Ich bin nicht Stiller…

Wenn man so will…

Immer wenn ich Ein Kompliment von Sportfreunde Stiller höre, „stolpere“ ich an derselben Stelle im Refrain: „Ich wollte dir nur mal eben sagen, dass du das Größte für mich bist / Und sichergehen, OB du denn dasselbe für mich fühlst…“ Ich stolpere, weil ich von Berufs wegen Korrektor/Lektor und deshalb ziemlich sicher bin, dass es „sichergehen, DASS“, nicht „sichergehen, OB“ heißen muss. Wieso? Ganz einfach: Man überprüft, OB etwas so und so ist – aber man geht oder stellt sicher, DASS etwas so und so ist. Da Ein Kompliment ansonsten ein wirklich wunderschönes Liebeslied ist, stelle ich mir immer wieder die Frage: Haben die „Sportis“, wie sie liebevoll schon auf HR3 und anderen Servicewellen genannt werden, hier einfach nur einen kleinen grammatikalischen Hänger?

Oder haben sie diese sprachlich Irritation sogar ganz bewusst auf das Gesamtbild hin eingebaut? Denn in Phrasen wie „Wenn man so will, bist du das Ziel einer langen Reise…“, „die Perfektion der besten Art und Weise“, „die Schaumkrone der Woge der Begeisterung“ oder „nur mal eben sagen“  offenbart sich ein reichlich unsicheres Song-Ich, das dem angesprochenen Du „irgendwie“ unbeholfen bis ungelenk pathetisch seine Liebe gesteht. In Verbindung mit dem eckig-naiven Gesangsstil ein charmanter Gegenentwurf zu all den zünftig rockenden Macho-Song-Ichs, die voll narzisstischem Selbstbewusstsein ihre Liebe und ihr Begehren in die Welt hinausröhren – da darf es auch mal sprachlich nicht ganz so korrekt formuliert sein…

Ich habe bis heute keine Antwort gefunden und freue mich über weiterhelfende Kommentare.

Überhaupt scheinen die „Sportis“ ein Faible für solche Zwiespältigkeiten zu haben. Auch ihr zweiter Dauerbrenner in den deutschen Serviceradios, Applaus, Applaus, hält für meine Begriffe einige Irritationen parat. In Applaus, Applaus, einem auf den ersten Blick ebenfalls lupenreinen Liebeslied, lobt das Song-Ich die Partnerin oder den Partner dafür, dass sie/er den Sprecher optimal „händelt“: „Ist meine Hand eine Faust, machst du sie wieder auf und legst die deine in meine / Du flüsterst Sätze mit Bedacht durch all den Lärm, als ob sie mein Sextant und Kompass wären.“ Das sind starke Bilder, auf die man als sprachbegeisterter Mensch neidisch werden kann – und die in der zweiten Strophe an Intensität noch getoppt werden: „Ist meine Erde eine Scheibe, machst du sie wieder rund, zeigst mir auf leise Art und Weise, was Weitsicht heißt / Will ich mal wieder mit dem Kopf durch die Wand, legst du mir Helm und Hammer in die Hand.“

Alle Achtung! Und doch horcht bei „Erde“, „Scheibe“ und „rund“ der blöde Lektor in mir wieder auf: Klar, ich verstehe, was gemeint ist: Es geht um Engstirnigkeit und den Blick fürs Ganze, versinnbildlicht durch den Konflikt zwischen der archaischen Haltung, die Erde sei flach, und der neuzeitlichen Erkenntnis, dass sie Erde eine Kugel ist. Aber: „Ist meine Erde eine Scheibe, machst du sie wieder rund“ scheint mir einmal mehr unsauber formuliert, denn auch eine Scheibe kann rund sein! Die „Sportis“ formulieren also nicht wirklich den Gegensatz zwischen einer flachen Erde und einer Welt in Kugelform, sondern erzwingen die Aussage mit Blick auf den Zeilenrhythmus eher ungelenk.

Eine weitere Irritation, und zwar hinsichtlich des Jargons, erfolgt für mich schließlich in den Refrainversen: „Applaus, Applaus, für deine Art, mich zu begeistern / Hör niemals damit auf! / Ich wünsch mir so sehr, du hörst niemals damit auf / Applaus, Applaus für deine Worte / Mein Herz geht auf, wenn du lachst / Applaus, Applaus für deine Art, mich zu begeistern / Hör niemals damit auf! / Ich wünsch mir so sehr, du hörst niemals damit auf.“

Mal ehrlich: Welcher und welche Liebende würde seinem/ihrem Partner Applaus spenden für seine/ihre Art, mit der geliebten Person umzugehen? Na? Wohl niemand. Applaus spendet man für eine Darbietung von Fremden – als Anerkennung einer Leistung, im Zirkus, im Fußballstadion, auf der politischen Bühne. Aber doch nicht in einer Liebesbeziehung! Was mich irritiert: Bei den „Sportis“ klingt es, als ob sich ein minderbemittelter Typ, der egoistisch seine Bedürfnisse und Triebe auslebt, seine sämtlichen Schwächen und Unzulänglichkeiten pflegt, zufrieden im Sessel zurücklehnt und genüsslich die Bemühungen seiner Lebensgefährtin bewertet. In meinen Ohren ein ziemlicher Schwachkopf.

Insofern stellt sich mir auch hier die Frage, ob es die „Stillers“ ganz einfach nicht so draufhaben mit den sprachlich wirklich runden Texten – denn das musikalische Arrangement von Applaus, Applaus ist an ernsthafter Romantik und Hymnenhaftigkeit eigentlich kaum zu überbieten; oder ob sie ganz bewusst einen unsicheren, selbstverliebten Beziehungskasper sprechen lassen, um ihn – in Form eines Rollen-Ichs – auf gewisse Weise bloßzustellen. Das hätte ja was.. Oder ob ich mir – wie meine Lebensgefährtin meint, die beide Songs mit gutem Recht einfach nur schön und gefühlvoll findet – schlichtweg zu viele unsinnige Gedanken mache…

Auch hier gilt: Ich habe bis heute keine Antwort gefunden und freue mich über weiterhelfende Kommentare.

