Junge, Junge – Heino gibt den Highno!

Volksbarde Heino covert Rockstars wie Rammstein und Die Ärzte – und die coolen Rocker verstehen absolut keinen Spaß? Blödsinn! Die gecoverten Bands, die sauer gewesen sein sollen, weil Heino ohne Anküdigung zur Tat geschritten sei, haben längst dementiert. Vielleicht gab es anfangs Irritationen, doch inzwischen geben sich alle Beteiligten reläxt. Heino soll nur machen…

Dabei hat sich der große Blonde mit der schwarzen Sonnenbrille einmal selbst „not amused“ gezeigt. Das war Mitte der 1980er Jahre. Damals trat ein Mann namens Norbert Hähnel regelmäßig als „Der wahre Heino“ im Vorprogramm der Toten Hosen auf – natürlich eine Parodie. Heino, furztrocken, erwirkte eine einstweilige Verfügung und eine Strafe gegen Hähnel. So viel zum Thema „Keinen Spaß verstehen“.

Trotzdem hat Mit freundlichen Grüßen, so der Titel des neuen Heino-Albums, eine zündende Idee und wird äußerst clever vermarktet. Heino gibt den Highno. Mit dem lautstark behaupteten Unwillen der gecoverteten Interpreten korrespondiert der reißerische Untertitel „Das verbotene Album“. Einige der gecoverten Bands stehen, was Image, Haltung, Musik betrifft, scheinbar in größtmöglichem Kontrast zum gehaßliebten Volksmusikpapst. Und vor dem offiziellen Veröffentlichungstermin 1. Februar war nirgendwo auch nur ein kompletter Song zu hören. Die Spannung stieg enorm.

Coversongs kann man als eigenständige Musikstücke genießen. Einen besonderen Reiz entwickeln sie aber meist erst im Bezug auf das Original. Coverversionen dienen noch unbekannten Künstlern gern als Sprungbrett, wobei sie entweder nah am Original bleiben oder – wie in der Swingversion des Blondie-Klassikers Heart of Glass von den Puppini Sisters – den Song mit Überraschungseffekt in ein anderes musikalisches Genre übertragen.

Spannend wird es, wenn Coverversionen mit dem Original wirklich etwas anstellen: wenn etwa der Cher-Song A Woman’s Story plötzlich von dem schwulen Künstler Marc Almond interpretiert oder ein aus der Männerperspektive vorgetragenes Stück wie Let The Loss Be Your Lesson von der Sängerin Alison Kraus gecovert wird; oder wenn Sid Vicious von den Sex Pistols Frank Sinatras selbstverliebte Edelschnulze My Way mit den Mitteln des Punk zertrümmert.

Auch Heino stellt mit den Originalen etwas an. Die Vorlagen sind mit Bedacht gewählt, im Interview gesteht der Sänger, er habe die Auswahl größtenteils jungen Leuten überlassen, die was davon verstehen. Und es ist schon erstaunlich, welche Effekte erzielt werden, wenn sich der Mittsiebziger neuerer Gassenhauer wie Junge von den Ärzten, Sonne von Rammstein oder Kompliment von Sportfreunde Stiller annimmt. Kompliment wird von allem nerdig-nölend postpubertär Verklemmtem befreit und erweist sich im Kern als eigentlich ganz netter Schlager.

Rammstein dagegen werden in ihrer Brachialästhetik, die einschließlich des auffällig gerollten „R“s gern mit Teutonentum und Blut-und Boden-Assoziationen kokettiert, buchstäblich heimgeholt. „’Ein wirklich schönes Stück Volksmusik‘, sagt Heino dazu. ‚Die Kollegen haben durchaus Talent für volkstümliche Texte’“ – so wird treffend auf Youtube kommentiert. Ziemlich durchtrieben, und fast schon etwas tragisch für Rammstein.

