Grüner geigen

Ebony and Ivory? Ein nicht ganz makelloser Antirassismus-Song … Gedanken zum Musikinstrumentenbau und zur ersten vegan zertifizierten Violine

Musik und Tierwelt: zwei Bereiche, die auf den ersten Blick kaum etwas miteinander zu tun haben. Auf den zweiten Blick aber kommt man ins Nachdenken. Denn traditionell wird beim Musikinstrumentenbau häufig auf Materialien von – getöteten, ausgeschlachteten – Tieren zurückgegriffen: Trommeln sind mit Tierhäuten bespannt oder mit Tierfellen überzogen, in Mundstücken findet sich Schildpatt von Schildkrötenpanzern. Akustische Gitarren verwenden für den Sattel, auf dem die Saiten aufliegen, Knochen von Rindern, und Violinensaiten bestehen aus getrocknetem Darm. Die Bögen bespannt man wiederum mit Rosshaar, dessen Gewinnung schonend, von lebenden Pferden erfolgen, aber auch mit Qualen verbunden sein kann. Ganz zu schweigen vom Knochenleim, der vielfach beim Zusammenfügen der Instrumententeile verwendet wird.

Vor diesem Hintergrund entwickelt auch Ebony and Ivory, der im Grunde gut gemeinte Antirassismus-Song von Paul McCartney und Stevie Wonder, einen schalen Beigeschmack. Wenn weißes Elfenbein und schwarzes Ebenholz perfekt harmonieren können auf der Klaviertastatur, so die Versöhnungsbotschaft des Evergreens aus dem Jahr 1982, warum kriegen das nicht auch schwarze und weiße Menschen hin? Der kleine Haken: Das Elfenbein für die weißen Tasten stammte lange Zeit von Elefanten, die häufig auch Opfer von Wilderern geworden waren, und das Ebenholz für die schwarzen Tasten ist zwar kein Tier, dafür ein kostbares Tropenholz, aufgelistet unter den gefährdeten Arten. So beschwören Wonder und McCartney unfreiwillig eine fragwürdige Harmonie. Zur Ehrenrettung der Herren: Sie haben es damals wohl nicht besser gewusst – so wie auch viele Fans, die den Song begeistert mitsummten, einschließlich des Autors dieses Textes. Erst seit Ende der 80er Jahre sind Artenschutzbestimmungen in Kraft, die auch im Musikinstrumentenbau die Verwendung tierischer Materialien und bedrohter Tropenhölzer zumindest einschränken.

Seitdem wird leidenschaftlich an Alternativen geforscht. Und das hat speziell im Geigenbau zur ersten als frei von Tierleidprodukten zertifizierten Geige der Welt geführt. Das Anfang des Jahres von der Vegan Society ausgezeichnete Instrument stammt von dem renommierten Geigenbauer Padraig ó Dubhlaoidh aus dem Hause Hibernian Violins im britischen Malvern, Grafschaft Worcestershire. Für das Futter nahm er gedämpfte Birnen, das Holz färbte er mit dem Saft von Waldbeeren, und beim Bindemittel setzte er unter anderem auf Quellwasser aus der Region. Angeregt wurde Padraig ó Dubhlaoidh während der Corona-Zeit durch nachdenkliche Kundinnen und Kunden, die ihre Violine endlich frei von ethischen Bedenken spielen wollten. Die Auszeichnung der Vegan Society bezieht sich allerdings nur auf den Korpus des Instruments – für Bögen und Saiten gibt es schon länger pflanzliche und andere nichttierische Optionen. Umgerechnet 9.600 Euro kostet das gute Stück, was sich bei steigender Nachfrage jedoch ändern kann. Und natürlich ist Padraig ó Dubhlaoidh nicht der einzige Geigenbauer, der nach veganen Gesichtspunkten arbeitet – sein Werk wurde lediglich als Erstes entsprechend zertifiziert. Unter deutschen Spezialisten wird am häufigsten Jan Meyer in Leipzig genannt.

Ein nicht ganz unwesentlicher Aspekt des nachhaltigen Instrumentenbaus ist natürlich die Frage, ob die Verwendung anderer Materialien zu einem veränderten Klang führt, und wenn ja, ob der Klang gleichwertig oder eher schlechter ist. Hier wird unter Fachleuten leidenschaftlich gestritten. Man darf aber davon ausgehen, dass Spezialisten wie Jan Meyer und Padraig ó Dubhlaoidh vor dem Hintergrund ihrer eigenen hohen Ansprüche schon aus Prinzip nicht mit minderwertiger Ware an die Öffentlichkeit gehen würden. Und dass auch beim Musikhören vieles einfach eine Frage der Gewöhnung ist.

Zwischen Eigenem und Fremdem

Neues von Jens Balzer: Das lesenswerte Musiksachbuch Schmalz und Rebellion kreist um den deutschen Pop und seine Sprache

Es ist bereits das fünfte Buch in sechs Jahren. Jens Balzer, Kulturjournalist für „ZEIT“, „Rolling Stone“ und „radioeins“, Dozent für Popkritik an der Berliner Universität der Künste und Co-Kurator des Popsalons am Deutschen Theater Berlin, zählt zu den produktivsten Autoren seiner Zunft. Nach Abhandlungen über das Phänomen „Pop“ an sich, über „Pop und Populismus“, über „das entfesselte Jahrzehnt“ der Seventies und „das pulsierende Jahrzehnt“ der Achtziger widmet sich Balzer nun dem „deutschen Pop und seiner Sprache“. Dass Schmalz und Rebellion, so der griffige Titel des ansprechend gestalteten Bandes, im Berliner Dudenverlag erscheint, wirkt stimmig.

Wer nun erwartet, dass sich der Autor in sprachwissenschaftlichen Betrachtungen und stilistischen oder grammatikalischen Detailanalysen ergeht, wird enttäuscht. Zum Glück. Balzer schreibt eher über Sprachfindung und den Umgang mit Sprache in Songs aus dem deutschsprachigen Raum seit 1946 – und das leicht verständlich, gut begründet, mit gelegentlicher feiner Ironie, die nie zynisch oder verletzend wirkt. Selbst Acts wie Sandra und Modern Talking, die gemeinhin gern belächelt werden, erfahren in diesem kritisch-historischen Abriss eine kurze, angemessene Beschreibung und Einordnung – die mehr als berechtigte Kritik an sexistischen, homophoben und antisemitischen Rap-Tracks erfolgt in klaren Worten, aber sachlich. Und weil Balzer es nicht nur versteht, überraschende Bezüge herzustellen, sondern auch bisher wenig erforschte Popnischen ausleuchtet und die eine oder andere obskure Songperle in den Ring wirft, ist sein neuester Streich selbst für Leute, die schon viel über Pop zu wissen glauben, unbedingt lesenswert.