Fest steht: Sowohl in Ein Kompliment als auch in Applaus, Applaus operieren die Sportfreunde Stiller mit Codes und Zeichensystemen, die letztlich nicht wirklich eindeutig sind. Was die „Sportis“ als Urheber sich bei diesem und jenem Song gedacht haben, haben sie nicht mittransportiert – sie haben Leerstellen gelassen; und was beim Publikum ankommt, das ist von der jeweiligen Gefühlslage, dem musikalischen Vorwissen und der Sozialisation einer jeden Hörerin, eines jeden Hörers abhängig.

Mit der Art und Weise, wie sprachliche und musikalische Codes funktionieren, wie wir einen Song im Wesentlichen wahrnehmen, beschäftigt sich auch der aktuelle Essay meiner Reihe „What have they done to my song?“ auf Faust-Kultur, nachzulesen unter: http://faustkultur.de/1327-0-Behrendt-What-have-they-done-to-my-Song-VII.html#.Uh_U1LzBI7A

Im Battle mit Klaus und Claudia? Peinlicher Bushido!

„Scheiße, leise sollst du sein, kleiner Stricher / Lächerliches Tröpfchen Pisse, hier kommt der Scheibenwischer / Ich entsicher’, spann’ und schieß’ / und mach dich weg, wie du hoffentlich siehst / Ich fließ’ wie ein Fluss, schieß’ wie ein Schuss, / bin positiv wie ein Plus und mache Schluss mit dem Frust / Also muss ich dich zerstör’n, kannste mich hör’n…“ Ein Rap-Text von Gewalt-Rapper Bushido? Nein, ein Rap-Text von der Frankfurterin Sabrina Setlur. In ihrem Stück Pass auf aus dem Jahr 1995 macht die im wahren Leben eher friedliche Ex-BWL-Studentin das, was viele Rapperinnen und Rapper traditionsgemäß gerne tun: Andere mit Worten attackieren, um sich selbst zum Besten, Größten, Härtesten zu stilisieren, was auf diesem Planeten gerade kreucht und fleucht.

Dissen aus Tradition

Die Wurzeln dieser textlichen Strategie liegen in Amerika, in Metropolen wie New York, wo vor einigen Jahrzehnten rivalisierende schwarze Jugendliche anfingen, ihre Konflikte nicht mehr mit Fäusten und Waffen, sondern mit Worten, in Form von Tänzen und über Graffiti, kurz: über den künstlerischen Ausdruck auszutragen. Es ging darum, auf verschiedenen Gebieten die eigenen „Skills“, also Fähigkeiten, zu testen und den jeweils Besten zu ermitteln. Der Wettkampfaspekt, die „Competition“ – gern auch zur „Battle“, zur „Schlacht“ stilisiert – war von Anfang an ein wichtiger Aspekt der Hip-Hop-Kultur. Textlich äußert sich das auch heute noch neben einem möglichst originellen und kreativen Sprachgebrauch häufig im Prahlen und im verbalen Niedermachen des Kontrahenten, im sogenannten „Dissen“. Nur so ist es zu verstehen, wenn der Rapper Kool Savas 2005 in Das Urteil seinen ehemaligen Weggefährten Eko Fresh, der ihn zuvor in einem Track namens Die Abrechnung „gedisst“ hatte, mit Worten wie diesen belegt: „Meinen Flow übertriffst du nicht, nach dem Part übergibst du dich / Was du machst ist nicht korrekt wie Behindertenwitze / Alles, was du schreibst, ist für mich nicht mehr als Kindergekritzel / (…) / Fuck mich ab und ich mach dir Dampf, zerstör dich voll und ganz / EK, lutsch meinen Schwanz!“

Setlur und Kool Savas benutzen ähnliche Bilder, fast schon Standardfloskeln, es geht um die Zerstörung des Kontrahenten, womöglich mit einer Schusswaffe – wobei ausgerechnet der Text von Sabrina Setlur noch „krasser“ wirkt als der ihres männlichen Kollegen. Letztlich aber sind beide Raps, so brutal und hasserfüllt sie daherkommen, gleichermaßen harmlos. Denn die Künstler, die sie vortragen, sind im wahren Leben nicht für Mord und Totschlag bekannt – ihre Texte bieten lediglich eine derbe Wettkampfrhetorik, die versucht, an Drastik immer noch einen draufzusetzen. Dass dabei auch schwulen- und frauenfeindliche Parolen gedroschen werden, finde ich persönlich ziemlich beknackt, gehört aber in einigen Rapper-Kreisen offenbar dazu. Es ist leider auch Alltag auf vielen Schulhöfen, wobei die Spanne des Gebrauchs solcher Parolen je nach persönlichem Hintergrund vom „Nicht wissen, was man da sagt“ über das „So reden, weil man irgendwo dazugehören will“ bis hin zum tatsächlichen Schwulenhass reicht. Hier haben wir, nebenbei, ein gesamtgesellschaftliches Problem und keins, das im Hip-Hop begründet liegt.

Drastische Fiktionen zwischen Spaß und Ernst

Warum bis heute nicht jeder zweite Rap-Song indiziert wird, hat verschiedene Gründe. Da ist die Flut an Songs, die nicht zu überblicken, geschweige denn zu bändigen ist und oftmals nur ein Nischenpublikum erreicht. Da sind der nachlässige Vortrag und der überladene Sound, der viele Texte erst beim zweiten, dritten Hören oder gar erst beim Mitlesen im Internet verständlich werden lässt. Und da ist die – unbewusste bis stillschweigende – letztliche gesellschaftliche Übereinkunft, dass Songs im Allgemeinen und Rap-Texte im Besonderen auch bei aller Drastik und Geschmacklosigkeit am Ende des Tages doch nicht mehr als Fiktionen sind.