Junge ist aus der Perspektive verständnisloser Eltern erzählt, die ihrem Sprössling ständig Vorhaltungen machen und darauf drängen, dass er sich endlich eine bürgerliche Existenz aufbaut. Vater und Mutter beschweren sich über sein Aussehen, die Musik, die er hört, die Freunde, mit denen er abhängt, das durch ihn verschuldete Gerede der Nachbarn. Vorgetragen von den Ärzten, ist das natürlich reine Satire – die Eltern werden in ihrer spießigen Haltung entlarvt, der Junge wird ermutigt, seinen eigenen Weg zu gehen. Bei Heino allerdings hört es sich ganz danach an, als würde hier tatsächlich der Vater sprechen, und als wäre der Song nichts anderes als ernst gemeint. Passenderweise wird der ehrwürdig-stolze Gesang nicht von Gitarrenlärm, sonden von einem Blasorchester begleitet. Heino wendet den Song schlichtweg gegen die Ärzte, was nicht einer gewissen Komik entbehrt. „Das Imperium schlägt zurück“, so ein gern abgegebener Userkommentar im Internet.

Ist das nun reaktionär? Irgendwie schon. Und doch muss man schmunzeln. Schließlich haben „junge Leute“ mit einem Augenzwinkern an dem Coup mitgewirkt. Und, ganz ehrlich: Es tut doch gut, wenn auch die nach wie vor geschätzten Herren Rockstars, die sich gerne über andere lustig machen, mal eins vor den Bug bekommen. Sonst werden sie noch irgenwann zu cool und zu selbstgefällig.

 

 

Wo sind Sie, Herr Bowie?

Wow, ein neuer Berlin-Song von David Bowie, der Altmeister erinnert sich an die Zeit Ende der 70er Jahre, als er in der geteilten Stadt lebte und ein paar bahnbrechende Alben einspielte. So heißt es gern in den euphorischen Kritiken zu Bowies aktuellem Hit Where Are We Now?, den er pünktlich zu seinem 66. Geburtstag als Vorgeschmack auf die neue Lang-CD The Next Day veröffentlichte.

Kurz: Es ist wirklich ein wunderschöner Song, der vor allem die Fans des „alten“ Bowie der 70er und 80er Jahre ansprechen dürfte. Aber was die Zeitebenen und autobiografische Momente betrifft, stellt sich die Sache für mich etwas anders dar. Strophen, Refrain und Sprachbilder sind überraschend simpel gehalten und reihen ein paar bekannte Berliner Locations aneinander, unterbrochen von ein paar mal mehr, mal weniger kryptischen Gedanken: „Had to get the train from Potsdamer Platz / You never knew that… that I could do that / Just walking the dead“, heißt es in der ersten Strophe und:  „Sitting in the Dschungel on Nürnberger Straße / A man lost in time near KaDeWe / Just walking the dead.“ Das heißt frei übersetzt etwa: „Ich musste den Zug vom Potsdamer Platz kriegen / Du hättest nicht gedacht, dass ich das… dass ich das jemals tun könnte. / Die Toten begleiten. / Ich sitze im ‚Dschungel’ in der Nürnberger Straße / Ein Mann verschollen in der Zeit um die Ecke vom KaDeWe.“

Wenn man den Zug vom Potsdamer Platz nehmen, also etwas tun kann, was lange nicht für möglich gehalten wurde, dann scheint das Song-Ich über die Zeit des Mauerfalls zu sprechen – also über den Zeitpunkt 1989/90, als man plötzlich von Ost nach West fahren konnte, und umgekehrt. 70er Jahre? Keine Spur. Dieser Eindruck verstärkt sich in der zweiten Strophe, in der es heißt: „Twenty thousand people cross Bösebrücke / Fingers are crossed just in case / Walking the dead“, also: „20.000 Menschen überqueren die Bösebrücke / Sie drücken die Daumen, nur für den Fall, dass… / Die Toten begleiten.“ Die Bösebrücke war der erste Grenzübergang nach dem Mauerfall – die Menschen, die nun herüberströmen, können es noch nicht glauben. Der Mauerfall war ein kaum fassbares weltgeschichtliches Großereignis, was indirekt der Refrain unterstreicht: „Where are we now? / Where are we now? / The moment you know you know you know“, frei übersetzt etwa: „Wo stehen wir jetzt? / Wo stehen wir jetzt? / In dem Moment, in dem du es weißt, weißt du, dass du es weißt.“ Für mich kommt hier das Gefühl zum Ausdruck, dass man im Moment des Erlebens oft nicht begreift, dass man Zeuge eines Ereignisses ist, das die Welt verändern wird. Es dauert eine Weile, bis man realisiert hat, dass nichts mehr ist, wie es vorher war. Und auch wo man „heute“ steht, muss man immer wieder neu ergründen.