Bruch mit der Vergangenheit

Schmalz und Rebellion entwirft ein einnehmendes Narrativ von Pop-Entwicklungslinien im deutschsprachigen Raum, die sich fast folgerichtig und stets in Reaktion aufeinander oder auf bestimmte gesellschaftliche Strömungen ergeben haben. So wendet sich die rebellische Jugend im Deutschland der frühen Sechziger dem mehr schlecht als recht verstandenen, aber ungemein coolen Englisch der Rock-’n’-Roll- und Beatmusik zu, um sich gegen die Sprache der Nazis, der schuldbeladenen Elterngeneration, des eskapistischen deutschen Nachkriegsschlagers abzugrenzen. Weil aber gesellschaftskritische Botschaften über den trotzigen Gestus hinausgehen und dann auch verstanden werden sollten, traten Ende der Sechziger politische Künstler wie Franz Josef Degenhardt, Hannes Wader, Ihre Kinder und Floh de Cologne auf den Plan – mit konsequent deutschen Texten. Die Brücke zurück zur Jugendmusik schlugen dann Ton Steine Scherben, die erste echte Rockgruppe mit engagierten deutschsprachigen Songs. Für die leichtgängigere Variante sorgte in diesem Kontext Udo Lindenberg mit seinen ungemein lässigen und gleichzeitig sprachschöpferisch-artifiziellen Texten über ebenso schräge wie einsame Charaktere. Ein Beispiel für die gelegentlich aufblitzende Balzer’sche Ironie: „Er (Lindenberg) stand auch für all jene Männer, die die sexuelle Revolution der Zeit vor allem als Chance ansahen, mit möglichst vielen Frauen ins Bett zu gehen.“

Kein Wunder, dass sich in den Siebzigern auch eine neue Frauenbewegung etablierte – mit musikalischen Vertreterinnen wie den Flying Lesbians, Schneewittchen und Östro 430, die eine Skepsis gegenüber der Mainstream-Gesellschaft und gegenüber gesellschaftsverändernden politischen Bewegungen hegten. Ganz klar, der Bruch mit deutscher Kulturgeschichte und Tradition lag in der Luft. Und den wollten, so Balzer weiter, die sogenannten Krautrocker noch verschärfen: indem sie Sprache nur noch als beliebig form- und auseinandernehmbares Material ansahen oder gleich ganz ohne Text, also instrumental musizierten. Ein ebenso folgerichtiger Ansatz wie der der Wiederaneignung unverfänglicher deutscher Traditionen, die Jahrhunderte vor dem Nationalsozialismus gewirkt hatten. Diesen zweiten Ansatz verfolgten in den Siebzigern die unterschiedlichsten Acts: Ougenweide, Novalis oder Hölderlin vertonten Minnelyrik, sangen auf Alt- und Mittelhochdeutsch; andere, etwa Achim Reichel, äußerten sich auf Plattdeutsch, zelebrierten Shanties und Seemannslieder. Im Rheinland begannen BAP, auf Kölsch zu rocken, in Österreich hatte Wolfgang Ambros mit Popsongs in Mundart Erfolg. Die Lieder der Friedensbewegung – Gefühliges von Bots, Juliane Werding & Co – kündeten von der Kriegsangst in dieser Zeit, und die in deutscher, in türkischer oder in gemischter Sprache gefassten Lieder türkischer „Gastarbeiter“, auf die Balzer – ein großes Verdienst dieses Buchs – ebenfalls verweist, formulierten neben Heimweh die Wut und die Enttäuschung über die in Deutschland erlebte Diskriminierung. In den Songs von Yüksel Özkasap, Metin Türköz oder Cem Karaca (Die Kanaken) lässt sich deutlich ein Vorgriff auf die gesellschaftskritischen Raps migrantischer Hip-Hop-Crews der neunziger Jahre erkennen, von Advanced Chemistry bis Fresh Familee.

Entfremdung und Transzendenz

Deutsche Künstler in den Siebzigern so Balzer, suchten „nach dem sprachlich Eigenen in einer fremd gewordenen Form“. Doch dann betraten Kraftwerk die Bühne, mit einer völlig neuen, rockfreien, vollelektronischen Roboter-Ästhetik und simplen, fragmentartigen deutschsprachigen Texten. Analyse Balzer: Mit Kraftwerk kehrt Deutsches als Fremdes zurück, indem es Klischees erfüllt, die andere Nationen von Deutschland haben: „sonderbar“, „kalt“, „futuristisch“.

In den Achtzigern sang Herbert Grönemeyer ein seltsam regionales Deutsch, das gleichzeitig vertraut und fremd klang. Parallel dazu zelebrierten Punk- und Avantgarde-Bands wie Fehlfarben, S.Y.P.H. und Einstürzende Neubauten einen niederschmetternden Nihilismus – als Reaktion auf den apokalyptischen Zustand der Welt, als Absage an Friedens- und Öko-Utopien. Ähnlich gelagert, aber durchsetzt mit bitterer Systemkritik gaben sich Punk- und Avantgarde-Bands in der DDR der Achtziger. Auch hier gebührt Balzer Dank für die Erinnerung an ein selten beleuchtetes Kapitel deutschsprachiger Popmusik – und für den Hinweis auf eine faszinierend sonderbare Band wie AG Geige, der wir gar eine „Ästhetik der Transzendenz“ für beide Deutschlands verdanken. Wie im Fall von Nina Hagen Ende der Siebziger kam auch mit AG Geige, Zitat, „die eindringlichste Stimme der Emanzipation und Rebellion im deutschsprachigen Pop nicht aus dem Westen, sondern aus der von Zensur und Unterdrückung geprägten DDR.“ Manches aus dieser Zeit, vor allem in Punk und Neuer Deutscher Welle, klang „wie eine Sprache, die man gerade erst erlernt hatte“. Oder „wie eine Sprache, die gar nicht zur Musik passte“. Der Autor grundsätzlich: „Alles musste fremd werden, um zu etwas Neuem zu finden.“ Das schafften dann vor allem DAF, die zu seltsamen elektronischen Beats auf assoziative, ambivalente Weise Sprache kaputt machten, um daraus eine neue Sprache der Romantik und der Liebe zu entwickeln. Ein für Balzer sehr gelungenes Songbeispiel: Der Räuber und der Prinz.