Es sind vor allem Sprüche und Images, um die es im Rap geht. Nicht um eine Eins-zu-Eins-Übertragung der eigenen Gefühle und Taten in Songs, sondern um ein möglichst taffes Show-Ich und eine starke, „krasse“ Performance, die dem Künstler beim Publikum, aber auch bei Kolleginnen und Kollegen Respekt verschafft. Was nicht ausschließt, dass sich Rap-Lyrics auch mit gesellschaftlichen Realitäten beschäftigen. And the Beef Goes On heißt eine Dokumentations des Musiksenders MTV aus dem Jahr 2008. Darin ist zu hören, wie einige der umstritteneren deutschsprachigen Rappern ihre Arbeit charakterisieren. Von „verarbeiten“ und „widerspiegeln“ ist da die Rede und von einer eher „journalistischen“ Herangehensweise. „Armut, Arbeitslosigkeit, Kids ohne Perspektive, Viertel, in denen das Gesetz der Straße herrscht und wo Konflikte durch Gewalt gelöst werden“, fasst der Offkommentar zusammen, „davon berichtet Rap.“ Was der Rapper Fler folgendermaßen kommentiert: „Meinen Frust, den ich im Leben durchgemacht habe, und meine schlechte Zeit, die ich im Leben durchgemacht habe, verarbeite ich mit der Musik.“ Kool Savas: „Die Musik spiegelt eigentlich nur wider, was in dieser Gesellschaft abgeht.“ Azad: „Wir sind so eine Art Straßenreporter, die über die Dinge berichten, die Medien nicht berichten.“ Massiv: „Ich reflektiere die Straße. In diesem Moment sehe ich mich als Journalist der Straße.“ Ein Selbstverständnis, das weniger auf eine bedingungslose Identität von biografischem Ich und Song-Ich schließen lässt als auf die künstlerische, bearbeitende Umsetzung von dem, was „da draußen“ in der Welt vor sich geht.

Das bedeutet nicht, dass Rapper nicht auch mal „persönlichere“ Töne anschlagen – ihre Song-Ichs näher an ihr biografisches Ich heranrücken lassen. „Vater du verleugnest deinen Jungen“, rappt etwa Bushido in Reich mir nicht deine Hand, „Ich möchte dir nichts beibringen / Und ich nenne dich nicht Feigling, aber / Wegen dir war ich ein Heimkind.“ Das sind Verse, die nah dran sind an Bushidos eigener Lebensgeschichte mit einem Vater, der früh die Familie im Stich ließ, und mit Erfahrungen als Insasse eines Heims für schwer erziehbare Jugendliche. Im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Song-Ich und Realität aufschlussreich ist, wie Bushido Reich mir nicht deine Hand in der MTV-Doku kommentiert: „Das war für mich auf jeden Fall einer der wichtigsten Songs, die ich bis jetzt gemacht habe. Diese Geschichte, die da erzählt wird, da weiß mein Vater von, meine Mutter weiß davon, und ich weiß davon. Natürlich trage ich das in die Öffentlichkeit. Aber im Endeffekt wissen wirklich wir drei, wie die Sache für uns gelaufen ist.“ Was heißt: Der Song bezieht sich durchaus auf persönliche Erlebnisse aus dem Leben von Anis Mohamed Youssef Ferchichi, der realen Person hinter dem Show-Ich Bushido. Aber in erster Linie erzählt er eine Geschichte – und die ist das Ergebnis künstlerisch bearbeiteter Erfahrung. Wie es wirklich war, das wissen nur die unmittelbar beteiligten Personen.

„Ich und schwulenfeindlich? Ich gebe doch nur wieder, was ich auf der Straße gehört habe“ Oder: Hinter der Authentizitätsfassade kann man sich prima verstecken

So verwundert es kaum, wenn die Macher von And the Beef Goes On zu dem Schluss kommen, dass es auch im Hip-Hop zu einem großen Teil um Show und Unterhaltung geht, um Entertainment! „Provozieren, schocken, übertreiben: Genau das ist es, was viele Rapper in ihren Tracks veranstalten“, hält der Offkommentar fest. „Es ist ein Spiel. Ein derbes Spiel, aber eben ein Spiel.“ Und die Szene bekräftigt. B-Tight: „Du kannst auch Sachen einfach ironisch meinen – sie hart sagen, aber ironisch meinen.“ Marcus Staiger, Chef des Szenelabels Royal Bunker: „Rap hat eben auch das Recht, Dinge zu dramatisieren und zuzuspitzen.“ Bushido: „Und dann spielst du mit der Musik, mit den Wörtern – mit der Sprache einfach auch.“ Kool Savas: „Rap ist teilweise maßlose Übertreibung.“ Staiger: „Sonst wär’s ja langweilig.“ Fler: „Es ist die Ironie. Ich nehme mich ja selber dabei nicht ernst. Ich achte darauf, dass meine Musik auch provoziert, weil’s alles Entertainment ist.“ Massiv: „Ich versuche, die Leute zu entertainen, ich versuche, sie zu unterhalten.“ Und noch einmal B-Tight: „Der Entertainment-Faktor, der ist ganz hoch.“