Nimmt man diese knappen Aussagen, dann ergibt sich das Bild eines Song-Ichs, das zeitlich entweder in den Jahren 1989/90 verankert ist oder sich aus der heutigen Zeit an damals zurückerinnert. Der Einwurf „A man lost in time“ unterstützt die letztere Vermutung, und dazu passt auch der Refrain: Damals, Mauerfall – und wo stehen wir heute? Was ist nur inzwischen wieder alles passiert? Die wehmütige Stimmung und der langsame, getragene Rhythmus vermitteln den Eindruck, dass sich die Welt unaufhörlich dreht, dass immer wieder Neues passiert, dass man nichts davon wirklich kontrollieren kann. Das Einzige, was man tun kann, ist zu leben und sich mitzudrehen. Fast folgerichtig steigert sich der Song zum Ende hin in die Aufzählung und inständige Wiederholung von wenigen simplen, aber unumstößlichen Gewissheiten, an die man sich klammern kann: „As long as there’s sun / As long as there’s sun / As long as there’s rain / As long as there’s rain / As long as there’s fire / As long as there’s fire / As long as there’s me / As long as there’s you.“ Sonne, Regen, Feuer, du und ich, das ist alles, was zählt im Leben, so scheint der Sprecher sich selbst zu trösten. Man existiert, man liebt, und mehr kann man in dieser verrückten Welt nicht verlangen.

Das sind für mich die Kernaussagen von Where Are We Now?. Ein einfaches Lied über den Lauf der Zeit, die Unberechenbarkeit des Lebens – und über die Liebe als Anker. Von den 70er Jahren und Bowies eigenen Erlebnissen klingt im Text überhaupt nichts explizit an. Das Song-Ich kann während des Mauerfalls kurz in Berlin gewesen sein oder schon immer dort gelebt haben, es kann aber auch lediglich aus der Ferne – über die Nachrichten, am heimischen Fernseher – Zeuge der damaligen Ereignisse gewesen sein. Und doch liegen die Rezensenten nicht falsch, die behaupten, es gehe auch um Bowies eigene Vergangenheit. Hier zeigt sich die Macht der nichtsprachlichen, außertextlichen Elemente, die einen Songtext mit zusätzlicher Bedeutung füllen können.

Denn wenn man sich ein bisschen für Rockmusik interessiert und vor allem wenn man Bowie-Fan ist, weiß man, dass in Berlin Ende der 70er Jahre die Alben Low und Heroes entstanden. Man weiß, wie diese Alben klingen, und Where Are We Now? greift deutlich den Sound und die Stimmung einiger Tracks von damals auf. Low revisited und Heroes in Zeitlupe, das waren meine ersten Höreindrücke.

Und dann ist auch nachzuvollziehen, dass im Text der „Dschungel“ erwähnt wird, jene legendäre Disco, in der sich Ende der 70er Jahre die schillerndsten Rockstars tummelten, natürlich auch Bowie. Zur Zeit des Mauerfalls war der „Dschungel“ allerdings zum Technoschuppen mutiert, und wenn man die Verse „Sitting in the Dschungel“, „A man lost in time“ und „Where are we now?“ zusammendenkt, dann kann man sich hinter dem eigentlich nur wenige persönliche Züge aufweisenden Song-Ich plötzlich auch einen David Bowie vorstellen, der sich um 1989/90 irritiert an das szenige Berlin der 70er Jahre zurückerinnert. À la: Mein Gott, nur zehn Jahre ist das her, wie hat sich alles verändert?! „Ein Mann verschollen in der Zeit“ weckt dann durchaus noch weitere Assoziationen: Lässt hier nicht auch Major Tom noch grüßen, jener Held aus den Bowie-Songs A Space Oddity und Ashes to Ashes, der einst auf einem fernen Planeten strandete?

