Musik nach Maß: Über die fieberhafte Suche nach dem perfekten Popsong und dem garantierten Hit

Was macht eigentlich einen perfekten Popsong aus? Und wie landet man einen todsicheren Hit? Diese beiden Fragen sind zwar nicht so alt wie die Menschheit, aber mindestens so alt wie die Musikindustrie. Und gerne werden sie munter miteinander vermischt. Frei nach dem Motto: Wenn ein Song ein Hit wird, dann muss er doch irgendwie perfekt sein. Entsprechend oberflächlich wirken Internetforen, die regelmäßig „Bester Popsong aller Zeiten“-Votings veranstalten. Natürlich geht es dabei nicht um echten Erkenntnisgewinn, sondern vor allem um Traffic auf dem Portal. Und so bieten die User-Antworten selten mehr als eine bunte Ansammlung von nicht weiter begründeten persönlichen Geschmacksäußerungen. Es bleibt ein netter Anlass zum Smalltalken, und wer Kontakte sucht, bekommt vielleicht einen Hinweis auf Mitmenschen, die musikalisch auf derselben Wellenlänge liegen.

Schon etwas ernster wird das Thema unter Musikjournalisten angegangen. Hier herrscht allerdings ein Misstrauen gegenüber Hitsongs vor: Denn was kommerziell enorm erfolgreich ist, kann doch nicht wirklich „gut“, geschweige denn ästhetisch vollkommen sein. Für die Mehrheit der Fachleute hat der perfekte Popsong weniger mit Chartstauglichkeit als mit emotionaler Wucht, mit kompositorischer Raffinesse oder einzigartigen Vortragsqualitäten zu tun. Die Analyse der Arbeit von Singer/Songwritern, von Rock- und Soul-Künstlern wird dann gern zur Suche nach dem Heiligen Song-Gral stilisiert. Damit unterstreichen Kritiker zum einen die Qualität der von ihnen gefeierten Künstler, zum anderen die Wichtigkeit ihres eigenen journalistischen Treibens. Dass natürlich auch hier der persönliche Geschmack zu den wichtigsten Motoren der Autorinnen und Autoren gehört, wird meistens elegant verschleiert.

Immerhin wird von der Fachwelt neben den Beatles so wunderbaren Institutionen wie Elvis Costello und Prefab Sprout die Fähigkeit bescheinigt, „ideale Lieder“ zu schreiben. Womit wir bei den Künstlern selbst wären. Irgendwo zwischen unmittelbarer Euphorie und zielstrebiger Rationalität, meist auch intuitiv nehmen sie den natürlichen Wettstreit um die besten musikalischen Ergebnisse an – immer getrieben von der Ambition, einen nicht nur ansprechenden und bewegenden, sondern auch in Aufbau und Arrangement rundum gelungenen Song zu fabrizieren. Einen schönen Beleg liefert das Interview, das die Zeitschrift „GALORE“ 2008 mit dem ABBA-Komponisten Björn Ulvaeus führte:

Mr. Ulvaeus, was wäre der in Ihren Ohren perfekte Popsong?
Björn Ulvaeus: (überlegt) „When You Walk In The Room“ von Jackie DeShannon ist jedenfalls nahe dran. Da stimmt nahezu alles, dabei war die Nummer ursprünglich nur eine B-Seite und wurde auch erst durch die deutlich schwächere Searchers-Version zum Hit.
Was fühlen Sie bei diesem Song?
Ganz ehrlich? Neid! Puren Neid! (lacht) Seit ich dieses Lied Anfang der Sechziger zum ersten Mal gehört habe, denke ich: Verdammter Mist, warum ist nicht mir das eingefallen? Es ist so unglaublich schwerelos und erhebend, dass nicht einmal „Mamma Mia“ oder „S.O.S.“ mitkommen.“
Ihnen selbst ist das perfekte Lied also noch nicht gelungen?
Wir waren ein paar Mal nahe dran, denke ich, aber ich würde das niemals behaupten. Obwohl: Ich saß vor einigen Jahren mal in einem New Yorker Restaurant, als plötzlich Pete Townshend an meinen Tisch trat und meinte: „Ich wollte Ihnen nur eben sagen: ‚S.O.S.’ ist der beste Popsong, der jemals geschrieben wurde.“

Ulvaeus und der von ihm erwähnte Pete Townshend, Kopf der mindestens ebenso „legendären“ britischen Rockband The Who, sind nur zwei von Tausenden von Songschreibern, die mit ihren Stücken richtig viel Geld verdient haben. Das ruft natürlich eine weitere Sparte von Akteuren auf den Plan – die Ratgeberfraktion. Die durchforstet die Hits vergangener Jahre und Jahrzehnte mit dem Ziel, so etwas wie charakteristische Strukturen, wenn nicht gar die Formel für den kommerziell erfolgreichen Song zu entdecken. Und wenn es schon nicht für den eigenen Nummer-eins-Hit reicht, versucht man eben wie Rikky Rooksby mit der How to Write Songs-Serie, seine Erleuchtungen in Buchform zu Geld zu machen.

Oder man lässt andere großzügig kostenlos davon profitieren – zum Beispiel über Internetplattformen wie „suite.io“ und „Taxi,com“. „Suite“ gibt in Yogesh Bakshis Beitrag „How to write a hit pop song“ Tipps zu Tempo, Beat oder Storyline und verrät in konspirativem Ton, dass die ideale Länge für ein Song-Intro exakt 13 Sekunden betrage.
Alle Achtung, auf diese Info haben Heerscharen erfolgloser Songschreiber natürlich schon Jahrzehnte gewartet!

In der „Songwriting“-Rubrik von „Taxi“ wiederum finden sich ungemein hilfreiche Kompositionsempfehlungen wie „The best way is to constantly and persistently study what hit songwriters do“ („Der beste Weg ist, immer wieder gründlich zu studieren, wie Hit-Songschreiber vorgehen“) sowie Links zu weiterführenden Beiträgen. Allein deren Titel beflügeln die Fantasie und versprechen nicht nur jede Menge Spaß, sondern lassen auch von unmittelbarem Superstartum träumen: „The 5-Minute Songwriting Class“, „A Good Melody Is Like Sex“, „Chorus Construction“, „Ten Tips for Building Stronger Songs“ oder „Teaching an Old Dog New Tricks“.