Aber genau dieses Oszillieren zwischen dem angeblichen Reporterblick, der Verarbeitung persönlicher Erfahrungen und dem unterhaltsamen krassen „Dissen“ anderer Menschen und sozialer Gruppen sorgt auch dafür, dass sich viele Gangsterrapper nicht festlegen lassen, dass eine Art Geheimwissen, bestimmte Codes etabliert werden, die nur Szene-Insider verstehen. Es ist zudem eine kunstvolle Fassade, hinter der man sich prima verstecken kann, à la: „Ich und frauenfeindlich, schwulenfeindlich oder gar gewaltverherrlichend? Wieso, ich hab doch nur wiedergegeben, was ich täglich auf der Straße höre. Das Ich im Text, das bin doch nicht ich!“ Oder einfach: „Danke für die Aufregung, kurbelt den CD-Verkauf an, aber ist doch alles nur Show!“ Die Frage ist, ob nicht auch die coolen Rapper, die sich mal als benachteiligte Opfer der Gesellschaft, mal als gutgelaunte Entertainer stilisieren und Respekt verlangen, eine Verantwortung für das tragen, was sie in ihren Texten von sich geben. Gibt es vielleicht doch Zusammenhänge zwischen dem Rap-Ich im Text und dem biografischen Ich des Künstlers, zum Beispiel durch Erfahrungen in kriminellen Milieus? Und: Wo hört die spielerische Geschmacklosigkeit auf? Wo wird wirklich eine Grenze zum nicht mehr Akzeptablen überschritten?

Böse Menschen haben keine Raps?

Die MTV-Doku entlastet deutschsprachige Gangsterrapper generell, und zwar mit den Worten: „Rapper sind keine Gangster. Sie rappen über Gewalt, aber leben sie nicht.“ Den Gegenbeweis liefern Rap-Subszenen, quasi Rap-„Parallelwelten“, in Deutschland, für deren Protagonisten schwerere kriminelle Handlungen zum Alltag gehören. Eine davon ist die Köln-Bonner Szene um Rapper wie Bero Bass und Xatar. Allein oder im Rahmen von Projekten wie La Honda erzählen sie in ihren Texten, wie sie sich auf der Straße behaupten, wie sie ihre Gegner plattmachen, Überfälle begehen, Haftstrafen absitzen oder Verrätern drohen, die allzu eng mit der Polizei kooperieren. Das ließe sich leicht als das eben beschriebene hip-hop-typische Prahlen, Protzen und kategorische Übertreiben abtun – wäre nicht Bero Bass vor einiger Zeit wieder in eine blutige Messerstecherei mit anschließendem Gefängnisaufenthalt verwickelt gewesen und hätte nicht Xatar nach ähnlichen Körperverletzungs- und Drogenhandelsdelikten im Dezember 2009 zusammen mit sieben weiteren Tätern bei Ludwigsburg einen Goldtransporter überfallen. Die Beute von 1,8 Millionen Euro blieb verschwunden, Xatar selbst wurde ein halbes Jahr später gefasst.

Und hier schließt sich der Kreis zu Bushido: Er blickt nicht nur auf ein Vorleben zurück, zu dem Körperverletzung, Drogendealereien, besagter Aufenthalt in einem Heim für schwer erziehbare Jugendliche und Gefängnis gehören, sondern soll auch aktuell Verbindungen zu Berliner Köpfen der organisierten Kriminalität haben. Hier haben wir es wieder, das unangenehme Oszillieren zwischen der nicht zu leugnenden künstlerischen Gestaltung im Rap, der Verfremdung, Zuspitzung, Übertreibung, bewussten Provokation auf der einen und klaren biografischen Bezügen auf der anderen Seite. Zwischen Wirklichkeit und Fiktion. Zwischen Ernsthaftigkeit und Koketterie. Da möchte man dem einen oder anderen Künstler schon mal Scheinheiligkeit unterstellen. „Warum ist es plötzlich cool, dass man früher Koks vertickt hat und sich mit Kalibern auskennt?“, wird Bushido, dessen Leben inzwischen verfilmt wurde, in einem Beitrag von Eric Leimann für „Viva“ zitiert. „Ich empfehle das den Kids nicht, wenn ich sie persönlich treffe. Was ich mache, ist Kunst. In der Kunst ist manches überspitzt, und meine Rolle ist eben oft nur eine Rolle.’“

Bushido macht Stress – völlig ohne Grund

Und so kann sich Bushido auch in seinem umstrittenen neuen Song Stress ohne Grund erst mal prima hinter einer Rolle verstecken, die ganz bestimmt nicht seinem biografischen Ich entspricht. Denn der Sprecher in Stress ohne Grund scheint so etwas wie der Chauffeur einer erfolgreichen Geschäftsfrau zu sein, die er verachtet. Während sie in wichtigen Meetings sitzt, verbringt er die Wartezeit bis zum nächsten Fahrerjob und seine Freizeit mit halbseidenen Geschäften in ebenso halbseidener Gesellschaft. Das Ich feiert sich selbst als „Assi“ und zitiert genüsslich Frank Sinatra und Dean Martin, denen man einst eine Nähe zur Mafia nachsagte. „Peter-Pan-Syndrom, Bitch / Ich rauch Marlboro, Bitch / Du trinkst Aperol Spritz / Ich bin Fahrer, oh Bitch / (…) chill beim Geschäftsmeeting / Heartbreaker, Bartträger, steht in meinem Steckbrief / (…) / Ich bin Assi, aber dein Gesicht ist Asy- / -metrich, Bitch, du sammelst Briefmarken, ich sammel Kreditkarten / Yeah, Frank Sinatra chillt mit Dean Martin.“ Auffällig sind auch die ersten Worte des Raps, „Peter-Pan-Syndrom“. Mit diesem Begriff beschrieb der amerikanische Familientherapeut Dan Kiley „Männer, die nie erwachsen werden“ – und er dient Bushido hier offenbar als Mittel, seinen Song gleich im ersten Vers zu verharmlosen. So als wolle er sagen: „Ist doch alles nur ein Spiel, ich bin doch bloß ein dummer Junge, der nicht erwachsen werden will und sein Song-Ich noch mal ordentlich auf die Kacke hauen lässt.“