Dekonstruktion und so

Spannend ist Balzers Blick auf Cpt. Kirk &, auf Blumfeld und Die Sterne, auf die für griffige Slogan-Texte gefeierten Tocotronic und andere Bands der Hamburger Schule. Angesichts eines Nebeneinanders von schlagermäßig aufgeweichter Neuer Deutscher Welle, wieder englischsprachiger Italodisco, Untergangsangst, Vereinzelung, Rechtsrock und aufkeimenden Debatten über Heimat und Nationalismus klangen auch sie in den späten Achtzigern und frühen Neunzigern nach Dekonstruktion, nach Verunsicherung und Skepsis. Zum Ausdruck kommt in den neuartigen Rocksongs die „Fremdheit in der Gesellschaft“, es ist die Musik von „Menschen, denen die Sprache im Weg ist“, die „Deutsch als Fremdsprache empfinden“ und sich selbst im Weg stehen beim Ausdruck ihrer Gefühle. Eine verführerische Erklärung für die oft so seltsam anmutenden Songtexte dieser nordischen Schule des deutschsprachigen Pop.

Zu den Solitären, die aus Balzers Abhandlung herausragen, gehört neben Lindenberg, Grönemeyer oder Nina Hagen auch die erfolgreichste Band der Neunziger: Rammstein. Mit der Interpretation ihrer Kunst als Karikaturen und ironische Brechungen des Deutschseins liegt der Autor sicher richtig – seine Ansicht, dass dieser Kunst gleichzeitig eine Anschlussfähigkeit für den Rechtsrock innewohne, muss man nicht teilen, ist aber legitim und weit verbreitet. Erstaunlich, dass in Balzers Ausführungen zu dieser historischen Phase erwartbare explizite Fingerzeige auf „die Wende“ und „die Wiedervereinigung“, auf eine „Nachwendezeit“ oder die „Auflösung des Ostblocks“ fehlen: Mal klingen lediglich die letzten Jahre der alten Bundesrepublik an, mal veränderte Zeitstimmungen, auf die Künstlerinnen und Künstler unter anderem mit dem Aufgreifen poststrukturalistischer Einflüsse reagieren. Unmittelbare Gedanken zum historischen Einschnitt 1989/90 werden offenbar der mündigen Leserschaft überlassen.

Progression und Reaktion

Und dann sind wir auch schon beim Deutschrap des neuen Jahrtausends, der sich bald zwischen sprachverliebten Gute-Laune-Tracks im Stil der Fantastischen Vier, Antidiskriminierungs-Empowerment der Marken Advanced Chemistry und Fresh Familee sowie menschenverachtendem Battle- respektive Gangsta-Rap à la Bushido, Fler, Haftbefehl oder Kollegah bewegt. Überwiegend geht es um Menschen, die sich „fremd im eigenen Land“ fühlen und darauf unterschiedlich reagieren. Tatsächlich wird auch Popmusik in Deutschland nach der Jahrtausendwende immer diverser – vor allem im Hip-Hop sind so viele migrantische Stimmen zu hören wie nie zuvor. Und selbst dem unappetitlichen Gangsta-Rap gebührt das Verdienst, viele neue Begriffe in die deutsche Alltagssprache eingeführt zu haben. In Balzers Narrativ geht es stets um Fremdes und die Aneignung von Fremdem, also verweist er in diesem Zusammenhang auch auf deutsche Mittelschichtkids, die sich – analog zu den deutschen Sixties-Halbstarken und ihrer Hinwendung zum neuen, englischsprachigen Rock ’n’ Roll – die Posen der coolen Gangsta-Rapper aneignen: Statt „Wan, tuu, zrie, forr, läts go“ singen sie heute: „Chabos wissen, wer der Babo ist.“ Was zu weiteren Reaktionen führt: Wo es so viele diverse Stimmen gibt, muss als Gegenbewegung an den eskapistischen, exotisierenden Schlager der Fünfziger, an die Shanties, die Mundart- und Mittelalter-Trends der Siebziger angeknüpft werden. Erfolgreiche Acts wie In Extremo, Santiano und Schandmaul, aber auch Helene Fischer mit ihrem eklektizistischen Elektro-Schlager-Pop erfüllen, so die verlockende These, entsprechenden Bedürfnisse.

Dezenter theoretischer Überbau

Es klingt in dieser kleinen Zusammenfassung schon an: Balzer hat seinem überzeugenden Narrativ einen dezenten theoretischen Überbau gegeben. „Generell“, so postuliert er, „ist keine Popmusik, keine Kultur ohne das Spiel von Aneignungen, Neu- und Umdeutungen denkbar – also all dessen, was fremd und anders erscheint und deswegen reizvoll ist.“ Und so erweist sich seine Geschichte der deutschen Sprache im Pop tatsächlich als, Achtung: Plural, „eine Geschichte der Sprachen“ – sie handelt „von der Aneignung des anderen, von der Abwehr des Eigenen, von der Erneuerung des Eigenen durch die Auseinandersetzung mit dem Fremden und von der Wiederaneignung dessen, was zu einem gehört, aber fremd zu werden beginnt. Insofern ist es auch die Geschichte einer Gesellschaft und ihrer Kultur, die sich das andere in exotisierenden und oftmals rassistischen Projektionen zurechtlegt – und die erst langsam damit beginnt, durch den Schleier der Projektionen hindurchzublicken auf die Vielfalt und Vielstimmigkeit der realen Welt.“ Wenn es abschließend über gute Songs heißt: „Sie lassen die eigene Sprache fremd werden und weisen dadurch den Weg zu einem anderen Bild von sich selbst“, dann wird dem Leser beinahe warm ums Herz. Der Autor ist mit Leidenschaft bei der Sache, kennt seinen Stoff und weiß genau, was er da macht. Nur an einer Stelle im Buch zuckt man kurz zusammen, wenn von der „Kölner Punkband Böhse Onkelz“ die Rede ist. Richtig ist, dass die höchst umstrittenen Onkelz aus Frankfurt am Main kommen. Es ist eine kleine Unachtsamkeit, über die man gerade bei diesem Werk mit seinen kenntnisreich zusammengestellten Beispielen und Quellen gern hinwegliest.  

Eine andere Geschichte der deutschsprachigen Musik

Vor vier Jahren erschien bereits ein Musiksachbuch mit dem Titel Es geht voran: Die Geschichte der deutschsprachigen Popmusik, verfasst von Manfred Prescher. Und es lohnt sich, kurz einen vergleichenden Blick auf beide Bücher zu werfen. Darüber, dass Pop im deutschsprachigen Raum nach dem Ende der Nazidiktatur erst eine eigene Sprache finden musste und dass die Suche über Versuche mit der englischen Sprache, mit Dialekten, politischen Texten und mittelalterlichen Traditionen lief, sind sich Prescher und Balzer einig. Doch wo für Balzer deutsche Popmusik auch in den Achtziger-, Neunziger- und Zweitausenderjahren noch von Aneignungs- und Entfremdungsprozessen gekennzeichnet ist, wirkt bei Prescher die Suche bereits um die Achtziger abgeschlossen. Natürlich eignet sich immer irgendjemand irgendetwas an, aber in Es geht voran wird deutlich weniger gefremdelt. Die vielfältige emanzipatorische Leistung der deutschsprachigen Popmusik eröffnet dem Autor die Möglichkeit, etliche weitere individuelle Acts und Traditionslinien zu würdigen, aus der BRD, der DDR und aus Österreich, von den Ärzten bis zu den Toten Hosen, von den Puhdys und der Stern-Combo Meißen bis zu Wanda und dem urkomischen Ersten Wiener Heimorgelorchester. Überhaupt kommen bei Prescher selbst Blödelbarden wie Insterburg & Co und Kreativrocker mit feinstem Sprachwitz zu ihrem Recht.