Und dann sind da noch die Hardcore-Wissenschaftler, die glauben, dass sich das Wesen der Musik zumindest im Ansatz softwaretechnisch bestimmen lässt. Die Rede ist von echten Forschertypen wie Frank Riedemann, der in dem Essayband Black Box Pop über „Computergestützte Analyse und Hit-Songwriting“ referiert. Euphorisch beschreibt er, wie er 57 Hits aus den deutschen Single-Jahrescharts der Jahre 2000 bis 2005 und diverse – Achtung! – „Non-Hits“ aus demselben Zeitraum auswählte und wie diese „auf Grundlage des Notentextes in ein computerlesbares Format kodiert und in die vom Autor entwickelte Analysesoftware Essencer eingegeben“ wurden. Entscheidend für die Untersuchungsergebnisse waren so exotische Variablen wie der „erste Einsatzzeitpunkt des ersten Chorus“, die „systemische Redundanz der Melodiephrasen im Chorus“, die „Vorkommenshäufigkeit von prominenten kompositorischen Strukturprinzipien“ wie „Melidents“, „Sequenzierung“ und „Intchanges“ oder die „Dichte syntaktisch-morphologischer Figuren im Songtext“. Von den Resultaten ist Riedemann regelrecht begeistert: „Ungeachtet der Tatsache, dass die vorgestellten Variablen nur einen kleinen Auszug aus der Vielzahl möglicher musik- und textimmanenter Gestaltungsmerkmale darstellen“, schreibt er, „lässt sich bereits hier mittels einer binär-logistischen Regression die Wahrscheinlichkeit der Zugehörigkeit der Songs zu den Kategorien Hit und Non-Hit in Abhängigkeit dieser Variablen als Einflussgrößen berechnen.“
Omagawd…

Allerdings, so Riedemann: „So beeindruckend dieses Ergebnis aufgrund der fehlerfreien Klassifizierung auf den ersten Blick zu sein scheint – es wird nicht der Komplexität musik- und textimmanenter Gestaltungsmerkmale von Hitsongs gerecht.“

Oha…

Zu einer ähnlichen Einschränkung gelangt auch der Bonner Musikprofessor Volker Kramarz, wenn er im Januar 2015 im Interview mit dem „Express“ bekennt: „Trotz aller Formeln ist ein Hit harte Arbeit, braucht gute Ideen, tolle Sänger, schöne Melodien – und ein bisschen Glück.“ Dennoch setzt auch Kramarz Computertechnologie ein, um seine Thesen zum Hiterfolg bestimmter Songs zu untermauern: nur eben nicht zur Auswertung der Musik, sondern zur Bestimmung des Hörerverhaltens. Klingt kompliziert, ist aber ganz simpel: Schon seit Jahren betreibt Kramarz Kompositionsanalysen und will in der Folge mehrere Hitformeln ermittelt haben. Von diesen „Pop-Formeln“ sei der sogenannte „Turnaround“, die Akkordfolge C-Dur/a-moll/F-Dur/G-Dur, die erfolgreichste. In seinem aktuellen Buch Warum Hits Hits werden: Erfolgsfaktoren der Popmusik beschreibt Kramarz nun, wie er freiwilligen Probanden im Magnetresonanz-Tomografen (MRT) Hits vorgespielt und ihre Hirnaktivität gemessen hat. Seine bahnbrechende Erkenntnis: „Dabei konnten wir ganz klar feststellen, dass Songs mit den Pop-Formeln bei jedem Menschen das Belohnungssystem im Gehirn aktivieren.“

Potztausend!

Aber ist das nun wirklich eine bahnbrechende Erkenntnis? Ist es nicht eher in etwa so, als würde man einem eingefleischten Frankfurter abwechselnd Grüne Soße und Reisnudeln zum Verzehr vorsetzen, um sogleich euphorisch festzustellen, dass er auf die Grüne Soße erst mal stärker reagiert? Dass er sich aber über Jahrzehnte hinweg bei der Riesenauswahl an Gerichten immer und immer wieder für die Grüne Soße entscheiden würde, wäre damit überhaupt nicht bewiesen. Oder, anders ausgedrückt: Wenn ein Song einer vertrauten Formel folgt, bedeutet das noch lange nicht, dass er ein Hit wird – man denke nur an die Millionen von Allerweltssongs, die es nicht eben in die Charts schaffen. Im Gegenteil: Ist es nicht oft gerade das Neue, Nichtvertraute, Überraschende, das Interesse weckt und einen Song in die weltweiten Hitparaden katapultiert?

Entscheidende weitere Faktoren für den Erfolg eines Songs – etwa Timbre, Sound oder Studioeffekte, das Image, die Performance und nicht zuletzt das Künstlermarketing – lässt der Musikprofessor gleich gänzlich außer Acht – aber Hauptsache, seine Darstellung mutet wissenschaftlich an. Schließlich haben Computermessungen etwas „Empirisches“!
Wir wissen nicht, was Frank Riedemann und Volker Kramarz beim Hören von Musik empfinden. Genauso wenig wissen wir, ob es unter Nutzung der „Essencer“-Software oder Anwendung von Pop-Formeln jemals irgendwem gelungen ist oder gelingen wird, die Charts zu stürmen. Zumal ausgerechnet diejenigen, die am lautesten behaupten, den Schlüssel zum großen Songerfolg zu haben, selber nichts an Songerfolgen vorzuweisen haben. Der Gedanke, Musik nicht nur messen und auswerten, sondern auch auf kommerzielle Durchschlagskraft hin durchdesignen zu können, engt nicht nur die musikalische Praxis, sondern auch das Publikum maßlos ein: Die musikalische Praxis ist zum einen kulturell geprägt, zum andereren entwickelt sie sich wie die Gesellschaft, wie die Technik ständig weiter. Und: Jede Hörerin, jeder Hörer reagiert auf Musik anders, abhängig von der individuellen Befindlichkeiten, den jeweiligen musikalischen Vorkenntnissen und Erfahrungen.