Vor diesem Hintergrund heißt es dann in Stress ohne Grund, übrigens eine Phrase, die man schon aus früheren Songs von Bushido alias Sonny Black kennt, über einen realen Rivalen, den Rapper Kay One, mit einem Seitenhieb auf den Bürgermeister von Berlin: „Halt die Fresse, fick die Presse / Kay, du Bastard bist jetzt vogelfrei / Du wirst in Berlin in deinen Arsch gefickt wie Wowereit“. Weiter geht es gegen Nordeuropäer, Spaßmoderatoren und zwei weitere führende Köpfe aus der Politik, die Grünen-Politikerin Claudia Roth und Serkan Tören, den integrationspolitischen Sprecher der FDP: „Du versteckst dich, doch ich finde dich wie Google Maps / Ich verkloppe blonde Opfer so wie Oli Pocher / Ich mach Schlagzeilen, fick deine Partei / Und ich will das Serkan Törun jetzt ins Gras beißt / Yeah, Yeah, was für Vollmacht?, du Schwuchtel wirst gefoltert / Ich schieß auf Claudia Roth, und sie kriegt Löcher wie ein Golfplatz.“

Songs sind keine Bekennerschreiben – aber ernstzunehmende Kunst hört sich anders an

Ganz klar: Songs sind keine Pressemitteilungen, keine öffentlichen Bekanntmachungen und Verlautbarungen, auch keine terroristischen Bekennerschreiben oder Bekennervideos. Songs sind mehr oder minder kunstvolle künstlerische Gebilde, angesiedelt im Bereich der Fiktion, der Bearbeitung von Erfahrungen und von Welt. Insofern gehen die erschütterten Stellungnahmen, die angesichts von Bushidos Song Stress ohne Grund von einer ernstzunehmenden Todesdrohung und vom definitiven Aufruf zum Mord sprechen, entschieden zu weit. Es wäre schön, würden Staatsanwaltschaften verstärkt mit Soziologen, mit Kunst-, Kultur- und Literaturwissenschaftlern zusammenarbeiten, um zu besonnenen Einschätzungen umstrittener „Kunstwerke“ zu gelangen. Wohin Zensur führen kann, ist hinlänglich bekannt. Nichtsdestotrotz ist Stress ohne Grund an Dumpfheit und pubertärem Schwachsinn kaum zu überbieten. Von der Verantwortung, die ein Künstler trägt für das, was er als Kunst präsentiert, ist hier keine Spur. Dass ausgerechnet einer wie Bushido, der inzwischen Familienvater, reicher Geschäftsmann und vom gesellschaftlichen Establishment hofierter Künstler ist, dazu ein Praktikum im Bundestag absolviert hat, noch einmal in die Rolle eines dumpfe Parolen schwingenden Asso-Kriminellen schlüpft, ist absolut unlustig, zudem unglaubwürdig, auch wenn an den Verbindungen zur organisierten Kriminalität etwas dran sein sollte. Ich würde sagen: im Praktikum nichts gelernt, Credibility ver-„spielt“.

Seine Rapperkollegen zu dissen, ist das eine. Aber das drastische Rap-Spiel völlig grundlos und ohne Argumente auf führende Politikerpersönlichkeiten zu übertragen, entbehrt jeder Grundlage. Will er Claudia Roth, Klaus Wowereit und Serkan Tören zur Hip-Hop-„Battle“ einladen? Dann kann er lange warten. Falscher Code. Und: Echte Sozialkritik und Diskussionsbeiträge zur Integrationspolitik sehen anders aus. Klaus Wowereit wäre gut beraten, nicht mit einer Strafanzeige zu reagieren, die doch Bushido nur noch mehr Publicity und ihm selbst weitere unliebsame Diskussionen beschert. Er sollte andere, intelligentere Mittel und Wege finden, dem Herrn Gangsterrapper aufzuzeigen, wie lächerlich seine Kunstfigur wirkt, wie unglaubwürdig er sich selbst in der eigenen Szene macht und wie künstlerisch wertlos seine Tiraden eigentlich sind.

Eine ausführlichere Fassung dieses Beitrags mit weiteren O-Tönen aus der Hip-Hop-Szene und Links zu Videos findet sich bei Faust-Kultur.

Kunstfiguren müssen nicht aufs Klo

Der Helene Fischer geht’s nicht gut. Manchmal versagt schon ihre Stimme, das werden doch nicht Anzeichen eines Burn-outs sein? Der arme Jürgen Marcus – Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben – musste gerade Insolvenz anmelden, weil die bösen Bewohner seines Hauses einfach keine Miete mehr zahlen wollten. Oder Costa Cordalis: Lässt sich regelmäßig die Falten wegspritzen und erlitt erst neulich in Chemnitz einen Schwächeanfall, natürlich auf der Bühne. Wolfgang Petry wiederum, einst schwarzgelockter Meister des Schnauzbarts, Herr der schweißgetränkten Freundschaftsringe, trägt heute kaum noch Haar im Gesicht – oh Schreck! Ein Schatten seiner selbst… und dabei eigentlich viel sympathischer als früher. Sympathischer auch als der durchgeknallte Jürgen Drews, von dessen grenzdebilen Interviews wir erst gar nicht reden wollen.

Fest steht: Die Schlagerstars von einst und heute beherrschen immer wieder und immer noch klammheimlich die Medien. Und nirgendwo sonst wird die Diskrepanz zwischen dem jahrelang gepflegten Show-Ich, den aufregenden Song-Ichs und den biografischen Ichs, die den tristen Alltag kaum zu meistern vermögen, deutlicher sichtbar als bei ihnen.