Auch in meiner persönlichen Wahrnehmung gab es in den Achtzigern deutlich mehr als Fehlfarben und Neubauten auf der einen und Fräulein Menke oder Spider Murphy Gang auf der anderen Seite. Die Band Ideal etwa war für mich eine Offenbarung. Beinahe aus dem nichts kam Sängerin und Texterin Annette Humpe mit einer neuen deutschen Szenesprache um die Ecke, die frisch und alltagsnah wirkte und gleichzeitig auf lyrische Kniffs und Tricks der großen Kabarettkünstler und Vokalensembles der 1920er und -30er Jahre zurückgriff. In Verbindung mit einer krachig-melodischen New-Wave-Musik schien mir bei Ideal, aber auch bei anderen jungen Bands dieser Zeit deutschsprachige Popmusik endlich auf Augenhöhe mit den energiegeladenen, sprachgewitzten Stars aus England und den USA zu rangieren – ohne dass Haltung, gesellschaftliches Engagement oder Ideen von Transzendenz darunter leiden mussten. Extrabreit, Andreas Dorau oder Huah!, auch die gut gelaunten Fanta 4 und Fettes Brot, Die Braut haut ins Auge, Wir sind Helden, Jennifer Rostock, Kraftklub, Maurice und die Familie Summen, Mia, Bilderbuch, Max Raabe oder Die höchste Eisenbahn, um nur einige unter sehr vielen zu nennen, haben bis heute diese Tradition einer durchaus anspruchsvollen, kritischen, aber im Ansatz hochenergetischen, positiv gestimmten deutschsprachigen Popmusik fortgesetzt.

Kausalität und wildes Durcheinander

Wenn mir also etwas fehlt am neuen Buch von Jens Balzer, dann sind es solche Beispiele für ein überzeugendes Zu-sich-selbst-Finden von Pop-Künstlerinnen und Künstlern in der deutschen Sprache. Ebenso wie Acts vom Schlage eines Udo Jürgens oder einer Hildegard Knef, die mühelos eine Brücke zum Chanson, zum engagierten Liedermachertum und sogar zu Pop und Rock schlagen konnten. Balzer bleibt eng an den Impulsen, die von Suchenden und Entfremdeten, von Skeptikern, Vereinzelten und Verunsicherten, von Subversiven oder auch von Reaktionären ausgingen. Da bleibt eine leise Ahnung, dass es noch mehr und anderes an auch sprachlich relevantem Pop aus Deutschland gibt als das, was in Schmalz und Rebellion angeführt wird, noch weitere Geschichten oder Nebenstränge, auch Dynamiken wie Transformation und Innovation – und dass nicht alles einer strikten Kausalität folgt, sondern oftmals ein buntes, wildes Nebeneinander von auch zufällig auftretenden Phänomenen herrscht. Das schmälert nicht die Überzeugungskraft der von Balzer entworfenen Erzählung – schließlich lebt spannende Geschichtsschreibung von zugespitzten, verdichtenden Interpretationen der Vergangenheit. Was man selbst in all den Jahrzehnten eher halbbewusst und wenig reflektiert miterlebt hat, bringt Schmalz und Rebellion immer wieder analytisch scharf und erhellend auf den Punkt. Und wenn der Autor augenzwinkernd etwa fragt, warum um Himmels willen ein Schlager, der auf Hawaii spielt, mit Sprachfloskeln aus dem Spanischen hantiert oder wen Dieter Bohlen wohl mit seiner semantisch verwirrenden Cheri Lady adressieren wollte, dann kommt auch der Unterhaltungswert nicht zu kurz. Dass sich dieses Buch bei aller Informationsdichte und Tiefe sogar als Strandlektüre empfiehlt, ist als großes Kompliment zu verstehen.

Jens Balzer, Schmalz und Rebellion: Der deutsche Pop und seine Sprache. Dudenverlag Berlin, 2022. 224 Seiten, 20 Euro

Sachbuch-Wundertüte mit Ecken, Kanten und Tiefgang

33 Texte aus der Frankfurter Pop-Anthologie der FAZ sind jetzt als Buch erschienen. Titel: Drop It Like It’s Hot. Leseeindrücke

Das populärwissenschaftliche bis akademische Unter-die-Lupe-Nehmen von Songs erfreut sich großer Beliebtheit. Und gern erfolgt es in Serie. Das Spektrum reicht hier von der Hörfunk- und Fernsehinstitution Popsplits über Buchreihen wie The Story Behind … von Thomas Steinberg oder Berühmte Songzeilen und ihre Geschichte von Manfred Prescher/Günther Fischer bis hin zu großangelegten Anthologien im Internet. Das Onlineportal Deutsche Lieder. Bamberger Anthologie darf dabei als Nonplusultra für Songs aus dem deutschsprachigen Raum gelten: Unter der Regie von Martin Rehfeldt (Herausgeber) und Jan Hurta (Redaktion) erscheinen auf Deutsche Lieder seit Jahren ernsthafte Auseinandersetzungen mit gefeierten, aber auch mit umstrittenen deutschen Songs der unterschiedlichsten Genres – die Beiträge haben oftmals erhellenden Charakter. International und vor allem auf die popmusikalischen Genres ausgerichtet gibt sich dagegen die Frankfurter Pop-Anthologie der FAZ. Unter diesem Label – frei nach der 1974 von Marcel Reich-Ranicki begründeten Frankfurter (Literatur-)Anthologie – sind auf faz.net in einem Zeitraum von mehr als fünf Jahren an die 140 Beiträge erschienen, wobei der Ansatz weniger wissenschaftlich als spielerisch offen ist. Die Autorinnen und Autoren schreiben einfach über ihre Lieblingssongs – auf welche Aspekte sie dabei den Schwerpunkt legen, bleibt ganz ihnen überlassen. Auch der Bekanntheitsgrad eines Songs scheint keine große Rolle zu spielen: So findet selbst Obskures, längst Vergessenes oder nur einer Handvoll Nerds Bekanntes seinen Weg in die Sammlung.

