Kein Sex-Appeal: „Inside Llewyn Davis“, der neue Film der Coen-Brüder

Er singt gut, spielt souverän Gitarre und ist mit Leib und Seele dabei. Er ist cool, hat mit dem Establishment nichts am Hut und trampt ohne festen Wohnsitz durchs Leben. Ein echter Künstler eben, ein Hobo und Bohemien. Nach dem Selbstmord seines Duopartners versucht Llewyn Davis (Oscar Isaac), aus der damals noch kleinen, kaum bekannten New Yorker Folkszene heraus eine Solokarriere zu starten. Doch leider fehlt dem von sich selbst so überzeugten jungen Barden einiges: das Gespür für die richtigen, zielführenden Connections etwa oder auch der Draht zum Publikum und ein gewisser Sex-Appeal – Qualitäten, mit denen eher die befreundeten Folkies Jim und Jean (Justin Timberlake, Carey Mulligan) gesegnet sind. Hinzu kommt, dass Llewyn Davis völlig orientierungs- und verantwortungslos ist. Er kennt nur sich und seine Musik. Mit all den flüchtigen Beziehungen, aus denen auch mal Schwangerschaften resultieren, und verschiedenen Joboptionen weiß er einfach nichts anzufangen. Bietet sich mal die kleine Chance, etwas zu erreichen oder auch nur geradezubiegen, läuft er Gefahr, diese Chance zu versauen.

Llewyn Davis ist ein Mensch, der an den widrigen Umständen, vor allem aber an sich selbst scheitert. Darin ist er ein typischer Coen-Brüder-„Antiheld“ – so wie Inside Llewyn Davis ein typischer Coen-Brothers-Film geworden ist. Schräge Typen und feine Ironie, lakonischer Witz, John Goodman und ein Sinn für absurde Situationen – es ist alles da, was man von Ethan und Noel Coen erwartet, auch wenn die beiden diesmal fast schon Jarmusch-/Kaurismäki-haft minimalistisch vorgehen. Ein Verliererporträt aus den Anfangstagen der Popindustrie, eine Hommage an all diejenigen, die es als Künstler nicht geschafft haben, das ist in Zeiten einer von Superstars und Castingshows, von Einschaltquoten, Klickraten und Umsatzzahlen geprägten globalisierten Unterhaltungsbranche eine feine Geste. Dass man ausgerechnet Teen-Idol und R&B-Superstar Justin Timberlake in die Rolle eines aalglatten Folk-Saubermanns steckt und dass eine Katze, die für all die verpassten oder selbst kaputt gemachten Chancen stehen mag, den teils zynischen Running Gag des Films bestreitet, gehört zu den skurrilen Einfällen, die sich die Coens eigentlich in jedem ihrer Filme leisten und für die man sie so liebt.

Schade nur, dass das begnadete Regiegespann seine erfundene Geschichte diesmal in einer ganz bestimmten Zeit und einem ganz bestimmten engen kulturellen Kontext verankert hat. Das weckt natürlich Erwartungen, gerade bei Musikliebhabern und -historikern. Und hier enttäuscht der Film auf ganzer Linie. Ein paar Liveszenen aus dem nachempfundenen berühmten „Gaslight“-Café, die Klamotten von damals, ein paar winterliche New Yorker Straßenzüge, die an das Plattencover von The Freewheelin’ Bob Dylan erinnern, und ein Auftritt von F. Murray Abraham als Managerguru Grossman reichen nicht, um hier echte Sixties-Szeneatmosphäre heraufzubeschwören. Ein Gefühl von „Ja, so könnte es damals gewesen sein“ stellt sich beim Anschauen des Films nicht ein, das Ganze wirkt trist und unterkühlt, fast schon emotionslos und eher holzschnittartig zusammengestellt. Der Jazz und die Beat-Poesie waren weitere künstlerische Strömungen, die die damalige Zeit oder zumindestens den kulturellen Underground bestimmten, ebenso Blues, Rockabilly und Rock ’n’ Roll. Blues, Rockabilly und Rock ’n’ Roll aber kommen in Inside Llewyn Davis überhaupt nicht vor, und Jazz und Beat-Poesie begegnen dem Helden wie dem Zuschauer lediglich als Klischees – auf einer Jack Kerouacs On the Road zitierenden bizarren Autofahrt von New York nach Chicago. John Goodman spielt da den exzentrischen Jazzmusiker Roland Turner, der sich symbolträchtig von einem – ho, ho – alles andere als eloquenten Beatdichter namens Johnny Five (Garrett Hedlund) chauffieren lässt und seine ganze Verachtung für das substanzlose Folkgenre artikuliert. Natürlich ist das witzig, Lacher sind garantiert, aber mit Blick auf die Zeitgeschichte handelt es sich letztlich um nicht mehr als billige Parodien. So wie auch Llewyn Davis am langen Ende eher peinlich wirkt und nur noch Kopfschütteln hervorruft.