Mein Fazit: Musik ist ein eigenes Zeichensystem und in dieser Eigenschaft nicht wirklich greifbar, Musik ist ständig im Fluss. So wie Sprachcomputer weder einen fremdsprachlichen Text angemessen übersetzen (man lasse sich nur mal spaßeshalber im Internet einen fremdsprachlichen Lexikoneintrag ins Deutsche übertragen) noch adäquat auf die unterschiedlichsten Sprechsituationen reagieren können, so ist auch die Idee eines perfekten Popsongs oder eines garantierten Hits letztlich eine Illusion. Denn am Ende bleibt mit Blick auf die Musik, wie der Rockkritiker Richard Meltzer einmal formulierte, nur eine durch das Zusammengehen von Text, stimmlichem Ausdruck, kompositorischen Mitteln und Sound aktivierte „unknown tongue“, eine unbekannte Sprache.

Was Tüftler nicht dran hindert, Musik auch weiterhin computertechnisch zu untersuchen. Der neueste Schrei: Musikinformatiker von der Queen Mary University of London haben 17.094 Hits aus den Top 100 der USA mit Methoden der Evolutionsforschung untersucht. Mittels einer entsprechenden Software fanden sie heraus, dass es in den letzten knapp 60 Jahren lediglich drei Zeitpunkte gab, an denen sich die Zusammensetzung der Charts – und damit der Musikgeschmack – grundlegend veränderte: 1964, 1983 und 1991. Anders ausgedrückt: In den 1960er Jahren setzten Rock und Soul neue Akzente, in den 1980er Jahren New Wave und Elektronik, in den 1990er Jahren Hip-Hop.

Ja wow!

Evolutionstheorie und Computerprogramme – das wirkt schon wahnsinnig wissenschaftlich und ungewöhnlich. Aber mal ehrlich: Hätten die engagierten Forscher nicht einfach mal die Ohren aufsperren können? Hat es für ihre banale Erkenntnis wirklich eines kostspieligen Forschungsprojekts bedurft?

Die Pose geht, der Song bleibt: Diedrich Diederichsens „Über Pop-Musik“

Oje, zögernd erworben, mühsam durchgebissen: Diedrich Diederichsens schon im letzten Jahr veröffentlichter Diskursschinken Über Pop-Musik musste dann doch mal gelesen werden. Die Befürchtungen haben sich bestätigt. Leider ist der ganz überwiegende Teil der rund 450 Seiten langen Abhandlung, in der der ehemalige „SPEX“-Chefredakteur seine über 30-jährige Tätigkeit auf dem Feld der Pop-Theorie kulminieren lässt, ein schwer verdauliches Theoriegedöns. Ein seltsamer Mix aus akademischer Abhandlung, jovialem Geplänkel, erst beim vierten Lesen nachvollziehbaren Gedanken und Szenetalk – so unsinnlich las sich bisher kaum ein Buch über den mehr als sinnlichen Gegenstand Pop.

Adornos Geist und Posen von Exoten

Schon der Buchtitel, Über Pop-Musik, irritiert. Hatte nicht Theodor W. Adorno, der Chefideologe der Frankfurter Schule, vor gefühlt 300 Jahren zwei umstrittene Aufsätze On Popular Music und Über Jazz überschrieben? Tatsächlich weht der Geist Adornos deutlich spürbar durch Diederichsens poptheoretische tour de force – von der Weiterführung des Adorno’schen Kulturindustrie-Begriffs (ja, wir leben heute bereits in der dritten Kulturindustrie) bis hin zur Verteidigung von Über Jazz, einer seinerzeit heftigst kritisierten Schrift, die doch immerhin, so Diederichsen, bei aller Fehleinschätzung das für das Pop-Subjekt wegbereitende Jazz-Subjekt treffend charakterisiert habe: „Das Besondere am Jazz als eine spezifische Fassung von Subjektivität zu beschreiben, ist eine gute Idee. Dass im Jazz schon die Frage steckt, was ist das für ein Typ, der da spielt, die in der Pop-Musik manifest werden sollte…“ Im 21. Jahrhundert, in Zeiten von Globalisierung und theorieskeptischer Unübersichtlichkeit, hält Diederichsen 80 bis 100 Jahre alte Denkmodelle hoch – ja stellenweise möchte man in ihm fast eine moderne Reinkarnation Adornos sehen.

Pop-Musik ist für den Autor ein völlig „eigener Gegenstand“ und „sehr viel mehr als Musik“. Diederichsens These: Wenn es auf der einen Seite die herrschenden gesellschaftlichen Schichten und die von ihnen goutierte autonome Kunstmusik gibt, dann gibt es auf der anderen Seite die nicht herrschende breite Masse mit ihrer statischen, seelenlosen Unterhaltungsmusik. Innerhalb dieser Sphäre der Nichtherrschenden und der niederen Kunst, der Low-Art, ist dann aber die ständig neue, dynamische, rebellische, provozierende Pop-Musik so etwas wie die High-Art, und ihre Vertreter sind gewissermaßen die Aristokraten innerhalb der populären, der Massenkultur. Pop-Musik nach Diederichsen wird getragen von Hipstern, Spinnern, Ausgegrenzten, Minderheiten, die mit unausgebildeten, seltsamen Stimmen und im Studio erzeugten Geräuschen, mit punktuellen und dauerhaften Soundzeichen, mit Totem-, Fetisch- und Signature-Sounds, mit dem Gebrauch von verschmutzten und fremden Zeichen eine Haltung zur Welt einnehmen und ein leidenschaftliches Kommunikationsangebot an die Fans machen, ohne sich auf eine bestimmte Botschaft festlegen zu lassen, ohne angreifbar oder wirklich fassbar zu werden. Die kleinste Einheit des pop-musikalischen Vokabulars (und Theaters), und das ist für Diederichsen zentral, stellt die „performativ zu verstehende“ Pose dar. Zentral ist sie, „weil sie etwas Neues in die Welt setzt: einen neuen Gedanken, ein neues Argument. Alle Erfindungen der Pop-Musik sind um Posen, um Ideen herumgebaut, was für ein fiktiver Mensch einer oder eine sein könnte.“ Außerdem charakteristisch für Pop-Subjekte seien subtile Strategien der Inklusion und der Exklusion, das Ziel die Selbstbehauptung als „eine eigene Gesellschaft mit einer eigenen Moral“.