Was genau mit „Walking the dead“ gemeint ist, bleibt unklar. Es könnten bei Fluchtversuchen aus der DDR getötete Menschen sein, aber auch ganz allgemein die Geister der Vergangenheit – und, durch die „Autobiografie-Brille“ betrachtet, auch die Geister aus Bowies Vergangenheit. Vielleicht seine längst abgelegten Show-Ichs, von Aladdin Sane bis zum Thin White Duke? „Walking the dog“ heißt „den Hund ausführen“, „Gassi gehen“. Führt hier jemand in Gedanken noch mal seine früheren Persönlichkeiten als Verstorbene spazieren?

Ein bisschen „namedropping“, der Sound der späten 70er, das Spiel mit autobiografischen Schnipseln und Protagonisten aus früheren Songs – es ist schon erstaunlich, mit wie einfachen Mitteln Bowie in Where Are We Now? die unterschiedlichsten Bedeutungsebenen „antriggert“. Was man als Hörer daraus macht, bleibt jedem selbst überlassen. Man kann das Stück als wehmütigen Schmachtfetzen genießen, sich selbst ins Song-Ich hineinversetzen und ein Feuerzeug schwenken, man kann die Rückschau eines in die Jahre gekommenen Künstlers heraushören, und man kann, wenn man will, auch ein augenzwinkerndes Eigenlob hineininterpretieren. Denn die Verknüpfung des Mauerfalls mit musikalischen Anspielungen auf eine der kreativsten Bowie-Phasen unterstreicht die rockhistorische Bedeutung des Altstars und seines Oevres, auch wenn ein Bewusstsein davon anklingt, wie sehr sich die Welt und die Musik seit Low und Heroes tatsächlich verändert haben. Gleichzeitig weist das Stück in die Zukunft: Denn nach langer schöpferischer Pause ruft Bowie mit seinen 66 Jahren in die Welt hinaus: „Hey, ich bin noch da, ich will’s noch mal wissen!“ Ob er selbst, der mit bürgerlichem Namen David Jones heißt, um die Zeit des Mauerfalls tatsächlich in Berlin war oder die Ereignisse nur aus der Ferne verfolgt hat, ist, nebenbei bemerkt, gänzlich unerheblich. Das Ich des Songs ist ein höchst stilisierter Sprecher, und der Song macht Angebote auf mehreren Ebenen.

Künstlichkeit und Stilisierung, diese Bowie-Konstanten kommen im Video zu Where Are We Now? noch offensichtlicher zum Tragen. Inmitten einer Rumpelkammer oder eines Ateliers mit vielen sonderbaren Objekten steht eine Leinwand, auf die Filme projiziert werden, davor ein Tisch, darauf ein Holzblock, auf dem zwei Stoffpuppen mit ausgeschnittenen Gesichtern sitzen. Bowie und eine Frau (laut Bowie-Website Jacqueline Humphries, die Frau des Regisseurs Tony Oursler) halten lediglich ihre Gesichter in die Schablonen, wie man erst am Schluss des Videos wirklich erkennt. Im selben Moment merkt man auch, dass Tisch, Puppen und Künstler tricktechnisch einmontiert sein müssen – denn Bowie und Begleiterin sind nicht mehr im Raum zu sehen. Es ist ein irreales Atelier, ein künstlicher Raum, mit dem gespielt wird – genauso wie Bowie hinter dem vordergründigen Zu-Tränen-rühr-Song den altersweisen „Grandseigneur“ gibt, dazu mit seinem früheren Image, mit geografischen Bezügen, mit alten Songmotiven spielt. Mehrere Ebenen „bildbildlich“ also auch im Video. Vieles anreißen, Spekulationen anheizen, Masken aufsetzen, aber letztlich nichts preisgeben, same procedure as every decade. Einfachste Mittel, große Wirkung – schon clever, dieser Bowie!

Von Kirschgeist, Republiktigern und rätselhaften Lyrics

Mein Freund Uwe, der diesen Blog freundlicherweise verfolgt, kann mit Tim Bendzko, Xavas oder Rihanna nur wenig anfangen. „Sind doch aktuelle Themen“, rechtfertige ich meine ersten Posts. Aber Uwe beharrt: „Schreib doch mal was über die Bands, die wir wirklich richtig gut finden!“ Also schön. Aus der unüberschaubaren Menge an Bands, die wir lieben, die aber fast nie im deutschen Radio gespielt werden, greife ich einfach mal zwei heraus: die britische Band Cherry Ghost und The Republic Tigers aus Amerika. Beide Acts haben viele Gemeinsamkeiten: die etwas seltsamen Bandnamen, ein feines Gespür für schöne, teils ausufernde Melodiebögen, einen Hang zum Schwelgerisch-Pathetischen, ordentlich Power, Dynamik – und rätselhafte Texte.