Wirklich eintauchen in die Welt von damals wollen die Coen-Brüder nicht, und echtes Mitgefühl für ihren Protagonisten haben sie auch nicht. Dass gegen Ende des Films der damals noch unbekannte Bob Dylan lediglich im Bildhintergrund(!) die Bühne betritt und dann quasi aus dem Off vor sich hinnölt, ist zwar ein weiterer netter Gag, deutet aber auch an, was für ein spannendes Werk Inside Llewyn Davis hätte werden können, wenn sich die Coens ernsthaft mit der damaligen Szene auseinandergesetzt hätten. Es hätte ja gar keine moralinsauere Tragödie, sondern durchaus ein echter Coen-Brothers-Film werden können – so wie ihr atmosphärischer Streifen O Brother, Where Art Thou aus dem Jahr 2000, der gekonnt das Artifizielle mit echtem Zeitkolorit und wahrer Liebe zur Musik verbindet. Oder wie Woody Allens furiose fiktive Musikerbiografie Sweet and Lowdown, in der Sean Penn einen an Django Reinhardt angelehnten Gitarristen gibt. So bleibt Inside Llewyn Davis eine routinierte Fingerübung, ein kleines zynisches Kammerspiel – ein großer Coen-Brothers-Film ist es nicht. Es fehlen der Draht zum Publikum und ein gewisser Sex-Appeal. Der Soundtrack allerdings ist ganz ok.      

Me, Myself & I

Demenz ist ein großes Thema. Und dafür gibt es triftige Gründe: Die gesellschaftliche Entwicklung und der medizinische Fortschritt sorgen dafür, dass immer mehr Menschen immer älter werden. Doch mit zunehmendem Alter häufen sich Kranheiten, die in dieser Art und in diesem Ausmaß bisher nicht allzu relevant waren. Da sagen sich immer mehr immer älter werdende Menschen und immer mehr Mittvierziger, die zum ersten Mal eine Gedächtnislücke hatten: Holzhirn, sei wachsam! Gleichzeitig hat Demenz etwas zutiefst Verstörendes: Ein Hüftgelenk kann man ersetzen, ein Organ operieren – doch Alzheimer und andere Formen von Demenz markieren einen unaufhaltsamen Angriff auf die geistige Verfassung. Es geht um nichts weniger als die mögliche Auflösung der Persönlichkeit. Das weckt existenzielle Ängste.