Mit Drop It Like It’s Hot sind nun 33 Texte dieser Frankfurter Pop-Anthologie als Buch erschienen. Die Herausgeber des Bandes, die FAZ-Feuilleton-Redakteure Uwe Ebbinghaus und Jan Wiele, äußern sich nicht zu den Kriterien ihrer Textauswahl – diese scheint aber einen guten Querschnitt durch das bisher aufgelaufene Internetangebot zu bieten. So werden neben Welthits wie Bobby Brown (Frank Zappa) und Hallelujah (Leonard Cohen) Artrock-Perlen wie The Musical Box (Genesis), experimentelle Filmmusiken wie Container (Fiona Apple), französische Sixties-Nischenhits der Marke Les Élucubrations (Antoine) und verstörende Schlager wie Smog in Frankfurt (Michael Holm) besprochen – zu den Autorinnen und Autoren gehören Kolleginnen und Kollegen sowie der eine oder andere Gaststar, darunter Annette Humpe, einst Songwriterin und Sängerin der wunderbaren NDW-Band Ideal.

Der „Kessel Buntes“-Ansatz der Frankfurter Pop-Anthologie ist Fluch und Segen zugleich. Einerseits sorgt er für ein Leseerlebnis voller Überraschungen, da jeder Text anders an seinen Gegenstand herangeht. Er fördert unerwartete Erkenntnisse zutage und macht Lust, selbst abseitige Songs neu zu entdecken. Auf der anderen Seite muss man sich auf teils sehr subjektive Einschätzungen und wilde Spekulationen einlassen, gerade bei weniger bekannten Songs und Acts fühlt man sich ohne behutsame Moderation in medias res geworfen, mitunter bleibt man unzufrieden, im schlechtesten Fall ratlos zurück. So kämpft sich Rose-Maria Gropp zwar tapfer durch die verschiedenen Fassungen von Hallelujah, nennt unzählige biblische Bezüge und literarische Assoziationen, suggeriert sprachlich geschliffen ein tieferes Verständnis, lässt aber letztlich einen roten Faden ihrer Argumentation geschweige denn ein klares Statement zur Bedeutung, zum Clou oder eben zur Uninterpretierbarkeit des Cohen-Klassikers vermissen. Ähnlich anstrengend sind die Einlassungen von Kunstgeschichtler Stefan Trinks zum Nick-Cave-Song The Mercy Seat, da lediglich der Songinhalt und vor allem das dazugehörige Musikvideo minuziös nacherzählt werden, ohne dass Zitate aus den Original-Lyrics Halt geben. Das liest sich zwar leidenschaftlich-blumig, ist aber zu sehr Fanperspektive und zieht letztlich abstrakt, wie ein surrealer Clip am inneren Auge des wissbegierigen Popfans vorbei. Mercy Seat sei ein „Lied der Urängste, von (Gott-)Verlassenheit, Verzweiflung, Auflehnung, Resthoffnung auf Erlösung“, schreibt Trinks: „An Cave ist tatsächlich, wie oft geschrieben wurde, ein Priester verloren gegangen.“ Gibt’s ja nicht – aber hätte man das nicht auch in weniger als achteinhalb Buchseiten auf den Punkt bringen können? Wenn Uwe Ebbinghaus bei der Betrachtung des Songs Drop It Like It’s Hot (Snoop Dog feat. Pharell) aus augenzwinkernd unbedarfter Elternperspektive die „oft eindeutig nur gespielte Fluch- und Drohkulisse“ der „meist schwarzen Rapper“ betont und die lässig behauptete Ironieerkennungskompetenz vieler Jugendlicher feiert, läuft er zumindest Gefahr, die wirklich unappetitlichen Aspekte des Gangsta-Rap zu verharmlosen. Und wenn Hip-Autor Joachim Bessing (Tristesse Royale) im Text zu Michael Holm einen exklusiven Szenetalk einschließlich Namedroppings und nerviger Schwafel- und Schachtelsätze zelebriert, zieht’s einem schon mal die Schuhe aus. Kostprobe: „Thomas Meinecke, der damals leider nicht dabei war, obwohl er ja Hamburger ist, wohingegen ihn beinahe alle für einen Bayern halten aufgrund seines lebensfrohen Leibesumfangs, hat ja angesichts der Dichtkunst Albert Ostermeiers ganz richtig angemerkt, dass solche Poesie vor allem in der Kunst besteht, am rechten Ort in der Zeile die Return-Taste zu drücken. In dieser Hinsicht ist der Text von ‚Smog in Frankfurt’ Avantgarde.“ Selige SPEX-Zeiten lassen grüßen …

Gewagt, aber durchaus spannend lesen sich Beiträge, die ihrem Gegenstand mit Überidentifikation oder aber mit einer lässigen Ignoranz begegnen. So lässt Jan Wiele in seinen Ausführungen zu Diamonds and Rust von Joan Baez literaturwissenschaftliche Grundannahmen wie „Das lyrische Ich ist nicht gleichzusetzen mit dem Autor oder der Autorin“ ganz bewusst außer Acht und deutet den Song völlig schmerzfrei als autobiografisch motivierte Abrechnung der Folk-Ikone Joan Baez mit ihrem arschigen Ex-Lover Bob Dylan. Zwischen aufschlussreichen Informationen zur Musikszene der Siebzigerjahre zeigt sich Wiele dabei derart empathisch gegenüber der Songwriterin, dass man meinen könnte, er selbst sei auch schon mal so arschig behandelt worden oder gar ein bisschen in Joan Baez verliebt. FAZ-Mitherausgeber Jürgen Kaube bringt es fertig, fast einen ganzen Essay lang allgemein über das Wesen von Lyrik und Lyrics, das lyrische Ich und das lyrische Du zu philosophieren, sein eigentliches Thema aber, den Song Wrecking Ball von Miley Cyrus, nur in den allerletzten Zeilen kurz zu streifen – ein kleines Husarenstück, vielleicht. Und Annette Humpe, die eigentlich etwas über den Rolling-Stones-Klassiker Sympathy for the Devil schreiben soll, bekennt gleich am Anfang, dass sie eigentlich die Beatles für die Größten hielt und hält. Die Stones hätten durchaus etwas Faszinierendes und sogar Angsteinflößendes gehabt, gibt sie zu, „Die wollten Sex, das war mir zu viel“, aber auch Waiting for the Man von The Velvet Underground sei kein schlechter Song gewesen, was fast unmittelbar zu Blondie, Devo, Talking Heads oder Flying Lizards und schließlich zur Gründung von Humpes eigener Band Ideal führt. Huch? Der Text wirkt naiv und fast schon fahrlässig am Thema vorbei – gleichzeitig erzählt er, oszillierend zwischen Scharlatanerie und Genialität, wie die Autorin sich selbst fand und zur Künstlerin wurde. Hm, ja … so kann man’s auch machen. Ein weiterer origineller Beitrag kommt von Jens Buchholz: Rund um den Alphaville-Hit Forever Young schwadroniert er launig über popspezifisches „Smurfing“ – eine Fantasiesprache, die sich aus dem immer wieder scheiternden Entschlüsseln schwer verständlicher Songlyrics ergibt. Sein erheiterndes, die übrigen Buchbeiträge wohlwollend konterkarierendes Fazit: „Nicht Englisch ist die Muttersprache des Pop, sondern Smurfing.“