Auf Keep Color, der 2008 erschienenen CD der Republic Tigers, gibt es gleich mehrere Songs, in denen die ohnehin schon nebulösen Lyrics auch noch stimmlich stark strapaziert werden. So wird der Text zu Golden Sand in flottem Tempo und fast ohne Pause abgespult.

Über das Publikum ergießen sich regelrechte Wortkaskaden, aus denen nur noch einzelne Silben, Begriffe, Satzfragmente herausstechen. Der Song wirkt atemlos und erzeugt eine große Spannung. Vage hängen bleibt die Aufforderung an ein Du, offen für eine Sache einzutreten, die Stimme zu erheben, sich den Aufrechten im Kampf gegen was auch immer anzuschließen. Aus „bleeding hearts“, „blutenden Herzen“, sollen „blutige Hände“, „bleeding hands“, werden. Vielleicht eine Aufforderung, das Gefühl des Leidens, der Trauer, in entschlossen zupackende Handlungen zu überführen, also konkret etwas zu tun? Oder auch eine Anspielung auf ein Märtyrertum, die blutenden Hände von Jesus am Kreuz?

In Feelin’ The Future dagegen setzt Sänger Kenn Jankowski sehr viele kleine Pausen, bevorzugt an unüblichen Stellen im Text: mitten in Sinneinheiten, noch vor Ende eines Verses und sogar zwischen einzelnen Wortsilben. Das ist großangelegtes „Enjambement“, wie es in der Fachsprache heißt. So erschließt sich der Text nur stockend und in kleinen Brocken, die man mühsam zusammensetzten muss. Es geht vage um etwas Neues, das gerade beginnt, möglicherweise um eine Beziehung. „Feelin’ the future on your skin“, „Die Zukunft fühlen auf deiner Haut“, heißt es immer wieder. Zögerlich „fühlt“ das Song-Ich das, was kommen wird, und bringt in seinem unflüssigen Vortrag seine Unsicherheit und Vorsicht zum Ausdruck.

Cherry Ghost mögen es viel düsterer. We Sleep On Stones etwa, vom 2010 erschienenen Album Beneath This Burning Shoreline, ist schnell und dramatisch, baut ebenfalls enorme Spannung auf, ein Streichorchester droht einen immer wieder fortzureißen.

Sänger Simon Aldred reiht mit warmer, voller, beschwörender Stimme deprimierende Bilder aneinander: Rache liegt in der Luft („Morning spinning vengeance“), überschüssige Liebhaber singen sich ihr Herz aus („Surplus lovers sing out“), und die Vergangenheit hat die Menschen fest im Griff – sie klammern sich an Fotos, die immer noch ihre Namen rufen („Photographs that we cling to / Still call our names“). Alkohol fließt („Every drink that I’m sinking / Carries the taste“), bittere Kälte lässt die Knochen erzittern („Bitter winter’s got our bones“), die Menschen schlafen auf Steinen, und durch die Wohnräume streift ein Killer („We sleep on stones / There’s a killer in our homes / That drives the night in“), wobei es sich auch um einen Impuls handeln kann, der Empfindungen abtötet. Das Zentrum des Songs, der Ich-Sprecher, scheint sich von einer Last befreien, vielleicht sogar jemanden (aus Rache?) erschießen zu wollen. Er ist sicher, Jesus, mit dem er vor langer Zeit seinen Frieden gemacht hat, würde ihm verzeihen: „Made my peace with Jesus long ago / If he sees what I see / Then he will forgive me / Take ’em down with a clean shot / Take ’em down…“ Etwas Schicksalhaftes liegt über dem Song. Es wird aber nicht konkret benannt und lässt so Raum für vielfältige Assoziationen.