Kein Wunder, dass Demenz längst auch Thema von Songs ist. Doch die Beispiele, die man im Internet findet, sind meist simpel gestrickt. Sie nehmen entweder die Perspektive eines erkrankten Menschen oder die Perspektive einer fassungslosen nahestehenden Person ein, das bietet sich an. Aber meist bleiben sie auf das bloße Beschreiben von Symptomen beschränkt: Da geht es um zunehmende Vergesslichkeit, ein immer höheres Maß an Verwirrtheit, der Tenor ist Betroffenheit. Umso spannender ist ein wunderschöner Song, den die Schottin Amy MacDonald 2012 zum Thema beigesteuert hat. Er heißt Left That Body Long Ago und ist in einschlägigen Internetvideoportalen leider nur als Audiodatei mit Lyrics-Anzeige oder Diashow zu finden. Den Pressemitteilungen nach ist Left That Body Long Ago inspiriert von der an Alzheimer erkrankten Großmutter der Sängerin. Auf jeden Fall erweist sich das Song-Ich schnell als demenzkranke Frau, die versucht, zu ihren Angehörigen zu sprechen. „Ich kann mich nicht mehr an meinen Namen erinnern, und ich weiß nicht, wer ihr seid, ich bin nicht mehr die Person, die ihr seht“, heißt es da übersetzt, „Ich weiß nicht, warum ihr eure Mutter, eure Ehefrau verloren habt, aber da ist mehr, als ihr seht, dies ist nicht das Ende, ich habe einfach nur diesen Körper schon lange verlassen. Jetzt bin ich frei, und ich bin glücklich, das wollte ich euch wissen lassen.“

Was ich bemerkenswert finde: Der Song geht über das betroffene und letztlich verständnislose Beschreiben von Demenzsymptomen hinaus. Auch wenn die Vorstellung eines Ichs, das den Körper verlassen hat, etwas esoterisch anmuten mag, ist da doch der Gedanke an eine starke Persönlichkeit: an ein Subjekt, das sich lediglich auf dem Rückzug befindet. Wo genau dieses Subjekt sitzt und wie es beschaffen ist, das kann und will der Song nicht erklären. Aber er beharrt auf der Existenz eines Ichs. Und dieses Ich äußert sich kraftvoll, intensiv, nutzt die Sprache für eine ergreifende Botschaft an die Angehörigen.

Bleibt das Ich im Demenzfall unangetastet, oder löst es sich allmählich auf? Gibt es überhaupt so etwas wie ein Ich, oder handelt es sich dabei um eine sprachliche Illusion? Wie entsteht Persönlichkeit“? Und was bedeuten solche Fragen für die Kategorie des „Autors“? Fiese Fragen, die ans Eingemachte gehen. Gedanken dazu im neuen Beitrag meiner Reihe „What have they done to my song?“ auf Faustkultur: http://faustkultur.de/1527-0-Behrendt-What-have-they-done-to-my-Song-IX.html

 

 

Meine Mutter lernte mich zu sagen…

Neulich ging es an dieser Stelle um die Unfähigkeit, sprachlich korrekt zu texten. Diese Unfähigkeit ist natürlich dann am offenkundigsten, wenn man sich in einer anderen als der Muttersprache versucht. Das fiel mir kürzlich wieder auf, als ich im Radio die guten alten Lords aus Berlin hörte, in den 1960er Jahren eine der erfolgreichsten deutschen Antworten auf die Beatles. Die Lords coverten damals viele britische Originalhits, versuchten sich aber immer wieder auch an Eigenkompositionen. Dabei gingen sie musikalisch gar nicht mal schlecht zu Werke, bewiesen ein feines Gefühl für beattypische Riffs, Akkordwechsel und Melodien. Aber was sie textlich ablieferten, war oft nur aus Versatzstücken zusammengestoppelt, und das nicht selten in fehlerhaftem Englisch.

Ein einschlägiges Beispiel ist ihr Hit Poor Boy aus dem Jahr 1965. Die erste Strophe und der Refrain des Songs lauten tatsächlich: „When I was born, you know / I couldn’t speak and go / My mother worked each day / And she learned me to say / Mother and father and son, / Sister and uncle have fun / And she learned me to say / Life is so hard each day // Poor boy, you must know / Poor boy the life is hard to go / Poor boy, poor boy, you might say / Life is very hard to stay.“