Regeln, Luftwurzeln, Phantomschmerzen

Darum geht es im Wesentlichen – wenn ich es richtig verstanden habe. Um diesen Kern herum werden alle möglichen Gedanken und Denkmodelle, vor allem Regeln aufgefahren. So darf Pop-Musik weder Kunst werden noch authentisch sein wollen – auch wenn Diederichsen – etwa am Beispiel von Todd Rundgren – Wege aufzeigt, wie es doch noch klappen könnte mit der Kunst. Paradox! Der Rock ’n’ Roll, die Gegenkultur und die Punk-Rebellion gehören für den Autor in die „heroische Phase der Pop-Musik“, daran anknüpfend sieht er die postheroischen „Style Wars“ der 1980er und 90er Jahre, in denen zwar immer versiertere, tollere, stilistisch und genremäßig immer weiter verzweigte Pop-Musik entstanden sei, diese Pop-Musik aber ihre gesellschaftliche Bodenhaftung verloren habe, mit einer Tendenz zur Abgrenzung um ihrer selbst willen. Hinzu komme, dass plötzlich Makel in der Pop-Musik erkannt und thematisiert worden seien – rassistische Country-Musik, antisemitischer Hip-Hop, frauenfeindliche Rockmusik. Der Subkulturalismus sei damit einfach zusammengebrochen, stellt Diederichsen lakonisch fest. Nach Techno und Ambient sei der heutige Zustand durch eine Verselbstständigung der Pop-Musik gekennzeichnet, sie bleibe nun gänzlich ohne sozialen Bezug. Pop-Musik schlage Luftwurzeln und erleide Phantomschmerzen, die hin und wieder wahr würden: etwa im Hervorbringen von Vorläufern der New Yorker Occupy-Bewegung, aber auch im Auf-den-Plan-Treten norwegischer Black-Metal-Neonazis. Noch häufiger aber gehe die Luftwurzel den Weg der endlosen Verfeinerung…

Widersprüche, Irritationen

So lakonisch, defensiv und achselzuckend hat man Diederichsen selten erlebt. Die halbherzige, fast schon beiläufig verharmlosende Auseinandersetzung mit den menschenfeindlichen Auswüchsen von Rock-, von populärer oder auch von Pop-Musik, deren fast schon verspielte Charakterisierung als Phantomschmerz, gesellt sich zu vielen anderen irritierenden Aspekten in seinem Buch. Zum Beispiel gibt es da mittendrin merkwürdig ambivalente und unverschämt naive Zuspitzungen wie: „Kunst und Liebe sind von Dauer, Pop, Sex und das Leben dagegen kurz“, oder: „Wenn man nicht wissen will, wie die Musiker aussehen, so die Faustregel, dann ist es keine Pop-Musik.“

Auweia.

Widersprüche klangen schon an. Hinzu kommen Theorieexkurse, die zu nichts führen, etwa die irgendwann im Sande verlaufende Erörterung des fotografietheoretischen Punctum-Begriffs nach Roland Barthes, und die unerklärliche Ignoranz gegenüber Texten und Musik. Stattdessen wird die Kategorie Sound derart überhöht, dass man sich kopfschüttelnd fragt, ob etwa die klassische Musik jahrhundertelang ohne Klang gearbeitet habe. Sound an sich ist doch nichts, was nur der Pop-Musik gehört – die mutmaßliche Pop-Musik hat lediglich ihren eigenen Sound entwickelt. Genauso wie sie ihre eigene Musik entwickelt hat. Und die erscheint mir überhaupt nicht so zweitrangig, wie Diederichsen sie beschreibt. Man nehme nur den Superhit The Look of Love der 80er-Jahre-Diskurshelden ABC, ein kraftvolles Stück Musik mit feinem Text, das noch heute weltweit regelmäßig gespielt und gesendet wird: Die Pose von damals ist längst verblasst, aber der Song ist geblieben.

Are you initiated?

Besonders hervorzuheben sind die mal mehr, mal weniger subtilen Ab- und Ausgrenzungsstrategien, die Diederichsen nicht nur als charakteristisch für Pop-Musik beschreibt, sondern auch selbst ganz bewusst gegen sein eigenes Publikum fährt. Zwei nicht weiter begründete linke Haken gegen den „Knallkopf“ Eric Clapton sollen ganz offensichtlich die „Nichtinitiierten“ treffen, die dem Irrglauben erliegen, ein seichter Musik-Musiker wie „Mr. Slowhand“ sei ein Vertreter der Pop-Musik. Im Gegenzug berichtet Diederichsen ausführlichst von seiner eigenen „Initiation“ in die Pop-Musik, um im Anschluss immer wieder die „Nichtinitiierten“ zu belächeln, zum Beispiel wenn sie fieberhaft nach Bedeutung suchten… Ja, da müssen wohl einige draußenbleiben. Denn Diederichsen geht es „darum, wie Leute mit Pop-Musik umgehen, die in einem oder mehreren Punkten mit mir über den Charakter der Pop-Musik einig sind und aus diesem Wissen heraus agieren.“ Da stellt man sich unwillkürlich zwei Fragen. Erstens: Wozu dann überhaupt dieses Buch? Und zweitens: Wie kommt Diederichsen als Initiierter zu solch einem immensen Bedeutungsüberschuss?