Und natürlich gibt es etliche Texte, die Langweilern wie dem Rezensenten genau das bieten, was sie von Anfang an erwartet haben: ordentliche Leserführung, relevante Hintergrundinfos und eine gut begründete Einschätzung zur Bedeutung des besprochenen Songs. So erklärt Oliver Jungen, Grammatikspezialist und Koautor eines Buchs über das Scheitern, eindrucksvoll die Wirkmacht des Songs Meat Is Murder und der Band, die ihn produziert hat, des kämpferischen britischen Außenseiter-Quartetts The Smiths. Elene Witzeck entschlüsselt einfühlsam die Naturmetaphorik im Bossa-Nova-Klassiker Aguas de Marco von Elis Regina und Tom Jobim. Die Lektorin und Literaturkritikerin Miryam Schellbach wiederum bringt uns das Werk der auch in der abendländischen Independent-Film- und -Musikszene geschätzten libanesischen Songwriterin Yasmine Hamdan näher, und Christina Dongowski macht verständlich, wie Kate Bush sich in ihrem ersten Hit Wuthering Heights einerseits auf Emily Brontës gleichnamigen Roman aus dem Jahr 1847 bezieht und andererseits den Grundstein für eine ganz eigene, einzigartige künstlerische Vision legt. Talk Talk, Adriano Celentano, Element of Crime, Peter Fox oder die Hothouse Flowers sind weitere Stars, die mit je einem ihrer Songs ins Schaufenster gestellt werden.

Holla … Auf den ersten Blick dachte ich, Drop It Like It’s Hot sei ein leichtgängiger Band zum Wegschmökern, auch als feines Geschenk für Popfans im Freundeskreis bestens geeignet. Und ja: Das Buch lässt sich prima verschenken. Aber das mit dem Wegschmökern war wohl doch eher „wishful thinking“. Für eine entspannende Strandlektüre hat das Textmaterial letztlich zu viele Ecken und Kanten, auch ungeahnte Tiefen, in denen es sich zurechtzufinden gilt. Weshalb ich angefangen habe, Drop It Like It’s Hot gleich ein zweites Mal zu lesen …

Uwe Ebbinghaus & Jan Wiele (Hg.), Drop It Like It’s Hot. 33 (fast) perfekte Popsongs. Reclam 2022, 15 Euro

Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin …

Schon 1954 schrieb Boris Vian das Antikriegslied Le déserteur. Heute wünscht man sich, es würde auch in Russland gehört

Der Vietnamkrieg der 1960er Jahre kam für die USA keineswegs aus dem Nichts. Einige seiner Ursachen liegen im Indochinakrieg, den Frankreich in den 1950er Jahren als Kolonialmacht in Vietnam gegen die vietnamesischen Kommunisten führte. Vietnam wurde von China unterstützt, Frankreich von Amerika, dessen Regierung sich in dieser Zeit massiv von der Sowjetunion, von China, von Sozialismus und Kommunismus bedroht sah. Höhepunkt dieser Paranoia war die „sogenannte McCarthy-Ära. Von 1950 bis 1954 wurden unter Senator Joseph McCarthy diverse Vertreter des Regierungsapparats und Kulturschaffende der kommunistischen Unterwanderung der USA bezichtigt, was zu einem Klima der Angst führte. Nach der Niederlage der Franzosen 1954 war es die Intervention der USA, die zur Teilung Vietnams in einen Nord- und einen Südstaat führte. Vor allem der schreckliche Vietnamkrieg im darauffolgenden Jahrzehnt hat in den Annalen der Weltgeschichte große Resonanz gefunden. Doch auch für Frankreich waren die Kriegszeiten damit nicht vorbei. Denn Algerien kämpfte ebenfalls um seine Unabhängigkeit – ein Konflikt, der sich zum Algerienkrieg (1954–1962) ausweitete und das Ende von Frankreich als Kolonialmacht einläutete.

Praktisch in die Zeit zwischen Indochina- und Algerienkrieg hinein schreibt 1954 der französische Schriftsteller Boris Vian das Lied Le déserteur. Der Titel sagt schon fast alles: Ein junger Mann erklärt, dass er trotz Einberufung nicht in den Algerienkrieg ziehen, sondern desertieren werde. Interessant ist die Form des Liedes: Die Musik schwankt trügerisch zwischen heiterem Chanson und marschmusikalischen Ansätzen, der Text ist gestaltet als Brief an den Staatspräsidenten, geschrieben von einem Wehrpflichtigen, der sich „vor Mittwochabend“ („avant mercredi soir“) zum Kriegsdienst melden soll: „Monsieur le Président / Je vous fais une lettre …“ Die Argumentation dieses Schreibens: Ich will Sie nicht in Wut versetzten, aber ich will einfach nicht irgendwelche armen Menschen töten. Ich habe meinen Vater sterben, meine Brüder gehen und meine Kinder weinen sehen. Als ich im Gefängnis war, habe ich meine Frau verloren. Ich werde desertieren und auf meinem Weg andere aufrufen, es mir gleichzutun. Falls  Sie mich jagen, dann warnen Sie Ihre Gendarmen: Ich habe eine Waffe, und ich kann schießen. Gerade die letzten Verse rund um die Waffe empfanden auch Vian-Freunde als zu aufrührerisch, weshalb der Autor sie später in pazifistischem Sinne umdichtete. Der neue Tenor lautete: Und falls Sie mich jagen, dann warnen Sie Ihre Gendarmen: Ich habe keine Waffe, und sie dürfen schießen. 

Als das Lied erschien, zeigtensich Politiker geschockt und forderten ein Verbot. Das führte zu einem berühmten Brief Vians an Paul Faber, Mitglied des Rates des Départements Seine. Obwohl das Lied mit seinem Rollen-Ich, das wie ein Modell-Ich für alle zukünftigen Deserteure wirkt, in der Interpretation verschiedener Sänger auf den Konzertbühnen des Landes grundsätzlich gut ankam, wurden Livedarbietungen regelmäßig von Nationalisten gestört. Wie das Internetportal „Graswurzel.net“ beschreibt, machte auch Pierre Poujades rechtspopulistische „Union zur Verteidigung der Kaufleute und Handwerker“ mit Mitgliedern wie dem jungen Jean-Marie Le Pen kräftig Stimmung. Die Folge: Le déserteur wurde bis zum Ende des Algerienkriegs nicht im Radio gespielt.