Das ist natürlich ein wunderbarer Schmunzeltext. Denn die Phrase „She learned me to say“, die eine Mutter an ihren Sohn richtet, ist wunderbares Denglisch, übersetzt heißt sie: „Sie lernte mich zu sagen“, wo doch „Sie lehrte mich zu sagen“, englisch: „She taught me to say“, korrekt gewesen wäre. „The life is hard to go“ ist eine weitere herrlich verhunzte Phrase, zum einen weil hier „life“ fälschlicherweise mit dem Artikel „the“ versehen ist, zum anderen weil „life is hard to go“ kaum Sinn ergibt. Vielleicht ging es darum, dass der Weg des Lebens nicht leicht zu gehen ist, aber das hätte man auch so oder ähnlich ausdrücken können. „Armer Junge, das Leben ist hart“, scheinen uns die Lords im Großen und Ganzen vermitteln zu wollen, doch verstellen sie diese Aussage zusätzlich durch banalste Feststellungen wie: „Als ich geboren wurde, konnte ich weder sprechen noch gehen“ (in den englischsprachigen Lyrics „I couldn’t speak and go“, wo „talk or walk“ angebrachter gewesen wäre) und groteske Einschübe à la: „Mutter, Vater, Sohn, Schwester und Onkel haben Spaß.“

Ja, das Leben ist hart zu bleiben – dieser sinnfreie Schlusssatz setzt dem textlich sowieso schon verhunzten Refrain noch die Krone auf. Angesichts solcher sprachlicher Klöpse wundert man sich nicht, wenn man bei Wikipedia liest, dass Klaus-Peter „Lord Leo“ Lietz den Song in gerade mal drei Stunden zusammengefrickelt haben soll.

Allerdings lässt sich über den unfreiwilligen Unterhaltungswert hinaus auch eine Erkenntnis aus solchen sprachlichen Irritationen, Unsauberkeiten und Ungereimtheiten in Songtexten mitnehmen: nämlich dass Lyrics nicht etwa unmittelbarer Ausdruck der Gefühle einer Autorin oder eines Autors, sondern etwas Künstliches, Konstruiertes sind. Wie im Kino, wenn der Ton zu leise, das Bild unscharf ist oder der Filmstreifen reißt, wird auch in Lyrics durch grobe sprachliche Unregelmäßigkeiten die Illusion gestört. Man wird aus der Gedanken- und Gefühlswelt, in die man gerade eingetaucht war, mehr oder minder unsanft herausgerissen. Und das sagt gleichzeitig etwas über das Verhältnis zwischen dem Song-Ich und dem biografischen Ich der Autorin oder des Autors aus. Natürlich kann es eine große Nähe zwischen beiden Polen geben, aber die künstlerische Überformung mit all ihren Verfremdungseffekten und Fallstricken sorgt auch für eine grundsätzliche Distanz.

Dass es hin und wieder selbst in deutschsprachigen Lyrics deutscher Songwriter knirscht und wie andererseits sprachliche Ungereimtheiten ganz gezielt sinnstiftend eingesetzt werden können, erörtere ich ausführlicher in meinem aktuellen Beitrag für die Reihe „Pop-Splitter“ auf Faust-Kultur.

LouLou-Maschinen-Musik: Lou Reed und der Warhol-Faktor

„Hast du was zu Lou Reed?“, fragt Faust-Kultur, „hier müssen wir uns was einfallen lassen.“ Auch wenn sich Faust-Kultur nicht unbedingt als Nachrufplattform versteht: Bei Lou Reed läuten sofort die Pflichtglocken. Da muss was geschrieben werden. War eben ein ganz Großer. Und ein Wichtiger. Das Problem: In den wenigen Tagen seit Reeds Tod am 27. Oktober sind schon so viele alles sagende Nachrufe erschienen, dass ein weiterer Nachruf fast schon peinlich wirken würde: Schwere Kindheit mit Elektroschockerfahrungen, frühe Begeisterung für Doo-Wop-Musik und Literaturstudium bei dem Schriftsteller Delmore Schwartz; musikalische Anfänge als Auftragssongschreiber, wegweisende Platten mit The Velvet Underground im Umfeld von Pop-Art-Papst Andy Warhol, darunter die berühmte mit der „schälbaren“ Banane auf dem Cover; die thematischen Vorliebe für Stricher, Drogensüchtige und Freaks, das Spiel mit androgynen, schwulen Images, gipfelnd in Glam-Rock mit David Bowie; die unhörbare Feedback-Orgie Metal Machine Music – heute bei „Wire“ eine der „100 Records That Set The World On Fire (While No One Was Listening)“; düstere Alben über New York und Berlin, Ehe mit der Performance-Künstlerin Laurie Anderson, dazu seltsame künstlerische Projekte und Kollaborationen wie die mit Theaterguru Robert Wilson (Vertonung von Edgar-Allen-Poe-Gedichten und das Musical „Time Rocker“) oder die mit der Band Metallica (CD „Lulu“ nach Frank Wedekind, die nachträgliche Aufnahme der Musik zu einer weiteren Robert-Wilson-Inszenierung) – all das ist gut abgehangener Stoff der Rock- und Popgeschichte, immer wieder blumig aufbereitet und stets ergänzt durch den Hinweis, was für ein Arschloch Lou Reed doch sein konnte, nicht nur gegenüber Vertretern des Establishments, sondern auch gegenüber Fans und vor allem gegenüber Musikjournalisten.