Gewissermaßen zu den Vätern dieses Konflikts gehört ein gewisser Gerd Höllerich. Dem  ehemaligen BWL-Studenten sagte man eine große Unausgeglichenheit nach, und sein überraschender Tod im Jahr 1991 war von Selbstmordgerüchten umweht. Zuvor hatte Höllerich als Schnulzensänger „Roy Black“ jahrzehntelang Frauenherzen betört. „Silke Höllerich“, so das Internetlexikon Wikipedia unter Berufung auf ein Buch der Ehefrau, „beschreibt ihren Mann als einen einerseits phasenweise sehr empathischen, liebevollen Menschen, andererseits als paranoiden, geizigen Egozentriker, der seine Frau vor anderen lächerlich machte, sie betrog, keine Beziehung zu seinem Sohn Torsten aufbauen konnte und im Alltag von seiner Familie und seinem Freundeskreis dieselbe Verehrung erwartete wie von seinem Publikum. Zeit seines Lebens soll Roy Black Probleme gehabt haben, die Gratwanderung zwischen seiner Rolle, dem Produkt ,Roy Black’, und seinem privaten Ich, Gerd Höllerich, zu bewältigen.“ Der Filmproduzent Karl Spiehs wird mit folgender Höllerich/Black-Anekdote zitiert: „Er riss gerne Witze über sich selbst, vor allem wenn er sich unglücklich fühlte. Sein Lieblingswitz: ,Wie bekommt man das Gehirn eines Schlagersängers auf Erbsengröße? – Einfach aufblasen!’“

Fischer, Marcus, Petry, Black & Co sind auf der Bühne und in der Öffentlichkeit lediglich Kunstfiguren. Diese Kunstfiguren haben keine Alltagsprobleme. Sie gehen nicht einkaufen, sie kochen nicht. Und sie müssen auch nicht aufs Klo. Genauso wenig wie Kid Rock, Willie Nelson oder Wolf Maahn. Die können sogar in TV-Serien auftreten und dort des Mordes verdächtigt werden, ohne irgendwelchen Schaden zu nehmen. Mehr dazu in „Bata, Michael, Michaela und ich – Wer spricht eigentlich im Song?“, der neuen Folge meiner Essay-Reihe „What have they done to my song?“ auf https://faustkultur.de/

Peter Doherty: Der letzte Bohèmianer

Endlich mal wieder ein Kinoereignis, das polarisiert. Die Rede ist von Confession, Sylvie Verheydes Verfilmung des 1836 erschienenen Romans Confession d’un enfant du siècle von Alfred de Musset. Der melancholische Streifen, der streckenweise an ein Musikvideo mit Offkommentar denken lässt, fiel bei den Filmfestspielen in Cannes durch und wird vor allem von der britischen Presse verrissen. Doch als leiser Kommentar zur Zeit vermag er bei feinfühligeren Kritikern durchaus zu punkten. So vergab das renommierte Fachblatt „epd Film“ satte vier von fünf Sternen und resümierte: „CONFESSION breitet seine ‚Lose-lose’-Situation so lasziv auf der Leinwand aus wie Brigitte ihre Gewänder. Er ist die melancholische Antithese zur Botschaft der Romantic Comedies mit ihrem ‚Topf trifft Deckel’-Optimismus.“

Brigitte, das ist die attraktive Witwe, in die sich der Held Octave verliebt, als er das ausschweifend zügellose Leben, das er aufgrund einer enttäuschten früheren Liebe geführt hat, hinter sich lassen will. Doch auch die neue Liebe wird zerbrechen, nicht zuletzt an der Eifersucht Octaves. Sein Scheitern begreift dieser materiell abgesicherte Zerrissene als symptomatisch für eine ganze Generation. Im Roman, so verraten Literaturwissenschaftler, verarbeitete Autor Alfred de Musset unter anderem seine leidenschaftliche Affäre mit der sozialkritisch-feministischen Schriftstellerin George Sand. Im Film wiederum lädt Regisseurin Sylvie Verheyde Handlung und Figurenkonstellation mit den Image-Konstrukten auf, die ihr illustres Hauptdarstellergespann umgeben.

Brigitte wird gespielt von Charlotte Gainsbourg, der Tochter von Chansonnier Serge Gainsbourg und Schauspielerin Jane Birkin. Gemeinsam hatten Jane und Serge einst den Skandalsong Je t’aime in die Charts gestöhnt. Tochter Charlotte wurde später bekannt mit provokanten Filmen über Inzest und Dreiecksbeziehungen, im Jahr 2009 schockten sie und ihr Kollege Willem Dafoe in Lars von Triers äußerst drastischem Drama Antichrist. Die große Überraschung in Confession aber ist der britische Songwriter Peter Doherty. Schon wenn er, der sich früher „Pete“ nannte, seinem Vornamen wieder das „R“ hinzufügt, überschlägt sich die Presse angewidert bis verzückt. Der Mittdreißiger (Jahrgang 1979) hat Stil, inspirierte viele junge Briten durch seine extravaganten Anzüge und Hüte und machte jüngst als Designer für das Pariser Kultmodelabel The Kooples Furore. Dandys wie Oscar Wilde gehören zu seinen illustren Vorbildern. Aber Doherty verschreckt auch durch die Zuschaustellung seelischer Abgründe. Da gibt es jahrelange Drogenexzesse, seltsam abwesend-fahrige Interviews und irritierende Kunstwerke, mit dem eigenen drogenverseuchten Blut gemalt. Da kursieren Geschichten über wilde WGs und Einbrüche in die Wohnung von Freunden, die an die Eklats französischer Schriftstellergenies des 19. Jahrhunderts erinnern. Doherty hat zwei uneheliche Kinder und geriet regelmäßig durch vertrackte On-and-off-Affären in die Schlagzeilen, unter anderem mit Supermodel Kate Moss und – wie noch gar nicht allzu lang bekannt ist – mit der 2011 an einer Alkoholvergiftung gestorbenen Sängerin Amy Winehouse.