In den folgenden Jahrzehnten stand das Lied vor allem bei Wehrdienstverweigerern hoch im Kurs. Während der Sixties griff es die amerikanische Protestbewegung auf, die gegen den Vietnamkrieg auf die Straße ging. Interpretiert und auf Schallplatte veröffentlicht wurde der Song in den USA von Peter Paul & Mary, auch Joan Baez hat ihn gesungen. Ob Le déserteur für Dear Mr. President von Pink Pate gestanden hat, ist nicht bekannt. Aber der 2006 erschienene Song der amerikanischen Rocksängerin ist ebenfalls als kritischer offener Brief an den Präsidenten gestaltet, in diesem Fall George W. Bush, nur dass er neben der Kriegsthematik (vor dem Hintergrund des Irakkriegs) auch den fragwürdigen Umgang mit Obdachlosen, die restriktive Abtreibungspolitik und die Diskriminierung von Schwulen und Lesben anspricht.

An keinen Präsidenten der Welt wäre dieser Song momentan besser adressiert als an den russsischen Präsidenten Wladimir Putin.

Der Haupttext ist ein Auszug aus meinem Buch „Provokation! Songs, die für Zündstoff sorg(t)en“ (WBG/THEISS 2019)

Mut, Besessenheit, Performance-Power

Zum Tod des Rockstars Meat Loaf

Von all den Fernseh-, Film- und Popstars, die in den letzten Jahren mental abdrifteten, gehörte Meat Loaf zu jenen, denen man es am wenigsten übelnahm. Zur Erinnerung: Marvin Lee Aday, so sein bürgerlicher Name, war nicht nur überzeugter Republikaner und Donald-Trump-Fan, ja sogar guter Donald-Trump-Freund, sondern auch Klimaschwurbler. Anfang 2020 behauptete er in einem Interview, den Klimawandel gebe es gar nicht, und bezeichnete Aktivistin Greta Thunberg als gehirngewaschen. Starker Tobak, eigentlich. Und doch musste man eher mitleidig schmunzeln, als sich ernsthaft zu empören. Warum? Weil Meat Loafs große Zeit lange vorbei war, weil er kein leichtes Leben, keine einfache Karriere hatte – und weil er zum Schluss eher wie eine Witzfigur rüberkam. Wenn dagegen Eric Clapton und Van Morrison auf unangenehme Weise über Corona und übers Impfen schwadronieren, und das auch noch in ihren Songs, wenn Xavier Naidoo finstere Verschwörungstheorien vertritt oder Schauspielstars bei fragwürdigen Propagandavideos mitmachen, gefriert einem schon mal das Blut in den Adern.

Die Frage, ob man Meat Loafs Musik vor dem Hintergrund seiner dubiosen Äußerungen heute noch höre dürfe, lässt sich ähnlich leicht beantworten wie dieselbe Frage mit Blick auf Michael Jackson – den „King of Pop“ hatten in seinen letzten Lebensjahren ernstzunehmende Vorwürfe des Kindesmissbrauchs begleitet: Die Hits dieser Künstler sind regelrechte Klassiker und grundsätzlich frei von kontroversen Gedanken oder Statements – zudem haben an ihnen ganze Heerscharen an Kreativen mitgewirkt, die man durch eine Ächtung von Songs unfairerweise mitbestrafen würde. Die großen Erfolge von Michael Jackson und Meat Loaf werden nach wie vor häufig im Radio gespielt, und niemand beschwert sich. Hier haben Sender und Hörerschaften offenbar stillschweigende Vereinbarungen getroffen. Durch schweißtreibende Konzerte, auch im Rahmen der Sendung „Rockpalast“, oder teils selbstironische Auftritte in Kultfilmen wie The Rocky Horror Picture Show und Roadie sorgte Meat Loaf zusätzlich für Bilder, die in Erinnerung blieben, zu guter Letzt unterstrich er, dass man es mit Mut und Besessenheit, Stimme und unglaublicher Performance-Power auch als eher unansehnlicher Typ zum globalen Superstar bringen kann.

Der frühe Tod der Mutter, die Abneigung des Vaters, der den kleinen Marvin als „Hackbraten“ schmähte, die Verwandlung dieser Demütigung in die positive Energie eines zugkräftigen Bühnennamens, der vorübergehende Verlust der Stimme nach den ersten großen Erfolgen, Alkohol- und Drogenexzesse, Geldsorgen, Rechtsstreitigkeiten – all das beherrscht die aktuellen Meldungen über Meat Loaf. Aber welche Stellung nimmt sein musikalisches Werk in der Pophistorie ein? Schon auf seinem erfolgreichen Debütalbum Bat Out of Hell (1977) hatte der schillernde Texaner gemeinsam mit dem 2021 verstorbenen Texter, Komponisten, Arrangeur und Pianisten Jim Steinman neue Maßstäbe in der Rockästhetik gesetzt. Natürlich hatte es auch damals schon eine als „Art Rock“ bezeichnete Spielart gegeben, die sich durch überlange, musikalisch vertrackte Songs und eine gewisse Ernsthaftigkeit auszeichnete. Aber Steinman und Meat Loaf war es gelungen, ihre aufwendig produzierten mehrteiligen Kunstsong-Epen so massentauglich zu gestalten, dass sie – wenn auch teilweise in gekürzten Versionen – regelmäßig Spitzenplätze in den Singlecharts erreichten. Wo sich Art-Rock-Künstler um kompositorische wie spieltechnische Finessen und um eine irgendwie „authentische“ Expressivität bemühten, setzten Steinman und Meat Loaf das manisch-wuchtige Image und die grotesk-pathetische Bühnenperformance des Frontmanns in Worte, Klang und Musik um. Heraus kamen monumentale 5- bis 12-Minuten-Stücke, die unter ihrem orchestralen Bombast und den schrillen, die Schwelle zum Kitsch meist deutlich überschreitenden Texten nicht etwa zusammenbrachen, sondern erst richtig aufblühten. Liebe, Hass, Wut, Angst, Trauer, Euphorie – es ging um überlebensgroße Gefühle, bevorzugt die von Teenagern. Mit der LP Bat Out of Hell entfaltete der Begriff „Schmachtfetzen“ im modernen Song eine neue Dimension.

