen sie sich in einem wunderbaren Achtzigerjahre-Genre, das in den Weiten des Internets nicht nur überlebt, sondern längst einen eigenen vitalen Mikrokosmos herausgebildet hat. Die Rede ist von Synthpop – oder Synthwave, je nachdem. Mit Verve beschwören Internetmusiker aus aller Welt eine Zeit, in der man noch ehrfurchtsvoll von „Süntis“ sprach und es nach und nach schaffte, Drumcomputern Seele einzuhauchen; als die Haare toupiert und die Gesichter geschminkt, die Klamotten dazu neuromantisch geschnitten waren; als Kraftwerk schüchtern von einem Model schwärmten, Depeche Mode gar nicht genug kriegen konnten und Human League die Stimme Buddhas hörten, während Visage zu Grau verblassten und Gary Numan darüber meditierte, ob Freunde wohl elektrisch seien.

„Synthpop/Synthwave hat in anderen europäischen Ländern eine große Fangemeinde“, sagt Rossi, „in Deutschland ist das Genre noch etwas unterrepräsentiert.“ B.S.C. halten hierzulande die Fahne hoch. Der Projektname – auf Deutsch etwa „Sirrender Klangsüßkram“ – scheint Programm, und das im besten Sinne. Denn die englischsprachigen Songs sind regelrechte Ohrwürmer und verbinden die klassischen elektronischen Klangwelten der Eighties mit modernen House- und Dance-Beats, nicht selten versehen mit eigenwilligen Texten und einem Schuss Melancholie, wenn nicht gar Morbidität. Es sind knackige Synthi-Dance-Tracks, die um klassische Genrethemen wie dunkle Leidenschaften (Tasted Heaven), Retro-Feeling (Back in Time), Euphorie (You Take Me High) und Maschinen (Rise of the Drum Machines) kreisen.

Herzblut, Qualität und eine digitale Strategie

Rossi ist ein überaus kreativer Kopf – und konsequent obendrein. Vorgefertigte Firmensounds und das schnelle Produzieren „am Küchentisch“ oder auf dem Laptop lehnt er ab. Für den virtuosen Autodidakten ist Musik eine künstlerische Herausforderung und solides, schöpferisches Handwerk. Kein Wunder, dass sein Studio durch ein feines Arsenal an analogen wie digitalen Synthesizern und Drummachines beeindruckt. Um die Songs von Buzzing Sound Candy radiotauglich produzieren zu können, hat er sich über Jahre hinweg das Know-how eines Tontechnikers draufgeschafft. Und bevor ein Song seine Veröffentlichung erlebt, wird er in einem professionellen Mastering-Studio auf Industriestandard gehoben. „Da wird aus Enthusiasmus viel Geld investiert“, sagt Rossi ein wenig sarkastisch, „das man wohlweislich nie wieder sieht.“ Denn selbst wenn man großen Erfolg hat: Pro Stream erhalten Künstler einen Betrag von sage und schreibe unter 1 Cent. Um hier auf nennenswerte Umsätze zu kommen, muss man schon ein gefeierter Star sein.

Da stellt sich die Frage: Warum tut man sich das alles an? Die Antwort ist simpel: Aus Liebe zur Musik. Weil man mit Herzblut bei der Sache ist, nicht anders kann. Weil man Teil einer aufregenden Szene ist, immer neue, spannende Leute kennenlernt. Und weil man insgeheim vielleicht doch darauf hofft, erfolgreich mit der Musik zu sein, ein bisschen Geld zu verdienen. B.S.C. scheinen ihren Dreh gefunden zu haben: Mit Weitblick schicken sie ihre digitalen Promokits an die richtigen Multiplikatoren in den Weiten des Webs. Ihre Songs haben Qualität und überzeugen, weshalb sie regelmäßig von Internetradiostationen und in Mixshows auf der ganzen Welt gespielt werden, darunter Artefaktorradio (Mexiko), Radiocoolio (Kanada), Radio Dark Tunnel (Deutschland) und die „Electric Family Tree Radio Show“ (Großbritannien). Bei letzterer legt kein Geringerer als Rusty Egan Hand ans Mischpult, einst Mastermind der Synthpop-Helden Visage (We Fade to Grey) und heute ein einflussreicher DJ in der Szene. Seine einzigartige Art zu moderieren und seine eleganten Übergänge von Track zu Track muss man gehört haben. Auf Bombshellradio (Kanada) haben B.S.C. sogar mal selbst eine Radioshow moderiert – ebenfalls kein schlechter Move zur Steigerung des Bekanntheitsgrads. Auch das Ziel, die eigenen Songs von angesagten DJ-Produzenten remixen zu lassen, haben sie erreicht. Zum Beispiel von Mark Kendrick, der unter seinem Künstlernamen Fused etwa den B.S.C.-Track Back In Time überarbeitet und so für die weitere Verbreitung des Songs unter seinen zahlreichen Followern gesorgt hat. Im Herbst wollen B.S.C. ein Album herausbringen, von dem es auch eine limitierte Vinylauflage geben soll. Vinyl? „Na klar“, sagt Rossi, „Vinyl ist schon länger wieder im Kommen und passt außerdem gut zum Retrofeeling unserer Musik.“ Darüber hinaus sind Vinylveröffentlichungen, ebenso wie Liveauftritte samt Merchandising, weitere Möglichkeiten, auch ein bisschen Geld zu verdienen.