Das gilt auch für wunderbare Songs wie White Winter Hymnal (Fleet Foxes), Misty (Kate Bush), The Adventures of Raindance Maggie (Red Hot Chili Peppers) oder Bakerman (Laid Back). Mehr dazu im aktuellen Beitrag meiner Essay-Reihe auf dem Portal Faust-Kultur: „Stop Making Sense“.

Rihanna: Liebe, maskiert

Wer spricht im Song? Glaubt man einigen Kritikern, dann spricht auf Rihannas überraschend interessantem neuem Album Unapologetical niemand anders als die Künstlerin selbst – etwa über die schmerzhafte Beziehung zu ihrem Ex Chris Brown. Brown ist der Schwachkopf, der seine damalige Freundin 2009 krankenhausreif prügelte. Seit Monaten sieht man die beiden wieder öfter zusammen, Brown singt auf Unapologetical sogar ein Duett mit Rihanna. Da muss doch „alles autobiografisch“ sein!

„Der Longplayer hat es in sich“, schreibt etwa Sabine Metzger für das Portal msn unterhaltung, „Die 24-Jährige verarbeitet hier ihre verkorkste, gewaltbelastete Beziehung mit dem Sängerkollegen Chris Brown ganz offen (…) In ‚No Love Allowed’ erzählt sie zu relaxtem Reggae-Beat und harmlos-verspielter Melodie ziemlich unverblümt von den Misshandlungen, die sie erlebt hat: ‚I was flying til you knocked me to the floor’ (‚Ich flog, bis du mich zu Boden geschlagen hast’).“

Andreas Borcholte schlägt für SPIEGEL Online in dieselbe Kerbe: „Für alle, die den Kopf schütteln über die Frau, die zu ihrem Schläger zurückkehrt, hat Rihanna mit ‚Nobody’s Business’ eine fröhliche Uptempo-Nummer parat, die sie – bam! – mit Chris Brown im Duett singt: ‚You’ll always be my boy, sing it to the world’. Vergeben und vergessen ist jedoch nicht alles, daher rührt wohl der nüchterne Tonfall, der viele ihrer neuen Lieder durchzieht: ‚Your love hit me to the core/ I was fine til you knocked me to the floor’, singt Rihanna in ‚No Love Allowed’, ‚I pray that love don’t hit twice’ heißt es in ‚Love Without Tragedy’.“

Ich meine: Nix „bam!„, nix „hat es in sich“, sondern – zoingggg! – alles Quatsch! Browns Prügelattacke ist doch bald vier Jahre her, und es wurde  – gähn! – schon früheren Rihanna-Songs ein Aufarbeitungsimpuls nachgesagt. Tatsächlich kokettiert die Sängerin hier nur, und zwar mittels handelsüblicher R&B-Lyrics-Klischess. Das Song-Ich ist nicht Rihanna, sondern ein „Gebrauchs-Ich“ – und der Rest ist Standardmetaphorik.

http://www.vevo.com/watch/keri-hilson/knock-you-down/USUV70900883

„Du haust mich um“, das ist selbst im Deutschen eine gängige Formel fürs Verliebtsein, ebenso wie „Das hat mich völlig umgehauen“ eine echte „Niedergeschlagenheit“ bedeuten kann, zum Beispiel wegen einer Trennung. Im modernen R&B-Song wird das teilweise noch drastischer ausgedrückt – da werden aus Amors Pfeilen schon mal Pistolenkugeln. Die von Borcholte auf SPIEGEL Online zitierte Textzeile lautet vollständig: „Like a bullet your love hit me to the core / I was flying ‚til you knocked me to the floor.“ In Knock You Down, einem Song von Keri Hilson und den Rappern Kanye West und Ne-Yo, lässt Ne-Yo seinen Sprecher in ähnlichen Bildern von einer tollen Frau berichten, die ihn mit ihrer Liebe vom Himmel geschossen und seinem bisherigen Leben ein Ende gemacht habe: „Oooh, she shot me out the sky (…) she shot the bullet that ended that life.“ Kanye West, der offenbar den Nebenbuhler verkörpert, packt dessen Eifersucht und Hass in die Worte: „Keep rockin’, and keep knockin’ (…) You see the hate, that they’re servin on a platter“. Und Keri Hilson, als hin und her gerissenes Objekt der Begierde, erinnert sich an die erste Begegnung mit einem der beiden: „And you came in and knocked me on my face“, wohl kaum im Prügelsinn, sondern eher à la: „Du fielst mir sofort ins Auge…“ Später heißt es: „Boy, you came around and you knocked me down“, also  „Du bist aufgetaucht und hast mich umgehau’n.“ Der Refrain schließlich formuliert im Hinblick aufs Verliebtsein, aber auch mit Bezug auf Liebesqualen: „Sometimes love comes around, and it knocks you down…“ – „Manchmal packt dich die Liebe, und du bist total am Boden.“