Flucht in die Nische

Sein Fazit markiert dann einen echten Antiklimax. Noch 1986 hatte Diedrichsen in seinem Buch Sexbeat gefordert, die Rockmusik solle durch ein im marxistisch-leninistischen Sinne geprägtes Lumpenproletariat übernommen werden, dem als mehrfach gebrochenen Kollektiv der „Abbau des Überbaus“ obliege. Das Lumpenproletariat habe eine von neuem, gewissermaßen vorgetäuschtem Individualismus getragene Produktion anzukurbeln – so lange, bis „so viele zu Tribünen imaginärer Völker gewordene Individuen ihre Individual-Diskurse als Gruppen- und Sekten-Diskurse relevant und verbindlich gemacht haben und damit eine solche Multiplikation von ‚relevanten’ Aussagen geschaffen haben, dass das kulturelle System überladen zusammenbricht.“ Rund 30 Jahre später, in Über Pop-Musik, sieht sich Diederichsen mit einer Situation konfrontiert, in der die pop-musikalischen Nischen dominieren. Diese hätten zwar keine Ambition auf Wirkung, aber sie würden Praktiken retten und aufbewahren und damit jene Liebhaberei betreiben, die nötig sei, um Kunst vor dem Staat und dem Markt zu schützen. Das sei zwar weit entfernt von heroischer Pop-Musik, aber fruchtbar als Ausgangspunkt für Fortentwicklung. Ein letzter Hoffnungsschimmer: Pop-Musik „kann sich aber nur dann über einen weiteren, vielleicht wieder fünfzig Jahre währenden Zyklus der Relevanz freuen, wenn sie nun zu der Musik wird, die die Kooperation auf den Weg bringt: nicht mehr als Kooperation unverwechselbarer Einzelner mit indexalisch übertragenen Stimmen und Effektgeräten, sondern als Kooperation von Leuten, die sich von ihren Zielen, Gegenständen und Einzugsgebieten her definieren. Das erfordert andere Medien, andere Ästhetiken, die selbstverständlich alle schon irgendwo unverbunden schlummern.“

Diedrozentrische Pose oder Diskurs-Diskurs?

Plötzlich geht es um echte Kooperation und das ernsthafte Arbeiten an gemeinsamen langfristigen Zielen, um eine Perspektive für die nächsten 50 Jahre, wo doch Pop wie Sex und das Leben kurz sein soll. So recht will das nicht zum Vorangegangenen passen. Und doch ist es nur ein weiteres Beispiel dafür, wie Musik bzw. ein kulturelles Phänomen immer und immer wieder mit der völlig überzogenen Erwartung überladen wird, die Gesellschaft nachhaltig zu verändern. Es ist eine große pathetische Geste der Maßlosigkeit, die umso maßloser erscheint, je weniger gesellschaftliche Relevanz sie besitzt. Nadja Geer beschrieb diese Haltung Diederichsens und anderer deutscher Pop-Diskurshelden nicht immer schmeichelhaft als „sophistication“, als ästhetische Taktik, „die von ihrem Wesen her undemokratisch ist“ – mit dem Ergebnis, „dass bestimmte Denkstile (…) an die Stelle politischen Handelns treten“ und die Pop-Intellektuellen „allergrößte Probleme haben, sich im gesellschaftlichen Gefüge der Bundesrepublik zu verorten.“

So bleibt von Diederichsens Werk vor allem der Eindruck des Willens zum absoluten Kunstwerk à la Adorno: Auch Über Pop-Musik scheint sprachlich immer wieder aus sich selbst zu schöpfen, ist kaum nachvollziehbar verästelt und voller Ecken, Brüche und Kanten, dreht diskursive Extraschleifen, lädt ein und entzieht sich oder stößt vor den Kopf – es ist die Analogie zur pop-musikalischen wall of sound, eine wall of words gewissermaßen, ein Werk aus endlos übereinandergeschichteten Sprach- und Theoriespuren, elitär und narzisstisch, hochkomplex und dann wieder erschreckend trivial. Es ist, wenn man so will, Diederichsens ultimativer literarischer Über-Pop-Song, mit dem er sich noch über seinem Gegenstand erhebt und zur Herrschaft in der Sphäre der Nichtherrschenden zu streben scheint. Und das mit einem gigantischen Bathos-Knall. Bathos ist der komisch-absurde Effekt, der entsteht, wenn Hohes auf Niederes prallt oder etwas eher Triviales ganz bewusst überaus ernst und hochtrabend reflektiert wird – wenn also Carl Perkins mit einer Inbrunst und Verzweiflung, so als ginge es um Leben und Tod, bloß seine geliebten Blue Suede Shoes, seine blauen Wildlederschuhe, besingt. Ein ähnlich groteskes Ungleichgewicht ergibt sich zwischen dem eher leichten Gegenstand „Pop“ und Diedrichsens bombastischem Theorieapparat, zwischen dem mehr als 400 Seiten langen Feiern eines verstörenden rauschhaften Phänomens und dem schließlichen Rückzug in die kleine Nische auf den letzten Seiten.

Nun ist Diederichsen alles andere als dumm. Er bekommt seit Jahren ordentlich Gegenwind und fährt doch beeindruckend konsequent auf seiner Schiene weiter. Eigentlich muss er um das Elitäre seiner Position und um die vielen Angriffspunkte wissen, die seine Argumentation bietet – und damit um das Widersprüchliche, Schillernde seines Gegenstands „Pop“ selbst. Vielleicht ist Über Pop-Musik – und so ließe sich das Buch retten – tatsächlich eine ganz bewusste literarische Analogie zu dem einfach nicht zu fassenden Phänomen „Pop“ mit all seinen narzisstischen Anwandlungen, seinen unverschämten Ansprüchen und Forderungen, seiner Eingeweihtenrhetorik und seiner unglaublichen Stilvielfalt, bei gleichzeitigem Sich-nicht-festlegen-Lassen und Brüskieren, sturer Verweigerung.

Haben wir es also doch mit einer kunstvollen diedrozentrischen Pose zu tun, die der meisterhaften Erkundung des innersten Wesens eines geheimnisvollen kulturellen Phänomens dient? Oder überhöht hier nur ein monströses Ego sich selbst und die aufregenden Erlebnisse, vielleicht aber auch die frustrierenden Misserfolge und Versäumnisse seiner eigenen ewigen Adoleszenz? Unangenehm bleibt auf jeden Fall, dass man für die literarisch-philosophische Kraftanstrengung dieses Diskursastronauten avancierte 40, in Worten: vierzig!, Euro an der Buchhandlungskasse abgeben darf. Angenommen aber, Diederichsen meint seine 450 Seiten Über Pop-Musik nicht als augenzwinkernden Pop-Diskurs, sondern wirklich ernst, gewissermaßen als Diskurs-Diskurs: Hat er sich mal gefragt, ob die Nichtherrschenden solche Diktatoren wie ihn überhaupt als Herrscher wollen, geschweige denn tolerieren würden? Ich jedenfalls halte es am langen Ende mit einer These aus dem Jahr 1908, die besagt, dass Differenzierungen und Kategorisierungen nicht in der Musik, sondern in den Hörern begründet liegen. Ich bleibe weiterhin der Meinung, dass jegliche Musik auch zukünftig allen Theorien zum Trotz machen wird, was sie will. Und ich würde niemals unter Diederichsen dienen wollen, selbst unter dem fantastischen Todd Rundgren nicht.