Bei den Künstlern kommt am wenigsten Geld an

Denn, so Rossis Resümee: „Die Tatsache, dass man selbst bei größerem Bekanntheitsgrad kaum angemessen für seine künstlerische Arbeit bezahlt wird, ist und bleibt das Problem der heutigen ,unsigned artists‘. Für ein paar Euro Monatsabo bekommen die User das gesamte Riesenspektrum an zeitgenössischer Musik präsentiert, das macht aufwendig und mit Liebe produzierte Tracks zur billigen Massenware, zu wertlosen akustischen Accessoires. Gewinne fahren vor allem die Internetriesen ein, auch durch die Werbespots, die Nichtabonnenten zwischen die Titel eingespielt bekommen. Bei den Künstlern jedoch kommt am wenigsten Geld an.“ Weshalb Journalisten wie Kabir Sehgal schon fordern: „Spotify and Apple Music should become record labels so musicians can make a fair living.Sehgals Vorschlag: Streamingdienste schließen Verträge mit Künstlern und zahlen ihnen auch vorab schon Honorare, mit denen sie dann weiterarbeiten und neue Musik produzieren können, die wiederum weitere Kunden und Streams nach sich ziehen. „Eine nette Utopie, die aber nicht Wirklichkeit werden wird“, meint Rossi skeptisch – und freut sich auf die Wellen, die der aktuelle Buzzing-Sound-Candy-Titel You Take Me High mit Gastsängerin Fériel hoffentlich noch schlagen wird. Am Erfolg geschnuppert hat das deutsche Synthpop-Projekt bereits – und vielleicht schwebt es irgendwann ja doch einmal im siebten Musikerhimmel.

Bandinfos und Hörproben: http://www.buzzingsoundcandy.com

Voll kacke!

Es ist noch nicht lange her, da sorgte das in Frankfurt gegründete Duo Schnipo Schranke mit dem Lo-Fi-Gassenhauer Pisse für einen kleinen Aufreger.

Das „explizite“ Originalvideo ist im Internet nicht mehr verfügbar

Man mag sie kaum noch anschauen, die perfekten, anmutigen Modelkörper, die durchtrainierten, durchgestylten und natürlich immer lächelnden Superstars, die uns täglich aus den Medien entgegentreten. Vor allem Frauen scheinen solche übertriebenen Idealbilder als Druck zu empfinden: Ständig werden sie mit neuen Beauty-Produkten und Selbstoptimierungs-Trainings bombardiert, und schon bei jungen Mädchen sind Schönheits-OPs längst keine Seltenheit mehr. Dabei stellt sich im tristen Alltag doch alles ganz anders dar. Da ist man nicht ständig epiliert, schlüpft auch mal ungeduscht in die Klamotten und hat weder Zeit noch Kopp fürs Schminken, aber hier und da ein paar Gramm zu viel am Körper. Hinzu kommen gelegentlicher Stress und schlechte Laune: weil man Ärger im Büro oder mit dem Partner hat oder einfach nur Schlafstörungen.