Lou Reed „war wahrscheinlich nicht der sympathischste Rockmusiker, dafür aber einer der größten und dazu geistig kühnsten unserer Zeit“ („FAZ“), ein „muffiger Existenzialist“, ein „Grantler und Griesgram in fröhlichen Zeiten“ („Rolling Stone“), der „Avantrock-König“ (Amazon), ein „teuflischer Rock-Poet“, sein Werk „ein großes, dunkles Geheimnis“ (Die Welt“), die Essenz einer „großen Poesie der schlechten Laune“ („Süddeutsche Zeitung“). Ich möchte hier ganz bestimmt keinen Nachruf abliefern, aber ergänzen: Lou Reed war ein Antistar – eine Berühmtheit, die es immer wieder prächtig verstand, es sich mit allen zu verscherzen, eine garstige Ikone, die nicht auf den größtmöglichen Umsatz, sondern auf die größtmögliche Irritation abzielte. Auf einen gefälligen Hit folgte schwer Verdauliches, auf hintergründige Interviewfragen folgten bewusst nichtssagende Antworten, und wo man prominente Duettpartner für Songs mit Top-Ten-Garantie hätte gewinnen können, wurde lieber eine Kopfschütteln verursachende interdisziplinäre Kunst-Kollaboration gewählt. Reed-Arbeiten waren nie nur Rock, sondern Rock war bei ihm stets eine Ausdrucksform unter mehreren, Teil eines größeren Ganzen. Das zeigte sich bereits in den 1960er Jahren bei Andy Warhols verstörenden Multimedia-Shows unter dem Motto „The Exploding Plastic Inevitable“, in die die Auftritte von The Velvet Underground integriert waren. Lou Reed war ein Meister des ambivalenten Songwritings – bei vielen seiner Stücke weiß man nicht, ob sie etwas Abgründiges als tragisch beweinen oder etwas Tragisches als abgründig idealisieren, ob sie wirklich zärtlich sind oder unterschwellig zynisch, ernst gemeint oder getragen von bitterer Ironie. In Venus in Furs, Take A Walk on the Wild Side oder Perfect Day kann man noch heute vieles Unterschiedliches hineininterpretieren, ohne wirklich falsch zu liegen. Ein Rockkonventionen unterlaufender Vortragsstil, das ständige Changieren zwischen Singsang, Rezitation und Brabbeln, hält dabei das Publikum auf Distanz.