Solche Verse sind R&B-Standard. Verarbeiten also viele R&B-Stars schlimmste Erfahrungen mit häuslicher Gewalt? Sind das alles Bekannte von Chris Brown? Nö. Viel eher verpacken sie die Aufs und Abs der Liebe, den vielzitierten Kampf der Geschlechter, in die immerselben drastischen Bilder.

Zwei der wenigen Songs, die TATSÄCHLICH häusliche Gewalt thematisieren KÖNNTEN, finden sich ausgerechnet bei den nur scheinbar so lieblichen Cardigans aus Schweden: And Then You Kissed Me aus dem Jahr 2003 und And Then You Kissed Me II von 2005. Auch hier wird die Liebe als unerklärliche romantische Macht, als „powerful force“, beschrieben, die einen umhaut; aber da sind auch Formulierungen wie „halo around my eyes“ („Veilchen um meine Augen“), „black and blue“ (deutsche Entsprechung: „grün und blau“), „You hit me really hard“ („Du hast wirklich fest zugeschlagen“) in Teil 1 und „It’s a mystery how people behave! / How we long for a life as a slave“ („Es ist unerklärlich, warum sich Menschen so verhalten! / Warum wir uns nach einem Leben in Sklaverei sehnen“) oder „It’s always you, the hardest hitter that I ever knew“ („Es geht für mich immer um Dich, den härtesten Schläger, den ich bisher gekannt habe“) in Teil 2. Solche Worte lassen schon eher darauf schließen, dass Schlimmeres als bei Keri Hilson und Rihanna zur Sprache kommt: eine verhängnisvolle Paardynamik, eine Frau, die von ihrem schlagenden Mann nicht loskommt. Cardigans-Sängerin Nina Persson hat laut Songfacts.com die „Häusliche Gewalt“-Ebene in den Songs bestätigt und gleichzeitig eingeräumt, dass sie selbst von so etwas glücklicherweise noch nie betroffen gewesen sei.

Bleibt das Duett Nobody’s Business, das Rihanna auf Unapologetical gemeinsam mit Chris Brown singt. Klar, man demonstriert, dass man wieder aufeinander zugekommen ist, sogar gemeinsam Musik macht. Aber präsentiert Rihanna auf demselben Album nicht auch Duette mit Eminem, David Guetta oder Mikky Ekko? Solche Duette gehören ebenfalls zum R&B-Business. In Nobody’s Business schmachtet sich ein Liebespaar mit denselben Worten gegenseitig an. Es geht im hiphoptypischen Prahl- und Statussymboleerwähn-Stil um gemeinsame Autofahrten in Nobelkarossen („Let’s make out in this Lexus“), um nicht weniger als die perfekte Liebe und darum, dass man sich gegenseitig den Weg weist („Your love is perfection, please point me in the right direction“). Im übrigen gehe diese Liebe niemanden etwas an, so der Refrain, sie sei eben „nobody’s business“. Sollen die anderen doch reden – denkt sich das nicht jedes Liebespaar? Intensive Nabelschau? Keine Anzeichen. Daran würde auch eine wirkliche neu entflammte Beziehung der beiden Interpreten nichts ändern.