Schon lange gibt es Gegenbewegungen zum weiblichen Schönheits-, Styling- und Keep-Smiling-Wahn, aber die fallen gern ins andere Extrem. Punks und Rrrrriot-Girls betonen das Raue, Rebellische. Und nach und nach setzen Designer auch solche Models auf den Laufstegen an, die nicht dem gängigen Schönheitsideal entsprechen, teilweise sogar eine Behinderung haben. Mit dem Lebensgefühl der meisten Frauen hat aber auch das nur wenig zu tun – so wage ich als Mann mal zu behaupten. Insofern darf man Schnipo Schranke dankbar sein. Denn das Frauenduo, das 2014 an der Musikhochschule der Mainmetropole Frankfurt zusammenfand und längst von Hamburg aus operiert, pflegt ein völlig unspektakuläres Erscheinungsbild. Die Songs der beiden feiern das Stinknormale, das mit Makeln Behaftete, Ungestylte. Und nicht nur das: Auch die doofen Momente im Leben, die miesen Stimmungen, die Pannen und Peinlichkeiten im menschlichen Miteinander werden ausgiebig besungen. Das erinnert hier und da an die ausgesprochen coole Hamburger Neunzigerjahre-Band Die Braut haut ins Auge, wird 2014 aber – nicht zuletzt im Fahrwasser von Charlotte Roches Ekelroman Feuchtgebiete – deutlich weitergetrieben. Und das ist wiederum selbst für manche Frauenbewegte schwer zu ertragen. Kurz: Schnipo Schranke ecken überall an – indem sie auch die unappetitlichsten Alltagsdinge gnadenlos benennen und ohne Rücksicht auf Verluste dahin gehen, wo es wehtut. Kenner der ersten Stunde zitieren noch genüsslich Schnipo-Songs über die „Dreitagemuschi“ und Textzeilen wie „In meiner Unterhose ist braune Soße“, auch wenn die dazugehörigen Songs heute eher nicht mehr im Programm sind.

Ihren „Durchbruch“ feierten Daniela Reis und Fritzi Ernst mit Pisse, einem … sagen wir … Trennungssong der „etwas anderen“ Art. Denn wo sonst Kitsch und Pathos triefen, präsentieren die beiden ein verletzt-verwirrtes Ich, das unsicher und mit einer Prise Selbsthass auf die aberwitzigsten Momente einer gescheiterten Beziehung zurückblickt. „Doch das Schlimme an der Nacht / Du hast mit mir Schluss gemacht / Find’st mich hübsch, doch voll daneben / Damit kann ich leben / Doch du leider nicht mit mir / Weil ich deinen Ruf verlier’“, so wird zu Beginn noch recht hintergründig der Tiefpunkt geschildert. Dann erfahren wir, dass die Sprecherin den Schlussmacher mit ihrer Liebe überfordert („Musst dich ständig übergeben / Meine Liebe macht dich krank“, „Na, ich lieb dich nicht ein bisschen / Ich lieb’ dich übertrieben“) – und dass der gute Mann wohl nie an einer tiefen, dauerhaften Beziehung, geschweige denn an der Gründung einer Familie interessiert war. Vor diesem Hintergrund waren die Versuche, den schwierigen Liebhaber bei Laune zu halten, immer bizarrer geworden. Urkomisch und doch tieftraurig klingen Verse wie: „Du findest mich voll peinlich / Ich find’ dich etwas kleinlich / Hab alles für dich getan / Wo fang’ ich da bloß an? / Hab’ meine Fürze angezündet / ’Ne Orgie verkündet / Auf dem Platz der Republik / Zu klassischer Musik / Dein Handy mit den Arschbacken gehalten / Nur um dich zu unterhalten / Dacht, du findest so was komisch / Seitdem liebst du mich platonisch.“

So weit so bizarr. Und wie kommt nun die titelgebende Flüssigkeit ins Spiel? Ganz einfach – im Rahmen einer noch bizarreren Anti-Liebeserklärung: „Du hast mir gezeigt / Dass es egal ist, wenn man liebt / Schmeckt der Kopf nach Füße / Und der Genitalbereich nach Pisse / Die Liebe, die macht blind / Bitte sag mir, wenn das stimmt / Warum schmeckt’s, wenn ich dich küsse / Untenrum nach Pisse?“ Ich muss zugeben: Das klingt äußerst spektakulär, aber was genau hier gemeint ist, habe ich bis heute nicht verstanden. Zumal nicht immer klar ist, wo Sinneinheiten anfangen oder aufhören und große wie kleine Gefühle, Seh- und Geschmackssinn, oben und unten kräftig durcheinandergewirbelt werden. Zumindest „atmosphärisch“ aber höre ich ein verzweifeltes „Ich liebe dich“ heraus – eins, das so wohl noch nie zuvor in einem Song gesagt wurde.