Und: Lou Reed scheint mir bis zum Schluss nie ganz von der Pop Art Warhol’scher Prägung losgekommen zu sein. Andy Warhol, der den Satz „Ich will eine Maschine sein“ formulierte, um das Künstliche der Kunst hervorzuheben, sie von der Abstraktion und all dem „Innerlichkeitskram“ zu befreien; Andy Warhol, der im Zeitalter der Massenmedien erkannte, dass praktisch jeder Mensch seine „15 Minuten Ruhm“ erlangen kann, wenn er nur an die Öffentlichkeit geht und sich zum Star erklärt; Andy Warhol, der mit seinen Siebdruckwerken das Verständnis von einem „Originalkunstwerk“ entwertete oder zumindest veränderte; und Andy Warhol, der mit seinen provokante „Unbewegte Kamera“-Streifen das Medium Film und seine Ausdrucksmöglichkeiten bewusst unterlief. Multimediale Variationen der reinen Oberfläche. So klingt in Lou Reeds Feedback-Album Metal Machine Music nicht nur Warhols Ausspruch „Ich will eine Maschine sein“ wider – die vier viertelstündigen Tracks wirken auch wie akustische Entsprechungen zu den Warhol-Filmen Sleep und Empire, die stundenlang einen schlafenden Mann bzw. das Empire State Building zeigen und höchstens durch einen Schnitt, eine kleine Bewegung oder wechselnde Lichtverhältnisse für so etwas wie Spannung sorgen: Analog präsentiert Reed langgezogene Gitarrenfeedbacks, quasi eingefrorene Rockmomente, die sämtliche Ausdrucksmöglichkeiten des Rock-Songwritings unterlaufen und ihre Dramaturgie, wenn es überhaupt eine gibt, einzig aus dem Oszillieren des Sounds entwickeln. Weder die Filme noch die LP muss, geschweige denn kann man durchgängig goutieren, sie müssen aber als Beleg existieren und archiviert sein.

In Lou Reeds Konzentration auf das Abgründige klingen wiederum Warhols Siebdrucke nach, die mit Variationen des Immergleichen arbeiteten und deren irritierende Motive nicht nur Konsumgüter und Glamour-Stars, sondern auch Autounfälle und elektrische Stühle beinhalteten. Auch Reed produzierte gewissermaßen Stricher-, Drogen-, Transsexuellen-Dramen in Serie, und was für Berlin (1973) galt, ließ sich auch für New York (Coney Island Baby, 1975; New York, 1989; Hudson River Wind Meditations, 2007) wiederholen, wobei die „Windmeditationen“ den Metal Machine Music-Ansatz um den etwas neueren Ambient-Music-Gedanken erweitern. Dass Lou Reed sich selbst als Star inszenierte, ist ebenso unbestritten wie sein ständiges Bemühen, diese Starrolle, die Mechanismen des Startums und die Gesetze der Medienwelt zu unterlaufen. An die Stelle des „Stars“ trat dann bei ihm zunehmend das „Ego“, dass er gnadenlos in den Vordergrund rückte. „Ich bin Künstler, und das heißt, dass ich so egoistisch sein kann, wie ich will“, wird er auf SPIEGEL Online noch einmal zitiert. Mehrmals behauptete Reed, seine Alben ergäben zusammengenommen den „Großen amerikanischen Roman“. Das wirkt einerseits wie eine tragische Selbstüberschätzung – andererseits ist es eine weitere Entsprechung zum Warhol’schen Ansatz, ein paar schillernde Nobodys aus seiner „Factory“ kurzerhand zu „Superstars“ zu erklären. Und es würde mich nicht wundern, wenn einmal eine Tagebuchnotiz offenbarte, Reed habe das Lulu-Album mit Metallica nur deshalb gemacht, weil der Titel wie sein seriell gedoppelter Vorname, sein potenziertes Ego klingt und der Bandname Metallica noch mal hübsch an sein verkanntes Frühwerk Metal Machine Music erinnert.