Dieser Typus des genialisch-kaputten Rockstars, der sich als Libertin und Teil einer Bohème inszeniert, ausschweifend lebt und dabei gern mal Arthur Rimbaud oder Paul Verlaine zitiert, galt eigentlich als ausgestorben, erst recht in Zeiten der Globalisierung und der konsequent durchgeplanten Markenstrategien, auch im Musikgeschäft. Seine „besten Jahre“ hatte diese merkwürdige Spezies in den 1960ern mit Jagger/Richards, Faithfull, Morrison, Hendrix & Co. Sid Vicious, Tom Verlaine & Richard Hell oder auch Patti Smith sorgten 20 Jahre später für eine Wiederbelebung unter veränderten Vorzeichen. Hip-Hop, Britpop, Dance und Techno verwischten die Spuren fast vollends, bis 2002 Doherty und sein annähernd exzentrischer Kumpel Carl Barât mit ihrer Band The Libertines für frischen Wind in der britischen Popszene sorgten. Die Libertines, der Name war Programm, brachten nur zwei Alben zustande, auch weil Freigeist Doherty mehr durch Verhaftungen und Entzugseskapaden als durch Teamgeist glänzte. Schrammelig und krachig, teilweise skizzenhaft klingen diese Alben und sind gleichzeitig eingängig, melodisch, mit Anleihen bei Beat, Folk- und Pubrock. Zwei weitere Alben und die EP The Blinding spielte Doherty ab 2004 mit seiner Band Babyshambles ein, und diese Arbeiten zeugen von einem deutlichen musikalischen Reifungsprozess. Was teilweise nachlässig dahingeworfen und -genölt wirkt, entpuppt sich bei mehrmaligem Hören als harmonisch raffinierter, stilistisch vielfältiger, einfach gefühlvoll. Die Babyshambles-Veröffentlichungen weisen bereits auf das 2009 erschienenen Doherty-Soloalbum Grace/Wastelands voraus, das zu Recht fast durchweg begeisterte Kritiken erhielt.

Doherty ist alles andere als ein Virtuose, aber er entlockt seiner Gitarre einen unter die Haut gehenden Sound. Dazu berührt er mit einer ebenso energischen wie zerbrechlich-zärtlichen Stimme, egal ob er den Ton trifft oder nicht. Die Texte handeln mal nostalgisch von einem idealisierten England („Albion“) und einem paradiesischen Arkadien, mal geben sie sich selbstironisch frankophil (La belle et la bete) oder zitieren spielerisch Klassiker der Dekadenzliteratur (A rebours). Meist aber sind sie schwer zugänglich, was auch ihrer Entstehung unter Drogeneinfluss geschuldet sein mag. Selten ist hier klar, wer „ich“ ist und wer „du“, es werden names gedropt und irgendwelche Begebenheiten zitiert, deren Spuren sich manchmal in veröffentlichte Tagebücher und Schreibversuche zurückverfolgen lassen. So sind es weniger ganze Songs, die im Gedächtnis haften bleiben, als herausstechende einzelne Strophen und Verse:  

Oh my words in your mouth / Are mumbled all about / You’re like a journalist / How you can cut and paste and twist / You’re awful (…) Jack drinks and smokes his cares away /
His heart is in the lonely way / Living in the ruins / Of a castle built on sand    (The Libertines, Tell It to the King)

I said you can have my love for this song go right / But don’t hold it up to the light / Oh loveless, my loveless love    (The Libertines, Anything But Love)

You and I and me and you / What became of the love we knew? / What became of the work class? / Nike, Reebok, Adidas…    (The Libertines, Hooray for the 21st Century)

Happy endings, they still don’t bore me / They, they have a way / A way to make you pay / And to make you toe the line / Though I sever my ties / Because I’m so clever / But clever ain’t wise (…) So what’s the use between death and glory? / I can’t tell between death and glory / New Labour and Tory / Purgatory and happy families    (Babyshambles, Fuck Forever)

Given up trying to explain / I’ll just put it in a song instead    (Babyshambles, Carry on Up the Morning)

Oh, you, you’ll soon be up where you belong / But it’s only blood from broken hearts that writes the words to every song    (Babyshambles, I Love You (But You’re Green))

Now tell me, if darkness comes / Then I will sing you a song / And I will love you forever / At least ‚til morning comes    (Pete Doherty, Lady, Don’t Fall Backwards)

Nur eins scheint klar: Gelingende, andauernde (Liebes-)Beziehungen gibt es in Dohertys Songs nicht. Entweder bleibt Liebe, Zusammensein ein unerfülltes Sehnen, oder die Beteiligten machen sich nach wenigen Glücksmomenten gegenseitig das Leben schwer. Wenn überhaupt, dann hat der eben zitierte Song Fuck Forever so etwas wie programmatischen Charakter: Er drückt Skepsis gegenüber dem Glück aus – verbunden mit der Befürchtung, dass man für jedes Happy End bezahlen muss. Etwas, das genauso für das Meiden von Bindungen gilt. Eine verdammte Zwickmühle. Fast schon defätistisch-nihilistisch mutet das Abstreiten jeglicher Unterschiede zwischen New Labour und den Tories, zwischen glücklichen Familien und dem Fegefeuer an.

Dieses Leiden an der Welt und am menschlichen Miteinander scheint Doherty für die Rolle des unglücklich liebenden Octave in Sylvie Verheydes Confession geradwegs zu prädestinieren. Klar, dass dieser ständig am Abgrund taumelnde Suchende auch Musik zum Film beigesteuert hat. Zum Beispiel den Song Birdcage, den er gemeinsam mit Suzi Martin singt. Das Besondere: Die Lyrics stammen aus dem Nachlass von Amy Winehouse, die hier und da etwas Bohèmehaftes versprüht haben mag, am Ende aber nur noch ein bemitleidenswertes Wrack war. In Birdcage hat sie das Thema der Amour fou auf einen weiteren schönen Zweizeiler gebracht: „We could never be together / I’m too pretty, you’re too clever.“

Einst empfahl sich David Bowie mit seiner Aura des Rockstars vom anderen Stern für Kunstfilme wie Der Mann, der vom Himmel fiel und Horrorfantasien wie Begierde. Sting kultivierte seinen exotischen Stachelpunk-Look als Über-Mod in Quadrophenia oder als Weltraumfiesling im Science-Fiction-Klassiker Dune, und der bodenständige Country-Songwriter Kris Kristofferson füllte als sensibler Tough Guy verschiedenste Charakterrollen aus, zum Beispiel im Westernepos Heaven’s Gate. Kristofferson, Sting oder Bowie mögen die besseren Schauspieler sein, aber auch Dohertys bohèmegefärbter Popstar-Imagetransfer wird genügend Fans ins Kino locken – allen Kritikern zum Trotz, die den Songwriter als dramatisch untalentierten Darsteller brandmarken und mit seinem Aus-der-Zeit-gefallen-Sein nichts anfangen können.