Die Sprecherin in diesem Text ist alles andere als ein klischeehaftes Lovesong-Ich. Sie spricht hochindividuell, wirkt in ihrer sprachlichen Kreativität aber auch ziemlich künstlich. Eine tiefschürfende Nabelschau mit großer Nähe zu den biografischen Ichs der beiden Künstlerinnen kann ich hier nur schwer erkennen – dazu sind die Lyrics zu offensichtlich auf „dröge“, „peinlich“, „trist“, „fäkal“, „bizarr“ und „anti“ gestylt. Und das ist auch der Punkt, über den bei Schnipo Schranke leidenschaftlich gestritten wird: Das Duo operiert manch einem Fan „zu offensichtlich“. So fantasievoll witzig und komisch-eklig manche Textstellen sind, so gewollt wirken sie auf ganz bestimmte Effekte hin konstruiert. „Genitalbereich“, „unrasiert“ oder „epiliert“ sind gänzlich unpoetische Vokabeln, die hier genüsslich mit „Liebe“, „Küsschen“ und „klassischer Musik“ kollidieren. Hinzu kommt eine stolz zur Schau gestellte musikalische Antiästhetik in Form von Rumpelrhythmen, betont geschmacklosen Sounds und betont unprofessionellem, „echt total betroffen“ klingendem Sprechgesang. Das Ganze wirkt ein bisschen wie das Gericht SCHNItzel mit POmmes rot-weiß (= Schranke), von dem der Bandname stammt: An der Oberfläche schmeckt’s, aber das Fettige, das schmierig Soßige ist auch ein bisschen eklig, erst recht, wenn es an Papier oder Pappteller klebt. Das wirkt für manche umso cooler, als die beiden Protagonistinnen Musik studiert haben und, wenn sie wollten, weitaus komplexer, zumindest aber deutlich gefälliger Musik machen könnten. Schnipo Schranke abstoßend und öde zu finden, ist nicht schwer. Genau das macht sie andersherum zu einem attraktiven Act, mit dem man sich wunderbar als clever, als Insider und als Szene-Connaisseur ausweisen kann – Abgrenzung gegen konventionelle Pop-/Rock-/Alternative-Hörer inklusive.

Einen echten Aufreger lieferte dann das Video, das zu Pisse veröffentlicht wurde. Es zeigt Fritzi Ernst und Daniela Reis eine ganze Zeit lang beim Frühstücken, und das natürlich so im Gegenlicht, dass man kaum etwas erkennen kann: Hach, wie herrlich unperfekt und unkonventionell, wie provozierend unspektakulär. Und wenn man gerade geneigt ist, endlich den „Stop“-Button zu drücken, passiert es: Ein „Kellner“ lupft seine Schürze und pinkelt  – Achtung: Penis und Urinstrahl in Großaufnahme! – in eine leer getrunkene Teetasse, um sie anschließend wieder zu servieren. Die zweite Tasse wird auf dieselbe Weise gefüllt, wenn auch nicht mehr im Close-up. Booooaaaah, ey! So gepimpt darf der Clip seinem Ende entgegenrumpeln. Die Konsequenz: Auf Youtube wurde das Video gesperrt, etliche Medien berichteten. Anschauen kann man den seltsamen Streifen aber woanders im Internet. Die viel diskutierte Heilwirkung einer Urintherapie dürften Schnipo Schranke weniger im Sinn gehabt haben. Eher schon den Publicity-Effekt, den man mit einem kleinen Skandalfilmchen erzielen kann. Viel mehr steckt offenbar auch nicht dahinter, dramaturgisch passt die Szene nicht wirklich zum Text. In einem frühen John-Waters-Film aber hätten die Künstlerinnen aus den Tassen auch getrunken.

Am 14. März 2019 erschien bei WBG/THEISS mein neues Buch Provokation! Songs, die für Zündstoff sorg(t)en. Vorgestellt werden rund 70 Songklassiker der letzen hundert Jahre, die zu ihrer Zeit die Gemüter erhitzten und zum Teil noch heute kontrovers diskutiert werden – von Rock Around the Clock bis Relax, von Anarchy in the U.K. bis zum Punk-Gebet, von Rache muss sein bis Stress ohne Grund, von der „British Invasion“ bis zum Echo-Skandal 2018. Den Band ergänzen Betrachtungen zu den wichtigsten Darstellungsformen im Song und Antworten auf 26 Fragen rund um das Thema Songprovokationen. Anlässlich der Veröffentlichung beleuchtet „tedaboutsongs“ ein paar weitere kontroverse Songs.