Natürlich hat Lou Reed einige tolle, bewegende, interessante Songs in die Welt gesetzt. Doch bei allen Feinheiten dieses Songwritings kann man boshaft in den Raum stellen, dass andere seiner Produktionen unfertig, unverständlich daherkamen und manche seiner Arbeiten für eine überkommene Kunst im alten Warhol’schen Sinne stehen, die sich immer wieder selbst reproduziert. Das Künstler-Ego scheint nur ab und zu etwas nachlegen zu müssen – das wird zwar den meisten Menschen überhaupt nicht gefallen, andererseits findet sich immer ein beflissener Fan oder Kritiker, der dem aktuellen Erguss einen Hauch von Genialität bescheinigt. Ein bisschen Rock, ein bisschen Pop-Art und Konzeptkunst, gewürzt mit einer Prise Publikumsbeschimpfung, dazu das Changieren zwischen Tiefgang und Herumwerkeln an der Oberfläche: ein interessanter Ansatz, der deutlich über das, was Durchschnittsrocker machen, hinausgeht – der aber nicht wirklich rund oder konsequent wirkt und auch vor zehn, zwanzig Jahren schon Schnee von vorgestern war. Als kreativer Eigenbrötler und Egomane, der immer wieder auch Kunst ablieferte, die man weder goutieren konnte noch musste, wirkte Reed schon länger aus der Zeit gefallen und, seien wir ehrlich, nicht nur anstrengend, sondern auch ein bisschen langweilig.

Dieser Beitrag und weitere Texte zum Thema „Songs“ auf http://faustkultur.de/ unter „Pop-Splitter“ und „What have they done to my song?“ 

 

Die Black-Music-Wundertüte: Janelle Monáe und ihr neues Album „The Electric Lady“

Nein, mit Electric Ladyland, dem Doppel-LP-Klassiker von Jimi Hendrix, hat The Electric Lady nichts zu tun. Und doch schafft es Janelle Monáe auf ihrem neuen Album mühelos, musikalische Bezüge zum berühmtesten schwarzen Gitarristen der Rockgeschichte herzustellen. Wenn in gefühlvolle R&B-Balladen plötzlich psychedelische Gitarrensoli einbrechen, dann klingt nicht nur Hendrix an, sondern auch Purple Rain, der 80er-Jahre-Schmachtfetzen des Black-Music-Erneuerers und Hendrix-Epigonen Prince. Dieser Prince wiederum, der sich als Künstler heute rarer und rarer macht, gehört nicht nur zu den Förderern von Janelle Monáe, sondern hat auf The Electric Lady auch einen Gastauftritt, im dramatisch-lasziv vorwärtsgroovenden Givin Them What They Love.

Zwischen Hendrix und Prince liegen 20 aufregende R&B- und Soul-Jahre, die neben Girl-Group-Pop von den Supremes und schweißtreibendem Bläser-Soul à la James Brown auch introspektives R&B-Singer-Songwriting der Marken Marvin Gaye und Stevie Wonder, den knarzenden Space-Funk von George Clinton und Funkadelic mit seiner „Move your ass and your mind will follow“-Philosophie, leichtgängigen Philly-Sound und schwüle Barry-White-Grooves hervorgebracht haben. Nach Prince wiederum, in den 1990er und 2000er Jahren, setzten Hip-Hopper wie A Tribe Called Quest, Jazz-Hopper wie Warren G oder High-Energy-Soulpopper wie Outkast neue Akzente im Black-Music-Sektor, mit teils abgedrehten, teils selbstvergessen groovenden Acts wie Erykah Badu oder D’Angelo etablierte sich das Etikett Neo-Soul. Und wie schon auf dem Vorgängeralbum The Archandroid gelingt es Janelle Monáe auch auf The Electric Lady, all diese Einflüsse zu verbinden, ohne dass irgendwelche Brüche vernehmbar wären. Dass dann auch noch eine Prise Sixties-James-Bond-Soundtrack und eine gehörige Portion Latin Grooves dazukommen, sorgt nicht etwa für endgültige Verwirrung, sondern macht – in Verbindung mit einer fantastischen Produktion und wunderbaren produktionstechnischen Gimmicks – dieses Popalbum nur noch aufregender.