Die 1993 erschienene LP Bat Out of Hell II: Back Into Hell leitete ein großartiges Meat-Loaf-Comeback ein und verstand sich, der Titel sagt es, als eine Art Fortsetzung des erfolgreichen Debütalbums. Mit I’d Do Anything for Love (But I Won’t Do That) enthält sie den bis heute erfolgreichsten Song des Künstlers. Es ist ein Hit, der bis heute für Gesprächsstoff sorgt. Weil sich Fans immer wieder gern verhören und das Stück auf schrägste Weise durchleuchten, was für die seltsamsten Interpretationen sorgt. In anderen Worten: Der gelegentliche Umgang mit diesem Klassiker bewegt sich so offensichtlich in der Grauzone zwischen übertriebenem Songverstehen und interpretatorischer Gewaltanwendung, dass er einen Platz in der Liste der größten Pop-Songmissverständnisse verdient. „And I would do anything for love“, beteuert Meat Loaf – und hängt hier und da ein entschiedenes „but I won’t do that“ an, mit Betonung auf „that“. Und dieses „that“ sorgt chronisch für Verwirrung. „Irgendwie verstehe ich nicht, was um Himmels willen er nie für die Liebe tun würde!“, fragt beispielsweise ein Nutzer des Internetportals „www.wer-weiss-was.de“: „Er läuft bis zur Hölle und zurück, und sonstige verrückte Sachen. (…) Er steigert sich derart rein, dass ich mir schon die fürchterlichsten Sachen vorstelle …“ Und auch in anderen Foren liefern Witzbolde und ernsthaft Suchende die bizarrsten Antworten.

In I’d Do Anything for Love (But I Won’t Do That) wird Meat-Loaf-typisch geschmachtet, was das Zeug hält, ganze zwölf Minuten und eine Sekunde lang. Die ersten drei Viertel des Songs gehören einem jungen Mann, der eigentlich nichts weiter tut, als einer Angebeteten seine Liebe zu gestehen – wobei deutlich durchklingt, dass er endlich mit ihr schlafen möchte. Dabei lässt er immer wieder einfließen, dass er alles für die Liebste tun würde, und zwar uneingeschränkt. Zum Beispiel würde er einmal in die Hölle gehen und auch wieder zurück. Gleichzeitig beteuert er, ebenfalls durch verschiedenste Beispiele untermauert, dass er nichts tun würde, was sein sinnliches Erleben schmälern oder sein Ziel unterbinden könnte. Das hört sich dann zu Beginn des Songs etwa so an: „And I would do anything for love / I’d run right into hell and back / I would do anything for love / I’ll never lie to you and that’s a fact / But I’ll never forget the way you feel right now / Oh no – no way / I would do anything for love / But I won’t do that / I won’t do that.“ Zwei schlichtweg parallel nebeneinander herlaufende Argumentationsstränge bilden hier also die grundlegende Textstruktur: zum einen die an die Geliebte gerichtete Beteuerung, alles für seine Liebe zu tun, und zum anderen, völlig losgelöst davon, die eher an sich selbst gerichtete Beteuerung, zu keinem Zeitpunkt von seinem eigenem Glücksanspruch, insbesondere seinem Streben nach körperlichen Sensationen, nach Euphorie, Ekstase abzulassen. „I won’t do that“ – für die eben zitierte Songstelle heißt das: „Ich werde nie vergessen, wie du dich jetzt in diesem Moment anfühlst.“

So geht das schier endlos weiter, bis im letzten Drittel die Angebetete auftritt und nun ihrerseits prüfende Fragen stellt, die sich auch als versteckte Forderungen, wenn nicht gar als Bedingungen interpretieren lassen. Zu diesen immer absurder klingenden Bedingungen gehört sogar, sie mit Weihwasser abzuspritzen, falls ihr die Hitze, die Erregung, zu Kopf steigt: „Will ya hose me down with holy water – if I get too hot?“ Und was macht unser erregter junger Held? Beteuert, weil er endlich zum Zug kommen will, nicht minder pathetisch und vehement: „I can do that!“ Doch dann errichtet die Angebetete noch eine letzte rhetorische Barriere und konfrontiert ihn mit einem Totschlagargument: Nach einer Weile, so sagt sie ihm klagend ins Gesicht, wirst du all das vergessen, unsere Liebe nur als mittsommerliches Zwischenspiel betrachten und einfach weiterziehen: „After a while you’ll forget everything / It was a brief interlude and a midsummer night’s fling / And you’ll see that it’s time to move on.“ Und nun muss unser kopfloser Liebhaber ganz schnell schalten, wenn ihm nicht sämtliche Felle davonschwimmen sollen. Das heißt, er muss umgehend dementieren. Und zum Glück kriegt er die Kurve: „I won’t do that!“, beteuert er ein wenig entrüstet, „I won’t do that!“ – „Nein, ich werde nichts vergessen, und ich werde nicht einfach weiterziehen!“

Auch dieses Prinzip wird nun diverse Male durchexerziert. Die Frage nach der Bedeutung von „I won’t do that“ lässt sich also auf zwei verschiedene Weisen beantworten: In den ersten acht Minuten verneint „I won’t do that“ das Aus-den-Augen-Verlieren des eigentlichen Ziels, und im abschließenden Dialog mit der Geliebten schmettert „I won’t do that“ deren Vorwürfe und Unterstellungen ab. In beiden Fällen gibt es jeweils unmittelbar vorher eine Textstelle, auf die sich „I won’t do that“ konkret bezieht. Und im Versprechen, die Geliebte nicht zu enttäuschen, ist der junge Mann am Ende zumindest auf der sprachlichen Ebene vollends auf Kurs gebracht. Jetzt, da die Sache geklärt scheint, kann der Song in Frieden mit der noch einmal wiederholten Gesamtformel schließen: „Anything for love / I would do anything for love / I would do anything for love / But I won’t do that.“ Nach zwölf Minuten fällt der Song buchstäblich in sich zusammen, er endet zart und leise. Haben sie oder haben sie nicht?, so darf man sich ungeduldig fragen. Hat der junge Mann nun bekommen, was er wollte, oder wird er geläutert weiter warten? Die Antworten bleiben dem Publikum überlassen. Warum aber noch heute User in Chatforen wie „www.songfacts.com“ spekulieren, „that“ stehe für „niemals betrügen“, für „den Freund der Angebeteten ermorden“ oder gar für „Oralsex“, bleibt eins der letzten Rätsel der Menschheit.

Solche Songs ließen sich mit verschiedenen Gastsängerinnen wie kleine Theaterszenen auf der Konzertbühne realisieren – auch in dieser Hinsicht setzte Meat Loaf bei seinen Liveshows Maßstäbe. Am 20. Januar ist der einst so charismatische Rockstar viel zu früh im Kreise seiner Familie verstorben, die Todesursache ist bisher nicht bekannt. Meat Loaf wurde 74 Jahre alt. Einige seiner Platten sind längst vergessen, und sein Trump-freundliches Klimageschwurbel wird schnell vergessen sein. Jene Über- Songs aber, die er im Verbund mit Jim Steinman produzierte, werden für immer in Erinnerung bleiben.

Teile dieses Beitrags erschienen bereits 2017 in meinem Sachbuch:

I Don’t Like Mondays
Die 66 größten Songmissverständnisse

ISBN: 978-3-8062-3485-5
(WBG/THEISS)