Ja, ja, womöglich sollte man von Peter Doherty keinen Gerauchtwagen kaufen. Auch hat manches von dem, was er tut, etwas Naives, Kokettes, und die Bedeutung seines Beitrags für die Rockmusik ist längst nicht endgültig geklärt. Aber: Mit seinem unkonventionellen Lebenswandel, seinen eigenwilligen Songs und seinen unberechenbaren künstlerischen Moves steht dieser Unvollendete auf spannende Weise im Widerspruch zur vermeintlichen heilen Welt vieler Stars und Sternchen. Er liegt quer zu den gnadenlos durchstrukturierten Powerkarrieren von Rihanna & Co und zu seelenlos-businessorientierten Castingshow-Formaten, von bürgerlichen Normen ganz zu schweigen. Ein gefallener Engel kurz bevor der Himmel einzustürzen droht. Vielleicht sagen das Phänomen Pete Doherty und der Film Confession ja doch etwas über unsere aus den Fugen geratene Zeit. Schaut man sich im Videoclip an, wie selbstgefällig-süffisant und kulturbeflissen arrogant drei saturierte Filmkritiker des britischen „Guardian“ über Confession und vor allem über Peter Doherty herziehen, dann kann man ein wenig nachvollziehen, an welchen gesellschaftlichen Strukturen dieser letzte Bohèmianer unter anderem leidet.

Link zur „Guardian“-Videokritik: http://www.guardian.co.uk/film/video/2012/dec/07/confession-of-a-child-of-the-century-video-review

Kinostart Confession: 20. Juni

 

 

Bei meiner Seele – warum muss nun auch noch Xavier Naidoo den Ärzte-Song „Junge“ covern?

Herrgott noch mal, was ist bloß in Xavier Naidoo gefahren? Hat sich neulich erst mit Kool Savas und dem völlig verunglückten Kindermörderrächersong Song Wo sind sie? fast ins Abseits gesungen – und unterzieht nun auf seinem neuen Album, das den salbungsvollen Titel Bei meiner Seele trägt, ausgerechnet den Ärzte-Song Junge einer unpassend weinerlichen Coverversion. Dabei ist es gerade mal ein Vierteljahr her, dass Heino das größtmögliche Überraschungsmoment und den ultimativen Unverschämtheitsbonus aus diesem Stück herausgeholt hat.

Zur Erinnerung: Junge nimmt spöttisch die Perspektive verständnisloser Eltern ein, die nicht verstehen können, warum ihr Sohn lieber abgerissene Klamotten trägt, laut Musik macht und mit Gleichgesinnten abhängt, anstatt sich fleißig um den Aufbau einer bürgerlichen Existenz zu bemühen: „Guck dir den Dieter an, der hat sogar ein Auto!“ – „Es ist noch nicht zu spät, dich an der Uni einzuschreiben!“ – „Und wie du wieder aussiehst, Löcher in der Nase und ständig dieser Lärm!“ Den Eltern im Song ist es nicht nur wichtig, die Fassade aufrechtzuerhalten („Was soll’n die Nachbarn sagen?“), sie versuchen auch, ihren Jungen emotional zu erpressen: „Willst du, dass wir sterben?“ Eine Einstellung, der vor allem der punkrockige Refrain den Mittelfinger zeigt.

Nun kann man von Heino halten, was man will, aber mit seiner Coverversion von Junge landete der biedere Volksmusikbarde einen echten Coup. Inbrünstig, selbstbewusst, in staatstragender Hoch auf dem gelben Wagen-Manier schmetterte Heino den Song, als wolle er sagen: Euch werd ich’s zeigen, ihr Rotzlöffel! Und wisst ihr was? Die Eltern im Song haben verdammt noch mal recht! „Junge, brich deiner Mutter nicht das Herz!“, das klang so unverschämt anrührend nach Freddy Quinn, dass die Ärzte zumindest einen Moment lang wie kleine dumme Jungs dastanden. Den Song einfach mal frech gegen seine respektlosen Urheber gewendet – da fiel selbst coolsten Musikern und abgebrühtesten Szenejournalisten die Kinnlade runter.

Doch was macht nun Herr Naidoo? Trägt Junge vor, als wolle er das „Wort zum Sonntag“ sprechen. Ersetzt lärmenden Punk und feisten Schlager-Sound durch unpassend nachdenkliche Soulgrooves. Übertüncht jegliche Ironie mit möglichst „einfühlsamem“ mehrstimmigem Schöngesang. Wirft sämtliches Einfühlungsvermögen über Bord und stülpt dem fremden Streich ein wenig selbstverliebt die Marke „Xavier Naidoo auf Sinnsuche“ über. Kurz: Gewinnt dem Original nicht etwa eine unerwartete neue Facette ab, sondern intoniert und arrangiert komplett am Text vorbei. Vielleicht wollte Naidoo den Song, nachdem Heino ihn gewissermaßen geraubt und entweiht hatte, einfach in die Welt des Pop zurückholen. Das wäre aber auch das Einzige, was für diese Coverversion spräche. Ansonsten ist sie einfach überflüssig.