Dabei wirkt vieles auf The Electric Lady im ersten Moment leichtgängig, vertraut, manchmal fast schon belanglos. Doch wenn man die Songs in voller Länge und das Album als Ganzes hört, entdeckt man die vielen überraschenden, ungewohnten Akkordwechsel – stellt man fest, wie Stücke plötzlich eine völlig andere Wendung nehmen, wie sie Klassiker anreißen und zitieren, ins Jazzige hinübergleiten, sich in Sphärenklängen auflösen oder völlig neu zusammensetzen. Auch stimmlich zieht Janelle Monáe alle Register, vom mädchenhaften Trällern über erwachsenes Croonen und beseelten Gospel-Gesang bis hin zum scharfen Rap hat sie die entscheidenden Vocal Moves drauf, und wo vielleicht noch ein Akzent fehlt, helfen Gastinterpreten wie Miguel und Solange Knowles, die kleine Schwester von Beyoncé, gerne aus.

Der gute Groove, die spannenden Vibes, die kompositorischen Finessen sind natürlich das, was den Musikliebhaber am meisten interessiert. Aber es gibt drei weitere Pluspunkte, die Janelle Monáe aus dem Gros der heutigen R&B-Künstlerinnen herausheben: das abgefahrene textliche Konzept ihrer Songs, ihr souveränes Styling und ihre tänzerische Klasse. The Electric Lady knüpft als weiteres Konzeptalbum an The Archandroid an und erzählt von einer nahen Zukunft, in der neben Menschen auch Androiden auf der Erde leben. Letztere haben die Fähigkeit, Emotionen zu adaptieren, doch sind ihnen Liebesbeziehungen zu Menschen strengstens verboten. Die Geheimorganisation The Great Divide wacht über die Einhaltung der Gesetze und wendet dabei auch Mittel wie Zeitreisen an. Eines Tages aber, so ein Mythos in diesem Universum, soll der Erzandroid kommen und die Welt befreien. Cindi Mayweather ist dieser Android, und ihm sind diverse Song-Ichs zuzuordnen. Das Ganze ist allerdings so lose und unaufdringlich konstruiert, dass viele Stücke auch als kleine R&B-Perlen für sich stehen können. Sie erzählen von großen Gefühlen, prangern aber auch soziale Missstände an, thematisieren die Gleichberechtigung der Frau oder zeugen von einer liberalen Haltung gegenüber gleichgeschlechtlicher Liebe. Etwa im Song Q.U.E.E.N., der mit eckigen Riffs und dem Slogan „The booty dont lie“ (sinngemäß: „Ein tanzender Hintern lügt nicht“) alte Funkadelic-Zeiten heraufbeschwört und Neo-Soul-Queen Erykah Badu als Gastvokalistin ein paar zusätzliche politische Statements abfeuern lässt. Die gelegentlich in die Lyrics eingestreuten Roboter- und Zeitreise-Metaphern lassen sich dabei auch ohne den narrativen Hintergrund als einfach überdrehte lyrische Bilder verstehen.

Passend zu diesem eigenwilligen inhaltlichen Ansatz verzichtet Janelle Monáe auf anbiedernde sexy Outfits. Stattdessen kleidet sie sich in strikt schwarz-weiß gehaltene Kombinationen, die mitunter – auch das sehr passend zum musikalischen Konzept – an die „Cotton Club“-Ära der 1920er und 1930er Jahre erinnern. Und wo sich andere weibliche R&B-Stars an grotesken Girl-Group-Moves, absurden Aerobic-Choreographien und – „Sex sells!“ – peinlichen aufreizenden Tabkedance-Posen versuchen, zeigt Janelle Monáe auf verdammt coole Art und Weise, wie zeitgemäße Tanzvideos auszusehen haben. Bestes Beispiel ist das Video zum schweißtreibenden Song Tightrope aus dem letzten Album, das in seiner Intensität an die wilden Swingsequenzen aus dem Filmklassiker Hellzapoppin (1941) erinnert.

Obwohl sie neben Prince auch von Hip-Hop-Guru P Diddy oder den Outkast-Jungs unterstützt wird und obwohl sie Grammy-Nominierungen vorweisen kann, ist Janelle Monáe bei uns noch relativ unbekannt. Was wirklich schade ist, denn auch mit ihrer neuen Platte hat sie ein verführerisches Popjuwel geschaffen – ein Electric Lady-Land, in das man ihr nur zu gerne folgt.