Diedrich Diederichsen, Über Pop-Musik. ISBN: 978-3-462-04532-1, 474 Seiten, Klappenbroschur, 39,99 €

Kreierst du noch, oder klaust du schon? Erfreuliches und Seltsames aus dem Universum der Plagiatsvorwürfe

„Nur Liebe, nur Liebe“, soll Sara Bareilles kommentiert haben. Drei Monate vor Katy Perrys Hit Roar hatte sie ihren Song Brave veröffentlicht, den man auch mit wenig Fantasie als Vorlage für Roar interpretieren könnte.

Doch während sich Fans aus aller Welt ereiferten, Katy Perry sei eine Plagiatorin, blieb Sara Bareilles einfach cool. Und freute sich darüber, dass der Erfolg von Roar ihren Song letztlich noch beflügelt hätte. Das nennt man positives Denken.

Auch der Hip-Hopper Left Boy verzichtete auf eine Klage, obwohl er nicht gerade begeistert war, dass Cro sich von dessen Stück Your Song für seinen eigenen Hit Du hatte inspirieren lassen. Left Boys Argument: Er wolle sich nicht an Cros Erfolg hochziehen. Das nennt man Stolz.

Zwei unterschiedliche Arten, mit möglichen Plagiaten der eigenen Arbeit umzugehen. In meinen Augen auch die plausibelsten in einem Bereich, der seit jeher aus der kreativen Verwurstung, Weiterführung oder auch Dekonstruktion von Bekanntem einiges an Energie entwickelt.

Viele Songs basieren in Teilen auf denselben Akkordfolgen, auf ähnlichen Grooves, der gleichen Struktur. In seinem aktuellen Buch „Warum Hits Hits werden. Erfolgsfaktoren der Popmusik“ filtert Volker Kramarz regelrechte Formeln für erfolgreiche Songs heraus. Für ihn ist es „klar, dass die Hörer aus der Fülle des Liedangebots immer etwas heraussuchen, das stets auf diesen gleichen Konstruktionsprinzipien beruht“, wie er im Interview mit der „Berliner Zeitung“ erklärt. Nicht umsonst hätten „die großen Urheberrechtsorganisationen schon vor über 40 Jahren aufgegeben, eine Harmonieabfolge für schützenswert zu erklären. Es hat sie einfach irgendwann schon in tausendfacher Form gegeben“.

Umso überraschter war ich über die jüngste Meldung, dass Robin Thicke und Pharrell Williams den Prozess um den angeblichen Diebstahl ihres Superhits Blurred Lines von Marvin Gayes Got to Give It Up verloren haben. Für mich sind eher der Groove und die Atmosphäre beider Stücke ähnlich, aber harmonisch und melodisch nehmen sie doch völlig unterschiedliche Entwicklungen. Bei einer derart strengen Rechtsprechung in Amerika steht zu befürchten, dass auch der lächerliche Streit um das kurze Intro von Led Zeppelins Klassiker Stairway to Heaven zuungunsten der britischen Heavyrocker ausgehen wird (vgl. Blogeintrag vom 21. Oktober 2014).

Natürlich kann es nicht darum gehen, alle Anklänge an früher veröffentlichte Songs unwidersprochen durchgehen zu lassen, aber man sollte doch genauer klären, wo die Schwelle von der Inspiration zum Diebstahl wirklich überschritten wird. Insofern wäre es interessant gewesen zu sehen, wie ein Rechtsstreit in Sachen Helene Fischer und Atemlos ausgegangen wäre. Es war meine liebe Tante, die hier die Medien aufmerksam verfolgt und mich auf die frappierenden Ähnlichkeiten des Songs mit zwei älteren Hits hingewiesen hat. So scheinen Teile des Strophe an den von Jack White geschriebenen und seinerzeit von Jürgen Marcus interpretierten Schlager Ein Festival der Liebe angelehnt – der Refrain wiederum erinnert sehr verdächtig an die zentrale Melodie von Rosanna Cashs Land of Dreams.

Nichts gegen Helene Fischer – ihr von Kristina Bach geschriebener Hit hat nicht zuletzt in Zeiten der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 großen Spaß gemacht. Aber Originalität und ein kreativer Umgang mit den Vorlagen sehen anders aus. Jack White hat trotz dreier Gutachten, von denen zwei gute Chancen für einen Prozess ergaben, auf eine Klage verzichtet. Mal das Beinchen gehoben, klar, aber ach, das ist ja auch ok. Und von Rosanna Cash, die sich immerhin mal wegen der Ähnlichkeiten zwischen Atemlos und Land of Dreams gemeldet haben soll, scheint ebenfalls nichts mehr zu kommen. Souverän bleiben, lautet offenbar die Devise. Und Geld scheint Frau Cash nicht dringend zu benötigen. Glück für Kristina Bach und Helene Fischer also – und am Ende ja vielleicht für die Chartsmusik, die auch in Zukunft von der Neuaufbereitung bewährten Materials leben wird.

Der „This song“-Kniff

„My name is Luka…“, „And my name is Bobby Brown…“, „I love you…“ – in der Regel nehmen wir nicht für bare Münze, was uns die vielen Ichs im Songuniversum erzählen. Es sind fiktive Ichs, mal mehr, mal weniger nah an den Autoren, und sie entwickeln ihre ganz eigenen Geschichten und Gedanken. Der Song öffnet ein Fenster in eine abgeschlossene Welt, er ist wie eine Glaskugel, in die wir hineinschauen – wie eine Wundertüte, deren Inhalt sich über uns ergießt. Gelegentlich aber passiert etwas anderes: Plötzlich rückt der Song selbst in den Fokus, bevorzugt mit den Worten „this song“ – „dieser Song hier“. Und dann wird es spannend. Denn dann pocht der Song an seine Grenzen, versucht er spielerisch, sie zu überwinden. Das in den Lyrics Geschilderte rückt viel näher an den Interpreten heran. Der Text, die Musik scheinen nicht mehr eine eigenständige Fiktion hervorzurufen, sondern öffnen sich zur realen Welt, zumindest zum Show-Ich hin. Sie wirken plötzlich wie eine direkte Botschaft des Interpreten an ein bestimmtes Gegenüber. Dieses Gegenüber, dieses Du, wird aber nie konkret benannt. Und so ergibt sich eine eigenwillige Spannung – die zu übermütigen Spielchen motiviert.