Wer hier unbedingt nach versteckten Hinweisen suchen will, den könnte noch folgende unauffällige Songzeile aus Nobody’s Business interessieren: „A life with you I want, I wonder can we become love’s persona“ – „Ich will ein Leben mit Dir, und ich frage mich, ob wir beide vielleicht die Rolle/Maske der Liebe sein können.“ Ist das ein verunglücktes Sinnbild für: „Wir stehen für die Liebe“? Oder tut hier vielleicht die Liebe nur so, als sei sie das Paar aus dem Song, als sei sie gar Rihanna & Chris Brown? Wenn die Liebe aber nur eine Make trägt, dann nimmt sie das Publikum gewaltig auf den Arm…

Zwischen Interpretation und Projektion: Wenn Songs den Künstlern um die Ohren fliegen

Die Wogen scheinen sich in Sachen Xavas etwas geglättet zu haben. Das Duo hat ein betroffenes „Es war zu keinem Zeitpunkt unsere Absicht…“-Statement veröffentlicht, und die Medien wenden sich wieder anderen Themen zu. Festzuhalten bleibt, dass Xavas nicht die Ersten sind, denen ein Song unerwartet um die Ohren fliegt. Schon 1969 erzählte Jim Morrison, Sänger der amerikanischen Band The Doors, in einem Interview mit dem Musikmagazin „Rolling Stone“, wie er in einem Laden eine junge Frau kennenlernte und mit ihr über den berühmten Doors-Song The End ins Gespräch kam. Das ziemlich düstere Elfeinhalbminutenstück ist textlich komplex und nicht zuletzt wegen einer drastischen mit Ödipus-Motiven gespickten Passage berühmt. Nachdem Morrison der Frau stolz erklärt hatte, dass der Song viele verschiedene Dinge bedeuten könne und jeder Hörer ihn auf seine eigene Situation beziehen solle, eröffnete sie ihm, dass sie eine Stunde Ausgang habe. Sie sei nämlich mal nach dem Konsum schwerer Drogen ausgeflippt und nun Insassin der kalifornischen Universitätsnervenklinik. Überhaupt sei The End der Lieblingssong vieler Leute bei ihr in der Psychiatrie.

Morrison war geschockt: „At first I thought: Oh, man… I didn’t realize people took songs so seriously and it made me wonder whether I ought to consider the consequences. That’s kind of ridiculous (…); you don’t think of the consequnces and you can’t.“ – „Im ersten Moment dachte ich: Oh Mann… Mir war nicht klar gewesen, dass Leute Songs so ernst nehmen, und ich fing an, darüber nachzudenken, ob ich zukünftig die Folgen meines Songwritings bedenken sollte. Das ist irgendwie lächerlich (…); du denkst nicht an mögliche Folgen, und du kannst auch nicht daran denken.“

Schon der scharfsinnige britische Dichter Oscar Wilde wusste: „Sobald ein Werk abgeschlossen ist, besitzt es ein Eigenleben und kann auch eine ganz andere Botschaft verkünden als die ursprünglich vom Künstler intendierte.“ Diese Erkenntnis und der Rat, den Wildes Kollege D. H. Lawrence 1923 äußerte: „Never trust the artist. Trust the tale“ („Trau nie dem Künstler. Trau seiner Geschichte“), entfalten im Internetzeitalter eine ganz neue Dimension. Texte aller Art und damit auch Songlyrics treffen rund um den Globus auf die unterschiedlichsten Menschen mit den unterschiedlichsten Prägungen und Befindlichkeiten. Da entstehen Bedeutungen, die die Urheber nie und nimmer erwartet hätten. Dass dabei oftmals die Schwelle von der Interpretation zur Projektion überschritten wird, liegt auf der Hand.

In seinem Kinothriller Reservoir Dogs lässt der amerikanische Kultregisseur Quentin Tarantino eine Gruppe von Killern beim Frühstück über Madonna-Songs diskutieren – und zeigt, wie die schrägen Typen in harmlose Liebeslyrics sexistischen Mist hineinprojizieren. In einer anderen Szene des Films, der berüchtigten „Folterszene mit dem Ohr“, setzt er clever den alten Stealers-Wheel-Hit Stuck in the Middle With You als Soundtrack ein – und zeigt, was man aus einem scheinbar harmlosen „Ich fühl mich irgendwie komisch“-Song alles herausholen kann. Wer ein bisschen Lust und Zeit mitbringt, liest ausführlicher über diese Szene, über den larmoyanten REM-Gassenhauer Losing My Religion und die schwierige Gratwanderung zwischen Interpretation und Projektion in „Lyrics außer Kontrolle“, dem neuen Beitrag meiner Faust-Kultur-Reihe „What have they done to my song?“.