In Don’t Believe A Word, einem alten Gassenhauer der irischen Band Thin Lizzy, beteuert der Sprecher, das angesprochene Du nicht zu lieben, dabei ist er total verliebt. Ein gängiges Motiv im Lovesong, man denke an I’m Not In Love von 10cc oder Ich lieb dich überhaupt nicht mehr von Udo Lindenberg. Doch dann heißt es bei Thin Lizzy: „Don’t believe me if I tell you / That I wrote this song for you / There just might be some other silly pretty girl / I’m singing to.“ Natürlich kann der junge Mann, den man sich beim Hören vorstellt, auch in der Songwelt ein Songschreiber sein. Sein Lied, das womöglich ein echtes, ein bekennendes Liebeslied wäre, würden wir dann aber nicht vernehmen, es bliebe nur kurz erwähnt. Viel näher liegt es doch, „this song“ direkt auf das Musikstück von Thin Lizzy zu beziehen, das man gerade hört. Und das scheint mir auch das zu sein, was bei den meisten Hörerinnen und Hörern unbewusst als Erstes passiert. Damit ist aber die speziell entwickelte Songwelt – die Illusion einer Gesprächssituation oder einer einsamen Monologsituation – durchbrochen. Der Song beschreibt nicht mehr einen fiktiven Jungen, der mit seinen Gefühlen hadert und einem Mädchen dumme Sachen sagt, sondern Musik und Text selbst werden zur direkten Botschaft des Thin-Lizzy-Sängers Phil Lynott an ein konkretes Gegenüber. Oder anders gesagt: Das Song-Ich scheint nicht mehr Teil der Songwelt zu sein, sondern identisch mit demjenigen, der „diesen Song“ zum Besten gibt. Auch wenn die Aussage – „Dieser Song, in dem ich dir sage, dass ich dich nicht liebe, ist nicht für dich“ – etwas verschwurbelt daherkäme. Auf jeden Fall rücken so die Lyrics deutlich in die Nähe des biografischen, zumindest des Show-Ichs.
Aber wer ist das Gegenüber?

Speziell in diesem Song könnte man die kleine, im Ansatz absurde Spielerei schnell auflösen, indem man „this song“ metaphorisch interpretiert – im Sinne von Liebesschwüren oder Liebesgedichten, von Liebesgesäusel, das das Song-Ich an eine Frau in der Songwelt richtet. Denn am Ende handelt es sich auch in Don’t Believe A Word um eine konventionelle, mit Klischees arbeitende Komposition. Im wesentlich eleganteren Stück Your Song von Elton John dagegen wird einem geliebten Du, das natürlich ohne Konturen bleibt, vom Song-Ich in poetischer Manier exakt „dieser Song“ gewidmet: „I know it’s not much but it’s the best I can do / My gift is my song and this one’s for you // And you can tell everybody this is your song / It may be quite simple but now that it’s done / I hope you don’t mind / I hope you don’t mind that I put down in words / How wonderful life is while you’re in the world.“ Auch hier gibt es ein Song-Ich, das sich in der Song-Illusion bewegt, und gleichzeitig ist man geneigt, die Lyrics direkt Elton John zuzuordnen. Besonders ausgeprägt kommt hier aber och die Dynamik zwischen Entertainer und Publikum, zwischen Show-Ich und Fans, ins Spiel. Denn gerade wenn Elton John dieses Lied live vor einer begeisterten Menge spielt, dann klingen etliche der Verse tatsächlich auch wie ein Dankeschön, das der Star mit einnehmender Bescheidenheitsgeste direkt an seine treuen Anhänger richtet.

Der „this song“-Kniff durchzieht die ganze Rockgeschichte, von den Beatles (It’s Only A Northern Song) über P.I.L. (This Is Not A Lovesong) bis hin zu Villagers (Becoming A Jackal), Olly Murs (This Song Is About You) und D.R.U.G.S. (If You Think This Song Is About You, It Probably Is). Die berühmte Blaupause für solche Stücke und gleichzeitig die spektakulärste „This song“-Spielerei der jüngeren Liedgeschichte ist natürlich You’re So Vain, 1972 veröffentlicht von der amerikanischen Singer-Songwriterin Carly Simon. Als besonders clever erweisen sich hier die Refrainverse „You’re so vain / You probably think this song is about you“ – „Du bist so eitel / Wahrscheinlich denkst du auch, dieser Song handele von dir“. Impliziert ist natürlich: „Dabei handelt er gar nicht von dir“, so dass nicht aufgelöst werden kann, an wen genau der Song sich richtet. Denn wenn sich jedermann nur fälschlicherweise mit dem Song identifizieren kann, dann wurde er eigentlich für niemand Konkreten oder – andersherum – für alle eitlen Männer dieser Welt geschrieben. Die Lyrics sind die Abrechnung des weiblichen Song-Ichs mit einem ehemaligen Liebhaber, der sich als eitler Fatzke erwies und nur in einer armselig-glamourösen Scheinwelt lebt. Obwohl der text keine Rückschlüsse auf konkrete Personen zulässt, versuchen Kritiker und Fans seit Jahrzehnten herauszufinden, um welchen Mann aus dem persönlichen Umfeld der Sängerin es sich bei dem Du wohl handeln könnte. Und Carly Simon hat die Diskussion zeitweilig selbst gern befeuert. Ich schätze, ein abschließendes Statement wird ausbleiben. Die Enttäuschung läge letztlich in der Erkenntnis der Fiktion.
Die „Extended Version“ dieses Beitrags wie immer auf Faust-Kultur.

Udo Jürgens und der Clown: Auf die kleinen Details kommt es an

Udo Jürgens wird zu Recht gefeiert. Er hatte Charisma, auch Ecken und Kanten, sogar die einen oder anderen Abgründe. Eigentlich logisch, denn Charisma ohne Ecken und Kanten, ohne Abgründe, das gibt es nicht. Und: Udo Jürgens war ein begnadeter Songschreiber. Er verstand es, simplen Schlagern Tiefe zu verleihen – Alltagserfahrungen, die viele Menschen machen, anspruchsvoll, chansonhaft auf den Punkt zu bringen. Udo Jürgens kannte alle Tricks, war versiert auch im Spiel mit autobiografischen Bezügen, sang, als wüsste er ganau, wovon er sang. Und untermauerte so den Eindruck, einige seiner Lieder seien direkt aus dem Leben gegriffen, sogar direkt aus dem eigenen. Der Trick bestand darin, Reales und persönliche Eindrücke ästhetisch zuzuspitzen, sie zu verdichten – dabei aber entscheidende kleine Details zu verändern.

Ein in dieser Hinsicht charmanter, im Ansatz schlitzohriger Udo-Jürgens-Song war für mich immer Mein Bruder ist ein Maler aus dem Jahr 1977. Mal abgesehen davon, dass der Text nicht von Udo Jürgens, sondern von Wolfgang Hofer stammt, bewegt er sich auf den ersten Blick recht nah an der Biografie des erfolgreichen Entertainers: Udo Jürgens heißt mit bürgerlichem Namen Udo Jürgen Bockelmann, und sein Bruder Manfred war tatsächlich auch zur Entstehungszeit des Songs schon ein gefragter Künstler. In den Lyrics vergleicht das Song-Ich seine Leistung als Musiker mit der Leistung des malenden Bruders – und kommt in einem Anflug von Neid zu dem Ergebnis, dass dessen Gemälde aufgrund ihrer Unvergänglichkeit wertvoller seien als die eigenen kurzlebigen musikalischen Kompositionen: „Manchmal komm’ ich so klein mir vor / mit meinen großen Tönen, / die im kleinsten Wind wie blauer Dunst verweh’n. / Und so etwas wie Eifersucht / beginnt in mir zu brennen, / wenn ich dann seine Bilder seh’, so unvergänglich schön.“ Im Refrain stellt das Song-Ich sein Licht ganz deutlich unter den Scheffel, um den Bruder und seine Leistung noch größer erscheinen zu lassen: „Denn mein Bruder ist ein Maler, / und ein Bild von seiner Hand / kann mehr sagen als tausend Melodien. / Ja, mein Bruder ist ein Maler, / ich bin nur ein Musikant, / und in manchen Träumen, da beneid’ ich ihn.“

Nach einer weiteren Strophe, die das Grundthema vertieft, und einem weiteren Refrain bringt das Song-Ich in einem Zwischenteil Beispiele für die Arbeit des Bruders und für die Art, wie seine Werke wirken: „Wenn seine Frau mal traurig ist, / malt er ihr Orchideen / Und seinem Kind, das weint, den Clown, der Lachen schenkt.“ Und hier sind Udo Jürgens und sein Texter Wolfgang Hofer ganz deutlich von den biografischen Fakten abgewichen. Inwiefern? Das erklärt Manfred Bockelmann 2008 in der Dezemberausgabe von „NZZ Folio“, der Zeitschrift der „Neuen Zürcher Zeitung“: „Als das Lied herauskam, fragten alle: ‚Ja, wo ist denn dieser Bruder?’ Ich war damals schon recht erfolgreich und zeigte meine Arbeiten auf der Kunstmesse in Köln, Düsseldorf und Basel, es ging richtig gut los. Nun kam dieses Lied. Es war die Zeit von ‚Griechischer Wein’. Und die Leute dachten, ich male Bilder, so wie Udo singt. Doch das tue ich nicht. Meine Kunst ist anspruchsvoller, das weiss Udo auch. In dem Lied gibt es diese Strophe: ‚Wenn seine Frau mal traurig ist, malt er ihr Orchideen, und seinem Kind, das weint, den Clown, der Lachen schenkt.’ – Ich habe noch nie einen Clown gemalt! Also nein!“

Also wirklich!

Ein Blick auf den Fortgang der Lyrics zeigt, was es mit den offenbar aus der Luft gegriffenen farbenprächtigen Blumen und Spaßmachern auf sich hat. Sie müssen als „bunte“ Elemente herhalten, um zum Finale des Songs überzuleiten: „Er macht das Trübste wieder bunt, / drum kann ich nicht widerstehen“, so weckt diese Überleitung Neugier, „wenn seine Frau mir dann erzählt, was er sich manchmal denkt:…“ Im anschließenden letzten Refrain, der – noch so ein Songwriting-Trick – mit einer überraschenden Schlusswendung aufwartet, wird folgerichtig der malende Bruder zitiert, den, so die Ehefrau, dieselben Gedanken und Gefühle wie das Song-Ich umtreiben, nur aus der entgegengesetzten Perspektive: „Ja, mein Bruder ist ein Sänger, / und ein Lied aus seinem Mund, / das sagt mehr, als manches Bild je sagen kann. / Ja, mein Bruder ist ein Sänger, / und sein Leben ist so bunt, / manchmal fing’ auch ich so gern zu singen an.“

In diesen letzten Versen offenbart sich das eigentliche Zentrum des Songs: Nicht um eine etwaige Rivalität der malenden und singenden Gebrüder Bockelmann im wirklichen Leben geht es, sondern um den universellen Gedanken, dass jeder Mensch ein Talent hat, das ihn auszeichnet – etwas, das andere nicht können. Und dass das, was ein Mensch schafft, jeweils seine ganz eigene Wertigkeit besitzt. So inbrünstig und überzeugend sie auch vorgetragen werden, die Biografien der Gebrüder Bockelmann dienen lediglich als Aufhänger für die Formulierung einer übergreifenden These oder Erkenntnis – und werden mit Blick auf die möglichst effektive Zuspitzung dieser These nach Belieben manipuliert. Das hat Witz, das hat Tiefe, das macht die Könnerschaft des Gespanns Udo Jürgens/Wolfgang Hofer aus. Schade, dass es mehr davon nicht mehr geben wird.